Universität Potsdam Wirtschafts - und Sozialwissenschaftliche Fakultät Professur für das politische System der Bundesrepublik Deutschland Diplomarbeit zum Thema: Typologien des Gedenkens in Deutschland nach der Wiedervereinigung Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur am Beispiel der KZGedenkstätten - Verlieren die KZ-Gedenkstätten ihre Funktion als primäre authentische Gedenkorte? 1. März – 2. Juli 2004 vorgelegt bei Prof. Dr. Jürgen Dittberner eingereicht von: Franziska Schumann Dipl. Verwaltungswissenschaft Matrikelnummer: 136365 Adresse: Paul-Neumann-Straße 66, 14482, Potsdam Telefon: 0331-740 66 13; E-Mail: [email protected] Typologien des Gedenkens Inhaltsverzeichnis VORWORT.................................................................................................................. 3 EINLEITUNG............................................................................................................... 4 1. DIE KONSTRUKTION DER VERGANGENHEIT ................................................. 7 1.1 1.2 2. Formen der kollektiven Erinnerung: Das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis ............................................................................... 10 Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus - Zur Spezifität des Opfergedenkens ........................................................................................ 14 ZUGANG ZU EINER ERINNERUNGSKULTUR ................................................ 18 2.1 Erinnerungskultur im geteilten Deutschland.......................................... 22 2.1.1 Die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik ...................................... 23 2.1.2 Die Erinnerungskultur in der DDR ....................................................... 27 2.2 Ein vorläufiges Fazit ................................................................................. 29 2.3 Zur Semantik der Erinnerungskultur ....................................................... 30 2.3.1 Annäherung an den Begriff der modernen Erinnerungskultur ............ 31 2.3.2 Ein facettenreicher Terminus ............................................................. 34 2.4 Von der Erinnerungskultur zur Gedenkkultur - Ein Gedankenspiel? ... 35 3. ANSÄTZE ZUR GENESE EINER GEDENKKULTUR ....................................... 40 3.1 Abgrenzung zum Terminus der modernen Erinnerungskultur ............. 45 3.2 Die Konstituanten der Gedenkkultur ....................................................... 49 3.2.1 Typologien des Gedenkens ................................................................ 50 3.2.2 Grafische Darstellung der Typologien des Gedenkens ...................... 57 3.3 Zur Transformation der Gedenkkultur im vereinten Deutschland Herausforderungen und Ansprüche ........................................................ 58 3.3.1 Die Neukonzeption der Gedenkstätten und die Enquête-Kommissionen ............................................................................................................. 64 3.3.2 Ein vorläufiges Fazit ............................................................................ 68 3.4 Gedenken am authentischen Ort - Die KZ-Gedenkstätten .................... 69 4. DIE GEDENKSTÄTTEN BERGEN-BELSEN, SACHSENHAUSEN UND MITTELBAU-DORA ........................................................................................... 72 4.1 4.2 4.3. 4.4 Die Auswahl der Untersuchungsobjekte ................................................ 73 Vorgehensweise und Methode ................................................................ 73 Geschichtlicher Exkurs ............................................................................ 73 Aufbau und Struktur der einzelnen Untersuchungsobjekte: BergenBelsen, Sachsenhausen und Mittelbau-Dora ......................................... 79 4.4.1 KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen ........................................................ 80 4.4.2 KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ...................................................... 83 4.4.3 KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ........................................................ 84 4.4.4 Kurze Bewertung der Ergebnisse ....................................................... 85 4.5 Die funktionale Gedenkstätte ................................................................... 86 Typologien des Gedenkens 4.6 4.7. 5. DER WIRKUNGSGRAD DER GEDENKTYPOLOGIEN - ENTZAUBERUNG DER AUTHENTISCHEN ORTE? ....................................................................... 98 5.1 5.2 6. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis am Beispiel der Untersuchungsobjekte ........................................................ 91 Die Gedenkstätten unter Anpassungsdruck - Eine zusammenfassende Betrachtung der Ergebnisse ................................................... 94 Kritische Einordnung der Mahnmaldebatte ........................................... 99 Instrumentalisierung der öffentlichen Kommemoration ..................... 104 ZUSAMMENFASSUNG UND BEWERTUNG DER ERGEBNISSE ................. 106 SCHLUSSBETRACHTUNG .................................................................................... 109 7. ANHANG .......................................................................................................... 110 8. LITERATURVERZEICHNIS UND QUELLENNACHWEIS ............................... 113 EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG 2 Typologien des Gedenkens Vorwort Die Überlegungen dieser Arbeit sind ein Angebot, eine Diskussionsbasis. Sie bringen keine Beweise vor, sondern nur Indizien, Hinweise und persönliche Einstellungen, die für sich eine Plausibilität und innere Stimmigkeit beanspruchen, weil ich versuche, sie aus verschiedenen Evidenzquellen und aus den Befragungen zusammenzufügen. Zum Teil getroffene Aussagen und Wertungen sind in der Regel nicht das Resultat akademischer Überlegungen, sondern persönlicher Erfahrungen. Eine enge persönliche Verbundenheit zum Thema, zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Zeit der NS-Herrschaft und ihren verheerenden Folgen noch für Generationen, verhindern oftmals eine objektive Einschätzung. Meine jahrelange Mitgliedschaft in einem Jugendverein, welcher an eine Gedenkstätte formell angegliedert ist und zum Teil freundschaftliche Beziehungen zu überlebenden ehemaligen Häftlingen pflegt, führt teilweise zu apologetischen oder gar moralisierenden Aussagen. Auch wenn die Ausgangslage denkbar ungünstig für eine wissenschaftliche Herangehensweise ist, so lag es mir am Herzen mit dieser Arbeit ein Plädoyer für die ortfeste Gedenkpraxis in KZ-Gedenkstätten zu setzen. 3 Typologien des Gedenkens Einleitung Die dunklen Prognosen, dass unsere Gesellschaft unter Gedächtnisverlust leidet und dies einen Rückgang der öffentlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus mit sich bringt, haben sich nicht erfüllt. Als diametrale Erscheinung ist hingegen der Geschichts- und Erinnerungsboom Wirklichkeit geworden. Die vielen Kontroversen im geschichtspolitischen Bereich zeigen, dass die Bedeutung der Vergangenheit und die Geschichtsdeutung in pluralistisch verfassten Gesellschaften nicht sinkt, sondern dass den Konflikten um die historisch orientierte Sinndeutung eine besonders große Bedeutung bei der Fixierung von Werten beigemessen wird. Der Begriff der Erinnerung hat Konjunktur und resultiert aus einer spezifischen Situation: in Bezug auf die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit stehen wir an einer Epochenschwelle: am Übergang vom kommunikativen zum institutionellen, kulturellen Gedächtnis. Prekärerweise konvergiert der Übergang zum kulturellen Gedächtnis mit einem weiteren historischen Ereignis, das die Virulenz der Erinnerungsdiskussion verstärkt. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stellt aus der Sicht der gesellschaftlichen Integration des kollektiven Gedächtnisses eine doppelte Herausforderung dar: zum einen werden zwei völlig unterschiedliche Erinnerungskulturen zusammengeführt und konfrontiert und zum anderen bedarf es der Berücksichtigung der Geschichte von SED-Diktatur und Stalinismus. Mit dieser Konstellation war von Anfang an die Angst verbunden, dass die Diskurse um die DDR-Vergangenheit und die Bedeutung der Abgrenzung zum Unrecht im NSRegime deren Verbrechen relativieren können. Mit der Liberalisierung der Gedenkplattform konnten sich neben der ortsfesten Gedenkpraxis weitere Formen des reflexiven Umgangs mit dem Nationalsozialismus ausbilden und sich eine weiterentwickelte Form der Erinnerungskultur konstituieren - die Gedenkkultur. Die konstitutiven Elemente der Gedenkkultur werden als miteinander konkurrierende Gedenktypologien vorgestellt und zueinander in Relation gesetzt. Die Memoration am authentischen Ort ist der Ausgangspunkt für alle anderen Formen des Gedenkens, ohne dieses könnten die anderen Formen theoretisch nicht ausgewiesen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass hier der ortsfesten Gedenkmemoria die vorrangige Stellung innerhalb der Gedenkkultur eingeräumt werden wird, soll diese Abhandlung aufzeigen, dass sich die KZ-Gedenkstätten nicht 4 Typologien des Gedenkens nur den offensichtlichen Faktoren, wie der veränderten Wahrnehmung unserer Umwelt und dem Verlust der Zeitzeugen stellen müssen, sondern sich auch gegen die zahlreichen virtuellen Debatten über Gedenkkultur und Denkmalkultur emanzipieren müssen. Diese Ausgangssituation akzentuiert einen Aspekt, welcher in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust bisher nur wenig Aufsehen erregte. Sowohl das Bewusstwerden des bevorstehenden Verlusts der Zeitzeugenschaft, als auch die staatliche Vereinigung rücken die Bedeutung von kollektiv verbindlichen Entscheidungen über die Ausgestaltung einer offiziellen Gedenkkultur in den Fokus des Interesses. Die daraus resultierenden Fragen nach den Beiträgen des politischen Systems zu Form und Inhalt des institutionalisierten Gedenkens manifestieren sich zuerst anschaulich an den authentischen Orten - den KZ- Gedenkstätten. Die zentrale These dieser Arbeit ist, dass wir einen Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur erleben, der zum Verlust der primären Stellung der authentischen Orte, genauer, der KZ-Gedenkstätten führt. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich als Resultat einer Metamorphose innerhalb der Gedenkkultur feststellen. Dieser Prozess beginnt mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Zusammenführen zweier disparater Erinnerungskulturen. Mit der Transformation der beiden deutschen Erinnerungskulturen zu einer bundesweiten Gedenkkultur wird die zweite Phase des Paradigmenwechsels eingeläutet. Die daraus resultierende Liberalisierung archaischer Trauer- und Gedenkriten und die Erweiterung der konventionellen Handlungsfelder der KZ-Gedenkstätten, stellen diese vor immense Herausforderungen und sie geraten innerhalb der politischen Sphäre immer wieder in ein Spannungsverhältnis zwischen Emanzipation und moralisch-pädagogischer Verpflichtung. Wie weit die KZ-Gedenkstätten in unserer Gedenkkultur und unserer Gesellschaft als sinnbildende Elemente und multifunktionale Lernorte verankert sind, wird durch die Ergebnisse der Literaturrecherche zur Thematik aufgezeigt und Aussagen und Prognosen auch durch die Experteninterviews gestützt. Die getroffenen Aussagen beziehen sich im weiteren Sinn auf die KZ-Gedenkstätten im bundesdeutschen Gebiet. Im engeren Sinn werden die Aussagen den drei untersuchten Objekten 5 Typologien des Gedenkens zugeordnet werden. Da nur insgesamt drei Experteninterviews in den Gedenkstätten geführt worden sind, sollen keine apodiktischen Schlussfolgerungen gezogen werden. Die verschiedenen Ausführungen zur Gedenkkultur und den einzelnen Gedenktypologien beziehen sich wiederum auf die KZ-Gedenkstätten und können ihrerseits nur im Licht des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden. 6 Typologien des Gedenkens „Es gibt keine menschliche Kultur ohne das für sie konstitutive Element der gemeinsamen Erinnerung. Durch Erinnern, Deuten und Repräsentieren der Vergangenheit verstehen die Menschen ihr gegenwärtiges Leben und entwickeln eine Zukunftsperspektive von sich selbst und ihrer Welt.“ (Jörn Rüsen) 1. Die Konstruktion der Vergangenheit Kein historisches Ereignis hat die Frage nach der Funktion, nach den Grenzen und nach der Zerstörung von Erinnerung zugleich so radikal gestellt wie der Holocaust. Seit einigen Jahre wird eine anhaltende, länderübergreifende Diskussion in den Kulturwissenschaften zur Erinnerung im weitesten Sinne geführt. Beteiligt sind daran nicht nur die Geschichtswissenschaften, sondern, um hier nur exemplarisch die Wichtigsten zu nennen, ebenso die Literatur- und Kunstwissenschaften, die Ethnologie sowie die Soziologie und Politikwissenschaft. Wie so häufig in aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen, erweist sich die Debatte um die Erinnerung als facettenreich: wissenschaftsintern steht sie im Kontext der intensivierten Reflexion auf die grundlegenden Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis. Gefragt wird nach dem Zusammenhang von individueller und kollektiver Erinnerung, nach dem Verhältnis von Geschichte und Erinnerung, nach den medialen Trägern 1 von Erinnerungen: Schrift und Bild, Denkmale, Orte, Gegenstände und Rituale des alltäglichen Gebrauchs. Darüber hinaus hat die Diskussion aber gerade in Deutschland eine herausragende politische Aktualität: Wir fragen seit einiger Zeit intensiver als früher nach der Bedeutung unserer Erinnerung an die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland für unsere eigene Gegenwart und Zukunft, nach dem rechten moralischen und politischen Umgang mit dieser Erinnerung im Angesicht neuer politischer Konstellationen und Herausforderungen. Erstmals fragen wir nach den 1 Vgl. Assmann, Jan: Kollektives und kulturelles Gedächtnis- Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen- Erinnerung, S. 13-32, in: Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich Theodor (Hg.): Orte der Erinnerung- Denkmal, Gedenkstätte und Museum, Frankfurt/ New York, 1999. 7 Typologien des Gedenkens Chancen und Gefahren des Vergessens. Dass wir uns gerade jetzt so intensiv mit Erinnerungen beschäftigen wollen, korreliert vor allem mit dem fortschreitenden Generationenwechsel. Er rückt die Epoche des deutschen Faschismus heute über die pure zeitliche Distanz hinaus, in eine neue existenzielle Ferne. So ist uns konsequenterweise die jüngere deutsche Geschichte ein wesentlicher Anstoß, für die Frage nach dem Wesen und der Struktur von Erinnerung und meines Erachtens auch notwendig, um die Angst und Konsequenzen des Vergessens zu begreifen. Der Bezug menschlicher außerordentlich komplexer, Gesellschaften kultureller zu ihrer Prozess. In Vergangenheit der ist Erinnerung ein wird Vergangenheit rekonstruiert. Der Begriff der Erinnerung setzt hohe Ansprüche an die Beschreibung komplexer Gesellschaften. Als Wertebegriff oder Ursprungsschema, so wie in der des christlichen Abendlandes, kann es nicht genügen, um die vielen einzelnen, die Vorstellungen einer Zugehörigkeit, eines Zusammenhalts oder einer Verpflichtung zu begründen. Offenbar brauchen wir Erzählungen über gemeinsam errungen Siege, gemeinsam erlittene Verfolgung oder eben gemeinsam begangene Verbrechen, die starke Wir-Gefühle erzeugen können und so den Horizont möglicher Zuschreibung begrenzen. Das alles weist auf eine lange und endlose Geschichte hin, die nie zu Ende erzählt werden kann und selten aufgeht. Wahrscheinlich hängt dies mit dem „sperrigen Charakter“2 von Erinnerungen zusammen, die schwerlich auf eine Linie zu bringen sind, weil sie schnell zu abseitigen, vergessenen und unterdrückten Geschichten führen. Um dem Mythos gleich vorweg zu greifen: authentische Erinnerung gibt es nicht, denn es gibt sie nur als Verfremdung der tatsächlichen Erfahrung, als Schmerz oder als Kontinuitäts- und Traditionsbruch, verbunden mit dem steten Versuch, der Vergangenheit habhaft zu werden. Dabei ist die Erinnerung als solche keine fraglos vorauszusetzende Basis, sich über die Vergangenheit zu verständigen, sondern eine in sich höchst widersprüchliche soziale Form und ein kulturelles Konstrukt, das zumeist durch Trennung und Tod als natürliche Zäsuren in der kollektiven Erfahrungsgeschichte ausgelöst wird. Erinnerung ist nicht einfach nur Bewahrung, Festhalten und Speichern. Vielmehr ist Erinnerung ein „kreativer, modellbildender 2 Vgl. Bude, Heinz: Erinnerung der Generationen, S. 69, in: König/Kohlstruck/Wöll (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen/ Wiesbaden, 1998. 8 Typologien des Gedenkens Prozeß.“3 Das schwierigste Problem allerdings ergibt sich aus der Perspektive des Erinnerns, denn Erinnerung ist auch ein Prozess der Semiose: man erinnert sich vor allem an das, was einem wichtig ist; von dem Punkt beginnend, an dem Licht auf die Ereignisse fällt. Wessen Erinnerung ist nun maßgebend? Was wird in welcher Form erinnert und wer darf wann Einspruch erheben und Korrekturen vornehmen? Welche selektiven Maßnahmen wirken in der Gemeinschaft oder Gesellschaft, um eine bestimmte Erinnerung durchzusetzen und eine andere zu verhindern? Vom Erinnern ist das Vergessen nicht abzulösen, es hat notwendig an ihm Teil und geht in dieses ein. Die konsequente Verbindung von Erinnern und Vergessen zeigt sich noch einmal in seiner paradoxen Form, nach der ein Phänomen erst abhanden gekommen sein muss, damit es in das volle Bewusstsein zurückgelangen kann. Bewusstsein entwickelt sich erst dann, wenn etwas vergangen ist, das nicht mehr der Gegenwart angehört. In der Erinnerung wird die Vergangenheit rekonstruiert, wenn man Bezug auf sie nimmt. Dass man sich auf die Vergangenheit beziehen kann, setzt zwei Dinge voraus: die Vergangenheit darf nicht völlig verschwunden sein, es muss Zeugnisse darüber geben und diese Zeugnisse müssen eine charakteristische Differenz zur Gegenwart aufweisen.4 Diese Differenz kann sich am deutlichsten im Sprachwandel erklären, der sich langsam vollzieht und auch erst dann ins Bewusstsein tritt, wenn man auf sogenannte Sondersprachen oder alte Sprachen stößt. Diese Differenz zwischen dem alten und dem Neuen kann allerdings auf jede andere Art und Weise auftreten, als durch den sprachlichen Wandel. Jeder Kontinuitätsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit führen und zwar dann, wenn nach solch einer Zäsur ein Neuanfang versucht wird. Deutlich wird dies besonders am Beispiel der Renaissance: Neuanfänge treten immer in der Form eines Rückgriffs auf die Vergangenheit auf. In dem Maße wie die Zukunft erschlossen und produziert wird, in dem Maße wird Vergangenheit entdeckt. 3 Assmann, Jan: Kollektives und kulturelles Gedächtnis, S. 16, in: Borsdorf/Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 4 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis- Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 2002, S.32f. 9 Typologien des Gedenkens Die ursprünglichste Form, in der sich die Entscheidung zwischen Verschwinden und Bewahren stellt, ist der Tod. Gewissermaßen ist der Tod die Ur-Erfahrung des zeitlichen Bruchs und die Basis, um eine Erinnerungskultur auszuprägen. Das Totengedenken ist die ursprünglichste und verbreitetste Form der Erinnerungskultur und hat mit dem Begriff Tradition und damit, was wir darunter verstehen, weniger gemein. Dass man sich beispielsweise an Verstorbene erinnert, ist nicht eine Frage der Tradition, sondern „…Sache affektiver Bindung, kultureller Formung und bewussten, den Bruch überwindenden Vergangenheitsbezugs.“5 Sowohl die kulturelle Formung, als auch der bewusste Vergangenheitsbezug sind Bestandteile dessen, was wir als kulturelles Gedächtnis bezeichnen und sich dadurch klar vom Begriff der Tradition ablösen. 1.1 Formen der kollektiven Erinnerung: Das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis Die historischen Ereignisse der Massenverbrechen im 20. Jahrhundert werden in ihrer Repräsentation im kollektiven Gedächtnis mit unterschiedlichen Kategorien belegt. Betrachtet man zum Beispiel die geringe Resonanz, die der in unserer Zeit, zwar auf einem anderen Kontinent mit anderen kulturellen Traditionen6, begangene Genozid bei uns gefunden hat und sicherlich auch später in unserem Gedächtnis haben wird, dann wird sichtbar, wie sehr unsere „eigene Kultur wie ein Filter“ 7 in solchen Dingen wirkt. Denn entscheidend ist nicht was passiert ist, sondern vielmehr wer etwas erinnert und um welchen spezifischen Fall es sich handelt - das zusammen ist ausschlaggebend für die Repräsentation im Gedächtnis. Das heißt auch, dass nicht das Verbrechen, die Vernichtung von Menschen als solches im Vordergrund steht, sondern von wem es welcher Gruppe zugefügt wurde und welche kulturellen Gedächtnistraditionen dafür eine Rolle spielen und damit die Wertigkeit in 5 Assman, J.: Kulturelles Gedächtnis, 2002, S.34. 6 Es handelt sich um den Genozid an den Tutsi und oppositionellen Hutu in Ruanda, Beginn April 1994. 7 Diner, Dan: Massenvernichtung und Gedächtnis- Zur kulturellen Strukturierung historischer Ereignisse, S. 47, in: Loewy, Hanno/ Moltmann, Bernhard (Hg.): Erlebnis-Gedächtnis-Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt a.M., 1996. 10 Typologien des Gedenkens unserer Erinnerung bestimmen.8 Dabei werden gespeicherte Erfahrungen und Ausschnitte aus der Wirklichkeit von jedem anders wahrgenommen und auf eine eigene Weise mit dem „subjektiven Beziehungsnetz“9 der Lebenswelt verknüpft. Die persönliche Erinnerung wird aber durchaus nicht allein vom eigenen, primären Erleben bestimmt, sondern ist immer auch ein Teil größerer Zusammenhänge, von denen es beeinflusst wird, mit denen es lebt und sich verändert. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte der französische Soziologe Maurice Halbwachs seinen Begriff des „mémoire collective“ 10. Die zentrale These, die Halbwachs in seinen Werken voranstellte, ist die von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Die neusten Erkenntnisse in der Hirnforschung und Bewusstseinspsychologie bestätigen den theoretischen Ansatz von Maurice Halbwachs. Wir wissen heute, dass sich das menschliche Bewusstsein inklusive Gedächtnis nur in der Kommunikation mit anderen Individuen entwickelt und persönliche Erinnerung immer auch Teil größerer Zusammenhänge ist. Darauf will der Begriff des kollektiven Gedächtnisses aufmerksam machen. Hier ist es sinnvoll, den Begriff des kollektiven Gedächtnisses als Oberbegriff zu verwenden, innerhalb dessen wir zwischen zwei Gedächtnisrahmen unterscheiden: dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Im kommunikativen Gedächtnis beziehen sich die Erinnerungen auf die rezente Vergangenheit. Es sind Erinnerungen, die die Menschen mit ihren Zeitgenossen teilen. Gemeint ist damit der Erfahrungsaustausch in der Alltagskommunikation in der Familie, in privaten Kreisen und in anderen sozialen Milieus. Das kommunikative Gedächtnis lebt von zufälligen Interaktionen, es ist nicht eingebettet in signifikante Muster, sondern es ist informeller Gestalt. Ein typischer Fall dafür ist das Generationengedächtnis, welches der Gruppe historisch zuwächst, das heißt, es wächst mit seinen Trägern und vergeht auch mit seinen Trägern. Das kommunikative Gedächtnis setzt die Träger der Erinnerungen in eine rege Beziehung zueinander und schafft „lebendige Erinnerungsgemeinschaften“ 11. Diese Gemeinschaften basieren auf spezifischen Erinnerungsstützen, zu denen beispielsweise das familiäre 8 Ebd. 9 Hockerts, Hans Günter: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrungen, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/ 2001, S. 17f. 10 Assman, J.: Kulturelles Gedächtnis, 2002, S.35. 11 Hockerts, H.G.: Zugänge zur Zeitgeschichte, 2001, S.18. 11 Typologien des Gedenkens Fotoalbum zählt. Man könnte auch sagen, dass es sich beim kommunikativen Gedächtnis um ein Kurzzeitgedächtnis handelt, mit dem sich die Gruppenmitglieder über ihre selbst erfahrene Vergangenheit verständigen. Wenn man das kommunikative Gedächtnis in eine Zeitstruktur setzte, würde man von einem Zeithorizont von 3-4 Generation oder von ca. 80-100 Jahren sprechen. Durch die enge kommunikative Beziehung Gedächtnis der Erinnerungsträger zwar zu einem zueinander wird das gruppenbezogenen, aber trägerunspezifischen Gedächtnis, weil es sich grundsätzlich um Zeitzeugen einer Erinnerungsebene handelt, die nicht unbedingt einer spezifischen Gruppe angehören. Der andere Modus hingegen, das kulturelle Gedächtnis, richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit. Die Vergangenheit wird zu einer symbolischen Größe, an die sich die Erinnerungen heften. Die absolute Vergangenheit oder auch Urzeit ist eine symbolische Figur, die sich in Vätergeschichten, in Revolutionen, in Wüstenwanderungen oder auch im Exil wiederfindet und die etwa in liturgischen Festen begangen wird. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht die faktische Erinnerung, sondern ausschließlich die erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, dass im kulturellen Gedächtnis die faktische Geschichte erinnert wird und dadurch in Mythos transformiert wird. Das Mythische bekommt nicht dadurch etwas unwirkliches, sondern wird erst durch die Transformation zum realen Gegenstand. Der Mythos dient der Erhellung der Geschichte vom Ursprung zur Gegenwart und wird zur „(…) fortdauernden normativen und formativen Kraft.“12 Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, ist es hier kaum möglich, einen Zeithorizont zuzuschreiben. Beim kulturellen Gedächtnis kann sich der Zeitlauf von einer mythischen Urzeit bis in die Gegenwart erstrecken. Jan Assmann geht in seinem bahnbrechenden Werk „Das kulturelle Gedächtnis“ davon aus, dass dem kulturellen Gedächtnis Erinnerungsfiguren etwas tragen einen Sakrales religiösen und Religiöses Charakter, der anhaftet. sich Die in der Vergegenwärtigung widerspiegelt, die sich häufig in Form eines feierlichen Aktes vollzieht. Das Fest oder der Feierakt dienen neben vielen anderen Funktionen im 12 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis, 2002, S. 52. 12 Typologien des Gedenkens kulturellen Gedächtnis vor allem dazu, dass Vergangene zu vergegenwärtigen. Sie strukturieren und rhythmisieren den Zeitfluss. Durch den feierlichen Rückblick fundiert die Gruppe in der Erinnerung ihre Identität in der momentanen Realität. Hier meint Assmann, dass diese feierliche und kollektive Retrospektive etwas Außergewöhnliches, nicht Alltägliches hat. Sie ist sozusagen „überlebensgroß“. 13 Das kulturelle Gedächtnis erhält durch die zeremonielle und kollektive Kommunikation eine besondere Formung. Abweichend vom kommunikativen Gedächtnis zeichnet es sich durch einen hohen „Grad von Geformtheit“ 14 ab, der sich zunächst in den zeremoniellen und wiederkehrenden Festen und einer traditionellen Kodierung abzeichnet. Die Kodierung vollzieht sich als solche in Texten, Bildern, Tänzen und Riten. Durch die Feierlichkeit verliert das kulturelle Gedächtnis den informellen Alltagscharakter und ist nicht länger Bestandteil der Alttagskommunikation. Während im kommunikativen Gedächtnis die Träger unspezifisch sind und man zumeist von Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft spricht, sind die Träger des kulturellen Gedächtnis spezifisch. Das korrespondiert mit der speziellen Position des kulturellen Gedächtnisses, der Alltagsenthobenheit. Diese besondere Form der Kommunikation bedarf einer spezialisierten Trägergemeinschaft, die den zeremoniellen Charakter auch adäquat weitergeben kann. Zu dieser Trägerschaft gehören zum Beispiel Priester und auch Lehrer und Künstler. Da sich das kulturelle Gedächtnis im Gegensatz zum kommunikativen nicht von selbst herumspricht, bedarf es hier einer gewissen Einweisung und Kontrolle. Gleichzeitig kann durch die Abgrenzung gewährleistet werden, dass das spezifische Wissen über die Vergangenheit nur an Gruppenmitglieder weitergeben wird, aber es wird auch dazu führen, dass ein Teil vom Wissen verborgen bleibt für andere. Im Judentum wurden gezielt die Frauen vom „elitären“ Wissen um die Vergangenheit ausgeschlossen, in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts waren es die unteren Schichten, denen konsequent der Zugang hierzu verweigert wurde. Die Unterscheidung der beiden Erinnerungsmodi ist wichtig, da im folgenden Hauptteil die Begriffe häufiger verwendet werden. Es ist als Voraussetzung 13 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis, 2002, S. 53. 14 Vgl. dazu: Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung- Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München/ Wien, 1995, Grafik S.359. 13 Typologien des Gedenkens notwendig, um zu verstehen, was mit dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis gemeint ist. Als logische Anknüpfung würde sich die öffentliche Erinnerungskultur hier auch als Gedächtnismodus zum Vergleich anbieten. Doch die Erinnerungskultur wird als theoretisches Rahmenkonstrukt genutzt, um darin die beiden Gedächtnismodi einzubetten und um die Gedenkkultur zu generieren. Deshalb wird an dieser Stelle darauf verzichtet. Ferner ist die Erinnerungskultur ein eigenes Handlungsfeld mit einer komplizierten Entwicklungsgeschichte und verdient einen eigenen Bearbeitungsteil. 1.2 Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus - Zur Spezifität des Opfergedenkens Sucht man nach einem historischen Ereignis, an dem sich im Sinn einer politischen Basiskultur sowohl das individuelle Verhalten, als auch die staatliche Politik orientieren könnte, so findet man kein herausragendes positives Ereignis oder große soziale und politische Errungenschaften - obwohl es einige davon gäbe. Vielmehr ist es die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, die als Verbrechen gegen die Menschheit den äußersten Orientierungspunkt festlegt. „Sie bedeuten nicht allein einen Zivilisationsbruch, (…) <sie> markieren zugleich Potenzial und Perversion der Zivilisation.“15 Angesichts des Versuchs der Auslöschung des Judentums hat jedes Unterfangen, das Verhältnis von Erinnerung und Gegenwart zu bestimmen, eine nicht mehr zu übertreffende Zuspitzung erfahren. Im Kontext der Menschheitsverbrechen dieses Jahrhunderts und ihrer kontroversen Deutungen, ist der nationalsozialistischen Massenvernichtung die Rolle eines scheinbar absoluten Maßstabs zugewiesen worden. Die unterschiedlichen Kriegs- und Völkermordverbrechen, die Terrorakte und Bürgerkriege im 20. Jahrhundert, welche Ursache sie auch immer haben, beanspruchen eine Position und Geltung im Rahmen einer universalen Interpretation der Menschheitsgeschichte in ihrem Vergleich mit dem Holocaust. Wenn die Rede von der Singularität der deutschen Verbrechen unter dem Nazi15 Jeismann, Michael: Auf Wiedersehen Gestern - Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart/München, 2001, S.22. 14 Typologien des Gedenkens Regime ist, so kann dieser Begriff nicht die Unvergleichbarkeit bedeuten16, schon deshalb nicht, da das gesamte 20. Jahrhundert geprägt ist durch millionenfachen Mord. Zumindest ein Vergleich mit den Verbrechen der Stalinära muss im Sinne weiterer Erkenntnis erlaubt sein. Singularität meint natürlich auch nicht die Banalität, dass jedes Ereignis, jeder Handlungskomplex in der Geschichte etwas Einmaliges und Einzigartiges ist. Vielmehr kann Singularität in diesem Zusammenhang vernünftigerweise nur bedeuten, dass die Menschheitsverbrechen, die wir17 damals begangen haben, ihre Quantität und die einzigartige Qualität ein neues Kapitel in der menschlichen Geschichte eröffnet haben. Die Singularität verifiziert sich zudem dadurch, dass ‚…noch nie zuvor ein Staat (…) beschlossen (…) hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzt.’18 Es wurde mit der systematischen, industriell betriebenen Ausrottung von Menschengruppen nicht nur ein neuer Modus auf der Skala der Möglichkeiten des Tötens erreicht, sondern sofern es zu beurteilen ist, ein qualitativer Sprung getan. Denn es war nicht nur die massenhafte Vergasung neu - vielmehr war es die distanzierte, kalte und fabrikmäßige Vernichtung der Opfer, welche die nicht zu übertreffende Menschenverachtung darstellte. Ein zweiter Betrachtungspunkt kommt hinzu, der zweifelsohne in der Einschätzung der Singularität nicht fehlen darf: Die Shoa ist apodiktisch auch durch das Ausmaß der Modernität singulär, der ihre so rationale Technik und großräumige Organisation entstammt und die das Irrationale der Vernichtungsanlagen erst voll entfesselt hat. Gewiss ist das eine sehr einseitige Betrachtung der Modernität, aber doch sehr wohl ein Spezifikum des zwanzigsten Jahrhunderts. „Die Jüdische erfahrbar.“19 Identität ist seitdem ohne dieses singuläre Grauen nicht 16 Vgl. dazu: Diner, Dan: Kreisläufe - Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin, 1995, S. 60-111. 