1 ____________________________________________________________COLLASIUS Stefan Winkle Struensee, der lange verpönte und verkannte kontagionistische Pionier auf dem Gebiet der Seuchenprophylaxe ______________________________________________________________________ “Die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen!" Rudolf Virchow, Medizinische Reform. Berlin 1848. “Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Wege. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." Nietzsche, Götzendämmerung Sprüche und Pfeile 26 ______________________________________________________________________ Dem Andenken meines einstigen Chefs und Lehrers am Robert-Koch-Institut in Berlin, Prof. Dr. med Eduard Boecker (1886-1953) in Dankbarkeit ______________________________________________________________________ Bereits als junger Assistenzarzt am Robert-Koch-Institut in Berlin trug ich mich mit dem Gedanken einer Kulturgeschichte der Seuchen. Beim Quellenstudium fand ich Mitte März 1940 in der dortigen Bibliothek ein Bündel vergilbter Schriften über Tierseuchen, darunter auch eine Abhandlung aus dem 18. Jahrhundert, deren Verfasser ein gewisser Dr. Johann Friedrich Struensee aus Altona war (1). Von diesem Arzt, der in keiner Medizingeschichte erwähnt wird, wußte ich damals nur soviel: Er soll ein Abenteurer gewesen sein und wurde wegen eines Verhältnisses mit der dänischen Königin hingerichtet. Doch von seiner Publikation, in der er das Krankheitsbild und die Epidemiologie der Maul- und Klauenseuche, die man bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Rinderpest verwechselte, zum ersten Mal als eine Krankheit sui generis genau beschrieb und zur Verhütung dieses kontagiösen Leidens, ähnlich wie bei den menschlichen Pocken, die “Einpfropfung", d. h. die Schutzimpfung, in Erwägung zog, war ich so fasziniert, daß ich von nun an nach weiteren Schriften und Publikationen von ihm zu suchen begann (2). Da ich aber in Berlin nichts finden konnte und Struensee von 1757 bis 1768 Stadtphysikus von Altona war, suchte ich mit Unterstützung meines damaligen Chefs, Prof. Eduard Boecker, über drei Jahre immer wieder, so oft es sich einrichten ließ, das Altonaer Stadtarchiv auf, bis es am 25. Juli 1943 bei dem Großangriff “Gomorrha" durch Fliegerbomben zerstört wurde. BILD Jens Juel Johann Friedrich Struensee mit dem Caroline Mathilde-Orden Das Porträt wurde 1771, wenige Monate vor der Hinrichtung, gemalt und ist verschollen. Ein Pendant dieses Porträts (nur mit anderer Blickrichtung der Augen und einem M statt CM im Caroline-Mathilde-Orden) erwarb vor 1O Jahren D. J. Leister aus dänischem Privatbesitz für die neu eingerichteten Caroline Mathilde-Räume im Celler Schloß, wo die unglückliche Königin ihre letzten Jahre verbrachte. Bei meinen Archivstudien in Altona stieß ich auf zahlreiche handschriftliche Notizen, Briefe und Entwürfe, Denkschriften, Sektionsund Seuchenberichte Struensees und schließlich auf eine ganze Reihe seiner totgeschwiegenen und völlig in Vergessenheit geratenen Veröffentlichungen, von denen ich 1982 einige im Anhang eines Buches in Faksimile-Druck wiedergeben ließ (3). Beim Studium der in Altona vorgefundenen 1 2 Archivalien erkannte ich im Laufe der Zeit immer deutlicher die Bedeutung Struensees, der als Arzt, Aufklärer und später auch als Staatsmann seiner Zeit auf verschiedenen Gebieten weit voraus war (3a). Was mich dabei besonders beeindruckte, war seine Menschlichkeit, sein Mitgefühl mit allen Leidenden, sein leidenschaftliches Eintreten für Benachteiligte, Ausgestoßene, Aufgegebene - kurz seine Humanität und seine Toleranz. Daher habe ich einen großen Teil meines Lebens der Rehabilitierung dieses genialen Arztes gewidmet, der neben Lessing einer unserer bedeutendsten Aufklärer war. Da viele zeitgenössische Berichte und Hinweise auf Struensees amtsärztliche Tätigkeit meist in unveröffentlichten Aktenstücken, Notizen, Briefen und wenig bekannten Publikationen über viele Archive, Bibliotheken, Museen (in Halle Altona, Hamburg, Kiel, Schloß Gottorf, Celle, Kopenhagen, Oslo) und im Privatbesitz verstreut sind, habe ich jahrzehntelang in mühsamer Kleinarbeit auf vielen Reisen Steinchen für Steinchen gesammelt und sie in Verbindung mit den Zuständen und Ansichten jener Epoche in einer großen Monographie (1983) zu einem Mosaik zusammengefügt (4). Struensee, der 1737 als Sohn eines pietistischen Pastors in Halle zur Welt kam, begann an der dortigen Universität als Frühreifer mit 14 Jahren sein Medizinstudium, das er als 19jähriger beendete. Als sein Vater, Adam Struensee, 1757 als Hauptpastor nach Altona berufen wurde, das damals mit 20000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Dänemarks war, erhielt der Zwanzigjährige dort die Stelle des Stadtphysikus. Zugleich wurde er auch Physikus der Landschaft Pinneberg und bald danach auch der Grafschaft Rantzau. In seinem Arbeitsbereich fand er sich durch die Auswirkungen des Siebenjährigen Krieges mit einer höchst gefährlichen epidemiologischen Situation konfrontiert. Die Besetzung Mecklenburgs durch die Preußen mit der Einschleppung von Fleckfieber, Ruhr, Diphtherie sowie Maulund Klauenseuche, die Massenflucht wehrfähiger Mecklenburger vor den preußischen Werbern aus ihrer verseuchten Heimat ins Nachbarland, die Massierung dänischer Truppen in Holstein entlang der mecklenburgischen Grenze samt der damit verbundenen Zwangseinquartierung in die ohnehin beengten und in sanitärer Hinsicht unzulänglichen Bauernhäuser, schufen eine epidemiologische Situation, bei der sich jeder Infektionsfunke zum Seuchenbrand ausweiten konnte. Ruhr, Typhus, Fleckfieber, Lues, Pocken, Diphtherie, Tollwut sowie Maul- und Klauenseuche flackerten immer wieder bald hier, bald dort auf und drohten epidemische Ausmaße anzunehmen. Dies alles war geeignet, auch erfahrene, ältere Ärzte verzagen und verzweifeln zu lassen. Doch Struensee war aus anderem Holz geschnitzt. Er schien durch jede neue Aufgabe, bei der es eine Schwierigkeit zu bewältigen galt, mit seinem Auftrag gewachsen. Da er seit seinem Studium gegenüber den verschiedenen spekulativen medizinischen Systemen eine Abneigung empfand, ging er von Vorurteilen und dogmatischen Ansichten unbelastet an die schier unlösbar anmutenden Probleme heran und traf nach örtlichen Inspektionen von Fall zu Fall die nach dem gesunden Menschenverstand am zweckmäßigsten erscheinenden Entscheidungen. Seine schnellen Entschlüsse und klaren Anordnungen mit den prompt einsetzenden Maßnahmen waren das Geheimnis seiner epidemiologischen Erfolge, die den Zeitgenossen oft unerklärlich und rätselhaft erschienen. “Nicht wer etwas gesagt hat, sondern was er gesagt hat, ist wichtig ... Die Erfahrung sey unsere Wünschelrute" (5), erklärte 1760 in einer Abhandlung respektlos der blutjunge Physikus, der als Skeptiker nur das glaubte, was ihm vernünftig erschien oder wovon er sich selbst überzeugen konnte. BILD 2 3 Die erste Seite aus dem Entwurf des 16jährigen Struensee zu seiner Inauguraldissertation. Rechts unten zwischen den Zeilen hat der junge Doktorand einen Mädchenkopf gezeichnet. Der mehrseitige Entwurf und auch noch andere Manuskripte aus Struensees Altonaer Zeit befinden sich in der Osloer Universitätsbibliothek. Die Heilkunde des 18. Jahrhunderts steckte noch tief in humoralmedizinischen Anschauungen der hippokratischgalenischen Säftelehre, wonach die Gesundheit von der guten Mischung der vier Kardinalsäfte abhängt. Die therapeutischen Maßnahmen der Ärzte waren daher ganz und gar auf die Eliminierung des verdorbenen, des störenden Säfteanteils, der materia peccans, ausgerichtet, was man durch Aderlassen, Purgieren, Schwitzkuren usw. zu erreichen versuchte. Obwohl sich der gesunde Menschenverstand schon im 17. Jahrhundert gegen diese zu Dogmen erstarrten Ansichten wandte - man denke bloß an die Komödien Molières und an die Briefe Liselottes von der Pfalz beherrschten sie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das ärztliche Denken und Handeln. BILD Titelseite von Struensees Inauguraldissertation, Halle 1757, die er drei Ärzten widmete: seinem Großvater mütterlicherseits, Dr. Johann Samuel Carl, und dessen beiden Söhnen. Betraf eine Krankheit in einem begrenzten Gebiet gleichzeitig oder in laufender Folge eine größere Anzahl von Menschen, so wurde eine “Verpestung" der Luft, ein Miasma, als die Ursache vermutet. Die Termini “Malaria" (mala aria = schlechte Luft) und “Epidemie" (von epi = über, demos = Volk, d. h. etwas, was wie die Luft über dem ganzen Volke ist) lassen diesen Ursprung noch erkennen. Die Entstehung des Miasmas deutete man gewöhnlich als Ausdünstungen eines sumpfigen oder durch Erdbeben erschütterten Bodens oder in Fäulnis übergegangener Stoffe, an denen es sowohl in den unkanalisierten Städten als auch in den besonders betroffenen überfüllten Lazaretten, Gefängnissen, Waisenhäusern usw. niemals mangelte. Das Miasma als “Exhalation eines siechenhaften Bodens" spielte sogar noch in der Boden-Grundwasser-Theorie Pettenkofers eine wichtige Rolle und wurde von ihm auch noch anläßlich der Hamburger Cholera-Epidemie im Jahre 1892 gegen die kontagionistischen Ansichten Robert Kochs ins Feld geführt. * Als Struensee Ende 1757 Physikus und Armenarzt von Altona wurde, war er über den desolaten Zustand der ihm anvertrauten Waisenkinder, die sämtlich krätzig waren, entsetzt, zumal er als Vergleich die Franckesche Stiftung in Halle vor Augen hatte. Doch das Waisenhaus in Halle war eine rühmliche Ausnahme, galt doch in jener Zeit “krätzig" als Attribut von Waise. Storch bezeichnete daher die Waisenhäuser als “Seminaria der Krätze", “die in ihnen niemals auszurotten sey" (6). Schuld daran war in Altona wie auch andernorts, daß die Waisen zu mehreren in einem Bett schliefen. - Eine ähnlich unangenehme Überraschung erlebte Struensee, als er die ihm als Physikus zustehenden Lazaretträume im Altonaer Zucht- und Werkhaus an der Kleinen Mühlenstraße übernahm. Auch dort lagen die Patienten zu mehreren in einem Bett und hatten daher oft zusätzlich noch die Krätze (7). Entschlossen forderte er, daß jeder Kranke sein Bett für sich haben müsse. Als Pastorensohn wies er seine engherzigen Kontrahenten im Magistrat darauf hin, daß bereits Bugenhagen, der Reformator des Nordens, in der Lübecker Kirchenordnung von 1531 in Zusammenhang mit dem Bau von Krankenhäusern dasselbe verlangt hat: “Dar schal eyn jewelick krancke, dat de eyne denn