17 „Wir“ wird hier als ein nationales und historisches Wir begriffen. Es soll keine Abgrenzung zu den vorherigen Generationen geschehen oder einen Exculpationsversuch rechtfertigen. Jede Generation, die eine Nation ausmacht, reicht in verschiedenen zeitliche Tiefen zurück, also auch in die Generation der Eltern und Großeltern - wir alle sind Teil dessen. (in Anlehnung an C. Meier) 18 Zitat nach Eberhard Jäckel in: Christian Meier: Vierzig Jahre nach Auschwitz - Deutsche Geschichtserinnerung heute, München, 1990, 2. Auflage, S. 39. 19 Meier, Christian: Vierzig Jahre nach Auschwitz, 1990, S. 40. 15 Typologien des Gedenkens Wie auch immer die Diskussion um die Singularität des Holocaust geführt werden soll, es geht um die absolute Ausnahme und diese Ausnahmsartigkeit der Vernichtung muss zumindest klar sein. Die Ausnahmsartigkeit ist ein Resultat von Vergleichen mit anderen Menschheitsverbrechen. Wer jedoch solche Vergleiche zieht, setzt sich immer dem Verdacht aus, damit andere Verbrechen zu relativieren. Es ist nicht die Absicht, andere Morde zu relativieren, Opferzahlen aufzuheben oder qualitativ zu bemessen. Es soll auch keine moralische Betrachtung sein, sondern eine historisch eingeordnete Einzigartigkeit. Die wissenschaftliche Aussage besteht darin, dass zum einen noch nie so viele Menschen der totalitären Herrschaft eines radikalen Regimes zum Opfer fielen und zum anderen, dass nie zuvor speziell eine andere Rasse Opfer von gezielter, technologisierter Ausrottung über das eigene Staatsgebiet hinaus wurde. Der durch die Ermordung entstandene Verlust der Juden ist nicht zu ersetzen, die von ihnen jahrhundertelang geformte Kultur in Mitteleuropa ist unwiederbringlich verloren. Im Verhältnis von Opfern und Tätern kann von Aussöhnung oder Ausheilen der Wunden keine Rede sein. Der Holocaust besteht in seiner singulären Abscheulichkeit also auch im Vergleich. Das ist die Bedingung seiner Nachwirkung, seiner steten Präsenz. Dies muss man sich vor Augen halten, um die Erinnerung dessen und das Gedenken daran nicht als Zumutung zu begreifen. Das ist ein Vermächtnis, das die Nachkommen der Täter bereits seit mehr als zwei Generationen und noch auf nicht absehbare Zeit belastet. Alle oberflächlichen Versuche, mit der Vergangenheit eine adäquate Umgangsform zu finden, sind gescheitert. Die Geschichtserinnerung ist eng verknüpft mir der Identität unseres Gemeinwesens. Wir würden eine angemessene Form der Erinnerung und des Gedenkens finden, wenn wir in weit mehr als nur in juristischer Hinsicht die Nachfolge des deutschen Reiches angetreten hätten, wenn wir nicht in irgendeiner „freiwillig-unfreiwilligen Weise“20 einzustehen hätten für diese Vergangenheit, deren Negation derart mit dem Beginn unserer Demokratie verbunden war, dass sie sich mit deren Befestigung allgemein durchsetzte. Die Beispiellosigkeit und die Radikalität des Holocaust machen ihn nicht nur unfassbar, sondern bringen auch die Erinnerung an ihn in eine Spannung, die kaum 20 Meier, C. Vierzig Jahre nach Auschwitz, 1990, S. 20. 16 Typologien des Gedenkens auszuhalten ist. Die Last der Vergangenheit darf in unserer Gesellschaft nicht das existenzielle Bedürfnis wecken, zu vergessen und zu relativieren. Der zivilisatorische Bruch durch den Holocaust und die unfassbare Zahl der Opfer war und ist einzigartig und verdient deshalb ein einzigartiges Gedenken. Jedoch sollte sich dieses Gedenken in erster Linie auf alle Opfer des NS-Regimes beziehen; zwar kann man Geschichte nur begreifen, wenn man die Differenzen nicht einebnet 21, jedoch keinesfalls zu Lasten einer öffentlich gewollten Hierarchisierung der Opfergruppen. 21 Jäckel, Eberhard: Die Einzigartigkeit des Mordes an den europäischen Juden, S.170, in : Rosh, Lea: „Die Juden, das sind doch die anderen“ - Der Streit um ein deutsches Denkmal, Berlin/Wien, 1999. 17 Typologien des Gedenkens Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Vergessen verlängert das Exil. (Israel Baal Schem Tov) 2. Zugang zu einer Erinnerungskultur Wie bereits im vorhergehenden Teil ersichtlich wurde, hat das Gedächtnis und die damit verbundenen Erinnerungen eine lange und uns Menschen genuine Tradition. Wir betrachten die Erinnerung an vergangene Ereignisse und an Erfahrungen als selbstverständlich und für jeden Menschen ist ein Verlust des Gedächtnisses eine katastrophale Erfahrung, die Selbstverständnis unmöglich macht. Allerdings wissen wir auch, dass traumatische Erfahrungen bewusst zur Ausblendung des Erlebten führen können und eine Art Schutzmechanismus entfalten, um ein Weiterleben zu ermöglichen. Die Hinterlassenschaft des NS-Staates ist jedoch kaum lebensbedrohlich, aber wie sich auch 60 Jahre nach dem totalen Zusammenbruch des Dritten Reichs zeigt, noch für Generationen eine beschwerliche und brisante Erblast. Es ist eine Last, derer man sich nach 1945 entledigen wollte und so hat sich das deutsche Volk anstatt in eine „anamnetische Solidarität“ 22 in eine solidarische Amnesie begeben. Bevor die Erinnerungskultur und ihre Entwicklung in groben Zügen nach 1945 vorgestellt und folgend speziell auf die Entwicklung nach 1990 eingegangen wird, soll versucht werden, die einzelnen Begriffe klar voneinander abzugrenzen, um zu erklären, warum vorerst eine Anlehnung an den Begriff der Erinnerungskultur notwendig ist. Dabei ist die Diskussion über die adäquate Terminologie, wenn es um die Vergangenheit und ihre Aufarbeitung in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein geht, bereits zum Selbstzweck geronnen. Zunehmend wurde der Terminus „Vergangenheitsbewältigung“ zur Diskussionsgrundlage, zum Schlagwort und zentralen Kampfbegriff der politischen Auseinandersetzung. Sachliche Argumente 22 Begriff von John Baptist Metz in: Assmann, Jan: Kollektives und kulturelles Gedächtnis, S. 32, in: Borsdorf/Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 18 Typologien des Gedenkens und Aufklärungen haben in der Vergangenheitsdiskussion keinen leichten Stand. Jedoch ist es nicht Ziel dieser Arbeit, sich an diesem Diskurs zu beteiligen, sondern kurz die Entstehungen der einzelne Begriffe darzustellen und abschließend in vier Entwicklungslinien die Erinnerungskultur mit den symptomatischen Erscheinungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenzufassen. Der Terminus der Vergangenheitsbewältigung kam in der Bundesrepublik etwa Mitte der 50er Jahre in Umlauf und stand damals im Focus eines moralisch geprägten Politikverständnisses.23 Er fällt damit bereits in die zweite Entwicklungslinie der Erinnerungspolitik und ist gemeinsam mit der Schuld- Debatte deren prägender Bestandteil. Der Terminus ist immer wieder kritisiert worden. Der Einwand bezieht sich auf den Bestandteil „Bewältigung“; er impliziere, dass die Vergangenheit nachträglich veränderbar sei und birge die trügerische Annahme, man könne mit der Vergangenheit abschließen. Dass man dies wohl mit keiner Vergangenheit tun kann und schon gar nicht mit dieser, darin sind sich die Kritiker wohl auch einig. Hannah Arendt ging sogar noch einen Schritt weiter und bemühte nicht länger die Illusion der Bewältigung. Sie glaubte, dass das Höchste was man erreichen kann, die Gewissheit ist, dass es so und nicht anders gewesen ist und dass man das aushalten muss.24 Andere Autoren haben andere Begriffe vorgeschlagen, aber grundsätzlich neue Termini sind dabei nicht entstanden. Die wohl berühmteste Alternative ist die „Aufarbeitung der Vergangenheit“.25 Sie entstammt einem Vortrag von Theodor W. Adorno von 1959. Mitte der 90er Jahre hat Peter Reichel den Begriff der „Erinnerungskultur“ in die Diskussion eingebracht und diese maßgeblich beeinflusst, und er begründet das folgendermaßen: „Er ist unpathetisch und verweist sehr viel präziser (…) auf das Handlungsfeld, das kulturelle Teilsystem, und den gesellschaftlichen Prozesscharakter und (…) der kollektiven Vergegenwärtigung von Vergangenheit.“26 Neu an diesem Begriff ist hier, dass Reichel durch den Kulturbegriff seinem 23 Vgl. König,H./ Kohlstruck,M./ Wöll,(Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Einleitung, Opladen/ Wiesbaden, 1998. 24 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft- Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München/ Zürich, 2001, 8. Auflage, S. 29-267. 25 König, Helmut: Die Zukunft der Vergangenheit – Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik, Frankfurt a.M., 2003, S.7. 26 Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung, Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München/ Wien, 1995, S. 331. 19 Typologien des Gedenkens Terminus einen allumfassenden, beinahe „kollektiven“ Charakter gibt und so eine ganze Gesellschaft in einen Prozess einbindet. Kritisiert werden die Begriffe alle gleichermaßen, weil sie sich im wesentlichen auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und deren Konsequenzen beschränken und das Zusammenspiel von politischer, kultureller, wissenschaftlicher, pädagogischer und religiöser Ebene außer acht lassen.27 Einen beachtlichen Beitrag zur Diskussion konnte auch Norbert Frei mit seinem Begriff „Vergangenheitspolitik“ leisten. In seiner zeitgeschichtlichen Studie beschreibt Frei damit eine Fülle von politischen Maßnahmen, die in den ersten Jahren der Bundesrepublik dazu führten, dass ehemalige NS-Täter in das neue demokratische System geschleust wurden.28 Hingegen zog es Edgar Wolfrum vor, von „Geschichtspolitik“ zu sprechen.29 Wolfrum bezeichnete mit diesem Terminus vorwiegend den politisch-instrumentellen Umgang mit der Geschichte und Geschichtswissenschaft zur Beeinflussung von Gegenwartsdebatten. Dieser Begriff wurde 1986 zum ersten Mal in die Diskussion eingeführt. Die erwähnten Bezeichnungen haben den Vorteil, dass mit ihnen ein jeweils abgrenzbarer Bereich beschrieben werden sollte, nur ein Aspekt in das Zentrum der Diskussion gerückt wird. Allerdings hat dies wiederum den Nachteil, dass dadurch die Gesamtheit der Phänomene außer acht gelassen werden. Deswegen wird nachfolgend der Begriff der Erinnerungskultur bevorzugt, denn qua Definition ist dieser Begriff derjenige, mit dem umfassend das Spektrum der Phänomene bezeichnet werden kann. Dass die Bundesrepublik nach der Katastrophe des Holocaust entstanden ist und sich aus der Hinterlassenschaft des sogenannten Dritten Reiches entwickelt hat, ist nicht auf das ein oder andere Politikfeld begrenzbar. Die NS- Vergangenheit hat alle Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Existenz der Bundesrepublik zutiefst geprägt. Dass der Terminus Erinnerungskultur aber auch kein „catch-all-term“ ist und ebenfalls sehr kritisch betrachtet wird, zeigt zunächst die Umschreibung von Hockerts: „Was man neuerdings ‚Erinnerungskultur’ nennt, dient als lockerer Sammelbegriff für 27 König/Kohlstruck/Wöll: Vergangenheitsbewältigung, Einleitung, 1998. 28 Vgl. Meyer, Erik: Erinnerungskultur als Politikfeld. Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik, S. 121-137, in: Bergem Wolfgang (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungskurs, Opladen, 2003. 29 Zitiert nach König, H .:Zukunft der Vergangenheit, 2003, S.8f. 20 Typologien des Gedenkens die Gesamtheit des nicht spezifischen wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte (…)- mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke, von der Gedenkrede des Bundespräsidenten (…) bis zum Fernseh-Infotainment über ‚Hitlers Frauen’.“30 Es mag sein, dass Hockerts eine Abgrenzung zur zeitgeschichtlichen Forschung sucht, mit seiner Definition zur Erinnerungskultur ist ihm das jedoch nicht gelungen. Vergleicht man den Terminus, so wie ihn Reichel umschreibt, mit dem Begriff, den Hockerts benutzt, dann ist augenscheinlich, dass Hockerts dies wohl mit der meist als „öffentlichen Kommemoration“ bezeichneten und im weiteren Sinne gefassten Erinnerungskultur gleichsetzt. Den Terminus der Erinnerungskultur nach Reichel ist geeignet, um präzise eine Reihe von politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, Wegen und Zielen in der Bundesrepublik nach dem Kriegsende zu beschreiben. An ihm können vier Wellen der Entwicklung einer Erinnerungskultur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konstruiert werden. Der negative Bezug auf die NS-Vergangenheit ist für das politische Bewusstsein von Anfang an bestimmend gewesen. Die klare Abgrenzung solcher Entwicklungslinien ist im Vergleich zur Erinnerungspolitik in der DDR nicht möglich. Zwar durchläuft die Erinnerungskultur in der DDR durchaus verschieden Phasen, diese sind jedoch grundsätzlich bestimmt vom antifaschistischen Gründungsmythos und dem vermeintlich vollständigen Bruch zur Vergangenheit. Die erste vorangestellte These, dass wir seit Beginn der 90er Jahre einen Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur erleben, kann nur verifiziert werden, wenn die vorhergehenden Phasen zumindest in ihren Grundzügen dargestellt werden. Begonnen wird mit der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik, um anschließend auf die Entwicklungen in der DDR einzugehen. 30 Hockerts, H. G.: Zugänge zur Zeitgeschichte, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2001, S. 16. 21 Typologien des Gedenkens 2.1 Erinnerungskultur im geteilten Deutschland Wenn man in einem Satz die Erinnerungskultur in den beiden deutschen Staaten konzentriert gegenüberstellen sollte, wäre folgende Aussage wohl am treffendsten: „Das geteilte Deutschland hatte sich mit dem Gedenken arrangiert: als sozialistische Pflichtübung hier, als fakultatives Angebot politischer Bildung dort.“31 Ein für die gesamte Nation handelndes politisches Handlungssubjekt gab es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht und es waren die alliierten Besatzungsmächte, die die Änderungen und deren Umfang im politischen, wie gesellschaftlichen vorgaben. Innerhalb der von diesen vorgegebenen Parameter knüpfte das Grundgesetz zusammenbrechenden der Republik Bundesrepublik an. Vor allem an die Erfahrungen der in der Beseitigung der Präsidialkompetenzen des Präsidenten der Weimarer Republik, der Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums und der Fünf-Prozenthürde für Land- und Bundestagswahlen wurden Mechanismen installiert, welche die neue Demokratie stabilisieren sollten. Die DDR hingegen knüpfte in ihrem Selbstverständnis nicht an das Ende, sondern an den Beginn der Weimarer Republik an. Sie verstand sich als die Koda der auf halber Strecke beendeten Revolution der Jahre 1918/19. Sie sozialisierte die Produktionsmittel, entmachtete die bürgerliche Elite und enteignete die Großbauern, um die Herrschaft der Arbeiter und Bauern zu errichten. Dies waren die Voraussetzungen unter denen die antagonistischen deutschen Staaten verschiedene Formen einer Erinnerungskultur etablierten. Der Umgang mit dem schwierigen NS- Erbe folgte unterschiedlichen politischen Interessen, Interpretationen und kollektiven Identitätsbildungen. So wurde zwischen den beiden deutschen Staaten die sich mit der NS-Erblast abmühende Politik und die Erinnerungskultur zu einem heftig umstrittenen Terrain. Mit dem politischen Umbruch in der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1989 und mit der Vereinigung Deutschlands öffneten sich die Barrieren, die eine gemeinsame Auseinandersetzung der Deutschen in Ost und in West mit ihrer 31 Dittberner, Jürgen: Schwierigkeiten mit dem Gedenken - Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Opladen/ Wiesbaden, 1999, S. 9. 22 Typologien des Gedenkens gemeinsamen Vergangenheit jahrzehntelang im geteilten Deutschland verhindert hatten. Die Folgen waren das Entstehen zweier gegensätzlicher Erinnerungen an die Verbrechen der Nazi-Diktatur und der ungleiche Umgang mit diesem Erbe, begründet in unterschiedlichen politischen Prägungen und in den Allianzen des Kalten Krieges. Der Wegfall der Barrieren ist zugleich eine Aufforderung zur Verständigung über die gemeinsame Geschichte und über Wege und Formen eines gemeinsamen Erinnerns und Gedenkens als Elemente unserer politischen Kultur.32 2.1.1 Die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Nach dem Kriegsende nutzten die Siegermächte einen Teil der Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes als Internierungslager. Legitimiert durch die Richtlinien des Potsdamer Abkommens von 1945 dienten sie zur Inhaftierung deutscher Bürger. Während die amerikanischen Besatzungsmächte das KZ Dachau als Internierungslager nutzten- Inhaftierte wurden später entweder vor Gericht gestellt oder entlassen- wurden in der sowjetischen Zone die Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald als Internierungslager eingerichtet und blieben versehen mit dem Kürzel „NKWD“ bis 1950 bestehen. Unter Androhung schwerer Strafen war den Inhaftierten verboten, über das Lagerleben zu sprechen. Durch in Folge von Unterernährung grassierende Krankheiten und Misshandlungen durch die Lageraufseher kamen noch einmal Tausende von Menschen um. Selbst nach der Auflösung der Internierungslager zwischen 1952 und 1953 blieb es für viele ein Tabuthema. Die Bundesrepublik war von Anfang an unmittelbar mit der NS-Geschichte konfrontiert. Ihr stand nicht die von der DDR vorgeführte Überwindung durch „universalisierende Deutung“33 zur Verfügung. Zwar vollzog sich die Erinnerungsentwicklung bisweilen ohne gesellschaftsimmanenten Anspruch, aber die Vergangenheitserinnerung blieb immer Bestandteil des Prozesses, ob im Verleugnen oder Vergegenwärtigen. Trotz eines erfolgreichen Wiederaufbaus, eines international angesehen 32 Vgl. Puvogel, Ulrike: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation, Einleitung, Band II, Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 1998, S. 11-26. 33 Reichel, P.: Politik mit der Erinnerung, 1995, S.40. 23 Typologien des Gedenkens Wirtschaftswunders und einer bemerkenswerten politischen Stabilität und nachfolgenden gesellschaftlichen Demokratisierung, blieb die Bundesrepublik eigentümlich unsicher in ihrem Selbstbild. Die Wohlfahrtsdemokratie konnte die „beschwiegene Schuld“34 nicht überdecken, was sich deutlich an den immer wiederkehrenden Schändungen jüdischer Friedhöfe und Synagogen oder bei der Enttarnung von Politikern mit NS- Vergangenheit vergegenwärtigte. Es schien, als ob die Bundesrepublik nicht in der Lage sei, den Zivilisationsbruch während der Nazi-Diktatur in ihr positives Selbstbild zu integrieren. Dazu waren immense Anstrengungen notwendig und die Bundesrepublik war gezwungen, sich auf einen langwierigen Prozess der Auseinandersetzung und Erinnerung zu begeben. Die Geschichte der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik kann in vier unterschiedliche Phasen eingeteilt werden und beginnt mit der ersten Phase in der Nachkriegszeit. Die sogenannte Schuld-Debatte35 in der Nationalsozialismus, Krieg und Vernichtung unter stark moralischen und abstrakten Gesichtspunkten bewertet wurden, war wichtiger Bestandteil dieser ersten Periode. Die 50er Jahre, stehen für die zweite Phase der Entwicklungslinien und umfassen präziser die Zeit der Adenauer Ära. Kennzeichnend hierfür ist die Gegensätzlichkeit in der Erinnerungskultur, denn zum einen werden ehemalige Täter und Parteigänger der NS-Herrschaft durch Amnestie in die junge Demokratie geschleust und unauffällig integriert, gleichzeitig aber zieht die neue Demokratie der Bundesrepublik einen klaren Schlussstrich und distanziert sich vom Nationalsozialismus. Die zweite Phase kann am besten mit den Worten von Peter Reichel charakterisiert werden: als „Apologie der Verleugnung“.36 Im Unterschied zu den beiden bereits genannten Perioden, wird die dritte Phase einen sehr viel längeren Zeitraum umfassen, zwischen 1960 und 1990 nämlich. König bezeichnet dieses Zeitfenster als „lange Welle“, in der sich der negative Bezug auf die NS-Vergangenheit zum zentralen Deutungsmuster der politischen Kultur in 34 Schwan, Gesine: Politik und Schuld- Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt am Main, 1997, S. 202 35 Anm.: Karl Jaspers hatte 1946 die Schuld abgestuft von der politischen über die moralische zur metaphysischen Schuld. Siehe dazu auch: Schwan, G.: Politik und Schuld, 1997, S. 50-54. 36 Reichel, P.: Politik mit der Erinnerung, 1995, S.15. 24 Typologien des Gedenkens der Bundesrepublik ausweitet.37 Die vierte Phase umfasst die Zeit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und damit auch das Aufeinandertreffen zweier disparater Erinnerungskulturen. Das bringt einerseits einen konjunkturellen Aufschwung in die Erinnerungsdiskurse und anderrerseits verändert sich das Gefüge, in dem sich die Erinnerung bisher eingliederte. Grundlegende Veränderungen in der Erinnerungskultur und im Umgang mit ihr sind die Folge. Am Beispiel der KZ-Gedenkstätten wird später aufgezeigt, worin sich diese Wechsel in der Erinnerungskultur widerspiegelt. Zum anderen verändert sich der gesellschaftliche Blickwinkel auf den Nationalsozialismus. Die Vergangenheit wird zur Geschichte. Ein Phänomen der Zeitgeschichte rückt in einen anderen Zeithorizont und stellt die Erinnerungskultur auch dadurch vor veränderte Rahmenbedingungen. Natürlich diente diese recht grobe und oberflächliche Einteilung nur der Orientierung. Die einzelnen Phasen sind eng miteinander verbunden und können nicht für sich allein ihre Geltung beanspruchen, da sie einander bedingen und auch zeitlich ineinander übergehen. Die Homogenität der politischen Entwicklungen in den ersten beiden Phasen ist sicher unstrittig, wogegen die dritte Phase eher durch ihre Heterogenität der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen besticht. Diesem Zeitraum ist der Mauerbau und am Ende die Herstellung der deutschen Einheit zuzuordnen; sie umfasst auch die Spätphase der Regierung Adenauer, die Zeit der Großen Koalition, die sozialdemokratischen Bundeskanzler Brandt und Schmidt und die Regierungszeit von Helmut Kohl. In diese Zeit fallen auch die Revolten der Außerparlamentarischen Opposition, der linke Terrorismus, der Historikerstreit, die Ausstrahlung des „Holocaust“ - Films und die Rede Richard von Weizsäckers zum vierzigsten Jahrestag des 8. Mai 1985, in der die Mehrheit der Jüngeren den Eindruck gewinnen konnte, dass endlich die offizielle Rhetorik zwischen nationaler Niederlager und politischer Freiheit durchbrochen wurde.38 Bei aller politischer Inhomogenität und allen Spannungsbögen dieser Phase, erscheint diese aber im Blick auf den Nationalsozialismus als eine große Einheit. „So zentral wie in dieser langen 30jährigen Welle nach 1960 ist die NSVergangenheit nie zuvor im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik 37 Vgl. König, H.: Zukunft der Vergangenheit, 2003. 38 Vgl. Jeismann, M.: Auf Wiedersehen Gestern, Stuttgart/München, 2001, S.67. 25 Typologien des Gedenkens gewesen.“39 Die NS-Vergangenheit wurde zudem zum zentralen Konflikt zwischen den Generationen, und der Elterngeneration wurde nicht nur die Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen, sondern auch die Apologie des Vergessens und Verdrängens zur Last gelegt. Gibt es seit den achtziger Jahren ein kontinuierliches Interesse der Geschichtsdidaktik und der politischen Bildung am Holocaust, so ist das eine Entwicklung, die aus der „langen Welle“ resultiert. Der Bezug auf die NSVergangenheit und den Holocaust wurde in diesen 30 Jahren zum konfliktträchtigen Zentralthema, das konkurrenzlos das Feld der politischen Kultur in der Bundesrepublik beherrschte, zum Kernpunkt des politischen Bewusstseins in der Bundesrepublik. Mit dem Ende der sozialistischen Systeme in Osteuropa und der Herstellung der deutschen Einheit wurde die vierte Phase der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit angebrochen. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme und das dadurch bewirkte Hinzutreten einer zweiten diktatorischen Vergangenheit, die es zu verarbeiten galt, waren nicht die einzigen Ursachen hierfür. Andere Faktoren kamen hinzu: so fand die Auseinandersetzung nicht mehr in den „Koordinaten eines familiären oder intergenerationellen Dramas“40 statt. Zugleich wurde die Verdrängungstheorie, die besonders die 68er Generation kritisierte, als vorherrschendes Narrativ in der politischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik abgelöst. An ihre Stelle trat zu Beginn der 90er Jahre die funktionale Gedächtnistheorie, die auf den Soziologen Halbwachs zurückgeht. Die Unterscheidung zwischen kommunikativem „Kurzzeitgedächtnis“ und kulturellem Langzeitgedächtnis deutete auf ein erstes Motiv für die aktuellen Veränderungen im Umgang der Deutschen mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust.41 39 König, H.: Zukunft der Vergangenheit, 2003, S.18. 40 König, H.: Zukunft der Vergangenheit, 2003, S.19. 41 Bergem, Wolfgang: Barberei als Sinnstiftung? Das NS-Regime in Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur der Bundesrepublik, S. 82, in: Bergem Wolfgang (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen, 2003. 26 Typologien des Gedenkens 2.1.2 Die Erinnerungskultur in der DDR Anfangs in Kriegsverbrecherprozessen gemeinsam begonnen, trennten sich die Wege der Siegermächte schnell, wenn es um die Aufarbeitung der Geschichte ging. Während in der amerikanischen Zone mit einem „re-education“ - Programm in kürzester Zeit versucht wurde, liberal- demokratische Werte zu manifestieren, etablierten die Sowjets im Osten eine Diktatur nach sowjetischem Muster, die sich als offiziell „antifaschistisch“ begriff.42 So blieb die DDR lange auf ihrem Ritus des heroisierten kommunistischen Widerstands fixiert. Im übrigen legitimierte diese Antifaschismus - Ideologie ein Vorbeimogeln an der Geschichte und eine Distanzierung der fatalen Verbrechen an der Menschheit. Kurz gesagt: der verordnete Antifaschismus untergrub jegliche Motivation einer aktiven Kontroverse; per se konnte man sich als Bürger in der Sowjetzone und späteren DDR als Antifaschist und darum als „gereinigt“ betrachten. Die Errichtung von Gedenkstätten an den Orten früherer Konzentrationslager ging zuerst und anfangs vor allem von aktiven Bürgergruppen und ehemaligen Häftlingen aus. Die „Aktion Sühnezeichen“ übte mit der Unterstützung von zahlreichen Häftlingsverbänden- und Komitees in den fünfziger und sechziger Jahren erheblichen Druck auf die Öffentlichkeit aus. Diese Entwicklung geschah gleichermaßen in den beiden Teilen Deutschlands.43 Die DDR-Staatsführung integrierte die Gedenkstätten in das Herrschaftssystem und etablierte eine verordnete Erinnerung an den Orten des antifaschistischen Kampfes und millionenfachen Todes. Dort sollte gezeigt werden, „…dass es einen heroischen und schließlich siegreichen Widerstand gegeben habe, den der Kommunisten.“44 Diese Selektierung von Erinnerung, im Sinne eines kommunistisch- dominierten Antifaschismus war bezeichnend für die Erinnerungskultur in der DDR. Einzig der kommunistische Widerstand wurde als Widerstand anerkannt und nicht nur mythisiert, sondern vor allem heroisiert, aus ihm bezog man die Legitimation des Systems. Cora Stephan meint dazu: der Antifaschismus wurde Staatsräson, da nach dieser Doktrin Faschismus nicht auf dem Boden der Delegitimation der Weimarer 42 Vgl. Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken,1999, S. 14. 43 Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken, 1999, S. 15. 44 Ebd. 27 Typologien des Gedenkens Republik gediehen sei, nicht aus mangelnder Verankerung der demokratischen Werte im politischen Bewusstsein der Deutschen entstanden ist, sondern sich naturgesetzlich aus der kapitalistischen Gesellschaft ergebe, somit totalitäre Regime wie die DDR über den Faschismus- Verdacht erhaben seien.45 Der nationalsozialistische Völkermord hatte keinen Platz in der Faschismustheorie, wonach vor allem eine kleine Gruppe von Monopolkapitalisten 46 für den Aufstieg der Nationalsozialisten verantwortlich war. Moralisch, aber auch politisch rangierten die jüdischen Opfer hinter den politischen Gegnern, den Kommunisten und Kämpfern gegen den Faschismus. Der Beginn des Kalten Krieges 1948/49 und die Stalinisierung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) führten zu einer zunehmenden Einengung, Vereinheitlichung und Ritualisierung der offiziellen Erinnerungskultur. Der rote Winkel wurde zum zentralen und staatsästhetischen Symbol und musste auf allen Denkmalen vertreten sein. Den Helden des kommunistischen Widerstandes wurde bei feierlichen Anlässen wie der Jugendweihe oder der Vereidigung der Nationalen Volksarmee gedacht. Der DDR-Staatsführung lag es fern, die Gedenkstätten als historische und demzufolge authentische Orte zu belassen, für getragene Massenveranstaltungen mussten sie „neukonzipiert“ werden und Systemkonformität erhalten. Mit der Auflösung der bereits im Februar 1947 gegründeten VVN- Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes47- die unter Druck der SED-Führung als getarnte Selbstauflösung galt, fielen die Gedenkstätten gänzlich in die Hände staatlicher Organe. Entsprechend wurden große Aufmarschalleen gebaut, gewaltige Plätze konzipiert, und überdimensionale Statuen als zentraler Gedenkorte überragten erhaben das Gelände. Darüber hinaus bekamen die ehemaligen Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau- Dora einen bezeichnenden Zusatz im Namen, welcher auch pädagogisch umgesetzt wurde; die korrekte Bezeichnung für diese Orte war nun: „Mahn- und Gedenkstätte“. Diese kommunistischen Gedenkstätten sprachen eine eigene Sprache, sie waren der Spiegel für die Erinnerungskultur in der DDR: übergroß und 45 Stephan, Cora: Der Betroffenheitskult - Eine politische Sittengeschichte, Berlin, 1993, S. 19f. 46 Puvogel, U.: Gedenkstätten, 1998, S. 17. 47 Anm.: Die von der VVN errichteten Mahnmale und Gedenksteine, bereits kurz nach Kriegsende, waren ein Zeichen von künstlerisch und individuell getragener Trauer, die gemeinsam, aber überparteilich die Opfergeschichten repräsentieren sollten. 28 Typologien des Gedenkens überformt wollte man ein Zeichen setzen, ein totalitäres System zerschlagen zu haben. Die authentischen Bauten mussten weichen, um Symbolen und Ritualen einer neuen Diktatur Platz zu schaffen; mithin reichte es aus, den kommunistischen Märtyrern zu gedenken, eine aktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Faschismus wurde nicht zugelassen. Kerngedanke dieser Philosophie war der Sieg des Sozialismus über den Faschismus. In Ausstellungen, Filmen und Dokumentationen ging es vorwiegend um die Genauigkeit der Lehre, nicht die der eigenen Geschichte. Durch diese politische Instrumentalisierung wurde das Erinnern deformiert- ein verordnetes, gar zwanghaftes Erinnern. Aus einem ehedem authentischen und glaubwürdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herrschaftsinstrument zur moralischen Legitimation der SED-Diktatur. 2.2 Ein vorläufiges Fazit Der Umgang mit der NS-Erblast war zwischen beiden deutschen Staaten konfliktreich und innerhalb dieser widersprüchlich. Umstritten ist die Erinnerung an die Zeit des Dritten Reichs gerade deshalb, weil sie jahrzehntelang eingebunden war in den innerdeutschen Systemkonflikt. Beide deutschen Staaten haben sich mit Hilfe ihrer Interpretation voneinander abgegrenzt. DDR und BRD haben sich mit der symbolischen Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Reminiszenz in Gedenkstätten und Gedenkfeiern gegeneinander zu profilieren gesucht und um ein vorteilhaftes Geschichtsbild bemüht. Das ging natürlich nicht ohne Legenden- und Mythenbildung. Die DDR stilisierte sich im Zeichen des antifaschistischen Widerstandsmythos an der Seite der Sowjetunion zum Sieger der Geschichte und zum besseren, neuen Deutschland. Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland, die sich als erklärter Nachfolger des Deutschen Reiches in einer weitaus schwierigeren Lage befand, hatte Legendenbildung Konjunktur. Letztendlich sind jedoch alle Versuche der erfolgreichen Mythisierung gescheitert, jedenfalls in ihrem Bestreben um dominante Geltung. Die problematischen Erfahrungen aus der DDR, in der Gedenken zum verordneten und zwanghaften Erinnern wurde und der Antifaschismus zum Legitimationsinstrument der SED-Diktatur, haben schlussendlich dazu geführt, dass 29 Typologien des Gedenkens Gedenken und Erinnern an den Nationalsozialismus von vielen als „autoritär und formelhaft“48 empfunden wurde. Die Folgen dessen, Ressentiments gegen eine lebendige Gedenkkultur und die gerade in den ostdeutschen Ländern verbreitete Affinität zu rechtsextremistischen Gruppierungen, können als Resultate einer unfreien und unstreitbaren Erinnerungskultur betrachtet werden und belasten bis heute die Ausgestaltung einer lebhaften Gedenkkultur. 2.3 Zur Semantik der Erinnerungskultur Die hier im Blickfeld stehenden beiden deutschen Nachfolgestaaten des Dritten Reiches begannen die eigene Geschichte nach 1945 nicht voraussetzungslos. Sie konnten die Zeit der Hitler-Diktatur nicht überspringen, so sehr sie sich auch bemühten, an die Weimarer Jahre oder an weiter zurückliegende Epochen und Traditionen anzuknüpfen. Die einzelnen Entwicklungslinien der Erinnerungskultur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben gezeigt, wie unterschiedlich motiviert eine Gesellschaft mit ihrer eigenen Vergangenheit umgeht. Trotz dem sich die ersten beiden Phasen durch Verleugnung und Relativitätsbemühungen ausgezeichnet haben, darf nicht vergessen werden, dass parallel dazu grundsätzliche Tendenzen innerhalb der Gemeinschaft vorhanden waren, die eine authentische und nachhaltige Aufklärung der Vergangenheit forderten, auch wenn diese marginalisiert worden sind. Die Pfleger des kollektiven Gedächtnisses haben gegen Verleugnen und Vergessen (auch wenn diese ebenfalls Facetten der Erinnerungskultur sind) nachhaltig zur Entstehung einer Erinnerungskultur beigetragen haben, die sich im Kern der authentischen Erinnerung stellt. Peter Reichel beschreibt dies wie folgt: „Dem Verleugnen und Vergessen der NS-Vergangenheit haben (…) die Zeithistoriker, Denkmalschützer (…), die Schriftsteller und Filmemacher nach Kräften entgegengearbeitet, und dabei (…) Formen und Verfahren der Erinnerung hervorgebracht, ausprobiert und in einer eigenen Kultur der (…) Erinnerungskultur organisiert, ritualisiert und verdichtet…“49 Die von Reichel vorgenommene Begriffswahl ist konsequent und logisch, wenn sie auch zufällige zu sein scheint. Im Folgenden soll der Begriff der Erinnerungskultur näher bestimmt und seiner Logik gefolgt werden. Ferner soll die Mehrdimensionalität 48 Thierse, Wolfgang: Rede am 24. Oktober 1999 in Buchenwald, S.9, in: Puvogel, U.: Gedenkstätten, 1998. 49 Reichel, P.: Politik mit der Erinnerung, 1995, S.15. 30 Typologien des Gedenkens des Terminus aufgezeigt werden und drittens eine Ableitung gefunden, die einer adäquaten Definition einer Gedenkkultur entspricht. Dabei wird sich stark an die Vorgehensweise von Peter Reichel angelehnt, da er eine Teilung des Terminus vornimmt, die als sinnvoll erachtet wird. 2.3.1 Annäherung an den Begriff der modernen Erinnerungskultur In den letzten Jahre kam es zu einer Ausweitung und Intensivierung sowohl der neurobiologischen als auch psychologischen Gedächtnisforschung, und die gleichfalls intensivierte Beschäftigung mit dem Geschichtsbewusstsein und der Geschichtskultur führten dazu, dass man verstärkt von der Verwendung des Gedächtnisbegriffs nach Halbwachs abrückte. Selbst die Kulturhistoriker, die der Theorie des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs zu neuer Aktualität verholfen haben, sprachen nach der Systematisierung des Gedächtnisbegriffs von Erinnerungskultur, vor allem auch deshalb, weil die anderen Termini die charakteristischen Strukturmerkmale einer Erinnerungskultur vernachlässigen, zu denen die Öffentlichkeit, die Materialisierung und Demokratisierung gehören ebenso wie die Gebäude und Denkmäler und die speziellen Kommunikations- und Reflexionsformen an besonderen Gedächtnisorten, den Gedenkstätten und Denkmälern und den Gedenktagen. Für die Erinnerungskultur im allgemeinen und jene in Deutschland nach 1945 sind nicht nur die Zeitverhältnisse relevant, sondern vor allem die politischen Rahmenbedingungen ausschlaggebend, insofern dass sich das kulturelle an das politische Teilsystem anschließt. Wenn man nun die Definition der Erinnerungskultur nach Reichel betrachtet, dann heißt es dort: „Er [der Terminus der Erinnerungskultur] (…) verweist (.) viel präziser (…) auf das (..) kulturelle Teilsystem,…“50 An dieser Stelle ist ein Exkurs zum Kulturbegriff notwendig. In einer relative weiten Fassung des Kulturbegriffs, nach Kroeber und Kluckhohn, werden Werte, Sinndeutungen, ebenso typische Verhaltensweisen und Artefakte darunter 50 Reichel, P.: Politik mit der Erinnerung, 1995, S.331. 31 Typologien des Gedenkens subsumiert.51 Wenn man allerdings einen charakteristischen Weg einer kulturellen Gruppe, die ihre gesellschaftliche Umgebung zu erfassen sucht, beschreiben möchte und als Bestandteile dieser subjektiven Kultur Einstellungen, Glauben, Meinungen, Werte und Konzepte sowie Erinnerungen aufführt, dann nähert man sich dem Kulturbegriff von Triandis52. Diese Beschreibung des Kulturbegriffs rechtfertigt meines Erachtens eindeutig Reichels Verwendung des Kulturbegriffs in Verbindung mit der Erinnerung. Die Gesellschaft nach 1945, ob Opfer oder Täter, entsprechen einer kulturellen Gruppe, die auf ihrem charakteristischen Weg die gesellschaftlichen Einordnung und politische Neuordnung anstrebte. Im Hinblick auf die Vergangenheit sind spezifische Meinungen, Äußerungen und Konzepte zu einer Kultur verdichtet worden, deren Träger zwar wiederum nur einen Teil der Gesamtgesellschaft vertraten, jedoch von dieser mitgetragen worden ist. Um die Erinnerungskultur als ein kulturelles Teilsystem zu betrachten, ist der Kulturbegriff von Triandis der geeignetste. Sinnvoll ist jedoch, zwischen der „gesamtgesellschaftlichen Kultur“, welche die Gesellschaft umfasst und sich in Mentalprogrammen und Orientierung ausdrückt und Kulturen, die nur „Subsysteme“ umfassen, zu unterscheiden. In diesem Sinne differenziert man die Systemkultur und Subsystemkultur.53 Daraus kann man ableiten, dass die politische Kultur beispielsweise nur einen Teilbereich unserer Gesellschaft umschreibt und als solche zur Subsystemkultur wird. Wenn man nun die Erinnerungskultur per definitionem betrachtet, dann beschreibt auch diese einen spezifischen Teilbereich. Das heißt, politische Kultur und Erinnerungskultur sind spezifische Subsystemkulturen. Sie stellen eine Teilmenge der allgemeinen Kultur dar. Beide repräsentieren nur einen Bereich des kulturellen Gesamtsystems, aus dem sie herausgelöst nicht existieren könnten, aber dennoch einen spezifischen Bereich für sich beanspruchen. Die systematische Einordnung der Erinnerungskultur wird deshalb ostentativ herausgestellt, weil aufgezeigt werden soll, dass es nicht nur eine temporäre und 51 Dieses angelsächsisch geprägte Konzept des Kulturbegriffs basiert auf den Ansätzen von Kroeber und Kluckhohn, die über 170 verschiedene Kulturbegriffe prägten. Ihre Kulturdefinitionen gehören zu den meist zitierten. Vgl. Wallerath, M.: Reformmanagement als verwaltungskultureller Änderungsprozess, S. 9-37,in: Kluth, Winfried (Hrsg.):Verwaltungskultur, Baden-Baden, 2001. 52 Wallerath, M.: Reformmanagement als verwaltungskultureller Änderungsprozess, S. 9-37,in: Kluth, Winfried (Hrsg.):Verwaltungskultur, Baden-Baden, 2001. 53 Vgl .Jann, Werner: Staatliche Programme und „Verwaltungskultur“- Bekämpfung des Drogenmißbrauchs und der Jugendarbeitslosigkeit in Schweden, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Opladen, 1983, S.20 f. 32 Typologien des Gedenkens kulturell integrierte Erscheinung des politischen oder öffentlichen Lebens ist- keine kurzfristige Angelegenheit einer elitären Gesellschaftsschicht- sondern bereits zum Bestandteil unseres gesamten politischen Systems der Bundesrepublik avancierte. Belegen kann man das anhand eines Zitats von König, der meinte, dass bereits in den 80er Jahren „…die großen Kontroversen über Vorteile und Gefahren einer ständigen Erinnerung an den Nationalsozialismus (…) zugunsten derjenigen [ausgehen], die in dieser Erinnerung das zentrale Element der politischen Kultur der Bundesrepublik sahen.“54 Widmet man sich nun dem „gesellschaftlichen Prozesscharakter“ der Erinnerungskultur nach Reichel, dann gewinnt sie diesen durch ihre verschiedenen Entwicklungslinien nach Ende des zweiten Weltkriegs bis hin zur Gegenwart. Der politische Gebrauch der Erinnerung ist zumeist ein wichtiger Teil der Selbstverständigung pluralistisch verfasster Gesellschaften. Das Gewicht, dass die historische Argumentation gerade in der deutschen politischen Debatte hat, ist bekanntlich kaum zu überschätzen, jedoch ist das eine Folge eines langen Prozesses, so wie es Reichel mit seinem kulturellen Prozesscharakter meint. Inhärent ist dem kulturellen Prozesscharakter ebenfalls die Kollektivität im normativen Sinn, denn die Erinnerungskultur als Teilsystem eines Ganzen umfasst wiederum eine Vielzahl von Akteuren, die eine „kollektive Vergegenwärtigung“ fordern und fördern. Was Anfang der 60er Jahre mit den Aktivitäten von wenigen begonnen hatte, war nun zum wichtigen Element in der politischen Auseinandersetzung geworden und mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag wurde das kollektive und wahrhaftige Engagement mit den höchsten institutionellen Weihen versehen. Zusammenfassend kann hier konstatiert werden, dass Peter Reichel mit dem Terminus der modernen Erinnerungskultur sich klar von der Diskussion um die adäquaten (Erinnerungs-) Begriffe abhebt und auch an den einzelnen Teilsegmenten der Definition eine Logik erkennbar ist. So wird dem Begriff eine Vielschichtigkeit zugewiesen, deren funktionelle Wirkung nicht streitbar ist. Ferner wird die Auffassung vertreten, dass Reichel den Terminus primär verwendet, weil er, wie Reichel selbst sagt, wesentlich „unpathetischer“ sei, als der in der Literatur häufig 54 König, H.: Zukunft der Vergangenheit, 2003, S.37. 33 Typologien des Gedenkens bevorzugte Begriff der Vergangenheitsbewältigung. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass nach Reichels Definition die Erinnerungskultur lediglich einen deskriptiven, denn analytischen Charakter annimmt. 2.3.2 Ein facettenreicher Terminus In den letzten Jahre konnte die Erinnerungskultur als Prinzip zunehmend in der Geschichtswissenschaft sowie in der Politikwissenschaft Verfechter55 finden, die dazu beigetragen haben, den Terminus „salonfähig“ zu machen. Auch deshalb, weil es möglich ist, anhand der Erinnerungskultur diverse Richtungen zu beschreiben, wenn man sich dabei unterschiedlicher Attribute bedient und der Begriff positiv wie negativ besetzt werden kann. Beispielsweise arbeitet Hockerts vornehmlich mit der „öffentlichen Erinnerungskultur“ und meint damit die institutionell gestützte Form der Erinnerung, die sich vom lebendigen Gruppengedächtnis ablöst und von einer Institution getragen wird.56 Exemplarisch sei hier die 1995 eröffnete Ausstellung über „Vernichtungskrieg- Verbrechen der Wehrmacht 1941-45“ genannt, die primär vom Hamburger Institut für Sozialforschung getragen wurde. Der Autor Michael Jeismann hingegen benutzte in seinem Buch „Auf Wiedersehen Gestern“ gezielt die „politische Erinnerungskultur“57, um die diskursiven Scharniere der politischen Kultur in der Bundesrepublik sichtbar zu machen. Angefangen von der bereits erwähnten Schuldfrage, die Karl Jaspers 1946 von der metaphysischen über die politische bis zur kriminellen Schuld abgestuft hatte, über den Historikerstreit 1986/7, zur Wehrmachtsausstellung und den streitbaren Thesen von Daniel J. Goldhagen in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ bis zur virulenten Debatte von Walser und Bubis 1998, zeichnet er den Weg einer politischen Erinnerungskultur, die ausschließlich reaktiv bleibt und von verschiedenen Kommunikationsformen und ihrem Echo in der Bevölkerung lebt. 55 Anm.: zu den Vertretern gehören Erik Meyer (Erinnerungskultur als Politikfeld); Michael Jeismann und auch Hans Günther Hockerts. 56 Vgl.: Hockerts, H. G.: Zugänge zur Zeitgeschichte, 2001. 57 Jeismann, M.: Auf Wiedersehen Gestern, 2001, S.23. 34 Typologien des Gedenkens 2.4 Von der Erinnerungskultur zur Gedenkkultur - Ein Gedankenspiel? Die Bundesrepublik ist das einzige Land, in dem sich im vergangenen Jahrhundert nach dem Ende von zwei sehr unterschiedlichen Diktaturen die nachfolgenden demokratischen Systeme die Aufgabe einer Auseinandersetzung mit der Geschichte gestellt haben. Die eingangs aufgestellte These behauptet, dass es durch das Aufeinandertreffen zweier disparater Erinnerungskulturen, angesichts der notwendigen Korrektur defizitärer Geschichtsdarstellung und aufgrund des veränderten Zeithorizonts bereits einen Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur gegeben hat. Im Folgenden wird es anhand verschiedener Veränderungen sichtbar gemacht und verstärkt auf den veränderten Zeithorizont und seine Konsequenzen eingegangen. Der Beitritt der früheren DDR zur Bundesrepublik ist geschichtspolitisch ein Ereignis von großer Tragweite. Die Aufhebung der Teilung Deutschlands hat die Perspektive auf die deutsche Geschichte im allgemeinen und auf die NSVergangenheit im besonderen verschoben. Einem höchst konfliktträchtigen Politikfeld wurde die bisherige Grundlage entzogen. Die Bewertung des HitlerRegimes wird- vermutlich- auch weiterhin noch kontrovers bleiben, aber sie ist nun nicht mehr eingebettet in die systempolitische Konfrontation der beiden deutschen Staaten. In der Konkurrenz der Mythen wurden die Schwächen der geschönten Geschichtserinnerung aufgedeckt. Das wiederum erleichterte die Korrektur der einseitigen Geschichtsbilder und normative und wissenschaftstheoretische Fragen kehrten zurück und hinterfragten das Verhältnis von Mythos und Tatsache. 58 Das Zusammenwachsen dieser beiden Erinnerungskulturen erzeugte Spannungen in der Politik und der Gesellschaft, wie kaum ein anderes Konfliktfeld nach der Einheit der beiden deutschen Staaten. Denn hier entstand eine neue Form der Erinnerungskultur, die nicht mehr getragen werden wollte von unterschiedlichen NSDiskursen, unterschiedlichen thematischen Akzenten, unterschiedlicher Emotionalität und auch von unterschiedlich politischen und moralischen Prämissen. Darüber 58 Brumlik, Micha: Individuelle Erinnerung- kollektive Erinnerung – Psychosoziale Konstitutionsbedingungen des erinnernden Subjekts, S.32, in: Loewy/ Moltmann (Hg.): Erlebnis-Gedächtnis-Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt a.M., 1996. 35 Typologien des Gedenkens hinaus brachte der veränderte Zeithorizont zwei weitere ihm inhärente Kontrastlinien mit sich: Die natürliche Generationenabfolge und der stete Verlust der Zeitzeugen konvergieren mit dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis und der Historisierung59 der Vergangenheit. Konzentriert man sich nun auf die Nomenklatur und nicht auf die Faktoren, die politisch wie gesellschaftlich durch die Konfrontation zweier antagonistischer Systeme losgelöst werden, dann kann man konstatieren, dass die Bezeichnung Erinnerungskultur mit der „neuen“ Generation ihre Gültigkeit verliert. Nicht im Bezug auf das kulturelle Teilsystem, auch nicht- hoffentlich- im Bezug auf die kollektive Vergegenwärtigung oder den gesellschaftlichen Prozesscharakter, jedoch im Bezug auf die Erinnerung; das Erinnern ist per definitionem nicht mehr möglich. So, wie Peter Reichel die Erinnerungskultur definiert, bezieht sie sich ausnahmslos auf das historische Exemplum der Nazi-Diktatur. In den beschriebenen Entwicklungslinien wird die Erinnerungskultur auch immer von einer Gesellschaft getragen, die sich noch aktiv an die Vergangenheit, also die Jahre zwischen 1933 und 1945 erinnern kann. Gemeint wird, dass die Gesellschaft aus Individuen bestand, die die Fähigkeit hatten, Ereignisse und Prozesse, die zeitlich vorausgingen gegenwärtig zu repräsentieren- sich zu erinnern- weil sie Teil dieser Ereignisse oder Prozesse waren. Demgemäß darf nicht übersehen werden, dass mit dem Übergang zu einem kulturellem Gedächtnis grundsätzlich der Verlust von Zeitzeugen, die sich als Opfer verstanden, gemeint ist, sondern ebenso der Verlust von Zeitzeugen, die kategorisch Täter- oder Opfer, vielleicht auch Täter und Opfer waren. Die Entscheidung für die Ausgestaltung der Sphäre öffentlicher sowie offizieller Kommemoration wird schon längst von „neuen“ Generationen getragen, deren erinnerungskulturelle Rückbezüge nicht annähernd in die Zeit der Nazi-Diktatur reichen. Hinzu kommt der gewichtige Fakt, dass sich für die jüngere Generation, also die seit 1970 Geborenen, die Frage nach dem Nationalsozialismus vollständig von der Frage der Schuld ablöst. Der Rückgriff in die Erinnerung und die mögliche Verflechtung in das Nazi-Regime ist nun immer weniger eine Frage, die mit einem anklagenden Vorwurf an die Eltern verbunden ist. Nur für die Tätergeneration und ihre Nachkommen hatte die Frage der Schuld im Blick auf den Nationalsozialismus 59 Vgl. Jeismann, M.: Auf Wiedersehen Gestern, 2001, S.13. 36 Typologien des Gedenkens eine unmittelbare Bedeutung. Auch in dieser Dimension verwandelt sich die NSVergangenheit aus einem Thema der Erinnerung in ein Feld der Geschichte. Wenn die lebensgeschichtlichen Erinnerungen an die Zeit zwischen 1933 und 1945 abnehmen, wird dies zu einem Phänomen von künstlich erarbeitetem Wissen und es ist offenbar: wer wertend erinnert und nicht Teil dieser Erinnerung sein kann, der gedenkt. Wer den Opfern des nationalsozialistischen Regimes gedenkt, der hat die Opfer nicht gekannt und ist nicht Teil dieser Reminiszenz. 60 An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, ob das Gedenken nicht die Erinnerung als solche voraussetzt. Durch die Verbindung des kommunikativen Gedächtnisses mit den kulturellen Rückbezügen wurden immer wieder Formen geschaffen, die die Vergangenheit reflektieren. Durch die Materialisierung (Fotografien, Zeitdokumente) und die geschichtsdidaktische Bearbeitung der Geschichte, durch den Einfluss von neuen Informations- und Kommunikationstechniken ist der Verlust der gespeicherten Vergangenheit nahezu unmöglich. Es setzt demzufolge nicht die persönlichen Erinnerungen voraus, sondern hebt sich durch das Fehlen dieser ab. Die fehlende persönliche Erfahrung ist eine zentrale Voraussetzung der Gedenkkultur und die Gedenkkultur wiederum ist eine spezifisch moderne Form des kollektiven Rückbezugs. Insofern kann zusammenfassend gesagt werden, dass es keineswegs ein Gedankenspiel ist, sondern mit der Einheit der beiden deutschen Staaten eine Form der Kommemoration entstand, die sich in den normativen Bezügen zur Erinnerungskultur zwar nur marginal abhebt, vor veränderten politischen sowie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch eine Metamorphose durchlaufen hat und in der Gestalt einer Gedenkkultur einen eigenständigen definitorischen Raum für sich beansprucht. Nachfolgend wird die Spezifik der Gedenkkultur näher beleuchtet und versucht, die Charakteristika einer Gedenkkultur herauszustellen. Es soll abschließend möglich sein, die Unterschiede zur Erinnerungskultur prägnant zu nennen. Kritisch wäre an dieser Stelle anzumerken, dass die Literatur im allgemeinen keine solche Unterscheidung zwischen dem „Erinnern“ und „Gedenken“ vornimmt, jedoch beide Begriffe abwechselnd benutzt. Die Mehrzahl der Autoren beschränkt sich auf 60 Vgl. Brumlik, M.: Individuelle Erinnerung, 1996. 37 Typologien des Gedenkens die zweifelsohne komplizierte Auseinandersetzung mit dem kollektiven Gedächtnis. Es ist davon auszugehen, dass hier zwei Grundsätzlichkeiten miteinander vermischt werden. Das kollektive Gedächtnis ist nur ein Erinnerungskonzept, neben dem viele andere Formen der Erinnerung bestehen, wie beispielsweise die zur Religion gesteigerte jüdische Mnemotechnik der Gegenerinnerung.61 Ausgenommen von der Kritik seien die Schrift von Micha Brumlik, der eine ernsthafte Differenzierung zwischen Gedenken und Erinnern vornimmt und die Aussagen von Dr. Jens- Christian Wagner, der die Erinnerung noch um das Phänomen der individuellen Trauer62 bereichert und damit belegt, dass: „(…) die individuelle Trauer von unserer Generation nicht geleistet werden kann. (…) Was ich tun kann, (…) ist eine Art historisches Trauern. (…), um den Verlust von Werten und um den Verlust von Zivilisation, der sich 1933 bis 1945 gezeigt hat, aber ich kann nicht um die individuellen Opfer trauern.“63 Insofern kann die Erinnerungskulturen erste und These der verifiziert veränderte werden, Zeithorizont dass zwei bereits disparate den ersten Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur mit sich bringen und der Wechsel sich nicht nur an der veränderten Begrifflichkeit „Gedenkkultur“ festmacht, sondern auch eine neue Form des Umgangs mit der Vergangenheit und des Gedenkens entstanden ist. Das Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung von 1990 markiert einen Wandel in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik, in deren öffentlichem Diskurs sich der NS-Diktatur mehr erinnert wurde als nie zuvor. Dass sich die intensive Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit vornehmlich im öffentlichen Diskurs abspielt, kann hier als symptomatisch für die Entstehung einer Gedenkkultur erachtet werden. Die öffentliche Kommemoration ist ein elementarer Bestandteil der Gedenkkultur. Insofern kann durchaus die Vereinigung der beiden deutschen 61 Assmann, Jan: Kollektives und kulturelles Gedächtnis – Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen- Erinnerung, S. 29f., in: Borsdorf, Ulrich / Grütter, Heinrich Theodor (Hg.): Orte der Erinnerung – Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt/ New York, 1999. Anmerkung: Als Urform der Erinnerungskultur gilt die Religion und im Besonderen der jüdische Glaube. Man spricht hierbei von der Lehre des Deuteronomiums im Alten Testament. Es geht um die Befreiung der Hebräer aus der ägyptischen Knechtschaft und die 40 Jahre dauernde Wüstenwanderung, an deren verheißungsvollem Ende der sterbende Moses eine Abschiedsrede hält, in der er dem Volk Israel eine Erinnerungspflicht und ein Vergessensverbot auferlegt. Die kulturelle Formung geschieht durch Riten, Inschriften und mittels der Pädagogik und konnte so lange bewahrt sein. Das Mosaische Erinnerungsimperativ gilt noch heute im Sabbath beispielsweise fort. 62 Anm.: Dieser künstlich anmutende Begriff geht auf ein Konzept von Jörn Rüsen zurück; vgl. dazu: Rüsen, Jörn: Trauer als historische Kategorie- Überlegungen zur Erinnerung an den Holocaust in der Geschichtskultur der Gegenwart, in: Loewy/ Moltmann (Hg.): Erlebnis-Gedächtnis-Sinn, Frankfurt a.M., 1996. 63 Interview in Nordhausen am 13. April 2004 mit dem Gedenkstättenleiter Dr. Jens-Christian Wagner. 38 Typologien des Gedenkens Staaten als erinnerungskulturelle Zäsur betrachtet werden, die neben anderen Faktoren die Entstehung einer Gedenkkultur evoziert. 39 Typologien des Gedenkens „…nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.“ (Friedrich Nietzsche) 3. Ansätze zur Genese einer Gedenkkultur Es gibt in unserer Kultur und in dem dieser zugrunde liegenden Wissensschatz, dem kulturellen Gedächtnis keine Muster mehr, die uns helfen könnten, im Ernstfall das Richtige zu tun. Nach dem zivilisatorischem Bruch, dem Holocaust, gibt es in unserer Gesellschaft keine allgemein verbindliche Art mehr, mit dem Tod und der Trauer umzugehen. An dieser Stelle mag nun ein wiederholtes Mal eingewandt werden, dass die Trauer- und Versöhnungskonzeptionen der kulturellen Gesellschaften und dem individualisierten Töten und Sterben auf Schlachtfeldern auf das, was wir mit „Auschwitz“ umschreiben, in keiner Weise zutreffen. Arbeitsteilige, kollektive Täter und anonymisierte, zur bloßen Zahl gerichtete Opfer, übersteigen jedes Maß von Gerechtigkeit und Gnade, und jede Form des tradierten Gedenkens wird obsolet. 64 Hinzu kommt der Fakt, dass die große Mehrheit der Deutschen, so nämlich Margarete und Alexander Mitscherlich bereits 1967, sich nach 1945 nicht als betroffen erklärte und so ein Zustand von kollektiver Infantilität zementiert wurde, der der Gesellschaft nachhaltig die Fähigkeit raubte, zu trauern. 65 Es existieren zwar vage Vorstellungen von Würde und Pietät, aber konkrete Verhaltensmuster fehlen. 66 Mit dem Begriff der modernen Erinnerungskultur wird in der Retrospektive eine gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland beschrieben, die sich in mehr oder weniger öffentlichen Symbolen, Riten und Gedenktagen verdichtet. Die Gedenkkultur ist hingegen eine Erscheinung, die sich nach der Vereinigung der beiden disparaten Erinnerungskulturen und dem Zusammenwachsen der beiden 64 Vgl. Brumlik, Micha: Gedenken in Deutschland, S. 115f., in: Platt, Kristin/ Heil, Susanne. (Hg.): Generation und Gedächtnis- Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen, 1995. 65 Vgl. Weiss, Matthias: Sinnliche Erinnerung- Die Filme „Holocaust“ und „Schindlers Liste“ in der Zeit der bundesdeutschen Vergegenwärtigung der NS-Zeit, S.72, in: Frei, Norbert/Steinbacher, Sybille (Hg.): Beschweigen und Bekennen- Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen, 2001, Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Band 1. 66 Vgl. Wossidlo, Joachim: Das endliche Fleisch und das unendliche Leben - Von der Tötung des Todes im kollektiven Gedächtnis- Gedanken eines Ethnologen zum Umgang mit Leichen in Berlin, in: Siggelkow, Ingeborg (Hg.): Gedächtnisarchitektur: Formen privaten und öffentlichen Gedenkens, Frankfurt a. M., 2001, Kulturwissenschaften, Band 1. 40 Typologien des Gedenkens deutschen Staaten herausgebildet hat. Sie ist eine Erscheinungsform, die nicht mehr im Respekt politischer Rahmenbedingungen, Instrumentalisierung sowohl politisch, als steht und sich den neuen auch ästhetisch-gesellschaftlich anpassen musste. Die Zeit, in der die zuständigen Regierungen versuchten, authentische Orte wie Auschwitz oder Buchenwald mit einer eindeutigen politischen Botschaft zu verquicken, scheinen vorbei zu sein. Diese Gedenkkultur ist der fiktive Rahmen in dem die “komparative Analyse der beiden deutschen Diktaturen“ 67 stattfindet. Für diese beiden Diktaturen gilt nun, nach dem Zusammenbruch der DDR, die „doppelte oder zweifache Vergangenheitsbewältigung“. Ferner rückt die DDR-Vergangenheit perspektivisch in die Nähe der NS-Vergangenheit, was wiederum eine breit geführte Diskussion über die Zulässigkeit des Diktaturenvergleich loslöst. Letztendlich hat die intensive Betrachtung der Art und Weise, in der die DDR ihre eigenen Vergangenheit aufarbeitete, das Interesse am bundesdeutschen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht nur revitalisiert, sondern auch neu akzentuiert. Auch dafür steht die Gedenkkultur. Es wäre vermessen anzunehmen, dass die Gedenkkultur in Abgrenzung zur Erinnerungskultur ein adäquates Verhaltensmuster zur ästhetischen Form des Gedenkens vorweisen könne. Es ist allerdings zu beobachten, dass nach dem Oktroyier einer vorgeformten Erinnerung die Erinnerung zunehmend ihren Zwangscharakter verlor. Sie rückte stärker in das Bewusstsein der Menschen als notwendiger Bestandteil von Identität und Selbstreflexion. Eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen und unterschiedlichen Trägern von Gedenkideen führte zu einer stärkeren Ausdifferenzierung des Gedenkens und Erinnerns. Alte Muster und Riten wurden aufgebrochen und symbolische Akte und Trauerrituale verschmolzen zu einer individuellen Zeremonie von Angehörigen und Überlebenden einer Opfergruppe. Immer wieder wurde nach der Wiedervereinigung der Wunsch von Überlebenden und Häftlingsorganisationen deutlich, dass eine Vereinheitlichung in öffentlichen Akten nicht den Vorstellungen adäquaten Erinnerns entspricht. Dies formulierte im Interview der Gedenkstättenleiter Dr. Thomas Rahe der Gedenkstätte Bergen-Belsen wie folgt: „(…)- ich finde, es muss auch immer die Individualität des Erinnerns auch gewahrt 67 Bergem, W . : Barberei als Sinnstiftung? S. 93, in: Bergem (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen, 2003. 41 Typologien des Gedenkens bleiben. (…) Es gibt also auch Juden die sagen mit guten Gründen: ‚Warum müssen wir immer zusammen mit den Sinti und Roma und den politisch Verfolgten gemeinsam gedenken? Warum dürfen wir nicht unsere eigenen individuellen, das heißt jüdischen Erinnerungsformen haben? Das meint ja nicht, dass wir die anderen missachten oder ausschließen vom erinnern, aber wir möchten doch auch nicht unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengefasst werden, sondern wir möchten unsere eigene Erinnerungsform eben auch haben.’ Das eine schließt das andere wahrlich nicht aus (…).“68 Den Verlust der Identität und Individualität erfuhren sie als Inhaftierte in den Konzentrationslagern, auch nach Kriegsende mussten sich die ehemaligen Häftlinge den erinnerungskulturellen Dogmen der jeweiligen politischen Systeme beugen. Eine „Gleichschaltung“ im gegenwärtigen Gedenken erscheint deshalb nahezu grotesk und den Forderungen nach individuellen Ritualen und Formen, die nicht nur der eigenen Kultur entsprechen, sondern auch den emotionalen Bedingungen gerecht werden, wurde nach der Wiedervereinigung zunehmend nachgegangen. Eine moderne und funktional differenzierte Gesellschaft benötigt ein Gedenken, welches eine große Zahl an Möglichkeiten des Vergessens und Erinnerns verarbeiten und zugleich reflektieren kann. Die Liberalisierung und Öffnung der Gedenkplattform, nach der Einheit der beiden deutschen Staaten, konnte parallel die Ausbildung neuer Gedenkformen fördern und etablierten und anerkannte Rituale stärken. Dazu beigetragen haben vor allem die beiden Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages und die stets virulente Mahnmal-Debatte. Beiden Formen und Foren der Diskussion um und über eine Vergangenheit war gemein, dass sie erstmals öffentlich und transparent als parlamentarisch-politische Debatte geführt worden sind. In einer pluralistischen Demokratie scheint ein „Pluralismus im Gedenken“ eine logische Folgerung des Umgangs mit der Vergangenheit zu sein. Dass sich die angemessene Form des Umgangs mit den Opfern in pathetischen Trauermärschen erschöpfte und der Holocaust, mit allem was mit ihm zusammenhängt, nicht künstlerisch darstellbar sei, war allerdings bereits zur herrschenden Lehre geworden. Zwar sind die vorgelagerten Besorgnisse, dass die künstlerische Auseinandersetzung 68 Zitat aus dem Interview vom 4. März 2004 mit dem Gedenkstättenleiter Dr. Thomas Rahe, KZ- Gedenkstätte Bergen-Belsen. 42 Typologien des Gedenkens verharmlosend wirken könne, durchaus berechtigt. Doch dürfen diese Besorgnisse nicht verhindern, dass sich mannigfaltige Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausprägen. Die politisch-öffentliche Form der Kommemoration kann und darf nicht die Dementsprechend einzig fanden angemessene zuerst Form unterschiedliche des Gedenkens Häftlingsverbände sein. und Vereinigungen verschiedene Wege, ihre Trauer zu präsentieren. Fahnenappelle mit fast militärischem Charakter oder bedrückende Gedenkriten dienten nicht nur der Abgrenzung von anderen Opfergruppen, sondern auch der Individualisierung im Trauern und Erinnern. Verstärkt wurden künstlerische Instrumente eingesetzt und gezielt andere Ausdruckskanäle gesucht, um den starren Mustern (der Gleichförmigkeit), beispielsweise einer Kranzniederlegung, etwas individuelles entgegenzusetzen. Neben der kognitiven Dimension der Gedenkkultur, bereichern zunehmend die ästhetisch-künstlerische und die emotional-affektive Dimension den formellen Trauer- und Gedenkakt, insbesondere am authentischen Ort. Ausstellungen, Plastiken oder sog. Performances (Lesungen und Theaterstücke) sind Ausdruck der ebenenübergreifenden Aktualität zum Thema NSVergangenheit und ihrer Verbrechen. Auch dort, wo es um verschiedene Gedenkformen und- Riten geht, wird um Gedenksymbole gekämpft. Das liegt meiner Auffassung folgend in der Logik der Gedenkkultur. Denn es geht in ihr ja nicht mehr einfach und hauptsächlich um die Vergangenheit, sondern vor allem um die Gegenwart. Es ist das Bestreben der Mitglieder unseres kollektiven Gedächtnisses in ihrer stilistischen persönlichen Art einen Weg zu der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Gegenwart zu finden und ggf. auch Formen für zukünftiges Gedenken zu konstruieren; es bildlich, architektonisch und museografisch darzustellen. Die Gedenkkultur als solche zeichnet sich nicht zuletzt durch den Generationenwechsel aus, der unweigerlich von einem kommunikativen, von Zeitzeugen getragenem Gedächtnis hin zu einem kulturellen Gedächtnis führt. Der Verlust der kommunikativen Authentizität führt innerhalb der Neukonzeptionen der Gedenkstätten zu diversen Schwierigkeiten. Hauptaufgabe der Gedenkstätte wird nun zunehmend die Vermittlung von Geschichtsbewusstsein und die wertfreie Vermittlung von Fakten. Im Vordergrund steht nicht mehr die Gedenkstätte als 43 Typologien des Gedenkens Grabmal. Die Generationen, die folgen, können nicht mehr betrauern und erinnern, denn anonyme Opfer zu betrauern, stellt einen unleistbaren Akt dar. Für uns, und die nachfolgenden Generationen, ist der Weg einer authentischen Trauer, wenn es um die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen geht, verstellt. „Angesichts des Holocaust trauern wir über den Verlust (..) einer mehrtausendjährigen Kultur der Humanisierung des Menschen.