andern nycht mehr vergyfftige, hebben sine egene affgedelede stede." (“Da soll ein jeder Kranker, damit der eine den andern nicht anstecke, einen abgeteilten Ort haben.") (8) Sodann ließ er kurzentschlossen sowohl die Waisenkinder als auch die 3 4 skabiösen Patienten mit Schwefelsalbe einreiben und sie auf getrennten Lagerstätten (“Strohsäcken") unterbringen. Obwohl die Schwefelkur (bei den Skabiösen) einen prompten Erfolg bewirkte, wurde Struensee, wie er es in einem Aufsatz 1760 selbst schildert, wegen seiner “höchst gefährlichen und der Arzneywissenschaft widersprechenden Behandlung, die ein Ausscheiden der materia peccans aus den verdorbenen Säften verhindert", heftig angegriffen (9). So schrieb z. B. der hochangesehene Johann August Unzer in seiner vielgelesenen medizinischen Wochenschrift “Der Arzt" voller Empörung: “Es giebt Ausschläge der Haut, welche nicht zurückgetrieben werden können, ohne die Kranken in Lebensgefahr zu stürzen. Die Krätze, die Finnen (Pickel) oder der Kopfgrind (Favus) sind von dieser Art. Ein böser Geist beeinflußt das niedere Volk, diese Ausschläge mit Schwefel, Quecksilber und anderen gefährlichen Mitteln zu vertreiben. Von der zurückgetriebenen Krätze sieht man allzu oft, was die Beobachter aller Zeiten schon davon haben entstehen sehen, nämlich Schlagflüsse, Verlähmungen, Schwindsucht und lauter solche Krankheiten, welche bald oder später tödten." (10) Die älteste dermatologische Terminologie läßt noch deutlich die im humoralpathologischen Sinne vermuteten “inneren Ursachen der Hautausschläge" erkennen, z. B. Exanthem (von ex = aus, anthos = die Blume) = die Blume, die nach außen blüht"; Effloreszenz (von efflorescere = hervorblühen) = Hautblüte; Ekzem (aufkochen, aufbrausen) = Juckflechte; Apostase (Ablagerung) = Abszeß etc. (11) Noch Autenrieth, der den kranken Hölderlin in Tübingen behandelte, führte die meisten chronischen Krankheiten auf “verdrängte Krätze" zurück und pflegte daher einer Ausheilung der Krätze energisch zu widerraten (12). * Da es innerhalb einer noch so umfangreichen Studie nicht möglich ist, auch nur anzudeuten, wie Struensee auf den verschiedensten Gebieten der Medizin, z. B. der Geburtshilfe, Säuglingsfürsorge, Psychiatrie, Augenheilkunde, Sozialmedizin, Städtehygiene, Heilmittellehre, Tierheilkunde, die sich zum großen Teil erst damals zu differenzieren begannen, völlig neue, z. T. bahnbrechende Wege einschlug, möchte ich mich als einst vor allem epidemiologisch und seuchenprophylaktisch engagierter Mikrobiologe nur auf einige Infektionskrankheiten beschränken, um an diesen Beispielen zu verdeutlichen, wie sehr er sich in seinen therapeutischen und seuchenprophylaktischen Maßnahmen und Überlegungen von seinen Zeitgenossen unterschied und wie weit er seiner Zeit auch auf diesem Gebiet voraus war. * Eines der schwierigsten epidemiologischen Probleme des 18. Jahrhunderts waren die Pocken. Man rechnete damals, daß dreiviertel aller Menschen an Pocken erkrankten, woran jährlich allein in Westeuropa etwa 400000 starben. Obgleich die Pocken einen endemischen Charakter angenommen hatten und damit zu einer Kinderkrankheit geworden waren, kam es in Zeitabständen von vier bis sieben Jahren, je nachdem, ob eine größere Anzahl von noch undurchseuchten, pockenfähigen Neugeborenen heranwachsen konnte, immer wieder zu mehr oder weniger schweren Pocken-epidemien. Mit einer solchen Seuchenwelle wurde Struensee schon zu Beginn seiner Tätigkeit in Altona (1758 / 59) konfrontiert. Es war eine schwere Epidemie, die fast gleichzeitig mit 4 5 Schweden auch Dänemark heimsuchte. Besonders verheerend wirkten sich bei den Pocken die unsinnigen Schwitzkuren aus, die man damals allgemein bei exanthematischen Krankheiten anwandte, um die materia peccans “aus den verdorbenen Säften an die Oberfläche zu treiben". “Es sterben", klagte Struensee, “mehr Kranke von den üblen Verfahren und den verkehrten Mitteln, so man zu ihrer Herstellung anwendet, als von der Gefährlichkeit der Krankheit selbst. Könnten nur die in dieser Hinsicht eingerissenen schädlichen Vorurtheile und die verkehrten Meynungen ausgerottet werden, so würde dem Gemeinwesen hierdurch genug Vortheil erwachsen...” (13). Und in einer anderen seiner Abhandlungen heißt es: “...der Kranke muß schwitzen. Er wird mit Betten überhäufet, die Vorhänge am Bette zugezogen, alle Fenster und Türen fest verwahret. Man giebt ihm häufig heißes Getränk ... Anstatt ihn zu erleichtern, wird er gemartert; das Blut wird entzündet und die Krankheit eine tödliche." (14) Die “hitzige Kur" wurde nicht nur in Holstein, sondern auch in anderen Teilen Deutschlands, sogar in den Städten bei nornehmen Familien praktiziert, was z. B. einer Mitteilung Goethes zu entnehmen ist, der als Kind, ebenso wie Struensee, eine schwere Pockeninfektion durchgemacht hat. “Das Übel", schreibt er in “Dichtung und Wahrheit", “betraf nun auch unser Haus und überfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Körper war mit Blattern übersäet ... Indessen hielt man uns, nach herrschendem Vorurteil, so warm als möglich und schärfte dadurch nur das Übel ..." (15). Während der erwähnten Pockenepidemie (1759) ließ Struensee die Landbevölkerung mit Hilfe der Pastoren “von der Kanzel herab" vor der “hitzigen Kur" warnen. Der Wortlaut dieses Aufrufs ist aus seiner Abhandlung “Von den Blattern und der Blattern-Einpfropfung" bekannt. “Der Kranke soll im Sommer nicht mit zu vielen Betten bedeckt seyn. Auch sollen die Fenster den Tag über einigemal eröffnet werden, damit frische Luft hereinkomme .... Im Winter sollen die Stuben nicht übermäßig eingeheizt und der Kranke nicht zu nahe an den Ofen gelegt werden. Durch die übermäßig heißen Stuben und durch das hitzige Verhalten werden nicht nur die Blattern, sondern auch die gutartigen Masern und Rötheln in bösartige Krankheiten verwandelt, und die meisten Kinder dem Tode preisgegeben. Es ist überhaupt besser, wenn die Stuben eher kalt als zu heiß gehalten werden." (16) BILD Überfüllter Krankensaal im Hamburger “Pesthof" mit sechs "Tollkoben" (Einzelzellen für gemeingefährliche Geisteskranke) im Hintergrund. Aus zwei Türluken glotzen zwei Geisteskranke hervor. Rechts und links liegen Sterbende. Ein Toter wird von zwei Wärtern aus dem Saalgetragen. Davor die Verteilung von Brot an Sieche, die z. T. auf dem Boden herumrutschen. Ganz im Vordergrund eine Beinamputation (ohne Narkose). Links davon eine Starstichoperation und noch weiter links die Tröstung eines Sterbenden durch einen Pastor. Davor die Labung eines halbnackten Bettlers (mit Krückstock). Über dem Bittblattaus dem Jahre 1750, mitdem in derHansestadt“milde Gaben"fürden “Pesthof"gesammelt wurden, stand mitFettdruck die Aufforderung an die Spender: “Neunhundert schreyn hier Weh und Ach! Thu wohl! Gott segne tausendfach." (Staatsarchiv Hamburg: Plankammer t3) 91-74-5-1 Diese Ratschläge lassen ein Prinzip erkennen, das Struensee nicht nur als Physikus bei verschiedenen Epidemien, sondern später auch als königlicher Leibarzt bei der Erziehung des Kronprinzen “zwecks Abhärtung" konsequent befolgt hat und das ihm dann in der Anklage als “crimen laesae majestatis" (“Majestätsverbrechen") angelastet wurde. Struensee verwarf das “beschleunigte Hervortreiben des Ausschlages durch schweißtreibende Mittel" und empfahl “kalte Abwaschungen" und “kühlende Umschläge", was oft eine verblüffende “Linderung des schmerzhaften 5 6 Entzündungsprozesses während der Pustelbildung und eine fast narbenlose Heilung" zur Folge hatte (17). * Aber nicht nur in therapeutischer Hinsicht, sondern auch mit seinen klaren und vorausschauenden seuchenprophylaktischen Überlegungen, bei denen alle Eventualitäten mit einkalkuliert waren, wich er von den althergebrachten Ansichten ab. Er warnte vor dem Waschen der Toten, ihrer Ausstellung im offenen Sarg und den Bewirtungen im Sterbehaus, was damals, besonders auf dem Lande, viel zur Weiterverbreitung der Seuche beigetragen haben dürfte. Zugleich wies er darauf hin, daß man Spielsachen blatternkranker oder an Blattern verstorbener Kinder nicht weitergeben und Kleider oder Bettwäsche von Verstorbenen nicht verschenken oder an Trödler weiterverkaufen sollte, “da sie wie ein Nessoshemd wirken könnten" (18). BILD Blick in die einstige “Kleine Papagoyenstraße" in Altona, erbaut nach dem “Schwedenbrand" 1713, gezeichnet um 1930. Im 18. Jahrhundert war die Straße eine Art Ghetto, in dem arme Juden lebten. Aus einem Bericht Hartog Gersons über die Bräune-Epidemie in der “Kleinen Papagoyenstraße" geht hervor, daß die Fachwerkhäuser von den Kellern bis in die Dachkammern dicht bewohnt waren. -An der linken Ecke der Straße wohnte Struensee als Mieter von 1760 bis 1762. Das Eckhaus wurde 1938 “als baufällig abgerissen ". Ungeachtet der Gefahr, bei seinen humoralmedizinisch und miasmatisch denkenden Kollegen in den Geruch der Unseriosität zu geraten, versuchte er, seine Zeitgenossen mit dem Begriff der Kontagiosität und der “Qualität des Ansteckungsstoffes" vertraut zu machen, der sich “kraft seiner unendlichen Theilbarkeit aus sich selbst vermehret": “So wie die Eigenschaft des Magneten durch Berührung auf viele Eisenstücke übergehen kan, ebenso kan das Blatterngift von einem Kranken auf noch ungeblatterte Personen übertragen werden." (19) Und damit er auch von den Bauern verstanden wird, wiederholt er den Deutungsversuch mit einem simpleren Gleichnis: “So wie der Schimmel von einer faulen Frucht auf viele andere Früchte noch übergehen kan, ebenso kan der Ansteckungsstoff der Pocken oder der Ruhr von einem Kranken auf noch gesunde Personen übertragen werden." (20) Vier Jahre später versuchte Struensee in einer weiteren Abhandlung (“Anmerkung über die Gifte") einen scharfen Trennungsstrich zwischen die oft noch wechselweise benutzten Begriffe “Contagium" und “Miasma" zu ziehen: “Unter allen Giften", erklärte er, “ist keines, das diese Benennung mit größerem Recht verdienet, als diejenige Materie, welche die ansteckenden Krankheiten fortpflanzet. Die Ärzte, die es (d. h. den Pockenstoff) Miasma nennen, müssen gestehen, daß ihnen seine Art zu würken unbegreiflich ist. Ein Brief, der von einer Person, die die Blattern hat, geschrieben wird und über 50 Meilen auf der Post gehet, giebt demjenigen, der ihn liest, die nemliche Krankheit. Gewiß, eine unglaubliche Sache, wenn sie nicht durch viele Beispiele bestätigt worden wäre." (21) Mit seinen kontagionistischen Ansichten fand