“69 Notwendigerweise müssen wir uns nun eine andere Form des Trauerns suchen eine Form, die losgelöst vom persönlichen Verlust existiert. Rüsen stellt dafür das „historische Trauern“ zur Diskussion und beschreibt die Trauer als Kategorie der historischen Sinnbildung.70 Dem einen nachvollziehbaren Sinn anzubringen, ist nicht eben leicht. Die Frage des richtigen Gedenkens sollte einer normativ angemessenen Konzeption entspringen, das heißt vor allem einer Konzeption, die nicht mehr von lebendigen Zeitzeugenaussagen und dem direkten Gespräch bestimmt ist und einer ausdifferenzierten und individualisierten Gesellschaft gerecht werden kann. Es muss auch eine Konzeption sein, die zukünftig in ihrer Gestaltung nicht mehr von Häftlingsverbänden, in denen tatsächlich Überlebende des Holocaust vertreten sind, getragen werden, sondern von ihren mehr oder minder legitimierten Nachfolgern. Da der bedingte Generationenwechsel und das historische Verhältnis der Generationen, insbesondere der zukünftigen, zum Holocaust ein zentrales Element der Gedenkkultur sei, wird für den Terminus des Gedenkens plädiert. Er ist sehr viel präziser und zugleich facettenreicher, dabei allerdings weniger an der psychoanalytischen Leistung des Erinnerns angelehnt. Das Gedenken - das respektvolle, würdigende und historische Erinnern an die Opfer des Holocaust - ist zentrales, konstitutives und notwendiges Element der Gedenkkultur. Die Gedenkkultur selbst ist wiederum eine Subkultur, die ein Bestandteil unserer politischen Kultur ist und evidenter Bestandteil der erneuerten Demokratie in Deutschland. 69 Rüsen, Jörn: Trauer als historische Kategorie- Überlegungen zur Erinnerung an den Holocaust in der Geschichtskultur der Gegenwart, S. 75, in: Loewy/ Moltmann (Hg.): Erlebnis-Gedächtnis-Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt a.M., 1996. 70 Ebd. 44 Typologien des Gedenkens 3.1 Abgrenzung zum Terminus der modernen Erinnerungskultur Zur Abgrenzung der Gedenkkultur zum Begriff der modernen Erinnerungskultur sind zwei Bedingungen konstruiert worden, die eine Abgrenzung der beiden Termini voneinander plausibel machen. Die Faktoren werden stichpunktartig entweder den notwendigen Bedingungen zugeordnet oder für die hinreichenden Bedingungen unentbehrlich. Die notwendigen Bedingungen können wie folgt zusammengefasst werden: die Einheit Deutschlands durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik Deutschlands zur Bundesrepublik Deutschland (3.10.1990), das Aufeinandertreffen zweier disparater Erinnerungskulturen und das Herauslösen der authentischen Orte aus der Instrumentalisierung, die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit der DDR- Geschichte und den Folgen der SED-Diktatur, die Einsetzung von aufeinander folgenden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages und der damit verbundene öffentliche Diskurs, die neue Rolle des Bundes in der Kulturpolitik – die finanzielle Unterstützung der Gedenkstätten, die Neukonzeption der KZ-Gedenkstätten und ihr Umbau (wissenschaftliche und pädagogische Aufarbeitung der Geschichte der Konzentrationslager), der Generationenwechsel und der damit verbundene Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis und die internationale Wahrnehmung des Umgangs mit unseren historischen Stätten, besonders den KZ-Gedenkstätten. Hier sei zunächst konstatiert, dass mit den Beschlüssen zur Gedenkstättenförderung und der damit angenommenen Verantwortung des Bundes, die Gedenkkultur sich als konventionelles Politikfeld etablieren konnte. Sowohl der forcierte Übergang zum kulturellen Gedächtnis als auch die staatliche Einigung rücken die Bedeutung von kollektiv verbindlichen Entscheidungen innerhalb der Gedenkkultur in den Vordergrund. Folglich steht die Gedenkkultur sinnbildlich zuerst für einen politischinstrumentellen Umgang mit der Geschichte und der Wissenschaft zur Beeinflussung von gegenwärtigen Debatten. Demgegenüber soll jedoch akzentuiert werden, dass 45 Typologien des Gedenkens sich die Diskurse nicht in symbolischer Politik erschöpfen, sondern die Gedenkkultur als aktives Politikfeld seitens des politisch-administrativen Systems auch Entscheidungen im Sinne von Verwaltungshandeln und in Gesetzgebung fordert. Die Gedenkkultur in Abgrenzung zur Erinnerungskultur, ist zum konventionellen Politikfeld gereift und aktiver Bestandteil der politischen Kultur. „Das Gedenken an die NS-Zeit ist fester Bestandteil der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.“71 Fügt man nun noch die hinreichenden Bedingungen an, dann sind das folgende: die Pluralisierung und Differenzierung des Gedenkens; Verlust der persönlichen Trauer als tragendes Element der Gedenkriten die Ausbildung von verschiedenen Gedenktypologien und die Institutionalisierung des Gedenkens. Neben den Veränderungen, die sich nach 1990 vorwiegend in der politischen Sphäre zeigten und damit eine weiterentwickelte Erinnerungskultur, nämlich eine Gedenkkultur, hervorbrachten, haben sich parallel dazu auch innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre Veränderungen ergeben. Zum Teil sind sie ein Resultat der politischen Entscheidungen, zum Teil auch Ergebnisse einer Entwicklung, die auf die Liberalisierung und Institutionalisierung des Gedenkens zurückzuführen sind. Unter dem Deckmantel der offiziellen Sinnstiftung, was mithin als institutionalisierte Form des Gedenkens bezeichnet wird, kommt indes immer mehr die Vielstimmigkeit und damit auch die Unvereinbarkeit von Erinnerung zum Vorschein. Mit der Erweiterung des Wirkungsradius innerhalb der gesellschaftlichen Segmente entstehen in der Gedenkkultur auch eine Vielzahl von miteinander konkurrierenden Handlungs- und Gedenkmustern. Diese verschiedenen Ausprägungen des kulturellen Umgangs mit der Vergangenheit können nach unterschiedlichen Merkmalen in Gruppen eingeordnet werden. In Bezug auf die Gedenkkultur können so unterschiedliche Typologien gebildet werden, die inhärenter Bestandteil und signifikantes Merkmal der Gedenkkultur sind. Anschließend wird noch auf diese Typologien des Gedenkens eingegangen werden. Letztlich wird sich diese mögliche Form der Gedenkkultur auch an ihrer Kölsch, Julia: Politik und Gedächtnis: Die Gegenwart der NS-Vergangenheit als politisches Sinnstiftungspotenzial, S.138, in: Bergem, W. (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen, 2003. 71 46 Typologien des Gedenkens Resistenz gegen Instrumentalisierung und innerer Konsensfähigkeit messen lassen. Sie wird ebenso ein Parameter dafür sein, inwiefern es möglich ist, einen gesellschaftlichen und politischen Grundkonsens im Umgang mit unserer rezenten Vergangenheit in unserem politischen und sozialen Umfeld zu verankern. Die Gedenkkultur beansprucht aber auch die Einsicht für sich, dass die Erinnerung und das zukünftige Gedenken an die NS- Vergangenheit eine für die politische Kultur in Deutschland konstitutive Rolle72 spielt und nicht mehr allein ex negativo geschieht. Ein vergangenheitspolitischer Auftakt für diese Identifikation ist dem Einigungsvertrag vom August 1990 zu entnehmen: „…der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands werde geschlossen ‚im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und eingedenk der sich aus unserer Vergangenheit ergebenden besonderen Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden verpflichtet bleibt’.“73 Angesichts der Befunde, soll hier ein Definitionsvorschlag für den Begriff der Gedenkkultur unterbreitet werden: Die Gedenkkultur ist eine historiografische Subsystemkultur, die miteinander konkurrierende Gedenktypologien in sich vereint und eine Gedenkskizze für eine ausdifferenzierte und individualisierte Lebenswelt anbietet. Diese Definition bezieht sich ausschließlich auf den gesellschaftspolitischen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland. Damit ist diese Definition auch auf unser politisches System und die sich auf deutschem Staatsgebiet liegenden KZ-Gedenkstätten, respektive Gedenkorte und Mahnmale, die in Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit stehen, festgelegt. Nach dieser vornehmlich theoretischen Außenansicht sollte nun durch die Experteninterviews erfahren werden, inwiefern sich eine Gedenkkultur tatsächlich nachweisen lässt, sozusagen als „praktische Innenansicht“. In den geführten Interviews konnte die Existenz einer Gedenkkultur bestätigt werden. Die Ausgangsvermutung, man könne in den Aussagen der KZ-Gedenkstättenleiter eine umfassendere Definition von Gedenkkultur entnehmen, die sich weit mehr von dem 72 Vgl. Weiss,. Matthias: Sinnliche Erinnerung, S. 71-102, in: Frei/ Steinbacher (Hg.): Beschweigen und Bekennen, Göttingen, 2001. 73 Bergem, W.: Barberei als Sinnstiftung? S. 97, in: Bergem (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungskurs, 2003. 47 Typologien des Gedenkens offiziellen Teil der Gedenkkultur abhebt, die sich fast ausschließlich in ritualisierten Gedenkveranstaltungen widerspiegelt, wurde nicht bestätigt. So meint Dr. Rahe (Gedenkstätte Bergen-Belsen) dazu: „Es hat sich längst etwas eingespielt, (.) diese Gedenkveranstaltungen, (…) die haben so ein bestimmtes Muster nach dem sie ablaufen, dass ist in Buchenwald sicher auch nicht anders. Insofern gibt es so etwas wie ein eingespieltes kulturelles Phänomen, wenn man so will. Eigentlich würde ich die Frage tendenziell mit ja beantworten,…“.74 Der Gedenkstättenleiter Dr. Wagner (Mittelbau-Dora) spricht sogar von einer „umfassenden Gedenkkultur“ und definiert diese wie folgt: „… die [Gedenkkultur] beinhaltet verschiedene Weisen der Auseinandersetzung, auch verschiedene Weisen, sich der Geschichte anzunähern, mal auf emotionaler, affektiver, mal auf kognitiver, mal auf wissenschaftlicher Ebene.“75 Jedoch bezieht auch er sich grundsätzlich nur auf die Herangehensweise innerhalb einer Form des Gedenkens und zwar der des Gedenkens am authentischen Ort. Alle drei Befragten konstatierten, dass die Gedenkkultur sich durch stark ritualisierte Elemente in Form von Gedenkveranstaltungen und Gedenkzeremonien auszeichnet, und dass sie überzeugt sind, dies sei in unserer Gesellschaft die gewünschte Umgangsweise. Günter Morsch, der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sagt eindeutig: „…zum Gedenken gehört natürlich das Ritual per definitionem dazu… Wenn Sie sich die Geschichte des Gedenkens und Erinnerns anschauen, nicht nur was den Nationalsozialismus anbetrifft, (…) dann werden Sie merken, dass dazu immer eine gewisse Regelmäßigkeit gehört, das ist, glaube ich, gar nicht zu vermeiden.“76 Da der Begriff der Gedenkkultur in der Frage bereits vorgegeben war, konnte sich einer Diskussion um die adäquaten Begriffe entzogen werden. Die implizierte Abgrenzung zum Terminus der Erinnerungskultur konnte allerdings nur von einem Befragten erkannt werden. Den gezielten Gebrauch der Gedenkkultur unterstrich der Gedenkstättenleiter Dr. Wagner mit der Aussage, dass: „(…) jemand der nicht Zeitzeuge gewesen ist, sich auch nicht erinnern kann.“77 Damit wird auch in seiner Betrachtung der Gebrauch des Terminus 74 Interview, Bergen-Belsen, März 2004. 75 Zitat aus dem Interview vom 13. April 2004 mit dem Gedenkstättenleiter Dr. Jens-Christian Wagner, KZ- Gedenkstätte Mittelbau-Dora. 76 Zitat aus dem Interview vom 9. März 2004 mit dem Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Herrn Prof. Dr. Günter Morsch. 77 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 48 Typologien des Gedenkens Erinnerungskultur hinfällig, wodurch Beurteilung, den Terminus des Gedenkens zu präferieren bestätigt wird. 3.2 Die Konstituanten der Gedenkkultur Nachdem die Bedingungen für die Eingrenzung einer Gedenkkultur nach der Wiedervereinigung genannt worden sind, sollen nun die Konstituanten dieser bestimmt und nachfolgend gezielt auf die Gedenktypologien eingegangen werden. In den geführten Interviews ist bei der Frage nach den Konstituanten der Gedenkkultur aufgefallen, dass sie für die Befragten keine herausragende Rolle zu spielen scheinen. Ein differenzierte Betrachtung der Gedenkkultur und die Hervorhebung von verschiedenen Gedenktypologie konnte den Aussagen keineswegs entnommen werden. Vielmehr sehen die Befragten die Konstituanten der Gedenkkultur beinahe ausschließlich in der Verdichtung von Ritus und Symbolik und reduzieren die Konstituanten der Gedenkkultur auf die Gedenktypologie der öffentlichen Kommemoration, also die öffentliche und stark ritualisierte zum Teil politisch getragene Gedenkveranstaltungen, wie die Tage der Befreiung der einzelnen Gedenkstätten respektive den bundesweiten Gedenktag am 27. Januar. So wie die Gedenkkultur vorgestellt und definiert wurde, ergibt sich jedoch eine Vielzahl von Möglichkeiten des Umgangs mit der rezenten Vergangenheit, die sich nicht ausschließlich auf die öffentliche Kommemoration beschränken. Es wurde deshalb der Versuch gewagt, die unterschiedlichen Ausdrucksformen in einer größeren spezifischen Gruppe zu verdichten und einer Gedenktypologie zuzuordnen. So ergeben sich die unterschiedlichen Gedenktypologien als elementare Bestandteile der Gedenkkultur, die über die Foren des öffentlichen Gedenkritus hinausgehen. Die verschiedenen Gedenktypologien, die nachfolgend kurz vorgestellt werden, sind inhärenter Bestandteil der Gedenkkultur, die sich nach der Einheit der beiden deutschen Staaten herausgebildet hat. 49 Typologien des Gedenkens 3.2.1 Typologien des Gedenkens Die Gedenktypologien sind nicht nur ein Resultat von einer Pluralisierung und Liberalisierung des Gedenkens, sondern auch logisches Resultat einer Verschiebung des gesellschaftlichen Verständnisses von Gedenkformen und Gedenkästhetik. Die Gedenktypologien sind außerdem allesamt Ausdruck objektiver Gültigkeit, partikularer Befindlichkeit und einer Weiterentwicklung unseres kollektiven Gedächtnisses, das sich verstärkt einer modernen und differenzierten Umgebung anpasst. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bestätigt meine Aussage und beendet -unbewusst oder bewusst- die Debatte, um die „angemessene Form des Gedenkens“ mit folgender Prognose: „Auch wenn die uns Nachkommenden ihre eigenen Formen des Gedenkens entwickeln werden, die womöglich unseren Kategorien nicht immer entsprechen: haben wir Grund zu der Annahme, daß sie weniger verletzbar wären, weniger Gefühle hätten als wir oder daß wir begabter wären für Trauer und Empathie?“78 Die einzelnen Typologien sind der Ausdruck der individuellen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und auch Resultat des Übergangs in ein „Zeitalter ohne Zeitzeugen“. Die Gruppenzuordnung basiert auf einer Gesamtheit von Merkmalen, die sich im engeren Sinn mit der Nationalsozialistischen Diktatur und deren Verbrechen beschäftigt und im weiteren Sinn die Folgen dessen zu verarbeiten sucht. Eine gezielte Abgrenzung der einzelnen Typologien ist nicht sinnvoll, da sich die Typologien gegenseitig bedingen und meiner Auffassung folgend, einer Typologie, der Urform des Ganzen entspringen: dem Gedenken am authentischen Ort. Das Gedenken an authentischen Orten- an den KZ-Gedenkstätten- ist eine eigene Gedenktypologie; sie ist der Urtyp des umfassenden Gedenkkonzepts. Das Gedächtnis der Orte verbürgt die Präsenz des Toten und die „steinernen Zeugen“, die historischen Relikte am Ort, dokumentieren, dass sich die Geschichte tatsächlich ereignet hat. Neben den kognitiven Prozessen sind an den authentischen Orten durch ihre Ultrapräsenz auch auratische Empfindungen möglich. Insofern wird ein vitaler Bezug zu den authentischen Orten mit zunehmendem zeitlichen Abstand 78 Thierse, Wolfgang: Statt eines Geleitwortes, S.9, in: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus- Eine Dokumentation, Einleitung, Berlin, 1999, Bundeszentrale für politische Bildung, Band II. 50 Typologien des Gedenkens elementarer Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Die KZ-Gedenkstätten visualisieren den Prozess der Erinnerung und des Vergessens oder Verdrängens, auch der kulturellen Umformung und Instrumentalisierung. Sie sind die Bedingung für das Entstehen einer öffentlichen Kommemoration und sie sind die Ursache dafür, dass Probleme über die Kommunikation und Konstruktion von Erinnerung sowie der Imagination von Verlorenem und der Repräsentation des Abwesenden thematisiert werden. Pathetisch bezeichnet, sind die Gedenkstätten das Spiegelbild der rezenten Erinnerungskultur und momentanen Gedenkkultur. Damit bekommt diese Typologie eine herausragende Stellung zugewiesen, die sich aus ihrer Multifunktionalität einerseits und dem normativen Anspruch an diese begründet. Sie sind Orte, die für die nachfolgenden Generationen einen räumlichen und sinnlichen Bezug zu dieser Vergangenheit herstellen und durch ihre monumentale Authentizität die Verbrechen veranschaulichen und das über einen greifbaren Zeithorizont hinaus79. Sie sind konkret und doch vielfältig in den unterschiedlichen Perspektiven; die KZ-Gedenkstätten stehen gegen jegliche Form von Relativitätsbemühen. Überdies ist die Form der Monumentalisierung des Gedenkens für uns von besonderer Bedeutung, weil man auf diese Weise der „Abstraktion des Erinnerns ein verkörperlichtes Monument“80 entgegensetzen kann. Die Konservierung der authentischen Orte ist zudem geleitet, die Massenverbrechen dauerhaft im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Zudem erhofft man sich von den Erinnerungsorten, so der normative Ansatz, über den Informationswert hinaus, dass diese ein aktives und ortsunabhängiges Geschichtsbewusstsein vermitteln. Historisch und pädagogisch begründet, nehmen die KZ-Gedenkstätten die primäre Stellung innerhalb des Gedenkzyklus ein. Als Ursprungstypologie leiten sich alle nachfolgenden Gedenkformen vom Gedenken am authentischen Ort ab. Daneben existiert die bereits erwähnte Gedenktypologie der „öffentlichen Kommemoration“, zu der die öffentlichen und zum Teil politischen Gedenktage 79 Vgl. Endlich, Stefanie: Ein authentischer Ort, ein konkretes Ereignis- Die „Passagen“ für Walter Benjamin im Kontext der aktuellen Denkmals-Diskussion, S. 73-110, in: Ingeborg Siggelkow (Hg.): Gedächtnisarchitektur: Formen privaten und öffentlichen Gedenkens, Frankfurt am Main, 2001. 80 Benz, Wolfgang: Zukünftiges Gedenken, S.42-43, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hg.): Erinnerung und Begegnung: Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam, 1996. 51 Typologien des Gedenkens zählen sowie die Schlüsselereignisse. inhaltliche Das Ausrichtung sind die Tage und Institutionalisierung der Befreiung der dieser einzelnen Konzentrationslager an denen öffentliche und medienwirksame Zeremonien stattfinden, der Tag der Befreiung- das Kriegsende- am 8. Mai; das ist auch der bundesweit sicherlich symbolträchtigste Gedenktag im Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit. Im Jahr 1996 wurde der 27. Januar vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Seitdem erinnert der Bundestag jährlich in einer Gedenkstunde an diese Opfer. Aber auch der 20. Juli gehört zu den Gedenktagen, der Teil der öffentlichen Reminiszenz ist. Schließlich der 9. November, der ein mehrfaches Gedenken bündelt: Die Erinnerung an die Maueröffnung, die Reichsprogromnacht, das Elser- Attentat, den Hitler-Putsch und die Novemberrevolution von 1918. Das weitläufige Feld der öffentlichen Kommemoration an die Zeit der NS-Diktatur ist von erheblicher Bedeutung. Die Frage, wie eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland den Opfern der industriellen Massenvernichtung gedenken kann, beantwortet sich in der „politischen Liturgie.“81 In der politischen Liturgie werden jene gesellschaftlichen Rituale verdichtet, die konsensual, als wichtige Ereignisse für das kollektive Gedächtnis erachtet werden. Dabei werden die Rituale als kollektive und symbolischen Handlungen und Verhaltensweisen verstanden. Die charakteristische Regelmäßigkeit wirkt darüber hinaus stabilisierend und hilft rituale Handlungen gesellschaftlich zu verankern. Die nationalen Gedenktage sind entsprechende Verhaltensdispositionen innerhalb der öffentlichen Gedenkkultur und sie sind gewünschte Formen der Auseinandersetzung mit der belasteten Vergangenheit. Sie sind transparent und notwendig zur öffentlichen Sinnstiftung, da das öffentliche Gedenken zumeist aus einem von der Gesellschaft getragenen Wertekanon entspringt und dadurch seine Legitimität erhält. In modernen wissenschaftlich geprägten Gesellschaften sind sowohl die kognitiven, als auch die liturgischen Bezüge zur Vergangenheit relevant. Auf 81 Brumlik, M: Gedenken in Deutschland, S.115f., in: Platt/Heil (Hg.): Generation und Gedächtnis, 1995. 52 die Typologien des Gedenkens Gedenktypologien angewendet, würde das bedeuten, dass die kognitive Herangehensweise am authentischen Ort und die liturgische Herangehensweise, die öffentliche Kommemoration, gleichermaßen notwendig sind und sich sogar einander ergänzen. Hier wird besonders deutlich, dass diese beiden Typologien sich weder aufeinander reduzieren noch durcheinander ersetzen lassen. Mit anderen Worten: durch die öffentliche Kommemoration in Form von Gedenkveranstaltungen u.ä. wurde der ursprünglichen Funktion der KZ-Gedenkstätten als Friedhöfe zuerst Rechnung getragen. Im Zyklus des Gedenkens wird der öffentlichen Kommemoration auch der Platz direkt nach den KZ-Gedenkstätten eingeräumt, um die Bedeutung des öffentlichen Gedenkens sichtbar zu machen, aber auch um aufzuzeigen, welche Auswirkungen eine politischen Instrumentalisierung bei diesem hohen Stellenwert auf die Gedenkstätten und die Gedenkkultur hätte. In der über zehnjährigen Debatte um das zentrale Holocaust-Mahnmal für die Hauptstadt, in der nicht wenige forderten, die Debatte möge das Denkmal sein, zumal Berlin und im ganzen Land an den „traumatischen Orten“ 82 zahlreiche Gedenkstätten an die Ausgrenzung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung erinnern. Die Debatte, die mit der Forderung nach einem zentralen Denkmal der Bürgerinitiative PERSPEKTIVE BERLIN e.V. um Lea Rosh im Jahr 1988 begann und mit der Entscheidung im Bundestag am 25. Juni 1999 endete. Das Richtfest wird am 12. Juli 2004 stattfinden und bis dahin sind bereits die Hälfte der 2751 Betonstelen aufgestellt. Diese langjährige Debatte, die es wie kaum ein Ereignis zuvor schaffte politische und gesellschaftliche Sphären zu einem öffentlichen Diskurs über einen so langen Zeitraum hinweg zu mobilisieren, wird deshalb als evidenter Bestandteil der Gedenkkultur betrachtet und aufgrund der Spezifität einer eigenen Gedenktypologie untergeordnet. Während das Gedächtnis der Orte die Präsenz der Toten verbirgt und zum Teil noch aktiver, greifbarer Lebensbestandteil der Überlebenden Opfer ist, lenkt das Monument dagegen die Aufmerksamkeit vom Ort auf sich selbst, als 82 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume - Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München, 2003, Sonderausgabe, S. 328. 53 Typologien des Gedenkens repräsentierendes Symbol. Das Monument oder Denkmal ist ein abstraktes Kunstwerk, mithin ein politisches Symbol; von Menschenhand geschaffen ist es immer Ausdruck einer kulturellen und interpretierten Formung der Erinnerung. Das charakteristische an einem Monument ist, dass es ein gewollt künstlich geschaffenes und abstraktes Symbol ist, das in sich eine Botschaft mit einem bestimmten Erinnerungsgehalt für die Nachwelt trägt. Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zeichnet sich ebenfalls durch seine abstrakte, künstliche Form aus und enthält eben diese Botschaft für die Nachwelt, niemals zu vergessen und dieser einen Opfergruppe exemplarisch ein Monument zu errichten. Die Intensität, mit der diese Debatte geführt wurde, bestätigt die Position in unmittelbarer Folge zur öffentlichen Kommemoration. In der konkurrierenden Stellung der einzelnen Typologien zueinander erhält die MahnmalTypologie eine herausragende Stellung, da in ihr eine ernstzunehmende Konkurrenz für die primäre Position der KZ-Gedenkstätten innerhalb der Gedenkkultur liegt. So kann Aleida Assmann zugestimmt werden, die die Auffassung vertritt: „Die Aura, die dem Gedächtnisort seine Weihe gibt, ist in keine noch so kunstfertigen Monumente übersetzbar.“83 Des weiteren gehört zur Gedenkkultur auch das Feld der ästhetischen Kultur: Die Typologie des Gedenkens in der Medienlandschaft. Wie man der Grafik entnehmen kann, bekommt diese keinen so gewichtigen Platz innerhalb der Gedenkkultur. Die Anordnung resultiert schlicht aus der gewichtigen Bedeutung der ersten drei genannten Typologien, obwohl die Produzenten literarischer, filmischer, fotografischer und dramatischer Werke immer wieder auch politisch anstößige Akteure gewesen sind. Es ist davon auszugehen, dass literarische Werke wie Celans „Todesfuge“ oder Hochhuts „Stellvertreter“ ebenso filmische Epen wie die US-amerikanischen „Holocaust“ und „Schindlers Liste“ nicht nur das kollektive Gedächtnis mitstrukturiert haben, sondern vor allem der Film von Steven Spielberg die Diskussion um die Erinnerungs- und Gedenkkultur zur Revitalisierung und Emotionalisierung verholfen haben. Auch diverse Fernseh- und Dokumentationsreihen über die nationalsozialistische Diktatur, exemplarisch seien 83 Assmann, A.: Erinnerungsräume, 2003, S. 326. 54 Typologien des Gedenkens hier die G. Knopp- Reihen genannt, sind Teil dieser Gedenktypologie. Als mediales Produkt sind sie die Antwort auf eine gestiegene Nachfrage in unserer Gesellschaft nach der Vermittlung von Geschichtsbewusstsein via Television. Insgesamt darf der Einfluss dieser Gedenktypologie nicht unterschätzt werden, denn besonders über die TV- und Videogeräte wird ein potenzielles Millionenpublikum erreicht. Kritisch ist die Typologie samt ihrer verschieden Formen zu betrachten, weil sie auch Werke, ob literarisch oder filmisch, enthält, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen, jedoch keinen Anspruch auf Plausibilität erheben, sondern künstliches, plastisches und unterhaltsames miteinander verbinden, dass der Adressat letztendlich alles für eine wahre Begebenheit zu halten vermag. Vortrefflich bezeichnet Peter Reichel das als das „(…) unauflösliche Dilemma aller erfundenen Erinnerung.“84 Schließlich beansprucht das Feld der Gedenktypologie „Orte der Latenz“ seine Position innerhalb des Gedenkzyklus’. Neben den offenen und durchlässigen, auch streitbaren Typologien, beansprucht die Gedenkkultur einen Bereich, in dem sich bewusst oder unbewusst eine Erinnerung an das offiziell Verschwiegene oder Abwesende erhalten kann. In Anlehnung an das Moses- Buch von Sigmund Freud, in dem er sich mit den individualspychologischen Begriffen der Gedächtnisdynamik wie Erinnerung, Verdrängung und Latenz als Elementen einer Kulturtheorie auseinandersetzt und diese auf die Religionsgeschichte anwendet, wird in der Gedenkkultur der Begriff der Latenz, als die „Verschweigung im offiziellen Diskurs“ 85 benutzt. Im offiziellen und nationalen Gedächtnis der Deutschen gibt es solche Latenzen, ganz im Sinne von Freud, die unmittelbar mit den traumtischen Erschütterungen zusammenhängen. Solange es Zeitzeugen gibt, ob auf der Opferoder der Täterseite, wird es dieses Verschweigen geben. Auch auf der unmittelbar bevorstehendem Schwelle zum kulturellen Gedächtnis wird es diese Orte der Latenz in unserem Gedächtnis geben, aufgrund des zielgerichteten Verschweigens auch nachfolgender Generationen, sei es aus Schamgefühl oder einer willentlichen 84 Reichel; Peter: Erfundene Erinnerung- Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München/ Wien, 2004, S. 13. 85 Assman, J.: Kollektives und kollektives Gedächtnis, S.31, in: Borsdorf/ Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 55 Typologien des Gedenkens Abwehrhaltung. Da die Reihenfolge der einzelnen Typologien eine Rangfolge darstellt, ist ersichtlich, dass der Typologie ‚Orte der Latenz’ keine vorrangige Rolle innerhalb der Gedenkkultur zugesprochen wird. Allerdings ist auch sie, wie die anderen, elementarer Bestandteil der Gedenkkultur und sollte zukünftig nicht unterschätzt werden. Sämtliche Gedenktypologien basieren auf der Gedenktypologie ‚Die KZ- Gedenkstätten’. Sie sind interdependent und beziehen sich spezifisch auf die Gedenkkultur der deutschen Gesellschaft. Damit können die getroffenen Aussagen keine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen. Wie anhand der Grafik versucht wurde, bildhaft zu machen, ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Gedenktypologien die Gedenkkultur. In ihr verdichten sich die normativen und notwendigen Merkmale der einzelnen Gedenktypologien. Die Kreise spiegeln die Handlungsfelder der einzelnen Typologien wider und in der Reihenfolge besteht eine Rangfolge. Im Uhrzeigersinn betrachtet kann von den KZGedenkstätten ausgehend eine Abstufung der einzelnen Felder vorgenommen werden. Zwar können die Typologien nicht wahlweise herausgelöst werden, jedoch kann beispielsweise die Anordnung der einzelnen Felder geändert werden, so dass sich die Aktualitätsbezüge abzeichnen und eine andere Gewichtung der Typologien sichtbar wird. Den Prognosen folgend, kann die Grafik in wenigen Jahren so verändert werden, dass sich die Gedenkstätten nicht mehr an primärer Stelle befinden, sondern die öffentliche Kommemoration diesen Platz eingenommen hat. 56 Typologien des Gedenkens 3.2.2 Grafische Darstellung der Typologien des Gedenkens Abb. Zyklus der Gedenktypologien86 86 Anm.: eigene Darstellung. 57 Typologien des Gedenkens 3.3 Zur Transformation der Gedenkkultur im vereinten Deutschland Herausforderungen und Ansprüche Die Errichtung von Gedenkstätten schien in Deutschland nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 ein allenfalls sekundäres Problem zu sein. Viele der ehemaligen Konzentrationslager, insbesondere die großen Hauptlager, wurden nach Kriegsende provisorisch genutzt, beispielsweise als Krankenhäuser, als Basis für Repatriierungsversuche, als Unterkünfte für sogenannte „displaced persons“ und auch als Internierungs- und als Flüchtlingslager; später wurden sie auch als Gewerberäume, Gefängnisse und geschlossene Krankenhäuser benutzt. Die Mehrzahl der einstigen Konzentrationslager aber, vor allem die kleineren Lager, wurden in der Nachkriegszeit demontiert, viele überbaut und viele verwandelten sich in verwilderte Brachen. Dem mit dem Verschwinden der KZ-Überreste verbundenen Auslöschen von Erinnerung widersetzte sich allerdings schon seit der frühen Nachkriegszeit eine Tendenz, welche auf das Gedenken und Erinnern abzielte. Neben den auf religiöse Transzendenz verweisenden Grabmalen entstanden kurz nach der Befreiung auch erste provisorische Denkmale, die entweder die Tatorte kennzeichneten oder punktgenau auf die NS-Verbrechen verwiesen, wie etwa ein Sowjetstern über einem Massengrab in Ravensbrück. 87 Was erinnert werden soll, ist aber oft interessengeleitet und deshalb nicht selten strittig. Erreichen Gesellschaften und Nationen bisweilen jedoch einen Konsens darüber, was in ihrer Geschichte erinnert werden soll, dann formiert sich daraus allgemeingültig ein „Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet“88. Ein generell in der Gesellschaft akzeptierter Symbolvorrat wird genutzt, um die Geschichte adäquat zu kommunizieren. Im konkreten Umgang damit formiert sich daraus, wie bereits erwähnt, die Erinnerungskultur, in der Riten, Symbole, Metaphern und bedeutungsgeladene Monumente und besonders Gedenkstätten ihren Platz haben. Aus dem Bedürfnis heraus, die Erinnerung an die NS-Verbrechen präsent zu halten, 87 Vgl. dazu: Mußmann, Olaf: Die Gestaltung von Gedenkstätten im historischen Wandel, in: KZ- Gedenkstätte Neuengamme (Hg.):Museale und mediale Präsentation in KZ-Gedenkstätten-Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 6, Bremen, 2001, S. 14-30. 88 Ebd. 58 Typologien des Gedenkens bemühten sich verschiedene Kräfte um die Einrichtung von Gedenkstätten. Es gab aktive Bürgergruppen und überlebende ehemalige Häftlinge, die sich später in Vereinen und Verbänden organisierten, die sich stark für den Erhalt bzw. für die Errichtung von Gedenkstätten einsetzten. Die Aktivitäten waren in der Regel von dem Bemühen begleitet, die Art der Erinnerung zu beeinflussen oder gar zu bestimmen und entsprechend verliefen die Gestaltungen und Konzeptionen nicht nach einem einheitlichen Muster. Im Spannungsfeld zweier disparater Erinnerungskulturen bildeten sich deshalb divergente Strukturen und Effekte heraus, die von der Vernachlässigung der Areale bis zur vollständigen Umnutzung oder der Überbauung monumentaler Gedenkstätten in staatlicher Trägerschaft reichten. Dabei prägten die Interessenlagen, Instrumentalisierungen, Interpretationen und Reduktionen der Geschichtsbilder, gemäß den politischen Erinnerungskulturen der beiden deutschen Staaten, die jeweiligen Gestaltungsprinzipien der Gedenkstätten. So sind die Folgen der verschiedenen Auf- und Abspaltungen im Gedächtnis der Nation an den auf die NS-Vergangenheit bezogenen Orte bis heute ablesbar. In unserer in Jahrzehnten gewachsenen Erinnerungskultur nehmen die authentischen Orte einen prominenten Platz ein, gemeint sind die KZ-Gedenkstätten. Prominent auch deshalb, weil an kaum einem anderen Beispielkomplex der Gegensatz im Umgang mit dem NS-Erbe zwischen den beiden deutschen Staaten so präzise nachzuvollziehen ist, wie auch Reichel meint: „Konversion und spätere Revision dieser Gedächtnisorte haben in der ost- und westdeutschen Erinnerungskultur ihr je eigenes Profil herausgebildet.“89 Letztlich stehen gerade die Gedenkstätten als monumentales Sinnbild für den Umgang mit diesen Orten in den beiden Erinnerungskulturen. Während die Bundesrepublik Deutschland die Gedenkstätten „im Rahmen ihrer Wiedergutmachungspolitik“90 einführte, waren sie als zentrale und authentische Orte nicht stark in der politischen Kultur verankert. Außer an zentralen Gedenktagen oder bei öffentlichen Staatsbesuchen, waren die Gedenkstätten offiziell keine stark besuchten Gedächtnisorte. Ihre Position im politisch-öffentlichen Raum in der Bundesrepublik verdeutlicht sich besonders an der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen 89 Reichel, P.: Politik mit der Erinnerung, 1995, S.128. 90 Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken, 1999, S. 15. 59 Typologien des Gedenkens im Land Niedersachsen. Dort war und ist bis einschließlich Mitte 2004 die Gedenkstätte „(…) eine Unterabteilung einer Landeszentrale für politische Bildung, die wiederum dem Kultusministerium untersteht…“91 In der DDR hingegen wurden die Gedenkstätten funktionalisiert und instrumentalisiert. Eingebettet in das politische System- als zentralstaatlich nachgeordnete Behörde des Ministeriums für Volksbildung- wurden die authentischen Relikte überbaut und kulturell überformt. Sie wurden zu Orten für Massenveranstaltungen, in denen mittels überdimensionaler Aufmarschalleen und übergroßer Denkmäler der Sieg über den Faschismus gefeiert wurde. Neben öffentlichen Gedenktagen waren besonders die Jugendweihen und die Vereidigungen der Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) als Anlässe geeignet, um zugleich den Heroismus des kommunistischen Widerstands in der folgenden Generation zu verankern. Dass sich die Einverleibung eines konstruierten geschichtlichen Erbes in Widersprüchen und Ungereimtheiten wiederfand, zeigte sich schlussendlich auch im Umgang mit den Gedenkstätten. Eine solch gezielte Deformierung der authentischen Orte ist in den Gedenkstätten des westlichen Teils der Republik nicht nachzuweisen. Trotzdem machen auch 45 Jahre nach dem Holocaust das soziale Gedächtnis und sein Kern, die Erinnerungskultur zu einem konfliktreichen Politikfeld. Seit der deutschen Wiedervereinigung und dem Prozess des schwierigen Zusammenwachsens, erscheinen auch die Gedenkstätten in einem anderen Licht und diese stehen vor neuen Herausforderungen. Im folgenden soll auf diese Anforderungen eingegangen werden: 1. Jahrzehntelang waren die Gedenkstätten über die NS-Vergangenheit in einen innerdeutschen Systemkonflikt eingebaut und das Aufeinandertreffen zweier disparater Erinnerungskulturen entfachte nicht nur die Diskussionen über die angemessene Aufarbeitung der Wissens- und Materiallücken in der Geschichte der Gedenkstätten, sondern löste zugleich noch einen Streit über die angemessene Form des Gedenkens aus, der sich bis in die einzelnen Opfergruppen des NSRegimes ausdifferenzierte. 91 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 60 Typologien des Gedenkens Besonders an einem Gedenkort kristallisierten sich Konflikträume heraus, die sich der Vorstellungskraft mancher entzogen. In der Gedenkstätte Buchenwald entbrannte der Streit zwischen den Verbänden der Stalinopfer und der NS-Opfer über die Frage, ob die Toten des sowjetischen Speziallagers den Toten des Konzentrationslagers räumlich und denkmalkünstlerisch gleich ,- nach- oder untergeordnet werden sollten. Neben einer Neukonzeptionierung, die sich den veränderten Rahmenbedingungen anpassen musste, standen nun einige Gedenkstätten (auch Sachsenhausen) vor dem Dilemma der „doppelten oder zweifachen Vergangenheit“, welche theoretisch, wie pädagogisch gelöst werden muss. 2. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wurde nicht von allen Staaten oder internationalen Organisationen als positives und überfälliges Politikum betrachtet und kennzeichnenderweise wurden die Entwicklungen in der Gedenkkultur und der Umgang mit den authentischen Orten nach 1990 mit mehr Interesse verfolgt als dies bisher der Fall war: Die Gedenkkultur wurde zum Parameter für die Wahrhaftigkeit eines neu gewachsenen Rechtsstaates.92 3. Daraus resultierte auch die Frage nach den Beiträgen des politischen Systems zu Form und Inhalt des Gedenkens. Nachdem die Länder Brandenburg und Thüringen bereits im Juni bzw. September 1991 Expertenkommissionen einberufen hatten, denen Geschichtswissenschaftler und Gedenkstättenspezialisten angehörten und die sich mit der Neukonzeption der Gedenkstätten beschäftigten, wurden die historischen Makel in Angriff genommen. Auch der Bund wurde sich seiner politischen Verantwortung bewusst und beteiligte sich an der Finanzierung der ehemaligen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten“ der DDR.93 Diese Entscheidung wurde zur „Gretchenfrage“ und löste die Diskussion über die finanzielle Förderung von Gedenkstätten in ganz Deutschland aus. Nachfolgend werden noch en detail auf die beiden Enquête- Kommissionen und ihre Resultate eingehen. 4. Mit der umfassenden Umgestaltung insbesondere der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten94 und deren thematischer Erweiterung stellte sich nun zunehmend die 92 Vgl. Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken, 1999, S. 16. 93 Puvogel, U.: Gedenkstätten, 1998, S. 17. 94 Dies betrifft neben den großen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald (Mittelbau-Dora), Sachsenhausen und Ravensbrück auch viele kleinere Gedenkstätten an Orten von NS-Verbrechen, an denen die Sicherung zum Teil erst ab 1990 begann oder nach Abzug der sowjet. Truppen erst zugänglich wurden. 61 Typologien des Gedenkens Frage nach der Funktion der Gedenkstätten innerhalb der Gesellschaft. Durch das Wegbrechen des Legitimationsgrundsatzes und die Befreiung vom „Geist des Antifaschismus“95 bestand die Notwendigkeit zur Korrektur von historisch defizitären Darstellungen in den Gedenkstätten der ehemaligen DDR. Sie sind nicht länger Instrument, sondern Orte der Erinnerung, sind Friedhöfe und zeithistorische Museen. Doch dieser Zuwachs an Funktionen und pädagogischer Verantwortung steht diametral den organisatorischen und finanziellen Ausstattungen der Gedenkstätten entgegen. Anhand der Fallbeispiele kann näher bestimmt werden, welche Auswirkungen diese Umgestaltung und Neudefinierung auf die Gedenkstätten hatte. 5. In der letzten Herausforderung, der sich die „neuen“ Gedenkstätten stellen müssen, vereinen sich eine Vielzahl von Faktoren, die insgesamt zu einer bedenkenswerten Situation innerhalb unserer Gesellschaft im weitesten Sinn und in unserer Gedenkkultur im engeren Sinn führen. Zum einen spürt man die Tendenz einer „weit verbreiteten Reserve gegen Gedenkstätten“96 und das sowohl im Osten, wie auch im Westen, zum anderen entwickeln sich zunehmend rechtsradikale Strukturen, die sich in auffallend gewaltträchtigen Aktionen direkt gegen die authentischen Orte richten. Hier sind besonders die neuen Bundesländer und ihre Gedenkorte betroffen. Hinzu kommt ein Faktor, der momentan noch keine gravierende Wirkung auf die Gedenkkultur hat, jedoch zukünftig haben wird. Dieser Prozess konvergiert mit der Vermutung um eine „neue“ Typologie des Gedenkens. Eingangs wurde bereits die Typologie „Gedenken in der Medienlandschaft“ vorgestellt und darunter auch die Formen des Umgangs im Gedenken innerhalb des künstlerischen vom authentischen Ort losgelösten und professionellen subsumiert. Hier stellt sich die Frage, inwiefern sich die Herausbildung einer sog. „Gedenkelite“ mit dem implizierten intellektuellen Anspruch auf die richtige Form des Gedenkens herausbilden kann und sich letztendlich auf die Gedenkkultur auswirken kann. 6. Mit der neuen Rolle Berlins als Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands wurde die Stadt zum Zentrum der Gedenkkultur und verinnerlicht nicht nur eine Vielzahl von Gedenkstätten und – orten, sondern auch die meist beachteten und 95 Meyer, E.: Erinnerungskultur als Politikfeld, S. 123, in: Bergem, Wolfgang (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen, 2003. 96 Vgl. Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken, 1999, S. 16. 62 Typologien des Gedenkens diskutierten: die „Topografie des Terrors“, die „Neue Wache“ und das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“97. Quantitativ wird Berlin zur „Gedenkhauptstadt“ stilisiert, ob sich das auch qualitativ messen lässt, wird sich vermutlich am Streitpunkt „Holocaust-Mahnmal“ entscheiden. Diese Bestandsaufnahme dient dem Überblick und nicht der sachgerechten Aufzählung aller Faktoren, die die Gedenkstätten besonders nach der Einheit der beiden deutschen Staaten maßgeblich beeinflussten. Zudem unterschieden sich die Anforderungen im Einzelnen auch voneinander, so dass man sagen kann, dass die Gedenkstätten im westlichen Teil durch die fehlende Instrumentalisierung oder der „doppelten Vergangenheit“ durchaus ein günstigere Ausgangssituation hatten. Bei aller Unterschiedlichkeit haben die heutigen KZ-Gedenkstätten im vereinten Deutschland doch auch vieles gemeinsam. Sei bestehen aus Einzel- und Massengräbern, aus mehr oder weniger gut erhaltenen historischen Überresten, aus Denkmalen und Museen Bildungsangeboten und oder geplanten aus oder anderen aus pädagogisch-didaktischen pragmatisch entstandenen Landschaftsgestaltungen. Diese Elemente sind nicht immer in gleichen Anteilen vorhanden und manche Gestaltung ist zufällig entstanden, manche gezielt. Die Notwendigkeit einer generellen Umgestaltung und thematischen Erweiterung der erinnerungskulturellen Funktion der Gedenkstätten ist augenscheinlich. Die authentischen Orte sollen nicht nur gegen jegliche Art von Relativitätsbemühung stehen, sondern mit ihrer Plastizität tiefer in die Gesellschaft hineinwirken können, nicht als moralische Instanz, sondern als pädagogisch liberale Einrichtung, in der es möglich wird, ein wahrhaftiges Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Das sind innenpolitisch die Herausforderungen, denen sich die Gedenkstätten am politischen Wendepunkt der Deutschen Wiedervereinigung stellen mussten. Das Gedenken und die authentischen Orte sind zunehmend zu einem öffentlichen Thema geworden und nicht länger ein historisches Spezialthema. Außenpolitisch mussten wir hingegen erkennen, dass in anderen Nationen der Umgang mit dem Nationalsozialismus stärker in der politischen Kultur verankert war, als es bei uns zu Beginn der 90er Jahre der Fall war. Auch in der Diskussion um die wissenschaftstheoretische Frage, ob und warum der Holocaust zu einem Problem 97 Rosh, L.: „Die Juden, das sind doch die anderen“, Berlin/ Wien, 1999, S. 11. 63 Typologien des Gedenkens der Moderne wurde, haben die Gedenkstätten wissenschaftlichen Nachholbedarf. Eine Beteiligung an der internationalen Diskussion um Werteverluste in hoch entwickelten Gesellschaften kann nur geleistet werden, wenn wir die: „Blutzufuhr aus den Universitäten, Schulen und Bildungsstätten [fördern]. Sie [die Gedenkstätten] müssen geöffnet werden für berufliche Mobilität.“98 Die funktionale Veränderung für die Gedenkstätten, sowie die föderale Verschiebung der Verantwortlichkeit stellte für die KZ-Gedenkstätten, insbesondere in den neuen Ländern, eine vielschichtige und komplexe Herausforderung dar. Dennoch konnte das von den Interessengruppen (beispielsweise Häftlingsverbände) adressierte politische System keine originären Kompetenzen zur Beurteilung von historischen Fragen vorweisen. Folglich delegierten die betroffenen Bundesländer die grundsätzlichen Entscheidungen an sogenannten Expertenkommissionen und Sachverständigengremien, die mittels einer wissenschaftlichen Expertise die weiteren Vorgehensweisen klären sollten. Nachfolgend stehen die Expertenkommissionen im Focus, um dann intensiver auf die Ergebnisse der Enquête- Kommissionen des Deutschen Bundestages einzugehen. 3.3.1 Die Neukonzeption der Gedenkstätten und die EnquêteKommissionen Die funktionale und föderale Verschiebung der Verantwortlichkeit brachten für die Interessenvertreter, Beeinträchtigung Vertreter ihrer der Opfer Erinnerungsinteressen der mit Konzentrationslager, eine sich. eine Es entstand Konfliktsituation, die sich in Erinnerungskonkurrenz zwischen zwei Opfergruppen äußerte, nämlich in der: „(…) Bewahrung antifaschistischer Traditionen einerseits und der Durchsetzung vereinfachender totalitarismustheoretischer Deutungen andererseits.“99 Hinzu kam nach dem politischen Umbruch vielfach ein würdeloser Streit um die Frage der Finanzierung von Restaurierungen und den Erhalt von Geschichtsdenkmälern und Gräbern, denen Verfall oder sogar Verlagerung in 98 Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken, 1999, S.20 f. 99 Meyer, E.: Erinnerungskultur als Politikfeld, 2003, S. 123. 64 Typologien des Gedenkens abgelegenere Winkel drohte. Bei der Umgestaltung gab es sogar Ungeduld und Empörung darüber, dass beispielsweise die Veränderungen von Formen und Inhalten bei Ausstellungen nicht schnell genug voran getrieben würden, so als würde es sich um eine ausschließliche Modifikation der Bilder handeln. 100 Die neuen Länder Brandenburg und Thüringen beriefen für die Streitpunkte deshalb bereits Mitte Geschichtswissenschaftler 1991 und sog. Expertenkommissionen, Gedenkstättenspezialisten und denen Vertreter aus Verfolgten- und Häftlingsverbänden angehörten. Sie sollten sich mit den Spezifika der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten und deren historiografischen Defiziten auseinandersetzen. Die Kommission sollte aber auch Stellung zu den stalinistischen „Speziallagern“ der Nachkriegszeit im Verhältnis zu den Konzentrationslagern in der Zeit des NS-Regimes nehmen, zumal wenn diese auf den vormaligen KZ-Geländen eingerichtet worden sind. Im Kern richtete sich die Arbeit der Experten an die Frage nach dem Gegenwartsbezug der NS-Vergangenheit sowie den früheren Funktionen der Gedenkstätten und an ihre Aufgaben im vereinigten Deutschland. Die erarbeiteten Vorschläge sollten als Eckpunkte eines Umgestaltungsfeldes verstanden sein, innerhalb dessen der Prozess der Neugestaltung stattfinden sollte. Die beiden Expertenkommissionen kommen formal zu den gleichen Ergebnissen: Erinnerungsräume für beide Verfolgungskomplexe einzurichten, aber räumlich zu trennen, mit dem Schwerpunkt auf den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Natürlich löste diese Entscheidung bei den konträr zueinander stehenden Opferverbänden beider Vergangenheiten heftige Streitigkeiten aus. Zwar wurden die Vorschläge, mit dem Verweis, dass nicht das eine Unrecht das andere relativiert oder bagatellisiert- akzeptiert, ein Nachgeschmack aber blieb. Zumal nun das Problem der Repräsentation in Bezug auf die Zusammensetzung der Kommission virulent wurde. Diese Forderung nach repräsentativer Besetzung respektive der Einsetzung „kritischer Experten“ ist ein typisches Problem bei der politischen Auseinandersetzung um Verfahrensgerechtigkeit. Problematisch ist dies vor allem, da das auch künftig so sein wird. Beim Übergang zum kulturellen Gedächtnis werden die Opfer- und Häftlingsverbände zunehmend von der Nachfolgergeneration getragen werden. Zum Streitpunkt wird das besonders bei der Empfehlung der 100 Vgl. Puvogel, U.: Gedenkstätten, 1998, S. 12. 65 Typologien des Gedenkens Kommissionen zur Rechtsform. Die Expertenkommissionen empfehlen bei der Organisation der Gedenkstätten die Rechtsform Stiftung. Diese sollte neben der politischen Administration von sachverständigen Gremien getragen werden. Die tatsächlich Betroffenen sind hier nur in beratender Funktion vorgesehen und ihre Zahl dezimiert sich stetig. Zukünftig, nach dem Ableben der Zeitzeugengeneration, wird sich die Frage nach einer legitimen Nachfolge stellen, wenn man nicht ausschließlich auf der Basis von Expertenwissen arbeiten möchte. Durch die Zustimmung der jeweiligen Landtage zu den Konzeptionen der Kommissionen wurde die Umgestaltung der Gedenkstätten schließlich auch demokratisch legitimiert. Hilfe bei der Neuorientierung der großen Gedenkstätten in Ostdeutschland kam auch von den beiden aufeinanderfolgenden Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages101, denen Vertreter der Parteien und Sachverständige aus Ost und West angehörten. Bereits 1992, also kurz nach dem Ende der DDR, wurde die Kommission eingerichtet, die ihre Arbeit sofort aufnahm, diese in der folgenden Wahlperiode 1995 fortsetzte und nach sechs Jahren, 1998, ihre Ergebnisse vorstellte. Die Kommissionen beschäftigten sich mit der „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ bzw. mit der „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“102 und es wurde besonders in der Arbeitsphase der Enquête-Kommissionen deutlich, dass es eine solche Expertenforen für die Aufarbeitung der Vergangenheit des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen seit dem Ende des NS-Regimes nicht gegeben hat. Die Errichtung und Unterstützung von Gedenkstätten wird nach dem föderalen Staatsverständnis der Bundesrepublik grundsätzlich als Aufgabe der Länder alsKulturhoheit der Länder- angesehen. In der Frage zur Finanzierung der Einrichtungen formulierte der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 nur eine Übergangslösung, gemäß Art. 35 Abs. 4 und 7, insofern die „Föderalisierung der kulturellen Einrichtungen die neuen Bundesländer finanziell überforderte, wurde die Möglichkeit der Mitfinanzierung durch den Bund 101 Enquête- Kommissionen kann der Bundestag nach § 56 seiner Geschäftsordnung einsetzen, wenn es um umfangreiche und komplexe Sachverhalte geht, die auch externer Berater bedürfen. Vgl. hierzu: Weidenfeld, W./Korte, K.R. (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit- 1949-1989-1999, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1999, Neuausgabe, S.330-342. 102 Vgl. Puvogel, U.: Gedenkstätten, 1998. 66 Typologien des Gedenkens beschlossen.“103 Allerdings blieb diese Lösung aus haushalts- und kulturpolitischer Perspektive umstritten. Zu Beginn der 90er Jahre häuften sich die rechtsextremen Übergriffe, die nun zunehmend auch die Gedenkstätten selbst betrafen. Die inzwischen von der Bundesregierung vorgelegte Konzeption wurde im Haushaltsausschuss gebilligt und Anfang 1994 im Bundestag diskutiert. Die vorliegenden Anträge der Fraktionen wurden für Beschlussempfehlungen dem Innenausschuss übergeben, welcher im März 1994 zur Diskussion der „Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten“ eine öffentliche Anhörung organisierte. Das Expertengremium zur Bewertung der DDR-Vergangenheit war übrigens die 1992 eingesetzte EnquêteKommission. Diese Diskussion, unter Teilnahme von Vertretern aus Gedenkstätten, Museen und der Geschichtswissenschaft, sollte die Umgestaltung der Gedenkstätten nochmals erörtern und entsprechende Richtlinien entwerfen, nach denen bestimmte Einrichtungen mit gesamtstaatlicher Präsenz der Förderungswürdigkeit durch den Bund entsprechen. Allerdings war das Ergebnis mehr als defizitär und unzureichend. Die vom Bundestag 1994 verabschiedete Vorlage enthielt nicht die erhoffte Auswahl der Institutionen, auch nicht die notwendigen Bewertungsmaßstäbe. Als einziges Kriterium für die Verpflichtung des Bundes wird die 50%-ige Finanzierung entsprechender Einrichtungen durch das jeweilige Land vorgeschrieben. Doch die vielfach geforderte Einsicht zur gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes für die Gedenkstätten blieb vage und vorläufig bis auf 2003 befristet, außerdem ausschließlich für die neuen Länder und Berlin begrenzt. Die Enquête- Kommission kommt in ihrem Abschlussbericht jedoch auch zu dem Ergebnis, dass die Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung durch den Bund gefördert werden sollten und weist somit auf die Notwendigkeit einer staatlichen Regelung hin.104 Vor dem Hintergrund dieses unvollständigen Ergebnisses beauftragte der 13. Deutsche Bundestag die zweite Enquête-Kommission. Die Nachfolgerin ab 1995 trug die Bezeichnung „Überwindung der Folgen der SED- Diktatur im Prozeß der 103 Meyer, E.: Erinnerungskultur als Politikfeld, 2003, S. 125. 104 Vgl. Meyer, E.: Erinnerungskultur als Politikfeld, 2003. 67 Typologien des Gedenkens deutschen Einheit“ und hatte zudem den Auftrag, Vorschläge für eine umfassende Gedenkstättenkonzeption zu erarbeiten.105 Dementsprechend werden Empfehlungen zu „gesamtdeutschen Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und an ihre Opfer“ erarbeitet und im Schlussbericht im Juni 1998 festgehalten. Das Papier enthält eine kritische Bestandsaufnahme der historischen Entwicklung und Vorschläge für die zukünftige Arbeit der Gedenkstätten. Insgesamt wird erstmals deutlich, dass es sich hier nicht um ein herkömmliches Kulturfeld handelt, sondern dass die Gedenkstätten an den authentischen Orten zur Erinnerung an beide Diktaturen und zum Gedenken an ihre Opfer als Stützpunkte von zentraler und damit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung seien. Hinzu kommt, dass das Papier auch Richtlinien enthält, nach denen klar definiert werden kann, welche Gedenkstätten und welche authentischen Orte förderungswürdig sind und es zukünftig sein werden. Abgesehen von den diversen Sondervoten zu einzelnen Sachverhalten - hauptsächlich von der PDS - aufgrund verschiedener geschichtspolitischer Bewertungen gibt das Papier Auskunft über die eindeutige Bereitschaft des Parlaments, die Erinnerungskultur als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzusehen. 3.3.2 Ein vorläufiges Fazit Wenn man die Schlussberichte beider Kommissionen betrachtet, dann ist festzustellen, dass der Bundestag das gewünschte Ziel erreichen konnte und zwar ein Aufbau- und Ergänzungsverhältnis beider Foren. Dass die Innovationen zum Umgang mit den KZ-Gedenkstätten in Ostdeutschland und dann auch in Gesamtdeutschland erst im Zuge der Auseinandersetzung und der Diskussion über die Folgen der SED-Diktatur entstanden ist, zeigt nur sehr deutlich, wie nötig dieser offene Diskurs über die Folgen des NS-Regimes war. „Die Erinnerung an die beiden Diktaturen, die die Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaat verbunden hat, schärft das Bewusstsein für den Wert von Freiheit, Recht und Demokratie. Dies, wie die notwendige Aufklärung über die Geschichte der beiden Diktaturen, ist der Kern des antitotalitären Konsenses und der demokratischen 105 Jansen, Marlies: Enquete-Kommission, S. 330 f., in: Weidenfeld, W./Korte, K.R. (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit, 1999. 68 Typologien des Gedenkens Erinnerungskultur der Deutschen.“106 In Bezug auf die von der Kommission angestrebte unmittelbare Wirkung in der Öffentlichkeit kann keine allgemein gültige Einschätzung getroffen werden. Vorläufig wäre angebracht zu sagen, dass eine positive Resonanz über den transparenten Diskurs in der Gesellschaft zu verspüren war, jedoch auch die Kommission mit der Zeit das Erlahmen der öffentlichen Aufmerksamkeit verspüren musste. 3.4 Gedenken am authentischen Ort - Die KZ-Gedenkstätten Die Denkmäler zur Erinnerung an den Nationalsozialismus wurden zwar nicht ausschließlich an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager errichtet, aber in den meisten Fällen jedoch am authentischen Ort. Die Eingrenzung der authentischen Orte fiel bereits eingangs auf den spezifischen Gedächtnisort - die KZGedenkstätten, begründet vor allem in der herausragenden Stellung der KZGedenkstätten im erinnerungskulturellen Prozess und in der Gedenkkultur. Als sogenannte Urform der Gedenktypologien und Schwerpunkt dieser Arbeit kann hier allerdings die Betrachtung wiederum nur an ausgewählten Beispielen geschehen. Im Mittelpunkt stehen zwei bekannte KZ-Gedenkstätten in Ostdeutschland: Sachsenhausen und Mittelbau-Dora - und eine in Westdeutschland: Bergen-Belsen. Die authentischen Orte haben selbst kein immanentes Gedächtnis, aber sie sind doch notwendig zur Konstruktion kultureller Erinnerungsräume. Nicht nur, dass sie die Erinnerung festigen, in dem sie sie lokal im Boden verankert, sie verkörpern auch eine Beständigkeit der Dauer, der die kurzweilige Dauer der individuellen und menschlichen Erinnerung nichts entgegensetzen kann. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann meint dazu: „Die Aura, die dem Gedächtnisort seine Weihe gibt, ist in keine noch so kunstfertigen Monumente übersetzbar.“107 Die während des Nazi-Regimes durchgeführte Vernichtung des jüdischen Volkes hat in ganz Europa weiße Flecken auf der Landkarte hinterlassen; ganze jüdische Zentren wurden ausgerottet und so kann hier nicht mehr von einem Gedächtnis der 106 Beleg unvollständig; siehe dazu: Jansen, Marlies: Enquete-Kommission, S.331-341, in: Weidenfeld, W./Korte, K.R. (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit, 1999. 107 Assmann, A.: Erinnerungsräume, 2003, S.326. 69 Typologien des Gedenkens Orte gesprochen werden, sie sind de facto nicht mehr vorhanden. Ein Ort hält die Erinnerungen nur fest, wenn die Menschen dafür Sorge tragen und diese Sorge in der Spurensicherung und der Markierung der Gedächtnisorte ausdrücken. Wenn allerdings die Wohnstätten, die Gräber nicht mehr besucht werden können, weil die Familien deportiert und ermordet worden sind, dann löst sich mit ihnen auch das Gedächtnis der Orte auf und was bleibt, sind Relikte: Relikte, die selbst oder in Monumenten verarbeitet ein neues Gedächtnis des Ortes prägen und sie werden zu sog. Gedenkorten. Für Aleida Assmann sind diese Gedenkorte per se positiv bestimmt, sie sind die Zeugen dafür, dass hier etwas Beispielhaftes geleistet wurde oder exemplarisch gelitten wurde; sie sind auch ein Instrument zur kollektiven Sinnstiftung.108 A. Assmann unterscheidet notwendigerweise auch nochmals zwischen Gedenkorten und „traumatischen Orten“ und begründet das wie folgt: „Traumatische Orte unterscheiden sich von Gedenkorten dadurch, dass sie sich einer affirmativen Sinnbildung versperren.“109 So liegt die zweifelhafte Faszination im traumatischen Ort auch darin, die Virulenz des Geschehenen dauerhaft präsent zu halten. Die KZ-Gedenkstätten sind diese konkreten traumatischen Orte des Geschehens, Orte der Erinnerung und des Gedenkens der Opfer im ganz persönlichen Sinn. Demzufolge wird die Arbeit der Gedenkstätten auch in erster Linie bestimmt durch den historischen Ort. Die Musealisierung und Abgrenzung der traumatischen Orte wie die KZGedenkstätten ist davon geleitet, dass die nationalsozialistischen Massenverbrechen, für die es keine Verjährung oder Historisierung geben wird, im Gedächtnis der Gesellschaft und der einzelnen Menschen verankert werden kann. Von diesen Erinnerungsorten erhofft man sich über den Informationswert hinaus eine nachhaltige Sinnstiftung, begründet durch die sinnliche Anschauung. Allerdings wird in der Kulturwissenschaft und zunehmend in der Historikerlandschaft die „Aura des authentischen Ortes“ als äußert kritisch betrachtet. Gerade durch das bewusste Bewahren der Relikte geht unweigerlich etwas von der Authentizität verloren, auch dann, wenn die baufällige Substanz erneuert oder „rückgebaut“ werden muss, um den ursprünglichen Charakter wiederherzustellen. Hinzu kommt 108 Assmann, A.: Erinnerungsräume, 2003, S. 328. 109 Ebd. 70 Typologien des Gedenkens auch die eingangs gegebene Warnung, dass es keine authentische Erinnerung geben kann. So läuft die Gedächtniskraft dieser authentischen Orte Gefahr, seine von Besuchern implizierte Wirkung zu verlieren. Es verlangt den Besuchern und Besucherinnen eine Menge Phantasie ab, wenn sie um die Tatsachenberichte wissen, sich ihnen jedoch die Aura des Ortes als elysische Landschaft darbietet. So kann durchaus Dietmar Sedlaczek zugestimmt werden, der meint: „Doch die Aura eines Ortes ist ein zweifelhafter Informant.“110 Die Neukonzeptionierungen der Gedenkstätten griff auch dieses Defizit auf, dass neben der Mahn- und Erinnerungsfunktion immer auch die elementare Dokumentations- und Informationsfunktion notwendig sei, denn ohne die kognitive Dimension des geschichtlichen Zusammenhangs wird die ästhetische Qualität des Authentischen, der Relikte, nackt und ohne Bedeutung. Diese Gedenkstätten, verstanden auch als Räume der Erfahrung, sollen durch die Konkretisierung des historischen Geschehens rational und emotional Hilfestellung leisten beim Erkennen und Verstehen von den Ursachen und Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft, Verfolgung, Vernichtung und Widerstand. Das Zusammenspiel von monumentalen Zeichen und faktischen Zeichen der historischen Erinnerung kann keine museale Einrichtung leisten, die losgelöst ist vom authentischen Ort. „Erinnerung braucht Orte mit der Aura des Geschehenen als Kristallisationskerne des Verstehens, braucht Gedenkstätten, die darüber hinaus Erklärungen anbieten und über das rationale Verstehen persönliche Aneignung ermöglichen.“111 Die KZ-Gedenkstätte wird zunehmend als multifunktionale Einrichtung verstanden, die sich als aktiver Lernort zukünftig auch unter dem Einsatz von neuen Informations- und Kommunikationstechniken als zeitgenössisches Museum darstellen soll. 110 Sedlaczek, Dietmar: Zum Einsatz von Neuen Medien in Gedenkstätten, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 2001, S.99. 111 Benz, Wolfgang: Zukünftiges Gedenken, S.43, in: MWFK (Hg.): Erinnerung und Begegnung, 1996. 71 Typologien des Gedenkens „Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien.“ (J.G. Herder) 4. Die Gedenkstätten Bergen-Belsen, Sachsenhausen und Mittelbau-Dora Es ist zu erwähnen, dass die Auswahl, respektive die Begrenzung auf drei Gedenkstätten nicht leicht fiel, denn so wenig die Verbrechen während der NaziDiktatur auf das deutsche Gebiet zu begrenzen sind, so kann sich ebenso wenig die Betrachtung auf die Gedenkformen in den Gedenkstätten in Deutschland beziehen. Schließlich konnten erst die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen durch die Eroberung Europas durch das Nazi-Deutschland möglich werden. Die Orte der Verbrechen und die heutigen Gedenkorte haben viele Namen und die Orte, an denen die unvorstellbarsten und grausamsten Verbrechen gegen die Menschheit begangen worden sind, liegen nicht auf deutschem Boden. Die Rede ist von den Vernichtungslagern112. Dies waren Einrichtungen des nationalsozialistischen Staates im deutsch besetzten Polen und in Weißrussland zur Durchführung der so genannten „Endlösung der Judenfrage“. Sie dienten einzig dem Zweck der massenhaften Ermordung von Menschen, vor allem von Juden, mit Hilfe von Gasen. Neben den explizit für die Vernichtung erbauten Lager auf besetztem polnischen Gebiet nutzte die SS zunehmend auch Lager in Deutschland für systematische Tötungsaktion, insbesondere zum Ende des Krieges 1944/45. 113 Die präferierten Untersuchungsobjekte gehören zu der Kategorie Lager, die als Konzentrationslager bezeichnet werden. Ein Konzentrationslager ist eine 112 Die bekanntesten Vernichtungslager in chronologischer Folge: Chelmno (dt. Kulmhof, im Landkreis Warthbrücken (Koło) im Reichsgau Wartheland) - ab 8. Dezember 1941), Auschwitz-Birkenau (im Landkreis Bielitz (Bielsko) in Ost-Oberschlesien) - wahrscheinlich ab 30. April 1942, Belzec (in der Kreishauptmannschaft Zamość im Distrikt Lublin, Generalgouvernement) - ab 17. März 1942, Sobibor - Mai 1942, ebenso Treblinka und Majdanek - ab 1942. 113 Rinsche, Cordula: Orte des Gedenkens, S.26, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hg.): Erinnerung und Begegnung: Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam, 1996. 72 Typologien des Gedenkens Einrichtung, um politische Gegner oder missliebige Menschen aus ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen festzuhalten und zu isolieren. Dies geschah meistens auf unbestimmte Zeit durch bürokratische, administrative Verwaltungsakte, ohne Gerichtsurteil, ohne die Möglichkeit einer Rechtsvertretung, Verteidigung oder gar des Widerspruches und der Haftprüfung. Wenngleich die Insassen in den Konzentrationslagern nicht gezielt ermordet wurden, so sind sie häufig der programmatischen Bestimmung „Arbeit macht frei“ zum Opfer gefallen oder an den menschenunwürdigen Haftbedingungen und an den Folgen von Folter und psychischer Qual verendet. 4.1 Die Auswahl der Untersuchungsobjekte Da bei der Untersuchung annähernd die Bedingungskonstanz gewahrt werden sollte und außerdem der Paradigmenwechsel anhand der Gedenkkultur in Deutschland nach der Wiedervereinigung nachgewiesen werden sollte, ist die Wahl auf die folgenden Konzentrationslager und heutigen KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen (Niedersachsen), Mittelbau-Dora (Thüringen) und Sachsenhausen (Brandenburg) gefallen. 