Struensee lediglich bei zwei Ärzten Verständnis, die, obwohl sie um zehn Jahre älter waren, fast gleichzeitig mit ihm promoviert hatten: Johann Albert Heinrich Reimarus und Hartog Gerson. Beide hatten in Holland und England studiert. Der eine wohnte im benachbarten Hamburg im Hause seines hochangesehenen Vaters, des Orientalisten und Religionsphilosophen Hermann 6 7 Samuel Reimarus, der andere in der unmittelbaren Nähe von Struensee, in der ghettoartigen Kleinen Papagoyenstraße, wo er zunächst als jüdischer Armenarzt seine dort lebenden mittellosen Glaubensgenossen betreute (22). * Die einzige Möglichkeit, sich damals vor den Pocken zu schützen, bestand in der sog. “Variolation", wobei man Pusteleiter von leichten Pockenfällen auf Gesunde inokulierte, eine nicht ganz ungefährliche Methode, die die Frau des englischen Gesandten bei der Pforte, Lady Montagu, 1716 in Konstantinopel kennengelernt und nach ihrer Rückkehr in die Heimat auch dort bekannt gemacht hatte. Auf dem europäischen Festland konnte sich jedoch die Methode infolge der humoralmedizinischen Vorurteile nur sehr langsam durchsetzen, was Goethe in Zusammenhang mit seiner Pockenerkrankung in “Dichtung und Wahrheit" recht eindrucksvoll beschreibt: “Die Einimpfung der Pocken wird bei uns noch immer für sehr problematisch angesehen, und obgleich sie populäre Schriftsteller schon faßlich und eindringlich empfohlen, so zauderten doch die deutschen Ärzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Spekulierende Engländer kamen daher aufs feste Land und impften gegen ein ansehnliches Honorar die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frei von Vorurtheil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wüthete durch die Familien, tödtete und entstellte viele Kinder und wenige Eltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche Hülfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestätigt war" (I. Teil, 1. Buch). Aber auch noch während Struensees Amtsarzttätigkeit in den sechziger Jahren war die Impftechnik außerhalb Englands so sehr mit Risiken belastet, daß sich kaum ein gekröntes Haupt dem Können einheimischer Ärzte anzuvertrauen wagte. Kennzeichnend hierfür ist der Mißerfolg zweier namhafter Berliner Ärzte, die 1765 neun Kinder aus vornehmen Familien inokulierten, wobei es zu sechs Todesfällen kam, zu denen auch zwei Kinder des Ministers von der Horst gehörten. 1768 ließ die russische Zarin Katharina den berühmten englischen Inokulator Dimsdale nach Petersburg rufen, um sich und ihren Sohn von ihm impfen zu lassen. Dimsdale erhielt das “fürstliche Honorar" von 10000 Pfund Sterling, dazu 2000 Pfund Reisekosten, eine lebenslängliche Rente von jährlich 500 Pfund sowie den Titel eines Barons. Fast zur gleichen Zeit lud Maria Theresia, die bereits mehrere Kinder an den Pocken verloren hatte, Dr. Ingen-Housz, einen Schüler von Dimsdale, nach Wien ein, um ihre Söhne Maximilian und Ferdinand inokulieren zu lassen. Sie selbst hatte sich ein Jahr vorher (1767) bei der Pflege der zweiten Frau ihres Sohnes, Joseph Il., die ebenso wie dessen erste Frau an den Pocken starb, infiziert und wurde durch die Narben so entstellt, daß sie nicht mehr in der Öffentlichkeit erschien und alle Spiegel aus ihren Wohnräumen in der Burg entfernen ließ. Da in Berlin 1766 eine Pockenepidemie mehr als tausend Kinder dahinraffte, wollte Friedrich der Große, dessen Lieblingsneffe Prinz Heinrich ebenfalls zu den Opfern gehörte, durch englische Inokulatoren in seinen Landen Impfungen größeren Umfanges vornehmen lassen, was aber daran scheiterte, daß die Engländer für jede Impfung den außerordentlich hohen Betrag von 32 Talern (!) forderten. (Ein Lakai oder eine Köchin verdienten damals in Berlin etwa 12 Taler im Jahr.) Dies alles geschah zu einer Zeit, als Struensee schon etwa zehn Jahre lang ohne viel Aufhebens die Zöglinge des “Altonaer Waysenhauses" und die ungeblatterten Kinder auf den holsteinischen Herrenhöfen “umsonst oder für einen Papenstiel" inokulierte. Struensee war aber nicht nur einer der ersten deutschen Ärzte, der sich für die Pockenschutzimpfung mit Pockeneiter einsetzte und sie auch meisterhaft beherrschte, 7 8 sondern wohl auch der erste, der ihre Gefahren bei unzulänglicher Technik, besonders bei tiefen Schnitten, erkannte. Diese könnten, so meinte er, nicht selten statt der erwarteten leichten Erkrankung einen schweren oder gar tödlichen Pockenbefall heraufbeschwören. Außerdem bilde jeder nicht abgesonderte Impfling für die Nichtgeblatterten in seiner Umgebung eine Infektionsgefahr (22a). Struensee, der sich dessen bewußt war, daß die Pockenschutzimpfung nur dann erfolgreich sein konnte, wenn sie vom Staat organisiert würde, regte als erster die Schaffung von Impfanstalten an, in denen durch Absonderung der Frischgeimpften eine Verschleppung der Pocken auf noch nicht Geblatterte ebenso vermieden werden könnte wie eine kurpfuscherische Impftechnik unerfahrener Inokulatoren. “Das Sicherste wird allezeit seyn, wenn die Einpfropfungen öffentlich in dazu eingerichteten Häusern geschehen. Bey dem gemeinen Mann, dem größesten Theil der menschlichen Gesellschaft, kan solches nie in seiner Wohnung ohne Wagnis unternommen werden. Erlaubt man