4.2 Vorgehensweise und Methode Ursprünglich sollten vier KZ-Gedenkstätten untersucht werden und es war als weitere Gedenkstätte die KZ-Gedenkstätte Dachau auserwählt, so dass die Vergleichbarkeit hinsichtlich der Aufteilung nicht nur in ungefährer Größe und Bedeutung, sondern auch der Einteilung und Gegenüberstellung in „Ost und West“ gerecht geworden wäre. Leider war es nicht möglich, ein persönliches Gespräch mit der Gedenkstättenleitung der Gedenkstätte Dachau zu vereinbaren. Sicherlich wäre eine schriftliche Befragung auch informativ gewesen, aber da ausschließlich persönliche Gespräche geführt worden sind, hätte es sicher letztlich die zusammenfassende Auswertung verzerrt. 4.3. Geschichtlicher Exkurs Von 1936 bis Kriegsbeginn wurden fünf Konzentrationslager errichtet, nämlich Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück; Dachau 73 Typologien des Gedenkens wurde erheblich erweitert. Alle Konzentrationslager waren nach dem Dachauer Modell strukturiert. Sie wiesen eine gleichartige innere Verwaltungs- und Organisationsstruktur auf, die Teilung der Lager SS in einen Kommandanturstab und andererseits in eine Wachtruppe.114 In allen Lagern waren die Häftlinge der gleichen Lagerordnung unterworfen - Terror durch Normierung - und alle Konzentrationslager wurden eigens dafür gebaut und zwar nach ähnlichen architektonischen Plänen.115 Das Konzentrationslager Bergen-Belsen muss in korrekter Bezeichnung als Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager bezeichnet werden. Es wurde 1940 unter der Zuständigkeit der Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjetunion eingerichtet und war nur für die Unterbringung von russischen Kriegsgefangenen vorgesehen. Erst 1943 wurde ein Teil des Lagers an die SS übergeben, die diesen Teil als „Aufenthaltslager Bergen-Belsen“ für Juden nutzte. Auch das Konzentrationslager Mittelbau-Dora fällt aus dem ursprünglichen Entstehungsmuster. Nach der Bombardierung der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde im August 1943 wurden gezielt die bereits vorhandenen Stollensysteme des Kohnsteins in Nordhausen im Südharz genutzt, um dort die Rüstungsvorhaben weiter zu verfolgen und die V2-Produktion zu gewährleisten. Oftmals zum reinen Außenlager von Buchenwald degradiert, war Mittelbau-Dora das einzige KZ diesen Typs, das in den Rang eines selbständigen Stammlagers erhoben wurde und die Unterstellung zum Hauptlager Buchenwald war rein formaler Natur. Auch hier wird bereits sichtbar, dass die geschichtlichen Ausgangssituationen der Untersuchungsobjekte sehr verschieden waren und eine Bedingungskonstanz nicht erreicht werden konnte. Für die homogene Auswahl der drei Gedenkstätten sprechen nun die folgenden objektiven Kriterien: formale Bezeichnung als Konzentrationslager, Gedenkstätten, die in Größe und Bedeutung repräsentativ sind, Gedenkstätten auf bundesdeutschem Gebiet, Gedenkstätten mit eigener Organisations- und Verwaltungsstruktur, 114 Orth, Karin: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 30f., in: Reif-Spirek, Peter/ Ritscher Bodo (Hg.): Speziallager in der SBZ- Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin, 1999, 1. Auflage. 115 Anm.: Das Grundprinzip war die Einheit von Architektur und Funktion und deshalb die architektonische Wahl der Dreiecksform für die Lager. Von einer Spitze aus konnte der Terror mit wenig Aufwand auf das gesamte Gelände ausgeübt werden. 74 Typologien des Gedenkens Gedenkstätten mit ähnlichem hierarchischen Aufbau, Gedenkstätten, die infolge der Bestimmungen der Enquête-Kommission einen strukturellen Wandel erfahren haben (zwei Untersuchungsobjekte sind Stiftungen des öffentlichen Rechts, Bergen-Belsen übernimmt diese Rechtsform in Kürze). Neben den objektiven Kriterien müssen ebenso die subjektiven erwähnt werden. Es ist natürlich weniger kompliziert, die Gedenkstätten zu untersuchen, deren Geschichte bekannt ist. Sowohl in Sachenhausen als auch in Mittelbau-Dora habe ich durch regelmäßige Besuche (auch mit Führungen) die Entwicklungen und neuen Ausstellungen verfolgt. Zugegebenermaßen steht die Gedenkstätte Mittelbau-Dora grundsätzlich im Schatten der bedeutungsvollen und medienwirksamen Gedenkstätte Buchenwald. Bei der Gedenkstätte Mittelbau-Dora kommt noch ein persönlicher Bezug dazu. Durch meine langjährige Mitgliedschaft in dem dort an der Gedenkstätte angegliederten Jugendverein konnte ich die Wahrnehmung von Veränderungen etwas intensiver verfolgen. Die Gedenkstätte Bergen-Belsen kannte ich bisher nicht und deshalb war das Interesse an einer Besichtigung und einem Gespräch immens, auch weil diese seit Jahrzehnten - wie Auschwitz - einen international bekannten Namen trägt. Nach intensiverer Beschäftigung mit der Thematik musste ich erkennen, dass es sehr schwierig werden würde, eine Untersuchung anzustreben, die repräsentativ und allgemeingültig sein würde. Die Entwicklung eines standardisierten Fragebogens entsprach nicht den Untersuchungsansätzen, da die Antworten, die ich suchte, Ergebnis von persönlichen Einstellungen und Antworten auf Thesen oder Aussagen und Zitate sind. Diese können zum einen keinesfalls in einem standardisierten Fragebogen beantwortet werden, noch können die Ergebnisse als solche angemessen operationalisiert werden. Anhand eines nicht standardisierten Leitfadeninterviews oder Experteninterviews wollte ich eine Projektionsfläche schaffen, auf der sich verschiedene Einstellungen und Haltungen zur Gedenkkultur und zur Einordnung der Gedenkstätten in den gesellschaftlichen und politischen Prozess widerspiegeln. Demzufolge waren meine Thesen, die ich eingangs vorgestellt habe, das Grundgerüst bei der Entwicklung des Interviews und die dazu entworfenen Frageleitfäden strukturierten den Ablauf der Befragung nur im Hinblick 75 Typologien des Gedenkens auf die interessierenden Aspekte vor. Die Einstellungen und Wertungen, die aus meinen Befragungen hervorgehen, sollen meine Thesen verifizieren oder falsifizieren, deshalb ist meine methodische Vorgehensweise induktiv, da ich anhand der Interviews meine Thesen belegen oder widerlegen werde. Nochmals sei hier betont, dass die geführten Interviews zwar eine Bedingungskonstanz hinsichtlich der Rahmenbedingungen und Vorgehensweise und anschließenden Auswertung aufweisen können, die Resultate jedoch keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, da bei drei Befragungen die Ergebnisse nicht apodiktisch sind. Mit allen Gedenkstätten wurde per Email der Kontakt gesucht und gezielt nach einem Interview gefragt, welches im Rahmen einer Diplomarbeit stattfinden sollte. Als Anhaltspunkte habe ich die Thematik und die Fragestellung mitgeteilt, unter der die Diplomarbeit bearbeitet werden soll. Es wurde in keinem der Fälle das Leitfadeninterview vorab per Mail oder Post zugeschickt. Die Befragungen fanden in allen drei Fällen in der jeweiligen Gedenkstätte als faceto-face-Interview statt. Alle Gespräche wurden innerhalb der normalen Arbeitszeit geführt und es waren grundsätzlich keine weiteren Zuhörer anwesend. Die Gespräche wurden nach einer vorhergehenden Vereinbarung auf einem Tonbandgerät aufgezeichnet, um diese anschließend zu transkribieren. In der Anlage befindet sich ein Dokument, in dem festgehalten wird, dass die Verwendung der Befragungen nur für die Diplomarbeit gilt und der verschriftlichte Teil nicht als Anlage der Arbeit beigefügt wird. Ferner besagt es, dass die Aussagen, die vom Interviewpartner getroffen werden, freigegeben werden müssen, bevor sie Verwendung innerhalb der Arbeit finden. In zwei von den drei Gesprächen konnte das Interview tatsächlich nur auf Grundlage dieses Dokuments geführt werden, das nachfolgend kopiert wurde, aber als Original in der Gedenkstättenleitung verblieb. Nach allen Befragungen wurde das aufgezeichnete Gespräch verschriftlicht und per Email an den Interviewpartner zur etwaigen Korrektur vorgelegt. Die Kontaktaufnahme zur Gedenkstätte Bergen-Belsen stellte sich als recht umkompliziert heraus. Auch die Mitarbeiter der Verwaltung dort waren kooperativ und freundlich und so war es möglich, nach wenigen Emailkontakten bereits einen Kontakt zum Gedenkstättenleiter Dr. Thomas Rahe herzustellen. Nach einer kurzen 76 Typologien des Gedenkens Terminvereinbarung schickte Dr. Rahe in Vorbereitung auf das Interview zwei Texte zur Gedenkstättenpädagogik und -konzeption der Gedenkstätte Bergen-Belsen per Post, um eine adäquate Vorbereitung zu gewährleisten. Auch das nachfolgende Interview war sehr informativ und die Atmosphäre, in der es geführt wurde, sehr angenehm. Nach einer kurzen Vorstellung meiner Person konnte das Gespräch sofort geführt werden und wurde nebenbei aufgezeichnet. Das Interview in der Gedenkstätte Bergen-Belsen dauerte ca. zwei Stunden. Ich habe den Interviewtext wiederum per Email an den Gedenkstättenleiter Dr. Rahe geschickt, der auch hier unkompliziert und schnell den Text bearbeitete und kleinere Korrekturen vornahm, eine weitere Durchsicht seinerseits war nicht nötig. Parallel zur Planung des Interviews in Bergen-Belsen hatte ich eine Anfrage in der Gedenkstätte Sachsenhausen aktiviert. Da ich in Bergen-Belsen bereits mit dem Gedenkstättenleiter gesprochen hatte, also der formal hierarchischen Spitze, musste ich auch hier versuchen, einen Kontakt zur Leitung herzustellen, was sich erst nach mehrfachen Anfragen ermöglichte. In einer kurzen Email sagte mir der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten - Prof. Dr. Günter Morsch - einen Termin zu, jedoch nur unter dem Vorbehalt, ihm vorher eine Konzeption meiner Diplomarbeit zu schicken, einen Literaturnachweis über adäquate Fachliteratur beizulegen und zum anschließenden Umgang mit dem Interview eine schriftliche Aussage zu treffen. Nach Erledigung all dieser Formalien konnte allerdings verhältnismäßig schnell ein Termin vereinbart werden. Auch dieses Interview fand am authentischen Ort statt, diesmal allerdings in den Räumen der Stiftung, in der auch das Büro des Direktors Prof. Morsch ist. Das Gespräch fand in einer angespannten und meinerseits nervösen Atmosphäre statt. Das Papier über den Umgang mit den Interviews fand bei Prof. Morsch nur partiell Zustimmung und wurde handschriftlich von ihm geändert und erst hernach abgezeichnet. Ferner stellte er sich als äußerst schwieriger Interviewpartner heraus, der die Fragestellungen mehrfach hinterfragte und beispielsweise Aussagen meinerseits als gezielt falsch darstellte. Das Interview dauerte genau eine Stunde. Die nachfolgende Bearbeitung war hier äußerst kompliziert und langwierig. Das verschriftlichte Gespräch wurde Prof. Morsch vorgelegt und von ihm redigiert. Per Post erhielt ich das Dokument, in dem Änderungen in einem Ausmaß vorgenommen wurden, die nicht mehr auf das 77 Typologien des Gedenkens ursprünglich geführte Gespräch verwiesen. Nach erneuter und aufwendiger Bearbeitung musste das Dokument nun wieder per Post an die Stiftung geschickt werden, da einige handschriftliche Hinweise nicht lesbar waren und demzufolge nicht eingearbeitet werden konnten. Nach wenigen Tagen erhielt ich eine weitere Korrekturfassung, die auch wiederum nur unter Vorbehalt verwendet werden durfte, wenn größere Abschnitte, die ich innerhalb der Arbeit zitieren werden, Prof. Morsch vorab vorgelegt würden. Insgesamt war es eine sehr zeitintensive Befragung. Auch hier habe ich parallel zur Bearbeitung des zweiten Gesprächs die Kontaktaufnahme zur Gedenkstätte Mittelbau-Dora aufgenommen. Da diese Gedenkstätte sich in unmittelbarer Nähe zu meinem Heimatort befindet, konnte ich hierbei flexibler auf Termine reagieren und wollte die Möglichkeit wahrnehmen, mit einer Mitarbeiterin der Pädagogik in der Gedenkstätte zu sprechen. Da die Bedingungskonstanz gewahrt werden sollte, wollte ich die Resultate keineswegs in die abschließende Bewertung einfließen lassen, sondern grundsätzlich nur subjektive Einstellungen als persönlichen Informationszuwachs ermitteln. Ich teilte der Mitarbeiterin in einem Vorgespräch mit, dass ich schon Gespräche mit den Gedenkstättenleitern von Bergen-Belsen und Sachsenhausen geführt hatte und sie zog ihre Bereitschaft prompt zurück. Sie teilte mir mit, dass es nicht möglich wäre, mit mir in einem offiziellen Rahmen über die Gedenkkultur zu sprechen, wenn ich nicht vorher mit dem Gedenkstättenleiter Dr. Wagner gesprochen hätte und außerdem müsste sie dort auch erst eine Dispens einholen. Ich wiederum müsste genau den Fragenkatalog abgrenzen, denn da die Mitarbeiterin der Pädagogik der Gedenkstätte unterstellt sei, müsste ich auch zuerst, hierarchisch genau, mit dem direkten Vorgesetzten der Pädagogik in Buchenwald reden bzw. mit diesem und in Rücksprache mit Dr. Wagner ein Gespräch mit der Pädagogik in Mittelbau-Dora freistellen. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Befragung nicht offizieller Teil dieser Arbeit sein sollte, stand der Aufwand letztlich in keinem Verhältnis zum Nutzen, und ich habe nur das Gespräch mit dem Gedenkstättenleiter Dr. JensChristian Wagner in Mittelbau-Dora geführt. Hier konnten die Kontaktaufnahme und auch die Terminvereinbarung unkompliziert und schnell vereinbart werden. Das Gespräch fand in einer angespannten Atmosphäre statt, was meines Erachtens auf 78 Typologien des Gedenkens die äußeren Umstände - die Gedenktage in Mittelbau-Dora waren kurz zuvor116zurückzuführen war. Insgesamt jedoch verlief das Gespräch gut und konnte bereits nach ca. einer Stunde beendet werden. Auch hier war die nachfolgende Bearbeitung eher unkompliziert und konnte per Email abgewickelt werden. 4.4 Aufbau und Struktur der einzelnen Untersuchungsobjekte: BergenBelsen, Sachsenhausen und Mittelbau-Dora Die Gedenkstätten werden in der Reihenfolge behandelt, in der auch die Gespräche geführt worden sind. Die Reihenfolge stellt dabei keine Rangfolge dar. Es wird versucht, die einzelnen Untersuchungskategorien möglichst primär mit den Zitaten aus den Interviews zu beantworten oder zu belegen. Diese Vorgehensweise wird als ein Sinn auslegendes Auswertungsverfahren betrachtet, weil dadurch die authentische und sinnvollste Auswertung der Gespräche und die zweckmäßigste Widergabe der Eindrücke und Aussagen gewährleistet werden kann. Bereits recht frühzeitig griff die Enquête-Kommission der 12. Wahlperiode das Stichwort „Stiftung“ auf. Da die Zeit gerade im Hinblick auf das Überleben dieser Initiative drängte, hat die Kommission ihren Stiftungsvorschlag in Form eines Zwischenberichts an den Deutschen Bundestag vor dem regulären Ende ihrer Tätigkeit vorgelegt, so dass das Gesetzgebungsverfahren bis zum Ende der 13. Legislaturperiode zum Abschluss gebracht werden konnte. Die Kommission hatte für die Organisation der Gedenkstätten die Rechtsform der Stiftungen vorgeschlagen, die vom politischen System getragen werden solle und durch die Einsetzung von sachverständigen Gremien unter Wahrung der inhaltlichen Autonomie der Einrichtungen agiert. Tatsächlich sind die Betroffenen, die überlebenden Häftlinge dieser Lager, „nur“ in beratender Funktion einbezogen worden. In den Ländern Brandenburg und Thüringen wurden, wie von der Expertenkommission empfohlen, 1993 die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte mit Sitz in Oranienburg als Dachorganisation für die Gedenkstätten Sachsenhausen (mit der Außenstelle „Museum Todesmarsch“ im Belower Wald), Ravensbrück und 116 Wie in allen anderen Gedenkstätten findet in Mittelbau-Dora jährlich ein Gedenkakt anlässlich der Befreiung des Lagers am 10., 11. und 12. April 1945 mit Überlebenden statt. 79 Typologien des Gedenkens die Dokumentationsstelle Zuchthaus Brandenburg sowie die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora mit Sitz in Buchenwald eingerichtet, jeweils zu gleichen Teilen getragen vom jeweiligen Bundesland und vom Bund. 4.4.1 KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen Die Gedenkstätte Bergen-Belsen ist, als der Umwandlungsprozess in den beiden großen ostdeutschen Gedenkstätten vollführt wurde, noch in eine: „…eigenartige Konstruktion, die sich von anderen Gedenkstätten etwas unterscheidet, (…), wir sind seit Beginn (…) mit diesem Arbeitsbereich ein Teil, ein Referat innerhalb der Landeszentrale für politische Bildung…“ 117 Als das Interview geführt wurde, war sie noch immer in diesem Zustand, mehr als zehn Jahre nach den Vorschlägen und Umsetzungen der Expertenkommission für die ostdeutschen Gedenkstätten. Herr Dr. Rahe teilte mir mit, dass die Änderung der Rechtsform in eine selbständige Stiftung voraussichtlich bis Ende 2004 vollführt werden wird. Das heißt allerdings auch, dass, solange die Änderung nicht wirksam ist, de facto der Leiter des Referats für Gedenkstättenarbeit innerhalb der Landeszentrale für politische Bildung Niedersachsens, der formale Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen ist - somit ist Herr Dr. Rahe nur Stellvertreter und nur dann Leiter, wenn der Referatsleiter nicht vor Ort ist. Für die Gedenkstätte Bergen-Belsen kann bereits an diesem Punkt konstatiert werden, dass durch die Einheit der beiden deutschen Staaten und die dadurch entstandenen Neuorientierungen hinsichtlich der Gedenkstätten ein positiver Effekt von den ostdeutschen Gedenkstätten zu den westdeutschen Gedenkstätten strahlte oder wie Dr. Rahe meinte: „Da stimmt wirklich mal die Formel ‚ex oriente lux’…“. Dass dieser Neuorientierungsprozess so lange dauerte, führte letztlich auch dazu, dass Bergen-Belsen praktisch die letzte große Gedenkstätte nach Dachau (Bayern) und Neuengamme (Hamburg) ist, die noch nicht als selbständige Stiftung des öffentlichen Rechts organisiert ist. Dieser Prozess ist außerdem längst überfällig, insbesondere hinsichtlich der Qualität der Gedenkstättenarbeit. „Wir haben einfach große Probleme mit einem hierarchischen Apparat gehabt, dadurch dass wir eine Unterabteilung einer Landeszentrale für politische Bildung sind, die wiederum dem Kultusministerium untersteht (…). Es hat doch mehr Reibungsverluste gegeben als Unterstützung unserer Arbeit mit dieser Anbindung. Auch die Neigung 117 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 80 Typologien des Gedenkens gegen bestimmte Arbeitsfelder [innerhalb der Landeszentrale], Gedenkstätte haben, (…) sind immer unterbelichtet wurden.“118 die wir als Es ist erstaunlich, dass dieser Reorganisationsprozess so lange andauert. Wenn man davon absieht, dass eine Stiftung einfacher Drittmittel einwerben kann, um damit weitere Projekte zu finanzieren, die für ihre Existenz notwendig sind, dann wird die Arbeit der Gedenkstätte nicht nur strukturell und personell behindert, sondern wie es in Bergen-Belsen der Fall ist, die Gedenkstätte durch ihre Anbindung zur Landeszentrale auf diesen einen Aspekt der politischen Bildung reduziert und nur die pädagogische Arbeit der Gedenkstätte in den Blick genommen. Die Forderungen an die Gedenkstätten, sich zunehmend als zeitgenössische Museen mit breiten Bildungsangebot und vielfältigen Projekten zu präsentieren, kann jedoch nur realisiert werden, wenn die politischen Grundsatzentscheidungen, beispielsweise für eine andere Organisationsform, als solche getroffen werden. So konnte der Ausbau der Gedenkstätte Bergen-Belsen und die neue Dauerausstellung nur verwirklicht werden, weil die Gedenkstätte seit dem Jahr 2000 in die Bundesförderung aufgenommen ist. „Das ist ein ganz wichtiger Einschnitt in unserer Arbeit gewesen, weil über all die Projekte, mit denen wir aktuell zu tun haben [gefördert werden], (…) darüber bräuchten wir überhaupt nicht zu reden, wenn der Zustand so geblieben wäre.“119 Zwar ist der Bund momentan juristisch nicht in der Gedenkstätte vertreten, was erst dann der Fall sein wird, wenn auch Bergen-Belsen als Stiftung organisiert ist, aber de facto übt er schon jetzt Einfluss auf die Arbeit der Gedenkstätte aus, weil er neben dem Land Niedersachen praktisch in gleichem Umfang der Finanzgeber der Gedenkstätte ist. Die Neuorganisation der Gedenkstätte als selbständige Stiftung des öffentlichen Rechts birgt aber nicht nur eine finanzielle Absicherung, sondern den weitaus entscheidenderen Aspekt der Dezentralisierung und Souveränität: „[Ein Prozess], wo es gerade darum geht, gewissermaßen eine Staatsferne, eine gewisse Unabhängigkeit von staatlichen und politischem Einfluss zu erreichen. Das ist neben dem Finanzargument auch immer, (…), ein zentrales Argument gewesen, das man, wenn man als Stiftung organisiert ist, sich eher auch öffnet zur Gesellschaft hin.“120 118 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 119 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 120 Ebd. 81 Typologien des Gedenkens Bis zur finalen Änderung der Rechtsform in eine selbständige Stiftung des öffentlichen Rechts bleibt die Gedenkstätte eine vom Staat finanzierte und vom Staat verantwortete Einrichtung, in der es keinerlei institutionelle Regelungen zur Zusammenarbeit mit Opfer- und Häftlingsverbänden gibt, respektive eine Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, die von der Thematik tangiert sind. „Das wäre in einer Stiftung dann natürlich anders, weil es dann nicht nur einen Stiftungsrat, sondern i.d.R. auch einen Stiftungsbeirat gibt, in dem diese Gruppen, Häftlingsverbände und verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen mit organisiert sind und mit Einfluss nehmen können auf die Arbeit der Gedenkstätte.“121 Wie in anderen Gedenkstätten bisher auch kann Bergen-Belsen auf ein langjährige und gute Zusammenarbeit mit den Häftlingsverbänden und anderen Arbeitsgruppen zurückblicken. Aber hier eröffnet sich ein spezifisches Problem, denn in BergenBelsen gibt es keinen Zentralverband von ehemaligen Häftlingen wie beispielsweise in Buchenwald. Die große Mehrzahl der Häftlinge, die schließlich in Bergen-Belsen befreit worden sind, waren nur wenige Wochen in Bergen-Belsen. Bergen-Belsen war in praktisch fast keinem Fall ein Ersteinlieferungslager und die Menschen dort sind unter Umständen vorher zwei bis drei Jahre in Auschwitz, Buchenwald oder Mittelbau-Dora gewesen. Das bedeutet, dass: „…wenn sie sich organisieren, dann organisieren sie sich eher in einem Buchenwald-Verband, (…). Von daher hat dies eine andere Struktur, es gibt sozusagen keine ganz normalen Häftlingsverbände. (…) Insofern ist das ein bisschen eine Schwierigkeit bei uns, wo man auch sehen muss, wie organisiert man es dann mit der Vertretung im Stiftungsbeirat.“122 Bereits in den achtziger Jahren gab es in der Gedenkstätte Bergen-Belsen interessierte Einzelpersonen, die sich gezielt in Bürgerinitiativen und Arbeitsgemeinschaften organisiert haben. Diesem Engagement ist der Staat nur sehr widerstrebend gefolgt. Trotz der internationalen Bedeutung war die Gedenkstätte schlechter ausgestattet als jedes kleine Stadtmuseum im Umkreis und es gab weder eine Ausstellung noch historische Informationen zum ehemaligen Gelände. 121 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 122 Ebd. 82 Typologien des Gedenkens 4.4.2 KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen Als nachgeordnete Einrichtungen hatte das neue Bundesland Brandenburg mit seiner Regierung die Gedenkstätten übernommen und im Dezember 1992 wurde der Gründungsbeauftragte der Stiftung vom Kulturminister des Landes Brandenburg eingesetzt. Wie bereits erwähnt, ist die Gedenkstätte Teil der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Die Landesregierung beschloss Ende Januar 1993 die Gründung der Stiftung rückwirkend zum 1. Januar 1993. 123 Als eine gemeinnützige und selbständige Stiftung untersteht auch diese wie die zukünftige Form der Gedenkstätte Bergen-Belsen nur der Rechts-, nicht aber der Fachaufsicht des Landes. Ein Effekt der Stiftung ist somit eine gewisse Unabhängigkeit von der Politik im administrativen Sinn. Natürlich werden die Handlungsspielräume auch dadurch beeinflusst, dass der Großteil des Stiftungsrates von Vertretern aus der Politik gestellt wird. „Die Gedenkstättenstiftung ist gegründet worden, um zu versuchen, die Öffentlichkeit möglichst breit in den Prozess des Findens von Inhalten und Formen des Gedenkens einzubinden. (…) die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten vertritt ein dezidiertes Konzept, sich möglichst breit in der Gesellschaft zu integrieren, um zu verhindern, dass Gedenken und Erinnern das Anliegen von Wenigen wird, seien es Wissenschaftler oder seien es Politiker, sei es, dass es zum Ritual erstarrt…“124 Deshalb versteht sich die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten nach Aussagen von Prof. Morsch auch als „pluralistisch angelegte Organisation“, die sich insbesondere durch ihre beiden polymorphen Beratungsgremien auszeichnet. Zum einen ist das der internationale Beirat, in dem die Vertreter unterschiedlichen (nationaler und internationaler) Häftlingsverbände aus Sachsenhausen und Ravensbrück vertreten sind, und zum anderen ist das die Fachkommission, die in sich die Experten der Fachwissenschaft, hauptsächlich Historiker, vereint. „Das ist die Struktur der Stiftung, darüber hinaus haben wir weiterhin versucht, auch andere Gruppen und Institutionen an uns zu binden…, die mehr oder weniger fördernd für uns tätig sind: Das eine ist der Förderverein der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen (…). Das andere ist der Initiativkreis zum Aufbau einer Jugendbegegnungsstätte in der Gedenkstätte Sachsenhausen.125 In der Gedenkstätte Ravensbrück konnte im Jahr 2002 eine internationale 123 Vgl. Dittberner, J.: Schwierigkeiten mit dem Gedenken, 1999. 124 Interview mit Prof. Morsch in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 9. März, 2004. 125 Interview, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 2004. 83 Typologien des Gedenkens Jugendbegegnungsstätte eröffnet werden. Zu den abschließenden Handlungsempfehlungen im Schlussbericht der Kommission gehörte auch die Förderung der Einrichtung von internationalen Jugendbegegnungszentren in den Gedenkstätten. Obwohl die Gedenkstättenstiftung immer wieder um die institutionelle Förderung und die wechselnden Gesamtvolumina bangen musste, konnte im Herbst des Jahres 2002 ein von der Bundesregierung finanziertes Sonderinvestitionsprogramm in der Gedenkstätte Sachsenhausen realisiert werden und die Umgestaltung und Neugestaltung der Sanierung der „KZ-Gedenkstätte der Bundeshauptstadt“ weitgehend vollzogen werden.126 Der hohe Anteil von Politikprominenz im Stiftungsrat muss nicht zwangsläufig als Negativeffekt oder Instrumentalisierungsversuch betrachtet werden. Die Vermutung liegt nahe, dass bestimmte Vorhaben durchaus einfacher in die politischen Sphären gelenkt werden können, wenn im Stiftungsrat, dem Legislativorgan mit seinen klassischen Aufgaben der Beschlussfassung über Vorhaben mit grundsätzlicher Natur, eine Reihe prominenter z.T. öffentlicher Personen konstruktiv die Stiftungszwecke, die Erinnerung an die Gewaltherrschaft und würdiges Gedenken der Opfer, verfolgen. 4.4.3 KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora Wie auch die Gedenkstätte Sachsenhausen ist die Gedenkstätte Mittelbau-Dora mit dem Errichtungserlass des Thüringer Ministers für Wissenschaft und Kunst vom 25. März 1994 Teil einer Stiftung des öffentlichen Rechts geworden. 127 Die Stiftung trägt den Namen „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“ und unterschied sich bis Ende 2003 hinsichtlich ihrer Anbindung an das zuständige Fachministerium. Während die Brandenburgische Stiftung nur der Rechts- jedoch nicht Fachaufsicht unterlag, war das im Fall Buchenwald und Mittelbau-Dora nicht von Beginn an. Die Stiftung unterlag zunächst der Fach- und Rechtsaufsicht des zuständigen Kultusministeriums und war erheblich in ihrem Handlungsspielraum Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Hg.): Jahresbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten für das Jahr 2002, Vorwort, Oranienburg, 2003, S. 4f. 127 Geschäftsordnung der unselbständigen Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 2002. 126 84 Typologien des Gedenkens eingeschränkt. „Seit einem halben Jahr sind wir eine Stiftung des öffentlichen Rechts, die selbständig agieren kann. Vorher waren wir eine unselbständige Stiftung, die de facto ein ‚Papiertiger’ gewesen ist.“128 Die Stiftung wird institutionell gefördert, und zwar zur Hälfte vom Bund und zur Hälfte vom Freistaat Thüringen. Die unselbständige Stiftung ist ein rechtlich- organisatorisches Konstrukt, welches wesentlich darauf ausgerichtet ist, seine Aufgaben aus Spenden zu finanzieren, weil nicht auf ein Grundvermögen oder angemessene Erträge aus Leistungen zurückgegriffen werden kann. Es ist eine Stiftung mit geringer Kapitalausstattung. Als selbständige Stiftung kann wie in der Brandenburgischen Gedenkstättenstiftung auch zukünftig verstärkt der Weg der Drittmittelwerbung gegangen werden. 4.4.4 Kurze Bewertung der Ergebnisse Auch wenn die thüringische Stiftung erst jetzt formal zu einer selbständigen Stiftung gereift ist, werden doch die beiden Stiftungsprojekte in Brandenburg und Thüringen als Erfolgsmodelle bezeichnet und der Erfolg ist sicherlich daran beteiligt, andere Gedenkstätten auch in diese Rechtsform einzubinden. Die relative Unabhängigkeit und die Stiftung als die preiswerteste Organisationshülse sprechen für die Entscheidung, Gedenkstätten in eine öffentliche rechtliche Stiftung zu überführen, zumal damit auch die relativ schwerfällige Vereinsstruktur umgangen werden kann. Klaus von Dohnanyi hat einmal formuliert, dass die Stiftungen ein „Korrektiv zum immer allmächtiger werdenden Staat“ 129 sind. Stiftungen sollen frei von äußeren Einflüssen agieren und selbständigen Einsichten folgen, als kreativer Sinn bildender Motor mit gemeinnützigen Zielen innerhalb der Gesellschaft. Wichtiger ist jedoch, dass gerade die Gedenkstättenstiftungen nicht für kurzfristige politische Ziele zu instrumentalisieren Tagesgeschäfts sind und missbraucht zum parteipolitischen werden; die Konflikte Erfüllungsgehilfen um die des sächsische Gedenkstättenstiftung sind symptomatisch dafür. 128 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 129 Zitiert nach Strachwitz, Ruppert Graf: Stiftungen – nutzen, führen und errichten- Ein Handbuch, Frankfurt/New York, 1994, S. 183. 85 Typologien des Gedenkens Grundsätzlich sind sich alle drei Befragten darüber einig, dass die Wahl der Rechtsform, wenn es eine selbständige Stiftung des öffentlichen Rechts ist, eine adäquate Organisationshülse für die Gedenkstätten ist, denn eine andere Rechtsform würde keine funktionale Alternative darstellen. Die Problematik der legitimen Vertretung in den Beiräten oder Kuratorien stellte sich in Bergen-Belsen aufgrund der differenzierten Häftlingsstruktur schon zu Beginn der Bildung einer Stiftung. Für die Thüringische und die Brandenburgische Stiftung, ebenso für die anderen Gedenkstättenstiftungen, wird sich diese Problematik in den nächsten Jahre auch verstärken, denn wir stehen vor dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis und dem Verlust von Zeitzeugen, den legitimen Vertretern in den Beisitzorganen der Stiftungen. 4.5 Die funktionale Gedenkstätte Die Gedenkstätte als institutionelle Einrichtung direkt vom authentischen Ort losgelöst zu betrachten, ist in den drei Untersuchungsobjekten nicht möglich. Als organisatorische Einheit stellt jede durch Personal, Betreuung, Wissenschaft und Forschung und Pädagogik zielgerichtet den Zugang zu den historischen Relikten sicher. Die Gedenkstätte ist der kulturell formende Schnittpunkt zwischen dem Besucher und den Relikten und Fakten. Dass der kulturell formende Charakter leicht missbraucht werden kann, hat vor allem die Erinnerungskultur in der DDR gut veranschaulicht. Jan Assmann ist deshalb der Überzeugung: „Die beste Erinnerung ist die kulturell ungeformte, denn alles Geformte kann verformt, missbraucht und zerstört werden.“130 Jedoch ist keine kulturelle Formung nicht möglich, da die Gedenkstätten immer noch, wenngleich immer weniger, an erster Stelle Friedhöfe für eine Vielzahl von Menschen sind. Dieser kulturell formende Aspekt der Friedhofsfunktion wird bestehen bleiben, das liegt in der Natur der Sache und in unserem genuinen Totengedenken. Die Gedenkstätten an den Orten ehemaliger Verbrechen erinnern an die NS130 Assmann, J.: Kollektives und kulturelles Gedächtnis, S. 32, in: Borsdorf/ Grütter: Orte der Erinnerung, 1999. 86 Typologien des Gedenkens Verbrechen. Mit Hilfe des Aufzeigens der politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungsstadien, die zum Errichten von diesen Konzentrations- und Vernichtungslagern geführt haben, wollen die Gedenkstätte die Motive für ihre eigene Entstehungsgeschichte und deren Konsequenzen sichtbar machen. Die Gedenkstätten versuchen durch gezielte Informationsvermittlung und Markierung von besonderen historischen Plätzen eine authentische Wahrnehmung und Einordnung über den zeitlichen Rahmen hinaus beim Betrachter zu erreichen. Weniger pathetisch können die zentralen Arbeitsfelder der Gedenkstätten genannt werden, die sich zunehmend Ende der achtziger Jahre, gleichermaßen in Ost und in West, ausgeprägt haben. Dazu zählen die pädagogische Arbeit, die Dokumentation und Wissenschaft und Forschung und die intensiven Kontakte zu ehemaligen Häftlingen und deren Vereinigungen. Während die Pädagogik in den Gedenkstätten zu didaktisch oder politisch instrumentalisiert war und die wissenschaftliche Aufbereitung fast überhaupt nicht oder nur „halbherzig“131 betrieben wurde, kann an dieser Stelle die erste Zäsur in der Gedenkkultur in der Wiedervereinigung gesehen werden. „Der Paradigmenwechsel bestand in der Hauptsache darin, dass sich die Gedenkstätten von Friedhöfen, die sie bis dahin in der Hauptsache waren, weiterentwickelt haben zu zeithistorischen Museen.“132 Allerdings ist dies bisher nur in den beiden Gedenkstätten Sachsenhausen und Mittelbau-Dora geschehen, denn Dr. Rahe schätzt die Lage bisher weniger optimistisch ein und sagt: „An den Arbeitsfeldern hat sich noch nichts verändert, was von Beginn an aus meiner Sicht die zentralen Arbeitsfelder für die Gedenkstätte in Bergen-Belsen oder der Gedenkstätte allgemein waren, das sind sie, glaube ich, nach wie vor, also: pädagogische Arbeit, Kontakte zu ehemaligen Häftlingen und das Feld Dokumentation und Forschung.“133 Zwar bezeichnet auch er die Gedenkstätten als „multifunktionale Einrichtung“ ein und grenzt diese damit vom historischen Museum ab, in dem er ihnen auch die Arbeitsfelder Service, Betreuung und Archivwesen zuschreibt, aber qualitativ in diesen Bereich würden sie wohl erst zukünftig arbeiten. In der Gedenkstätte Sachsenhausen wurde sehr schnell erkannt, dass neben dem 131 Interview, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 2004. 132 Ebd. 133 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 87 Typologien des Gedenkens Forschungsauftrag auch viel Potenzial im pädagogischen Bildungsauftrag liegt. Um von den didaktisch orientierten Formen der Vermittlung - so wie es in den westdeutschen Gedenkstätten weit verbreitet war - Abstand zu nehmen, hat man sich frühzeitig an der progressiveren Museumspädagogik orientiert und die kreativen Ansätze in der Museumspädagogik genutzt, um: „…ausgehend vom authentischen Ort nicht nur die Kognition, sondern Emotion und ebenso auratische Empfindungen anzusprechen, (…).“134 Mit der Wiedervereinigung und den intensiven Neukonzeptionen für die Gedenkstätten wird nicht nur die Multifunktionalität der Gedenkstätten anerkannt und respektiert, sondern vor allem mit dem gezielten Versuch, die Gedenkstätten als zeithistorische Museen zu präsentieren, verwirklicht. Der Begriff des zeithistorischen Museums ist als moderner Begriff zu verstehen, der unterschiedliche Komplexe miteinander verbindet135, nämlich neben dem Forschungs- und Bildungsauftrag auch der Aufbau eines professioneller Sammlung und eines professionellen betreuten Archivs, moderne Themenausstellungen, die gezielt die neuen Informations- und Kommunikationstechniken einbeziehen, um auch die „jüngeren“ Generationen anzusprechen. Die Gedenkstätten verstehen sich als „offene Lernorte“. 136 Im weiteren Sinne werden auch Informationszugänge als eine Dienstleistung angeboten. Zu dieser Dienstleistungsfunktion gehört beispielsweise der Führungsbetrieb in den Gedenkstätten: „Wenn sich Gruppen anmelden, insbesondere Schulgruppen, dann übernehmen wir den aktuellen Teil des Schulunterrichts, des Geschichtsunterrichts oder des Gesellschaftskundeunterrichts oder an welchen Fächern er auch immer angesiedelt ist. Und das ist eine Dienstleistung, die wir versuchen, professionell zu bedienen. (…) Es ist eine pädagogische Dienstleistung.“137 Auch wenn die Voraussetzungen in den Gedenkstätten recht unterschiedlich waren und sind, so hat sich der Versuch zum Umbau zum zeitgenössischen Museum gleichermaßen in Ost und in West entwickelt. Mit Nachdruck wurden Bild- und Textdokumente aufgearbeitet und verstärkt zu den zentralen Gedenktagen auch 134 Interview, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 2004. 135 Ebd. 136 von Meer, Antje: Zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten, S.20, in: Dittberner, Jürgen/ von Meer, Antje (Hg.): Gedenkstätten im vereinten Deutschland - 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Berlin,1994. 137 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 88 Typologien des Gedenkens Zeitzeugenbefragungen in die Veranstaltungen eingebaut. Personell und finanziell kann die Institution Gedenkstätte diesen anspruchsvollen Aufgabenkatalog nicht erfüllen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Gedenkstätten nicht zum Selbstzweck existieren. Ihre Hauptfunktion ist die eigene Geschichte und die Konsequenzen in die Gesellschaft zu tragen, eine Gesellschaft für Ursachen und Wirkungen eines solchen Werteverfalls zu sensibilisieren. „Die Konzentrationslager sind Teil der Gesellschaft gewesen und dann muss sich die Gesellschaft auch in ihrer Gänze damit auseinandersetzen und darf das nicht delegieren an einige zentrale Gedenkstätte.“138 Das bedeutet auch, dass die Gedenkstätten auf das bürgerschaftliche Engagement angewiesen sind. In Bergen-Belsen war es anfangs eine kleine Bürgervereinigung, die ehrenamtlich Führungen über das ehemalige Lagergelände angeboten hat und Informationen für die Besucher bereitstellte. Heute deckt diese Bürgervereinigung, die sich zunehmend als Arbeitsgemeinschaft versteht, gezielt die Aufgabenfelder ab, die die Gedenkstätte allein nicht betreuen kann. Es ist in vielen Gedenkstätten der Fall, dass bei der Besucherbetreuung die Gedenkstätten nie so viel Personal eingestellt werden kann, wie eigentlich benötigt würde. Besonders an den Besucher starken Feiertagen oder Gedenktagen füllen diese bürgerschaftlichen Vereinigungen eine wichtige Lücke, in dem sie Kurzführungen anbieten, ehemalige Häftlinge betreuen und beispielsweise innerhalb diverser Projekte sog. Zeitzeugenbefragungen durchführen. Neben der Gedenkstätte Bergen-Belsen ist das auch für Mittelbau-Dora und die Gedenkstätte Buchenwald zu konstatieren. Einen weiteren Beitrag leisten auch die verschiedenen Jugendzentren und einrichtungen, die ursprünglich auf die abschließenden Handlungsempfehlungen der Kommission zurückgehen. Auch hier kann positiv bewertet werden, dass in allen drei Gedenkstätten eine aktive und intensive Zusammenarbeit mit Jugendverbänden zu verzeichnen ist, die bei weitem über Projekttage hinausgeht. In sog. internationalen Workcamps übernehmen die Jugendlichen Instandsetzungs- und Restaurierungsarbeiten flankiert von soziokulturellen Projekten im ehemaligen Lagergelände und haben so die Möglichkeit, sich intensiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, aber auch tagespolitische Bezüge aufzubauen. Mit der 138 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 89 Typologien des Gedenkens Empfehlung des Aufbaus von Jugendzentren wurde der pädagogische Auftrag nachhaltig unterstrichen. Zunehmend können die Gedenkstätten aber auch eine soziale Funktion übernehmen, in dem verstärkt auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert wurde. Systematisch wurden pädagogische Projekte für sozial benachteiligte Jugendliche entwickelt, um den Jugendlichen eine Möglichkeit zu geben, sich aktiv einzubringen. Die sozial bezogenen Jugendprojekte sind in Mittelbau-Dora und auch in Sachsenhausen zu finden und in beiden Einrichtungen werden sie als erfolgreich und pädagogisch effizient bewertet. Insgesamt haben die Gedenkstätten verstanden, dass sie sich gezielt an die Multiplikatoren wenden müssen, um nachhaltig in die Gesellschaft hineinwirken zu können. Das bedeutet natürlich auch, dass die Gedenkstätten mehr und mehr eine Dienstleistungsfunktion erfüllen müssen. Sie müssen dem Besucher ein interessantes Informationsangebot unterbreiten und auch auf gesellschaftliche Veränderungen kurzfristig reagieren können. So sollte eine Ausstellung beispielsweise in der Form konzipiert werden, dass diese auf die momentanen visuellen Fähigkeiten der Besucher abgestimmt ist. Wenn eine Untersuchung139 von Jugendlichen ergeben hat, dass sie sich kaum mehr als zehn Minuten konzentriert mit einem Lesetext befassen können müssen die Ausstellungen darauf abgestimmt werden. Ein Wechsel von Text-Bild- und Videomaterial und Zeitzeugengesprächen sollten dann im Vordergrund stehen. Es ist eine zentrale Aufgabe der Gedenkstätten, die Betrachter zu motivieren, an den authentischen Ort zu kommen. Es müssen Präsentationen sein, die die physische Präsenz vor Ort bedingen, und es müssen die Informationsangebote so vielfältig sein, dass sie die Betrachter individuell ansprechen können, das Gedenken stärker nach Gruppen diversifizieren. Darauf geht meines Erachtens das Konzept der dezentralen Gedenkstätte besonders gut ein: die Verlegung der Ausstellungen und der Gedenkveranstaltungen an einzelne authentische Orte. Deutlich wurde hier, dass die Gedenkstätten sich durch eine Vielzahl von Aufgaben und Funktionen auszeichnen. Allerdings ist diese Multifunktionalität besonders hinsichtlich der Dienstleistungsfunktionen äußerst kostenintensiv. Eine 139 Untersuchung der Universität Essen zum Leseverhalten von Kindern: http://www.uni- essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/lektuere/litsoziali.htm, Stand 16. Mai 2004. 90 Typologien des Gedenkens kostendeckende Gebührenerhebung für Führungsangebote kollidiert eindeutig und zweifelsohne gerechtfertigt mit den ethisch-moralischen Ansprüchen, für die eine solche Einrichtung auch steht. Es ist davon auszugehen, dass der Umbau der Gedenkstätten in zeithistorische Museen erfolgreich sein wird und langfristig positive Auswirkungen auf unsere Gedenkkultur haben wird. Doch mit dem gewachsenen Anspruch an die funktionale Gedenkstätte müssen auch die finanziellen und personellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, sonst laufen der Prozess der Modernisierung einerseits und der der steten Schröpfung der Stiftungshaushalte andererseits diametral auseinander. 4.6 Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis am Beispiel der Untersuchungsobjekte Neben all den Anforderungen, die Wissenschaftshistoriker und Gesellschaft an die Gedenkstätten stellen, kommt noch ein evidenter Aspekt hinzu, welcher immer aktuell und unabwendbar war, jedoch jetzt in seiner Tragweite die Gedenkkultur berührt. Im Laufe dieser Arbeit wurde es bereits mehrfach verwendet und auch die Problematik aufgezeigt, die der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis mit sich bringt. Die virulente Debatte um die adäquaten Gedenkformen und –orte konvergiert scheinbar mit dem Verlust des kommunikativen Gedächtnisses in Form von Zeitzeugen. Nach der Wiedervereinigung wurden die Häftlingsverbände und -komitees verstärkt in die Beratungsgremien der Institutionen, die sich mit der Zeit der NS-Diktatur auseinandersetzen, einbezogen. Es wurden intensiv mündliche sowie schriftliche Zeugnisse von Überlebenden gesammelt, es wurde recherchiert und es wurden eingeladen, internationale Häftlingsverbände zu Gedenkveranstaltungen gemeinsame Veranstaltungen und Trauerrituale inszeniert. Der bevorstehende Verlust der Zeitzeugen setzte erstaunliche Ressourcen - personell und finanziell - frei und besonders bei Kontakt mit ehemaligen Überlebenden konnten sich die Gedenkstätten häufig auf das ehrenamtliche Engagement der Bürger verlassen. Die Zeitzeugenprojekte sind jedoch nicht nur kosten- sondern auch zeitintensiv und letztlich konnte die „Aufholjagd“ der letzten Jahre nicht kompensieren, was in der Zeit vor der Wiedervereinigung vernachlässigt, respektive 91 Typologien des Gedenkens versäumt wurde. Die bereits vorhandenen Kontakte zu ehemaligen Häftlingen, auch vor der deutschen Einheit, konnte in den letzten Jahren ausgebaut werden und neue Kontakte wurden geknüpft. Vor allem in der Kommunikation und Kooperation mit Häftlingsverbänden in den osteuropäischen Staaten bemühten sich die Gedenkstätten der neuen Länder. Zu jedem Gedenktag oder gesellschaftlichem Ereignis konnten ehemalige Überlebende eingeladen wurde. Sie waren und sind (noch) fester Bestandteil unserer Gedenkkultur. Sie stehen in ihrer Realpräsenz und ihren Zeitzeugenberichten gegen jegliche Relativitätsbemühung und nicht selten sind wir selbst wieder Teil jener Erinnerungskultur, die um die Verluste trauern kann. So selbstverständlich, wie die authentischen Orte mit den ehemaligen Häftlingen verbunden sind, werden sie es in absehbarer Zeit keineswegs mehr sein. Neben den gerechtfertigten Diskussionen um eine legitime Nachfolge in den Häftlingsbeiräten, beispielsweise in den Gedenkstättenstiftungen etc., müssen die Gedenkstätten einer Herausforderung gerecht werden, die a priori zum Scheitern verurteilt ist: den Übergang vom Zeitzeugen-bestimmten zum Zeitzeugen-losen Zeitalter der Gedenkkultur. „Ich glaube, die Zeitzeugen können nicht kompensiert werden. Das, was an moralischer Ergriffenheit, auch humaner Ergriffenheit durch die Zeitzeugen transportiert wird, kann durch nichts anderes ersetzen.“140 Im Moment kann für die drei Gedenkstätten bestätigt werden, dass alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt werden, um die noch lebenden Zeitzeugen zu mobilisieren, ob in Form von konzeptionellen Zeitzeugenbefragungen Gestaltung der oder in authentischen Unterstützung Orte - bei der auch bei Gedenkveranstaltungen sind sie fester und evidenter Bestandteil. Dabei sind die Vorgehensweisen recht unterschiedlich: In Bergen-Belsen wird stringent das Zeitzeugenprojekt verfolgt, mit Hilfe von Videoaufzeichnungen eine authentische Gesprächssituation simuliert. Die Mitarbeiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen leiten daraus ihre wesentliche „Grundlage für die weitere Arbeit“141 ab und versuchen somit einen Fundus für die folgenden Generationen zu erhalten. Die neue Ausstellung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Jahr 2006 wird zwischen Bild- und Textdokumenten besonders mit Videosequenzen angereichert, die 140 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 141 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 92 Typologien des Gedenkens Zeitzeugengespräche wiedergeben. Der Historiker Dr. Rahe hofft damit: „Wenn wir in die Ausstellung nun in großem Umfang Zeitzeugen-Interviews mit einbeziehen können, dann ist das etwas, was uns den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis erheblich erleichtern wird.“ In ähnlicher Weise wird auch in der Gedenkstätte Sachsenhausen verfahren. Auch hier wird verstärkt die Zeitzeugenbefragung bemüht, um den Übergang so lange wie möglich hinauszuschieben, auch unter dem Einsatz von modernen Medien. Allerdings wird hier parallel der Akzent in Richtung historische Relikte verschoben: „Die baulichen Relikte rücken in das Zentrum einer auf die Bewahrung und Pflege orientierten Gedenkstättenarbeit.“142 Das Restaurieren und Sichern von historischen Bauten und Funden ist ebenfalls eine zeitintensive und vor allem kostenintensive Arbeit. Doch solange noch solche Relikte als Zeugnisse vorhanden und gesichert sind oder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen, wird sicher auch hier der Übergang zum kulturellen Gedächtnis teilweise verzögert werden. Allerdings muss das von einem authentischen Ort zum anderen unterschiedlich betrachtet werden, denn in BergenBelsen beispielsweise sind keine historischen Bauten präsent. In der Gedenkstätte Mittelbau-Dora wiederum werden die Zeitzeugenprojekte äußerst kritisch betrachtet und die Sicherung der baulichen Relikte in den Vordergrund der konzeptionellen Neugestaltung gestellt. Die Zeugenbefragung ist strittig, weil: „…sich in sechzig Jahren [die] Erinnerungen extrem verschieben, weil in sechzig Jahren Erinnerungen konstruiert werden.“143 Hier kann zusammenfassend konstatiert werden, dass alle Befragten sich über den bevorstehenden Verlust einig sind und auch darüber, dass weder die Form von Aura und Ergriffenheit, die die Zeitzeugenbefragungen mit sich bringen, keinesfalls kompensiert werden kann. Auch die Diskussion um den Einsatz neuer Informationsund Kommunikationsdienste (IuK) hat sich schnell erschöpft. Damit kann weder der Verlust kompensiert, noch verzögert werden. Die neuen IuK-Mittel können bestenfalls in Form von Video- und Tonaufnahmen unterstützend in die Ausstellungen eingebaut werden. Auch hier sind sich alle Interviewpartner einig. Der Akzent in der Gedenkstättenarbeit hat sich deutlich auf die historischen Relikte 142 Interview, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 2004. 143 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 93 Typologien des Gedenkens verschoben, wie in Sachsenhausen die Neugestaltung des zentralen Gedenkortes „Station Z“ oder die Sicherung der Stollenanlage in Mittelbau-Dora. Das ist in Bergen-Belsen jedoch kaum in diesem Umfang möglich, aber insgesamt profitieren auch Gedenkstätten mit verhältnismäßig wenig historischen Bauten von der Trendwende der „Spurensuche“. Die Geschichte wird rekonstruiert und Geschehnisse oder Schicksale am zentralen Ort durch Informationstafeln oder Aufsteller sichtbar gemacht, wenn nicht sogar rekonstruiert. Ferner rückt auch die Außenlagerproblematik für die zentralen Gedenkstätten wieder verstärkt in das Bewusstsein, auch müssen diese gepflegt bzw. als solche, nämlich authentischen Orte, kenntlich gemacht werden. 4.7. Die Gedenkstätten unter Anpassungsdruck - Eine zusammenfassende Betrachtung der Ergebnisse Zweifelsohne fand der erste Paradigmenwechsel für die Gedenkstätten und die damit verbundene Gedenkkultur aufgrund der Vereinigung der beiden deutschen Staaten statt. Die veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erforderten auch für die Gedenkstätten eine Neujustierung ihres Platzes innerhalb einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft. Die Neukonzeption der Gedenkstätten im Zuge der Enquête-Kommissionen, konnte alsbald eine Zielrichtung für die historischen Orte vorgeben, die weitgehend auf einem gesellschaftlichen Konsens ruhte. Die Gedenkstätten in Ost und West haben sich emanzipiert und sind zunehmend Foren gesellschaftlicher Debatten geworden. Allerdings wurde parallel zur Neuorientierung der Stätten auch der Aufgabenkatalog der Gedenkstätten um ein Vielfaches erweitert. Neben der „historischen Aufholjagd“, die sich insbesondere auf die Bereiche Forschung, Dokumentensammlung und Archivaufbau (Aufbau einer materiellen Erinnerungskultur) bezieht, muss die Geschichte vor Ort immer wieder in die großen historischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Die Gedenkstätten sollen zunehmend ein Informationsangebot stellen, das sich den veränderten Sehgewohnheiten einer Gesellschaft anpasst, sie sollen einen Wertekanon anbieten, der auch dazu beiträgt, autonome und selbstreflektierte Persönlichkeiten, so wie 94 Typologien des Gedenkens Adorno einst forderte, hervorzubringen. Die Gedenkstätten sollen sich auch gegen die landespolitischen Ränkespiele selbstbewusst durchsetzen und jede Form der politischen Instrumentalisierung ihrer selbst aufdecken. Neben ihrer gewollten Multifunktionalität erwartet die Öffentlichkeit auch, dass sich die Gedenkstätten in zeithistorische Museen entwickeln, die ein Geschichtsbewusstsein vermitteln können und die stets aufzeigen, dass die NS-Verbrechen keine Erscheinung einer längst vergangenen Vergangenheit, sondern ein Problem der Moderne sind. Diese potenziellen Verantwortungen stellen die Gedenkstätten zunehmend unter Anpassungsdruck und das bei immer knapper werdenden finanziellen und personellen Ressourcen. Die untersuchten Gedenkstätten verfügen im Schnitt nur über 15 - 20 Mitarbeiter, von denen wiederum nur die Hälfte feste Mitarbeiter sind, deren Stellen dauerhaft gesichert sind. Die übrigen Mitarbeiter sind temporäre Arbeitskräfte, wie ABM-Kräfte, SAM-Kräfte und auch Zivildienstleistende.144 Das ist die personelle Ausstattung der Gedenkstätten, die Besucherzahlen im Unfang von knapp 300.000 Personen (Gedenkstätte Sachsenhausen im Jahr 2002) 145 bis zu 500.000 Personen (Gedenkstätte Bergen-Belsen im Jahr 2000)146 jährlich bewältigen müssen. Obwohl die notorische finanzielle Unterversorgung für die Gedenkstätten ein permanentes Problem darstellt, an dem auch zukünftig die Qualität ihrer Arbeit hängt, bestätigte keiner der länderübergreifenden Stiftung. Gesamtkonzept Förderung zur drei Die der Befragten Forderung eine nach Gedenkstätten 147 Lösung einem in einer stringenten entstammt einem Gesetzesentwurf der CDU/CSU- Fraktion, der auch als „Nooke-Gesetzentwurf“ bekannt ist und im April 2003 in den Bundestag eingebracht wurde 148. Zwar kann der normative Ansatz eines finanziellen Ausgleichs zwischen den Bundesländern nicht verachtet werden; schließlich haben die Bundesländer Thüringen und Brandenburg zwei große KZ-Gedenkstätten auf ihrem Landesgebiet - von den zahlreichen 144 Diese Informationen beziehen sich ausschließlich auf die untersuchten drei Gedenkstätten und schließen nicht etwaige Stellen für Außenlager oder Dokumentationszentren mit ein. Die Informationen sind den geführten Interviews entnommen worden. 145 Stiftungsbericht der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten des Jahres 2002. 146 Interview, Bergen-Belsen, März 2004. 147 Förderung der Gedenkstätten beider Diktaturen, auch der des SED-Unrechts. 148 Internetquelle: http://www.bundestag.de/parlament/index.html, Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1874, 15. Wahlperiode, Stand 2. Juni 2004. 95 Typologien des Gedenkens Außenlagern einmal abgesehen – und, von den Gedenkstätten gegen das SEDUnrecht abgesehen, ist nicht einzusehen, warum manche Bundesländer einer finanziellen Mehrbelastung ausgesetzt sein sollen und andere Länder (NordrheinWestfalen z.B. hat keine große KZ-Gedenkstätte) nicht. Zugegebenermaßen sind die Gedenkstätten und die damit verbundene Gedenkkultur staatsrechtlich betrachtet eine Länderaufgabe, aber es ist auch einzusehen, dass das Gedenken an die Opfer der NS-Vergangenheit bundesstaatliche eine Aufgabe ist. gesamtgesellschaftliche Ein finanzieller und Ausgleich, damit im Sinn auch einer Bundesstiftung, an der sich alle Länder zu gleichen Teilen beteiligen, wäre daher sicher sinnvoll und bei den momentanen finanzielle Belastungen in den Gedenkstätten sinnvoll, doch bei allen drei Interviewpartner überwogen die Bedenken gegen ein zu stark staatlich überformendes und zentrales Gebilde. Dazu haben die beiden Gedenkstättenleiter aus Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen klare Worte gefunden: „Ich habe Bedenken bei dem Gedanken an eine solche Bundesstiftung (…), weil ich es eigentlich sehr gut finde, was die deutsche Gedenkstättenlandschaft auszeichnet, nämlich dass sie dezentral ist und eben nicht diesen einheitlichen bundesstaatlichen Überbau hat, der natürlich dann auch sehr stark leicht politischen Einflussnahmen ausgesetzt sein kann, und das kann nicht Ziel von Gedenkstättenarbeit sein.“149 So würde der Weg in eine Bundesstiftung den progressiven Weg in die Autonomie konterkarieren: „Er nimmt genau diese Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme tendenziell wieder zurück und gleichzeitig droht dann die Gefahr, dass die Gedenkstätten (…) nach ein und demselben Strickmuster betrieben und geleitet werden. Und der wird dann eben nicht mehr Realität der Aufgaben bewusst.150 Schlussendlich werden jedoch weder die finanziellen, personellen oder pädagogischen Streitpunkte innerhalb der KZ-Gedenkstätten zur Gretchenfrage, sondern es ist die starke Verknüpfung der Zeitzeugen mit dem authentischen Ort, die symbiotische Beziehung beider, die den Gedenkstätten nach dem Übergang zu einem kulturellen Gedächtnis zum Verhängnis werden kann. Selbst wenn der Umbau in die zeitgenössischen Museen erfolgreich würde und die Gedenkstätten in zehn bis fünfzehn Jahren effizient und gut ausgestattet arbeiten und eine Gedenkkultur in der 149 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 150 Interview, Bergen-Belsen, 2004. 96 Typologien des Gedenkens Bundesrepublik aktiv gestalten könnten, dann würde sich noch immer die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung nach dem Ende der Zeitzeugenschaft stellen. Demzufolge ist es ein Zusammenwirken vieler struktureller Faktoren, die die Gedenkstätten gleichsam unter Anpassungsdruck stellen und einer Problematik, der die Gedenkstätten selbst bei Überwindung aller struktureller Aspekte nicht gerecht werden können, dem Übergang zu einem kulturellen Gedächtnis und dem Verlust der Aura der authentischen Orte151. 151 Selbst diese Aura wird mit dem Verlust der Zeitzeugen verschwinden, da die KZ-Gedenkstätten als Friedhöfe ihre erste und originäre Funktion verlieren. Mithin zeichnen sich aufgrund unserer Toten-Memoria die Friedhöfe als Trauerorte aus, getragen von Generationen, die zu den Verstorbenen einen persönlichen Bezug hatten. 97 Typologien des Gedenkens „Ein Geschichtsverständnis muss weiter zurückreichen, als in die eigene Biographie.“ (Richard von Weizsäcker) 5. Der Wirkungsgrad der Gedenktypologien - Entzauberung der authentischen Orte? Wie bereits im vorangestellten Kapitel deutlich dargestellt, sind die einzelnen Gedenktypologien fester Bestandteil einer Gedenkkultur, die sich in dieser Form nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten herausgebildet hat. Ebenso wie die einzelnen Typologien gleichermaßen notwendig sind, sich einander bedingen und nicht aufeinander reduziert werden können, muss den authentischen Orten per definitionem eine Sonderrolle innerhalb der Gedenkkultur zugesprochen werden. Die KZ-Gedenkstätten als authentische Orte sind die ursprüngliche Stätte der Verfolgung und zugleich unantastbares Symbol für die nationalsozialistischen Verbrechen. Meine Prognose, dass sich die ortsfeste Gedenkpraxis, also an den KZGedenkstätten, bereits wieder im Krebsgang befindet, kann anhand folgender Erscheinungen zwar nicht abschließend belegt, jedoch unterstrichen werden. Das Großgedenkjahr 1995, in dem die gedenkkulturellen Veranstaltungen unter den unterschiedlichsten Konzeptionen fast ausschließlich am authentischen Ort stattfanden, spricht in der Retrospektive vorerst gegen diese Behauptung. Damals rühmte die in- und ausländische Presse die vorbildliche Erinnerungs- und Gedenkgemeinschaft, in der sich die Deutschen vielerorts präsentierten. Im nächsten Jahr wird sich der 60. Jahrestag der Befreiung ebenfalls mit einer Vielzahl von Veranstaltungen in den Gedenkstätten präsentieren. Vielleicht wird das die letzte Möglichkeit für uns, am kommunikativen Gedächtnis teil zu haben. Möglicherweise stehen wir zum letzten Mal der Opfergeneration gegenüber, die noch einmal gemeinsam mit ranghohen Vertretern aus Politik und Wirtschaft, Repräsentanten von einflussreichen Organisationen und Häftlingsverbänden Teil dieser Gedenkveranstaltungen sein werden. Im Sog des medialen Interesses werden die Gedenkstätten einen weiteren Höhepunkt erleben, der sich nicht nur in 98 Typologien des Gedenkens hohen Besucherzahlen Dokumentationen Tatsächlich und werden erschöpft, sondern Ausstellungen seinen wenige erwarten, in zahlreichen Projekten, Kulminationspunkt durchläuft. dass sich hinter solch einer interessengeleiteten Gedenkkultur am authentischen Ort bereits die Trendwende verbirgt. Offensichtlich nehmen die topografischen Gedächtnisorte nach wie vor einen prominenten Platz innerhalb unserer Gedenkkultur ein. Ein Nachweis darüber wird schwer zu führen sein, denn dazu können keine statistischen Daten ausgewertet werden, noch probalistische Aussagen getroffen werden. Diese Prognose kann sich allein auf Beobachtungen innerhalb der gedenkkulturellen Entwicklung und auf Aussagen aus den geführten Experteninterviews stützen. Anhand der aktuellen Mahnmaldebatte und dem Vorwurf der Gedenkroutine soll nachfolgend die Prognose plausibel gemacht werden. 5.1 Kritische Einordnung der Mahnmaldebatte Werden Mahnmale zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion, ist das ein Indiz für gesellschaftliche Polarisierungen, das heißt für zustimmende oder ablehnende Haltungen, da sich über Konsens schließlich schlecht streiten lässt. Die umfangreiche Diskussion zur Legitimierung und Gestaltung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin kann und soll hier nicht aufgearbeitet werden. Die bisherige Diskussion diente vor allem der politischen Darstellung des heutigen Deutschlands, auch nach außen, weniger den notwendigen Überlegungen zur praktischen Effektivität eines Denkmals, das heißt zur Erfüllung der Aufgabe des öffentlichen Gedenkens an die Ermordung der Juden in Europa. Die von Beginn an umstrittene Einschränkung der Widmung kann als Versuch verstanden werden, die im „Historikerstreit“ nationalsozialistischen in Frage gestellte Vernichtungspolitik Singularitäts-These zu bekräftigen. bezüglich Auch der durch die Standortwahl bekommt das Mahnmal die Bedeutung eines Nationaldenkmals, welches auch indirekt die Überwindung der deutschen Teilung thematisiert und nur das historische Selbstverständnis des geeinigten Deutschland repräsentiert.152 Das 152 Vgl. Kirchberg, Volker: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin- Zwischen öffentlichem Auftrag und privater Erfüllung, S. 51-72, in: Siggelkow, I. (Hg.): Gedächtnisarchitektur, Frankfurt a. M., 2001. 99 Typologien des Gedenkens ist eine Wahrnehmung, die durch den Beschluss, Berlin zur Hauptstadt zu machen, weiter verstärkt wurde. Bereits 1992 einigen sich Vertreter der Bundesregierung, des Berliner Senats und des privaten Förderkreises auf Verfahrensgänge und die exklusive Inschrift „den ermordeten Juden Europas“.153 Erst ex post beginnt eine öffentliche und umfangreiche Debatte, die veranschaulicht, wie unterschiedlich die Meinungen vertreten sind und mit welchen Defiziten die bisherige Entscheidungsfindung behaftet war. In mehrstufigen Verfahren wurde nachträglich versucht, diese Defizite zu beheben - es folgten Colloquien, Wettbewerbe und Gesprächsrunden. Die aus den Bundestagswahlen 1998 hervorgegangene rot-grüne Koalition konnte durch das Einrichten der Funktion eines Beauftragten für Kultur und Medien mit eigenem Stab im Kanzleramt neue gedenkkulturelle Rahmenbedingungen schaffen. So wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, dass der Deutsche Bundestag über das Denkmal am vorgesehenen Standort entscheiden und dass im Einvernehmen mit den Ländern eine Konzeption für die Gedenkstätten erarbeitet werden sollte. Der gewünschte Erfolg blieb aus, da durch verschiedene Änderungsvorschläge und Verfahrensfragen eine „Systematisierung der Diskussion“ nicht erreicht werden konnte.154 Stattdessen gerät das Projekt nicht nur durch die exklusive Widmung in die befürchtete Konkurrenz mit anderen existierenden Einrichtungen, wie den KZGedenkstätten und „Arbeitsgemeinschaft deren Interessenvertretungen, KZ-Gedenkstätten“ zumindest entsprechende äußerte Bedenken. die Die Mahnmaldebatte wird zum „gordischen Knoten“ der Gedenkkultur: „Dabei wird das Mahnmal zum Teil als Blitzableiter missbraucht, als Sündenbock, um in der Kritik am Mahnmal Motive zu verstecken, die man schon sehr lange mit sich herumtrug.“155 Die Vertreter der Gedenkstätten vermuten eine Zentralisierung der Gedenkkultur, mit Recht. Innerhalb kürzester Zeit konnte die Mahnmaldebatte eine Diskussion in allen gesellschaftlichen Ebenen loslösen, konnte polarisieren, instrumentalisieren und stand schließlich allein für Aussagen und Weiterentwicklung innerhalb der Gedenkkultur, die sich eben nicht nur durch die Mahnmaldebatte auszeichnet. 153 Vgl. Meyer, E.: Erinnerungskultur, S. 127 f., in: Bergem, W. (Hg.): Die NS-Diktatur, Opladen, 2003. 154 Ebd. 155 Interview, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 2004. 