jedem, die Blattern einzupfropfen, der nur Dreistigkeit genug hat, sich einen Arzt zu nennen oder Geld genug, um auf einer Universität den Doctor-Titel zu kaufen, so wird sie bald in übeln Ruf kommen und untersagt werden müssen. (23) Auch sollten die Kinder vor Blattern-Einpfropfungen nicht durch Aderlassen und Purgieren unnötig geschwächt werden, danach aber zehn bis vierzehn Tage lang abgesondert bleiben. Wie ernst es Struensee mit dieser Absonderung meinte, ist aus einer in der Parallelabhandlung empfohlenen Maßnahme zu ersehen, wonach man “während der Vereyterung der Blattern" keine Fliegen in der Krankenstube dulden solle, da sie “von dem Eyter der geplatzten Pusteln angelockt" werden und “den Blatternstoff verschleppen könnten" (24) - eine erstaunlich scharfsinnige Vermutung, die ihm bei seinen “humoral-medizinisch und miasmatisch orientierten Fachgenossen" bestenfalls ein verständnis-loses Kopfschütteln einbrachte. BILD Peder Als Caroline Mathilde mit dem Kronprinz Friedrich auf Hirschholm 1771 (Aquarell aus dem Reichsarchiv Kopenhagen). Da Struensee als Landphysikus viel mit Bauern und Landwirten in Berührung kam, dürfte er auch von der Übertragbarkeit menschlicher Pocken auf Haustiere etwas gehört haben, denn in Zusammenhang mit der “Einschränkung einer Ansteckung auf Thiere von einerley Art" bemerkt er: “Für jede ansteckende Seuche gibt es einen besonderen Stoff. Aus diesem Grunde stecken Viehseuchen, mit Ausnahme der Hundswuth, keine Menschen an, und menschliche Seuchen, mit Ausnahme der Blattern, keine Tiere an." (25) Allein die Möglichkeit einer Rückübertragung des Pockenstoffes von infizierten Haustieren auf pockenfähige Menschen, eine Möglichkeit, die später die Grundlage der Vakzination bildete, erwähnte Struensee nicht, obwohl damals gerade in Holstein diese Idee bereits in der Luft lag (26). Die ärztliche Voreingenommenheit gegenüber der Inokulation war zunächst groß und wurde meist rein fachlich begründet. In Wirklichkeit war sie jedoch bei der Mehrzahl dieser Ärzte, wie Struensee in seiner Abhandlung (1760) bemerkte, “nicht ganz frey von selbstsüchtigen Erwägungen" (27). Entsprang doch ein ganz beträchtlicher Anteil ihrer Honorare in jener Zeit aus der Behandlung Pockenkranker. Sie konnten daher die laufend erforderliche Behandlung dieser Art geradezu als ein “Fixum" in ihrem Einkommen buchen. In ihrer Abneigung gegen die Inokulation brauchten sich die Ärzte jedoch gar nicht persönlich zu engagieren, denn sie hatten einen natürlichen Verbündeten, der die Verteufelung dieser ihnen so abträglichen Methode viel wirkungsvoller und erfolgreicher betrieb: den Klerus. In vielen Ländern verdammten die 8 9 Geistlichen der verschiedensten Konfessionen die Inokulation von den Kanzeln als “Teufelswerk". So erklärte z. B. der Erzbischof von St. Andrews in Schottland, “Hiobs Beulen" seien nichts anderes gewesen “als Impfung, ausgeübt durch Satan höchst persönlich". Und der Erzbischof von Paris meinte, “die körperliche Feiung wider die Pocken setze die Seele in Gefahr". Selbst Struensees Vater hielt das “Blattern-Belzen" für einen “vermessenen und sündhaften Eingriff in die göttliche Vorsehung" (28). * Erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wurde die Inokulation in ganz Deutschland aufgegriffen und durchgeführt. Da aber die meisten Ärzte aufgrund humoralmedizinischer Vorstellungen die hohe Kontagiosität der Pocken nicht wahrhaben wollten, unterließen sie die Absonderung der Frischgeimpften. Es kam sogar vor, daß man pustelübersäte Impflinge in Postkutschen in die verschiedensten Orte mitnahm, um mit deren Pusteleiter - (einen Impfstoff im heutigen Sinne gab es noch nicht) - ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen weitere Impfungen vorzunehmen. Das Ergebnis dieser fahrlässig durchgeführten Inokulationen war eine Kette von nicht abreißenden Pockenepidemien (29). Zu den schwersten Seuchenausbrüchen kam es 1788 in Weimar, 1794 in Hamburg und 1795 in Berlin. Was Struensee befürchtet hatte, trat ein. Eine unter Berücksichtigung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen seuchenprophy-laktisch wirkende Methode war aus Gedankenlosigkeit in ihr Gegenteil verkehrt worden, so daß man sie als öffentliche Gefahr empfand und verboten hätte, wenn sie nicht infolge der kurz vor der Jahrhundertwende (1796) entdeckten Jennerschen Vakzination auch sonst überflüssig geworden wäre. * Kurz nach dem Abklingen der Pockenepidemie von 1758/59 wurde in Struensees Dienstbereich durch Flucht wehrfähiger Mecklenburger vor den preußischen Werbern und Häschern im Frühjahr 1759 Fleckfieber eingeschleppt. Im Schleswig-Holsteinischen Landarchiv fand ich vor etwa 50 Jahren einen als “kurze Anweisung" bezeichneten Seuchenbericht, den Struensee im Frühjahr 1759 in der Nähe von Elmshorn - in Klostersande - während einer mörderischen Fleckfieber-Epidemie an Ort und Stelle - auf zehn engbeschriebenen Folioseiten - “in aller Eile" zu Papier gebracht hatte. “Als ich mich", berichtet er, “in die Häuser, welche dieses Unglück betroffen, begab, so fand ich, daß die Verstorbenen sowohl als auch diejenigen, welche noch krank darniederlagen, mit einerley Krankheit befallen waren, deren Verlauf und Zufälle (Symptome), wie ich es aus den Erzählungen der Umstehenden und der noch damit Behafteten entnehmen konnte, in folgendem bestanden: Empfindung einer Schwere in den Gliedern, Verlust des Appetits, Müdigkeit, Abwechslung von Frost und Hitze, Kopfschmerzen, Übelkeit, Angst, Brechen, Brennen in der Hertzgrube. Hierauf anhaltende Hitze ohne Nachlaß. Nach dem vierten Tag sind meistentheils kleine rötliche, nicht über die Haut erhabene Flecken an Brust, Hals, Armen zum Vorschein gekommen. An einer Frauensperson, die neun Tage krank gewesen, habe ich sogar sehr große feuerrothe Flecken (petechiale Blutungen) gesehen. Diejenigen, welche starben, sind in einen Stupor verfallen, nachdem sie vorher irre geredet hatten. Die meisten von denen, die mit solchen Kranken umgegangen, sich mit ihnen in einer Stube befunden, sie gewartet, sind kurz nachdem diese verstorben, auf dieselbige Art krank geworden. Wenn ich alle diese angezeigten Umstände zusammennehme und die Zufälle der beschriebenen Krankheit nach medizinischen Grundsätzen prüfe, so kann ich von der Natur derselben nicht anders urtheilen, als daß sie wirklich epidemisch ansteckend und ein bösartiges Fieber - Febris continua epidemica, maligna petechialis sei." (30) 9 10 Nach dieser geradezu klassischen Krankheitsbeschreibung und prägnanten diagnostischen Schlußfolgerung empfahl Struensee - nebst Entleerung des Magen-Darmtraktes zur Verhütung einer weiteren Ausbreitung der Seuche die Lüftung der Krankenstuben. Statt der “hitzigen Kur" sollten “die Kranken nicht zu warm zugedeckt und die Stube nicht zu heiß eingeheizt" werden. Auch die “kühlenden Abwaschungen" mit wasserverdünntem Weinessig und die immer wieder zu erneuernden “kalten Umschläge und Packungen" widersprachen völlig den therapeutischen Grundsätzen der Humoralmedizin bei exanthematischen Krankheiten (31). Von der Übertragung des Fleckfiebers durch Kleiderläuse, die Charles Nicolle erst 1909 in Tunis entdeckte, hatte man damals noch keine Ahnung. Dennoch schränkte die im Sinne der Miasmalehre empfohlene Lüftung der Krankenstuben eine weitere Ansteckung schlagartig ein, da durch den Luftzug den Läusen das Weiterkriechen verleidet wird, was während des Ersten Weltkrieges mehrere österreichische Militärärzte (Weigl, Felix, Hempt u.a.) unabhängig voneinander beobachtet hatten. So konnte Struensee auf dem Gebiet der Fleckfieberbekämpfung - trotz ätiologisch verkehrter Prämissen - einen geradezu verblüffenden Erfolg erzielen. Was die Bauern an Struensee besonders beeindruckte, war die Unerschrockenheit, mit der er die befallenen Häuser betrat, die Kranken untersuchte, Fragen stellte, Ratschläge erteilte und Anordnungen traf. Wagten sich doch seine Vorgänger (Dr. Oswald und Dr. Bolten) in ähnlichen Fällen nicht einmal über die Hausschwelle und erteilten ihre Instruktionen, ohne die Kranken untersucht zu haben, “per distanziam", das essenzgetränkte Taschentuch vor die Nase haltend, um sich vor dem gefürchteten Miasma zu schützen. Struensee dürfte inmitten dieser epidemiologischen äußerst bedenklichen Situation beim Anblick der übervölkerten, ghettoartigen Kleinen Papagoyenstraße, in der es von Trödlern und Lumpenhändlern nur so wimmelte, vor allem an die hier akkumulierte Infektionsgefahr gedacht haben, denn alte Kleider und Lumpen galten seit jeher als gefährliche Seuchenvehikel, zumal poröse Stoffe besonders geeignet schienen zur Aufnahme eines Miasmas. Stammte doch diese von der Obrigkeit so gefürchtete Ware bei mörderischen Epidemien zum großen Teil von Verstorbenen. Fast auf sämtlichen öffentlich angeschlagenen “Proklamationen für Seuchenabwehr" aus jener Zeit wurde der Handel mit alten Kleidern strengstens verboten und vor “Trödeljuden" besonders gewarnt, denen der Einlaß in Stadt und Land - ebenso wie Bettlern, fahrenden Leuten und Zigeunern - unter Androhung der Todesstrafe untersagt war. Wußte man doch, daß nicht nur die Pest mit solchen Waren - trotz mehrwöchiger Seefahrt - auch in ferne Länder verschleppt wurde. Struensee ließ daher sowohl in Altona wie auch auf dem Lande über die Pastoren die Bevölkerung von der Kanzel davor warnen, Kleider, Wäsche und Gebrauchsgegenstände von Verstorbenen an Trödler zu verkaufen. Zugleich bat er Hartog Gerson, auf seine Glaubensgenossen in der Kleinen Papagoyenstraße in gleichem Sinne einzuwirken (32). Anläßlich des gehäuften Auftretens von “brandiger Halsbräune" (Diphtherie) im Frühjahr 1759, von der die kinderreiche “Kleine Papagoyenstraße" besonders schwer betroffen wurde, lernte Struensee seinen jüdischen Kollegen erst richtig kennen. Suchte er doch in dessen Begleitung Tag für Tag die “vom Keller bis zur Dachkammer dicht bewohnten Fachwerkhäuser" in der Judengasse auf und war immer wieder von Neuem davon erschüttert, daß man den qualvoll erstickenden Kindern nicht helfen konnte. 