100 Typologien des Gedenkens In der Gedenkkultur, wie sie innerhalb dieser Arbeit vorgestellt wurde, konkurrieren die einzelnen Gedenktypologien im positiven Sinn miteinander und erzielen dadurch effiziente Ergebnisse. In diesem Fall konnte die Denkmaldebatte eine Eigendynamik entwickeln, die alle bisherigen erinnerungs- und gedenkkulturellen Konflikte übersteigt und auch finanziell keine weiteren Vermutungen zulässt. Im Positiv-Bescheid des Deutschen Bundestage (Juni 1999) konnte sich die Variante des Eisenmann-Entwurfs (mit Raum der Stille und Raum der Information) durchsetzen. Der Termin der Fertigstellung musste jedoch mehrfach verschoben werden, so dass ein Ende der Auseinandersetzungen nicht abzusehen war oder ist. Vermutlich wird die Eröffnung des Holocaust-Mahnmals jetzt auf den 9. Mai 2005 gelegt werden. Es wäre vermessen zu verschweigen, dass die Debatte um das zentrale Mahnmal nicht auch positive Auswirkungen auf die Gedenkkultur gehabt hätte. So mussten sich die Gedenkstätten ein weiteres Mal politisch emanzipieren und aktiv in die Diskussion einmischen. Sie wurden zudem aufgefordert, sich durch die entstandene Singularitätsdebatte verstärkt mit der „doppelten Vergangenheit“ auseinanderzusetzen und auch hier museologische Lösungen zu finden, die den Opfern beider Diktaturen gerecht werden können.156 Es hat auch dazu geführt, dass wir uns als Gesellschaft endlich der Frage stellen mussten, ob ein solches Denkmal adäquater Bestandteil einer Gedenkkultur sein kann oder sogar sein muss oder ob wir diese Diskussion nicht schon längst hätten führen müssen und ob sie nun obsolet ist. Die Motive, unter der die Debatte in den letzten Jahren geführt wurde, erwecken den Anschein, dass es sich um eine Amerikanisierung der Gedenkkultur handelt, die es für zwingend erachtet, in einem monumentalen Ereignis einen Kontrapunkt zu den dezentralen Gedenkstätten zu setzen. Des Weiteren entsteht der Eindruck, es ginge beim Gedenken um eine „Art Selbstreinigung“ 157 jener, die in irgendeiner Weise dem Kollektiv der Täter angehören. Das ist ein Missverständnis und das Mahnmal darf nicht symbolisch zur gedenkkulturellen Katharsis der deutschen Gesellschaft verkommen. 156 Die Problematik der „doppelten oder zweifachen Vergangenheit“ bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Gedenkstätten: Sachsenhausen und Buchenwald. 157 Vgl. Brumlik, M.: Gedenken in Deutschland, S. 119, 1995. 101 Typologien des Gedenkens Schlussendlich wird die Konkurrenz zwischen den einzelnen Opfergruppen neu thematisiert. Es ist eine Konkurrenz, die sich seit Jahren in den Gedenkstätten innerhalb von Gedenkveranstaltungen, aber auch in Diskussionen um Informationsund Gedenktafeln widerspiegelt. Mit der Mahnmaldebatte konnte diese Opfergruppenkonkurrenz nun die höchsten institutionellen Weihen erfahren. Die Debatte über das zentrale Mahnmal bildete den Brennpunkt der politischästhetischen Diskussion über Neuanfang und Kontinuität in Berlin. Die Kontroverse war nicht nur ein mediales Großereignis, sondern selbst Medium der deutschen Selbstvergewisserung. Auch darum kann nicht der Auffassung von Micha Brumlik zugestimmt werden, der sagt: „Der Trauer über den Verlust, (…) eine zentrale Gedenkstätte zu errichten, wäre der erneuerten Demokratie in Deutschland würdig. (…) Diese Chance ist in Deutschland unwiderruflich verspielt und vertan.“158 Ebenso kann nicht mit den streitbaren Aussagen von Hendrik M. Broder übereingestimmt werden, der sich an dieser „virtuellen Debatte, die zum Selbstzweck geronnen ist“, nicht beteiligen will, sondern die „einzig angemessene Form des Gedenkens“ in materieller Opferentschädigung sieht. 159 Die Ausweitung der Gedenkplattform hat zur Konsequenz, dass sich verschiedene und teilweise gegensätzliche Auffassungen über die angemessene Form des Gedenkens herausbilden. Die begründete Vermutung, es könne das Holocaust-Denkmal in der abstrakten Form nicht geben, führt nicht notwendigerweise zu dem Schluss, es solle dann besser keines geben. Die Debatte um das Mahnmal ist symptomatisch dafür, dass man Erwartungen und Forderungen auch so hoch ansetzen kann oder stetig ändert, dass es alsbald „immun“160 gegen Realisierung ist. Die originäre Frage, was wir von einem solchen Denkmal erwarten und was es letztlich leisten kann, ist aus dem Focus der Debatte geraten. Nunmehr steht die Forderung nach einem „absoluten Holocaust-Mahnmal“, wie Salomon Korn schreibt, im Interesse der Öffentlichkeit, denn diese fordert eigentlich dadurch verdeckt nichts anderes als 158 Brumlik, M.: Gedenken in Deutschland, S. 127, 1995. 159 Broder, Hendryk, M.: …die einzig angemessene Form des Gedenkens, S.43, in: Die Erinnerung und Begegnung: Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam 1996. 160 Korn, Salomon: Geteilte Erinnerung - Holocaust-Gedenken in Deutschland, S. 234f., in: Borsdorf / Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 102 Typologien des Gedenkens „…die Entlassung des Betrachters aus der Notwendigkeit aktiven Gedenkens.“161 Durch die Abstraktheit eines solchen Denkmals kann ohne sogenannte „Dekodierungshilfen“162 kein persönliches Erinnern oder Gedenken erzeugt werden. Bestenfalls führt das Erlebnis zu einem emotionalen Unwohlsein, dessen Ursache nicht durch das Mahnmal selbst begründet werden und demzufolge auch nicht kognitiv verarbeitet werden kann. Eine öffentliche Wirkung im Sinne der Stärkung des kollektiven Gedächtnisses kann man von einem abstrakten Symbol in dieser Form nicht erwarten. Eine wesentliche Ursache für die aufgetretene Konfusion lag beispielsweise auch in der fragwürdigen Vermengung freiwilliger Privatinitiative und staatlichen Handelns im Bereich des öffentlichen Gedenkens. Zweifellos ist einer privaten Initiative erlaubt, einer Opfergruppe ein Denkmal zu setzen, dem Staat wiederum nicht. „Seine Aufgabe wäre es gewesen, (…) im öffentlichen Gedenken die Totalität des nationalsozialistischen Massenmordes zu wahren und daraus die Notwendigkeit eines „ungeteilten“ Mahnmals gegen den nationalsozialistischen Völkermord in seiner Gesamtheit abzuleiten und es zu verwirklichen.“163 Die Diskussion um Denk- und Mahnmäler, um Ausstellungen und ähnliches im öffentlichen Raum des 21. Jahrhundert machen deutlich, dass eine pluralistische Gesellschaft einen konsensualen Standort im ideologischen Raum sucht, gleichzeitig aber einander ausschließende Deutungen unter dem Vorbehalt erträgt, dass eine Deutung nicht die anderen zunehmend überlagert. Auch die von mir generierte Gedenkkultur vereint schließlich miteinander konkurrierende Elemente in sich: „In dieser Vielfalt besteht ein wesentlicher Unterschied Meinungsdiktaturen oder zum Gottesstaat religiöser Eiferer.“164 zu weltlichen 161 Korn, Salomon: Geteilte Erinnerung, S. 235, in: Borsdorf / Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 162 Kirchberg, Volker: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin, S. 68, in: Siggelkow, I. (Hg.): Gedächtnisarchitektur, Frankfurt am Main, 2001. 163 Korn, S.: Geteilte Erinnerung, S. 240, in: Borsdorf / Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 164 Siggelkow, Ingeborg: Das Denkmal im öffentlichen Raum: Kunstwerk und politisches Symbol, S. 111-120, in: Siggelkow, I. (Hg.): Gedächtnisarchitektur, 2001. 103 Typologien des Gedenkens 5.2 Instrumentalisierung der öffentlichen Kommemoration Während die überlebenden Opfer zu einer verschwindend kleinen Minderheit gehören, hat das Gedenken an den Holocaust eine Vielzahl von Einrichtungen auf den Plan gerufen und mittlerweile ein globales Netz von Gedenkvirtuosen geschaffen. Schon ist kritisch die Rede von einer weltweiten HolocaustGedenkkultur, kommerziell organisiert, verankert in nationalen Gedenktagen und Bildungssystemen.165 Es besteht durchaus die Gefahr, dass die Beschäftigung einerseits zum „Allerweltsthema“ verkommt, so die Einschätzung von Volkhard Knigge, Gedenkstättenleiter in Buchenwald, und dass die Auseinandersetzung über die Geschichte in vielfältigen Gedenkdiskursen ertrinkt. Andererseits besteht die Gefahr des routinierten Gedenkens. In den Gedenkstätten werden im Ungang mit der Vergangenheit Symbole und Semantiken entwickelt und diese strahlen über die spezifischen Gesellschaftsbereiche hinaus. Die Gefahr besteht allerdings, dass die Politik sich zunehmend dieser Symbole bedient und die Gedenkstätten funktionalisiert, um sie als Bühne für politischen Denkreden bei offiziellen Anlässen zu missbrauchen, als die umgangssprachlich Instrumentalisierung als bezeichneten auch die „Kranzabwurfstellen.“ zunehmende Sowohl die Institutionalisierung sind kontraproduktive Entwicklungen innerhalb einer Gedenkkultur, die sich als demokratisch begreift. Eine Gemeinschaft, die ihr politisches Bewusstsein nicht mehr auch aus der ehrlichen Verurteilung des Nationalsozialismus schöpft, ist sowohl gesellschaftlich als auch politisch äußerst kritisch zu betrachten. Die ritualisierte und institutionalisierte Form des Gedenkens an öffentlichen Gedenktagen mit moralisierenden Appellen zahlreicher prominenter Personen und Politiker kann auch einem fehlenden Geschichtsverständnis nichts entgegensetzen. An dieser Stelle kann zum Ausgangspunkt zurückgekehrt werden und sich dabei der einfachen, aber klaren Worte von Volkhard Knigge bedient werden: „Wir glauben doch an die Idee, dass Gedenken ohne Wissen (…) eine besondere Form der Dummheit wird, dass Gedenken ohne Wissen sehr wenig mit Aufklärung zu 165 Vgl. Reichel, P.: Politik mit der Erinnerung, S. 9, 1995. 104 Typologien des Gedenkens tun hat.“166 Diesen kognitiven Prozess, die adäquate Form der Geschichtsvermittlung, pädagogisch zu flankieren, das können nur die Gedenkstätten erreichen - natürlich im Einklang mit anderen Bildungsträgern, die noch stärker miteinander verwoben werden sollten. Die Gedenkstätten selbst sind die einzigen, die sich gegen die Instrumentalisierung durch die Politik oder anderer elitärer Gruppierungen wehren können. Das haben die beiden Stiftungen in Thüringen und Brandenburg bisher eindrucksvoll gezeigt. Sie sind auch diejenigen, die sich gegen das institutionalisierte Gedenken zur Wehr setzen können, in dem sie individuelle Formen des Gedenkens anbieten. 166 Interview von Hanno Loewy mit Volkhard Knigge am 18. Januar 2000, S. 6, in: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Fritz Bauer Institut, Nr. 18, Frühjahr 2000. 105 Typologien des Gedenkens 6. Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse Für gesellschaftliche Prozesse, die sich an die Phase der Erinnerungskultur anschließen und im Zusammenhang mit der bewerteten Einschätzung der Geschichte einer Gesellschaft stehen, findet der Begriff Gedenkkultur seine Verwendung. Nicht nur die Gedenkstättenkonzeption, die Enquête-Kommissionen, die öffentlichen Diskussionen, ob der Walser-Bubis-Streit oder die Homann-Affäre und nicht zuletzt die Errichtung eines Mahnmals dokumentieren, dass der Terminus Gedenkkultur vorwiegend für einen politisch-instrumentellen Umgang mit der Geschichte und der kollektiven Erinnerung steht. Die gedenkpolitischen Maßnahmen erschöpfen sich nicht in symbolischen Formen der Politik, sondern verlangen darüber hinaus auch politisches „decision-making“. Die Gedenkkultur wird so als Teil der politischen Kultur auch als konventionelles Politikfeld rekonstruierbar, in dem nicht nur die öffentliche Meinung betrachtet wird, sondern seitens des politischen Systems auch materiale Entscheidungen im Sinne von Verwaltungshandeln und Gesetzgebung notwendig ist. Die beinahe vollständige Implementierung in unser politisches System ist erreicht, aber die sinngebende Verwirklichung dessen werden nur noch wenige zu schätzen wissen. Bisher konnten sich nur wenige KZ-Gedenkstätten als geschichtspolitische Bildungseinrichtungen etablieren und den Charakter einer sakralen Mahnstätte ablegen. Dass sich die Gedenkstätten selbst nicht mehr als Randerscheinung der Gesellschaft begreifen, sondern eine wichtige Rolle im gedenkkulturellen Prozess innerhalb unserer Gesellschaft einnehmen, ist auf den Paradigmenwechsel infolge der Wiedervereinigung zurückzuführen. Obwohl die Gedenkkultur zum Politikfeld werden konnte und die Gedenkstätten zu Beginn der 90er Jahre eine Aufwertung erfahren haben, sind durch die Differenzierung und Pluralisierung des Gedenkens auch dramatische Folgen zu konstatieren. Die Pluralisierung des Gedenkens rief verschiedene Akteure und andere Herangehensweisen auf den Plan, so dass wir heute feststellen müssen, dass beispielsweise die Mahnmaldebatte als Gedenktypologie die Aufmerksamkeit allumfassend auf sich zieht und dabei energisch die anderen Gedenktypologien überlagert. Da sich durch die 106 Typologien des Gedenkens Mahnmaldebatte die erwarteten Opfergruppen konkurrierend zueinander stellen, wird es im Hinblick auf öffentliche Mahnmale in absehbarer Zeit keine Ruhe geben. Wahrscheinlicher ist indes, dass durch die anderen entstehenden Mahnmale für die Roma und Sinti und die Homosexuellen der Streit noch lange virulent bleiben wird. Rund um das Brandenburger Tor in Berlin scheint damit nun ein merkwürdig umfangreicher Erinnerungsparcour zu entstehen, eine „beeindruckende Schneise des Gedenkens“.167 Hinzu kommt der Fakt, dass beispielsweise der Umbau der Gedenkstätten in zeithistorische Museen zu schleppend vorangeht und neue Ausstellungsformen erst präsentiert werden können, wenn der Übergang zum kulturellen Gedächtnis bereits stattgefunden hat. Die Gedenkstätten konnten sich bisher nicht aus der symbiotischen Verbindung der Überlebenden mit den authentischen Orten befreien. Sie werden deshalb kaum Möglichkeiten haben, diesen Bruch innerhalb der Gedenkkultur am authentischen Ort abfedern zu können; auch die glaubwürdigste aller Nachfolgegenerationen der Überlebenden kann das nicht kompensieren und die neuen Informations- und Kommunikationsmittel werden sich noch nicht etablieren können. Die Vergegenständlichung von Erinnerung erfordert in den KZ-Gedenkstätten eine Reflexion über die unterschiedlichen Bedeutungen des historischen Ortes. Die KZGedenkstätten müssen über zahlreiche Bildungsangebote der neuen Generation immer wieder plausibel machen, dass ein Werteverfall, wie der während des NaziRegimes ein Problem der Moderne ist, sie müssen die pädagogisch-historischen Brücken zur Gegenwart schlagen und aktuelle Bezüge zu Menschenrechtsvergehen herstellen können. Sie sind die steinernen Zeugen gegen den Historisierungsvorwurf. Wenn die Gedenkstätten das nicht in absehbarer Zukunft leisten können, werden sie überflüssig. Diese Prognose bezieht sich auf einen Zeitraum von immerhin nur zehn bis fünfzehn Jahren.168 Der 60. Jahrestag der Befreiung und die zahlreichen Gedenktage und Veranstaltungen in den Gedenkstätten stehen am Ende eines 167 Kommentar [anonym] zum Mahnmal in Berlin : http://www3.mdr.de/kulturreport/110104/thema_5.html, Stand: Juli 2004. 168 Sowohl das Interview in Mittelbau-Dora als auch in Sachsenhausen hat gezeigt, dass es solche Ängste resp. Prognosen durchaus gibt, diese aber selten so klar formuliert werden. 107 Typologien des Gedenkens Gedenkstättenjahrzehnts, in dem der Beginn sehr vielversprechend war und die Hoffnung in einer demokratischen Gedenkkultur lag, die von einer ortsfesten Gedenkpraxis bestimmt war. Dieses Gedenkstättenjahrzehnt wird ein letztes großes, allumfassendes und transzendentes Gedenkszenario erleben, bevor die große Gedenkindifferenz mit dem Verlust der Zeitzeugen konveniert. Eine veränderte Wahrnehmung der Vergangenheit in der Gesellschaft tut ihr übriges. Erstmals stagnieren die Besucherzahlen in den großen Gedenkstätten.169 Im Übergang zum kulturellen Gedächtnis, das gleichermaßen ein Aussterben der Tätergeneration mit sich führt, werden schon die ersten Versuche genutzt, auch sich selbst in einer Opferrolle zu beschreiben. Der Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur, der zum Verlust der Vorreiterrolle der Gedenkstätten innerhalb der Gedenkkultur führt, korreliert auch mit einem Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtspolitik, das heißt in einem Wechsel der Sicht auf die Geschichte, die von einer Mehrheit getragen wird und vor allem durch die Politik, vielleicht aber auch der Wissenschaft determiniert wird. Die große Errungenschaft in den 90er Jahren zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der aktiven Auseinandersetzung auch der Post-Täter-Gesellschaft mit den eigenen Taten kann so umfassend und wahrhaftig nicht gewesen sein. Im Augenblick können wir einen Rückfall in die Stimmungslage der 50er Jahre in Westdeutschland beobachten und erleben die Gesellschaft, die sich wieder stark als Opfergesellschaft definiert. Der Luftkrieg, Heimatvertreibung und Flucht treten verstärkt in das öffentliche Augenmerk. Die historischen Erinnerungen und ihre Bedeutungen sind nicht ein für allemal konstant und unveränderlich. Im individuellen Gedächtnis sowie im kollektiven Gedächtnis sind die Erinnerungen keine gegebenen Konstanten, sondern bedürfen einer Neubetrachtung im Rahmen der veränderten Situation. 170 Wir werden nicht umhin kommen, die alten Erfahrungen im Bezug zur Gegenwart stets neu zu lesen. Darin liegt sicher keine Untreue zur eigenen Vergangenheit, auch keine Aufforderung zur Anpassung an das gerade Opportune. Es zeigt uns nur, dass es offenbar allen Menschen genuin ist, im Rückgriff auf die erinnerten Erfahrungen die 169 Aussage aus dem Gespräch mit Dr. Wagner: Interview Mittelbau-Dora, April 2004. 170 Vgl. Hölscher, L.: Erinnern und Vergessen. Vom richtigen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, S.114 f, in: Borsdorf / Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung, 1999. 108 Typologien des Gedenkens Zeit- und Sinnhorizonte zu verändern. Umso plausibler ist das Plädoyer für die ortsfeste Gedenkpraxis in den KZ-Gedenkstätten, die gegen jede Form von Relativitätsbemühen stehen und uns die Zeithorizonte und die darin bewahrten Erinnerungen vergegenwärtigen können. Schlussbetrachtung Trotz dieses Plädoyers für die Gedenkstätten, gleichwohl aller positiven Bemühungen und Entwicklungen in der Gedenkstättenlandschaft und ihrer Subkultur, bleibt die dunkle Prognose, dass die Gedenkstätten in absehbarer Zeit ihre primäre Stellung in der Gedenkkultur trotz ihrer Multifunktionalität und ihres moralischen Anspruchs in unserer Gesellschaft darauf verlieren werden. Die Anzeichen, die dafür sprechen, sowohl die Konkurrenz der anderen Typologien als auch der Übergang in das kollektive Gedächtnis, wurden eingehend aufgezeigt. In den Befragungen ist neben allem Zweckoptimismus auch ersichtlich geworden, dass die Gedenkstätten unsicheren Zeiten entgegenblicken und jede von ihnen „um das Überleben kämpfen muss“171. Wir befinden uns bereits im Paradigmenwechsel in der Gedenkkultur, der die authentischen Orte zusehends ins Abseits rückt. Der Kulminationspunkt wird spätestens mit dem 60. Jahrestag der Befreiung durchlaufen werden. Zwar ist unsere Gesellschaft weitgehend sensibilisiert für Themen und Aspekte, die die nationalsozialistische Vergangenheit und die Verbrechen an den Juden tangieren, dafür steht symptomatisch die Debatte um die Ausstellung der sogenannten „Flick-Collection“ und die polarisierende Kraft solcher Diskussionen. Die aber bezieht sich wiederum auf die Gedenkebenen, die sich innerhalb der öffentlichen Gedenktypologie oder der Typologie um die Mahnmaldebatte drehen. Damit kann nur oberflächlich der Schein gewahrt werden, dass es in Deutschland endlich gelungen ist, eine Gedenkkultur hervorzubringen, in der das Ausmaß der deutschen Verbrechen nicht länger angezweifelt wird. 171 Interview, Mittelbau-Dora, 2004. 109 Typologien des Gedenkens 7. Anhang Universität Potsdam Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Diplomarbeit im Fach Verwaltungswissenschaft SS 04 Franziska Schumann Institution: Name: Vorname: Profession: Alter: Erklärung Das Interview ist Teil einer Diplomarbeit. Der Interviewpartner nimmt freiwillig an diesem Gespräch teil. Die Interviewfragen und die Antworten werden aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht. auf einem Tonbandgerät Das transkribierte Interview wird dem Interviewpartner vorgelegt und von ihm, wenn keine Mängel vorliegen, abgezeichnet. Der verschriftlichte Text als solcher wird nicht Bestandteil der Arbeit sein, auch nicht als Dokument beigefügt und nicht Dritten zugänglich gemacht oder veröffentlicht. Datum und Ort Datum und Ort Unterschrift ………………………… Unterschrift……………………… 110 Typologien des Gedenkens Interviewleitfaden Name: Vorname: Titel: Profession: Alter: Institution: Teil 1 Organisatorischer Teil 1. Wie lange sind Sie in der Gedenkstätte beschäftigt und welche Profession üben Sie hier aus? 2. Wie viele Mitarbeiter sind in der Gedenkstätte beschäftigt? (Unterscheidung Haupt- und Ehrenamt) 3. In welche Rechtsform ist die Gedenkstätte eingebunden und wie wirkt sich das auf die finanzielle und personelle Lage aus? 4. Wäre eine länderübergreifende Stiftung eine Lösung für Sie? Wenn ja, warum? (Eine bundesweite Stiftung, die unter ihrem organisatorischen Dach alle KZGedenkstätten vereint; Stichwort „Nooke-Entwurf“) 5. Sind an die Gedenkstätte Verbände und/oder Vereine angegliedert ? (Opferverbände, Jugendgruppen etc. Fördervereine) 6. Welchen Einfluss können sie geltend machen und ist dies wünschenswert? Teil 2 Wissenschaftlicher Teil (Gedenkstätten und Gedenkkultur) 7. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten mussten sich einige KZGedenkstätten (beispielsweise Sachsenhausen) einer besonderen Herausforderung, der „doppelten Vergangenheit“ stellen. Kann man sagen, dass durch das öffentliche Interesse und dem gewachsenen Anspruch der Öffentlichkeit die Erinnerungsentwicklung eine Konjunktur erfahren hat? (Zäsur nach dem 50. Jahrestag der Befreiung ?) 8. Welche Funktionen übernehmen die Gedenkstätten in unserer Gesellschaft nach der Vereinigung? (normative Multifunktionalität vs. Dienstleistungsaufgabe?) 111 Typologien des Gedenkens 9. „Es gibt keine menschliche Kultur ohne das Element der gemeinsamen Erinnerung.“ (Zitat von Jörn Rüsen). Durch die Erinnerung sind wir mit Gegenwart und Zukunft verbunden was notwendig zur nationalen Selbstreflexion ist- ein gemeinsames Gedächtnis wird gefordert. Kann aus einer gemeinsamen Gedenkmoral eine Gedenkkultur entstehen? Wenn ja, was wären die Konstituanten dieser? 10. Können Gedenkstätten Träger einer Gedenkkultur oder Stifter dieser seinsind sie es? 11. Wie kompensieren die Gedenkstätten den Übergang vom kommunikativen zum institutionellen Gedenken? Was können neue Iuk- Techniken leisten? 12. Neben Mahnmaldiskussion und öffentlichen Gedenkriten im politischen und gesellschaftlichem Leben und täglich neuen (künstlerischen) Initiativen ´Gegen das Vergessen` geraten die Gedenkstätten etwas ins Abseits. Was ist und wird zur größten Gefahr/ Konkurrenz für die Gedenkstätten als primäre Gedenkorte? (Gedenkroutine, Kommerzialisierung, Mahnmaldebatte) 13. Die KZ- Gedenkstätten als aktive Lernorte zur Entwicklung von Geschichtsbewusstsein, pädagogisch flankiert- nehmen für mich eine Schlüsselrolle- und Position ein. Trifft das 14 Jahre nach der Vereinigung zu? 14. Wo sehen Sie die Gedenkstätten in weiteren zehn Jahren? Welche Visionen haben Sie? 112 Typologien des Gedenkens 8. Literaturverzeichnis und Quellennachweis Alheim, Klaus/ Bardo, Heger Die unbequeme Vergangenheit- NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeit des Erinnerns, Studien zu Politik und Wissenschaft, Wochenschau Verlag, Schwalbach, 2003, 2. Auflage Arendt, Hannah Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, Piper Verlag GmbH, München/ Zürich, 2001, 8. Auflage. Assmann, Aleida Das Gedächtnis der Orte, S. 59-77, in: Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich, Theodor (Hg.): Orte der ErinnerungDenkmal, Gedenkstätte und Museum, Campus Verlag, Frankfurt/ New York, 1999 Assmann, Aleida Erinnerungsräume- Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, Verlag C.H. Beck, München, 2003, Broschierte Sonderausgabe Assmann, Jan Das kulturelle Gedächtnis- Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen, Verlag C.H. Beck, München, 2002, 4. Auflage Assmann, Jan Kollektives und kulturelles Gedächtnis- Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung, S. 13-32, in: Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich, Theodor (Hg.): Orte der ErinnerungDenkmal, Gedenkstätte und Museum, Campus Verlag, Frankfurt/ New York, 1999 Assmuss, Burkhard/ Hinz, Hans-Martin Zum Umgang mit historischen Stätten aus der Zeit des Nationalsozialismus - Orte des Erinnerns, des Gedenkens und der kulturellen Weiterbildung? Deutsch Historisches Museum, 1999, Berlin Benz, Wolfgang Zukünftiges Gedenken, S.42-43, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hg.): Erinnerung und Begegnung: Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam, 1996 Bohnsack, Ralf Rekonstruktive Sozialforschung - Einführung in qualitative Methoden, Leske und Budrich, Opladen, 2003, 5. Auflage 113 Typologien des Gedenkens Brumlik, Micha Gedenken in Deutschland, S. 115- 130, in: Platt, Kristin/ Heil, Susanne (Hg.): Generation und Gedächtnis - Erinnerungen und kollektive Identitäten, Leske und Budrich, Opladen, 1995 Brumlik, Micha Individuelle Erinnerung - kollektive Erinnerung Psychosoziale Konstitutionsbedingungen des erinnerden Subjekts, S. 31-45, in: Loewy, Hanno/ Moltmann, Bernhard (Hg.): Erlebnis-Gedächtnis-Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt a.M., Campus Verlag, 1996. Bude, Heinz Die Erinnerung der Generation, S. 69-85, in: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll, Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Westdeutscher Verlag, Opladen, 1998, Leviathan- Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Sonderheft 18 Diner, Dan Kreisläufe - Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin Verlag, Berlin, 1995, S. 60-111 Diner, Dan Massenvernichtung und Gedächtnis - Zur kulturellen Strukturierung historischer Ereignisse, S. 47-55, in: Loewy, Hanno/ Moltmann, Bernhard (Hg.): Erlebnis-Gedächtnis-Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt a.M., Campus Verlag, 1996. Dittberner, Jürgen Probleme der Gedenkstätten im vereinten Deutschland, S. 917, in: Dittberner, Jürgen/ von Meer, Antje (Hg.): Gedenkstätten im vereinten Deutschland - 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Edition Hentrich, Berlin, 1994, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Band Nr. 2, 1. 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Hölscher, Lucian Erinnern und Vergessen - Vom richtigen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, S.111-127, in: Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich, Theodor (Hg.): Orte der ErinnerungDenkmal, Gedenkstätte und Museum, Campus Verlag, Frankfurt/ New York, 1999 Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor, W. Dialektik der Aufklärung - Philosophische Fragmente, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2003, limitierte Sonderausgabe Jann, Werner Staatliche Programme und „Verwaltungskultur“ Bekämpfung des Drogenmißbrauchs und der Jugendarbeitslosigkeit in Schweden, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Opladen, 1983 Jeismann, Michael Auf Wiedersehen Gestern- Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Deutsche Verlags- Anstalt, Stuttgart/ München, 2001 Kirchberg, Volker Das Holocaust-Mahnmal in Berlin - Zwischen öffentlichem Auftrag und privater Erfüllung, S. 51-72, in: Ingeborg Siggelkow (Hg.): Gedächtnisarchitektur: Formen privaten und öffentlichen Gedenkens, Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, 2001, Kulturwissenschaften, Band 1 Korn, Salomon Geteilte Erinnerung - Holocaust-Gedenken in Deutschland, S. 231-342, in: Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich, Theodor (Hg.): Orte der Erinnerung- Denkmal, Gedenkstätte und Museum, Campus Verlag, Frankfurt/ New York, 1999 Kölsch, Julia Politik und Gedächtnis: Die Gegenwart der NS-Vergangenheit als politisches Sinnstiftungspotenzial,S. 137- 150, in: Bergem Wolfgang (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Leske und Budrich, Opladen, 2003 König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll, Andreas Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Westdeutscher Verlag, Opladen, 1998, Leviathan- Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Sonderheft 18, (Einleitung) 115 Typologien des Gedenkens König, Helmut: Die Zukunft der Vergangenheit – Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik, Fischer Taschenbuch Verlags GmbH, Frankfurt am Main, 2003 Lutz, Thomas Gedenken und Dokumentierung an Orten von NS- und NKWDLagern in Deutschland, S.249-264, in: Reif-Spirek, Peter/ Ritscher Bodo (Hg.): Speziallager in der SBZ- Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Ch. Links Verlag, Berlin, 1999, 1. Auflage Meier, Christian Vierzig Jahre nach Auschwitz - Deutsche Geschichtserinnerung heute, Verlag C.H. Beck, München, 1990, 2. erweiterte Auflage Meyer, Erik Erinnerungskultur als Politikfeld - Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik, S. 121-137, in: Bergem Wolfgang (Hg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Leske und Budrich, Opladen, 2003 Mussmann, Olaf Die Gestaltung von Gedenkstätten im historischen Wandel, S. 14- 30, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Museale und mediale Präsentation in KZ-Gedenkstätten - Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Edition Temmen, Bremen, 2001 Orth, Karin Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S.28-61, in: Reif-Spirek, Peter/ Ritscher Bodo (Hg.): Speziallager in der SBZ- Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Ch. Links Verlag, Berlin, 1999, 1. Auflage Puvogel, Ulrike Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation, Einleitung, Verlag Edition Hentrich, Berlin, 1999, Bundeszentrale für politische Bildung, Band II Reichel, Peter Erfundene Erinnerung – Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, Carl Hanser Verlag, München/ Wien, 2004 Reichel, Peter Politik mit der Erinnerung- Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Carl Hanser Verlag München/ Wien, 1995 Rinsche, Cordula Orte des Gedenkens, S.25-36, in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hg.): Erinnerung und Begegnung: Gedenken im Land Brandenburg zum 50. 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Schwan, Gesine Politik und Schuld - Die zerstörerische Macht des Schweigens, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1997 Sedlaczek, Dietmar Zum Einsatz non Neuen Medien in Gedenkstätten, S. 97-104, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Museale und mediale Präsentation in KZ-Gedenkstätten - Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Edition Temmen, Bremen, 2001 Siggelkow, Ingeborg Das Denkmal im öffentlichen Raum: Kunstwerk und politisches Symbol, S. 111-120, in: Ingeborg Siggelkow (Hg.): Gedächtnisarchitektur: Formen privaten und öffentlichen Gedenkens, Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, 2001, Kulturwissenschaften, Band 1 Stephan, Cora Der Betroffenheitskult - Eine politische Sittengeschichte, Rowohlt Verlag GmbH, Berlin, 1993 von Meer, Antje Zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten, S.18-26, in: Dittberner, Jürgen/ von Meer, Antje (Hg.): Gedenkstätten im vereinten Deutschland - 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Edition Hentrich, Berlin, 1994, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Band Nr. 2, 1. Auflage von Weizsäcker, Richard Vier Zeiten - Erinnerungen, Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, Berlin, 1997 Weidenfeld, Werner/ Korte Karl-Rudolf (Hg.) Handbuch zur deutschen Einheit- 1949-1989-1999, Campus Verlag Frankfurt am Main, Bonn, 1999, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Band 363 Weiß, Matthias Sinnliche Erinnerung - Die Filme „Holocaust“ und „Schindlers Liste“ in der bundesdeutschen Vergegenwärtigung der NS-Zeit, S. 71-102, in: Frei, Norbert/ Steinbacher, Sybille (Hg.): Beschweigen und Bekennen- Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Wallstein Verlag, 117 Typologien des Gedenkens Göttingen, 2001 Wossidlo, Joachim Das endliche Fleisch und das unendliche Leben - Von der Tötung des Todes im kollektiven Gedächtnis - Gedanken eines Ethnologen zum Umgang mit Leichen in Berlin, S. 1-17, in: Ingeborg Siggelkow (Hg.): Gedächtnisarchitektur: Formen privaten und öffentlichen Gedenkens, Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, 2001, Kulturwissenschaften, Band 1 Quellennachweis: Interview mit dem KZ-Gedenkstättenleiter Herrn Dr. Peter Rahe in der Gedenkstätte Bergen-Belsen am 4. März 2004, 18 Seiten Interview mit dem Direktor der Brandenburgischen Gedenkstätten Herrn Prof. Dr. Günter Morsch in Oranienburg am 9. März 2004, 15 Seiten Interview mit dem KZ-Gedenkstättenleiter Herrn Dr. Jens-Christian Wagner in Nordhausen am 13. April 2004, 13 Seiten Geschäftsordnung der unselbständigen Stiftung der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 2002 Internetquellen: Deutscher Bundestag (Hg.): Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion, http://www.bundestag.de/parlament/index.html, Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1874, 15. Wahlperiode, Stand 2. Juni 2004. Mitteldeutscher Rundfunk (Hg.):http://www3.mdr.de/kulturreport/110104/thema/ _5.html, Stand: 19. Juni 2004. Universität Essen, Untersuchung zum Leseverhalten von Kindern, http://www.uniessen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/lektuere/litsoziali.htm, Stand 16. Mai 2004. 118 Ehrenwörtliche Erklärung Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne unerlaubte Hilfe Dritter verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Die Passagen, die aus Veröffentlichungen stammen, sind kenntlich gemacht. Diese Arbeit lag in gleicher oder ähnlicher Weise noch keiner Prüfungsbehörde vor und wurde bisher noch nicht veröffentlicht. ……………. Ort, Datum Unterschrift