10 11 Auch auf dem Lande ging der “Würgeengel" um, und die abergläubischen Bauern munkelten von Hexerei, wobei sie oft alte Frauen, die ihr Mißtrauen erregt hatten, verdächtigten. Um Klarheit zu schaffen, obduzierte Struensee mehrere Verstorbene und erkannte in der pharyngealen Pseudomembranbildung mit ihren Verästelungen bis in die Bronchien die eigentliche Ursache der grauenvollen Erstickungsanfälle (33). “In den Leichnamen", berichtete er im ,Gemeinnützigen Magazin 1760', “findet man in der Luftröhre eine weiche, dicke, weißliche Haut, die sie inwendig umkleidet und oft bis in die Lungenzweige fortgeht. Sie sitzt lose an der Luftröhre, so daß sie oft als eine Röhre herausgezogen, auch von den Kranken zum Theil ausgehustet werden kann. (34) Wenige Monate später wies Hartog Gerson in der gleichen Zeitschrift darauf hin, daß diese mit Erstickungserscheinungen einhergehende Krankheit, die man daher im 16. und 17. Jahrhundert “Morbus strangulatorius" bzw. “Morbus suffocatus" nannte, bereits im babylonischen Talmud unter dem Namen “Askara" Erwähnung fand: “Die schwerste unter allen Todesarten, die Askara ( m-izots ) gleichet einem Thaue in der Öffnung der Speiseröhre" (Seder Zeraim, Traktat Serakhoth I, i fol, 8a) (35). Nach dieser Stelle, die wie eine Bestätigung des oben zitierten Sektionsbefundes klingt, betonte Gerson, daß die Askara laut Talmud “vor allem Kinder befällt" (Taan IV, 27b). “Während man sonst beim Ausbruch einer Seuche erst dann in den Schofar blies, wenn mindestens drey an ihr gestorben waren, wurde bey der Askara aus Angst schon beym ersten Todesfall diese Maßregel ergriffen" (T. Taan II, 9). Da Hartog Gerson die Halsbräune für ebenso ansteckend hielt wie die Pocken, empfahl er in Analogie zu dem in jedem jüdisch-orthodoxen Haushalt üblichen Speiseritual mit zweierlei Eßgeschirr und Eßbesteck für den getrennten Genuß von Fleisch- und Milchgerichten eine Trennung dieser Gerätschaften auch zwischen Kranken und Gesunden vorzunehmen (36). Man hat den Eindruck, als versuchte Gerson den rituellen Begriff “koscher" (“rein") dem epidemiologischen Begriff “kontagiös" als Antithese entgegenzusetzen. BILD HamburgerAbtrittserker über der Kleinen Alster mit Trinkwasserentnahme von derselben Stelle. Nach einem verschollenen Gemälde aus dem 17. Jahrhundert. Struensee, der die Krankheit ebenfalls für kontagiös hielt, wünschte zum Ärger der Pastoren und Kantoren, die Begleitung der Leichen an Bräune verstorbener Personen durch Schulkinder und das Kurrendesingen am offenen Sarge oder Grabe zu verbieten (37). Aus der gegenseitigen kollegialen Achtung, die sich aus dem gemeinsamen Kampf gegen eine nach längerer Zeit neu auf-. getauchte unheimliche Infektionskrankheit ergab, entwickelte sich allmählich etwas, was zwischen Christen und Juden damals ungewöhnlich war: eine Art Freundschaft, die immer inniger wurde, je häufiger sich der junge Physikus mit dem klugen Judenarzt unterhielt (38). * Da sich Struensee als Physikus von Altona mit dem Gedanken trug, im Sinne von Leibniz eine medizinische Topographie seines Physikatsbereiches zu schreiben und vergleichsweise auch das benachbarte Hamburg in seine epidemiologischen und sozialmedizinischen Betrachtungen einzubeziehen, ist es nicht verwunderlich, daß er bereits 1761 in seiner Abhandlung “Vom Ruhrgang und dem Faulfieber" eine seuchenhygienische Parallele zwischen den beiden Städten zog und dabei auf einen 11 12 wesentlichen Unterschied hinwies (39). Obwohl die rege Kommunikation zwischen den beiden benachbarten Gemeinwesen seit jeher eine enge Verflechtung des Seuchengeschehens zur Folge hatte, gab es in bezug auf das “Faul- bzw. Schleimfieber", wie man damals den Abdominaltyphus nannte, einen deutlichen Unterschied zugunsten Altonas. Um zu verstehen, warum Hamburg im Gegensatz zu Altona ein endemischer Typhusherd war, in dem später die Cholera wiederholt zu verheerenden Epidemien führte, muß man die Trinkwasserversorgung und Abfallbeseitigung in diesem Gemeinwesen kennen, das einst analog zu Amsterdam oder Venedig mit einem dichten Netz von Kanälen (“Fleeten") durchzogen war (40). An den fleetseitigen Häuserfronten befanden sich oft erkerartig angebaute Aborte (sog. “Lauben"), aus denen die Exkremente unmittelbar, ohne Abfallrohr, in das Wasser fielen, dem man übrigens ohne Bedenken, wie auf einem Hamburger Gemälde aus dem 17. lahrhundert zu sehen ist, das Brauch- und Trinkwasser entnahm (41). Ganze Stadtteile waren daher auf die mehr oder weniger kostspieligen Dienste von “Wasserträgern" angewiesen. Wer ahnt heute noch, wie oft wohl die Eimer an den Querstangen der Wasserträger, die man so häufig auf alten Hamburger Stichen sehen kann, mit verseuchtem Wasser aus der Alster oder den Fleeten gefüllt waren? Wie oft wurden die Juden im Falle einer Seuche vom aufgehetzten oder leichtgläubigen Pöbel als “Brunnenvergifter" bezichtigt! Bei dem Hamburger Wasserträger, der oft mit seiner sehr gefährlichen Ware von Haus zu Haus zog, ahnte man jedoch kaum etwas Böses, obwohl er der denkbar gefährlichste “Bazillenträger" war! Gehörte er doch zum Lokalkolorit der alten Hansestadt wie die Fleete und die Fachwerkhäuser (42). BILD a) Schem. XXlll. Figur 1: Tarsen eines Fliegenfußes mit Krallen und Haftläppchen BILD b) Schem. XXIV Kopf einer Fliege (Dronefly) mit meisterhafter Darstellung der facettierten Augen Abbildungen aus Hooke's “Micrographia" (1665), einem Buch, das Struensee von seinem mikroskopierenden Großvater Dr.Johann Samuel Carl (1677-1757) erbte und das er seinem ebenfalls mikroskopierenden Freund Hartog Gerson für dessen mikroskopische Insektenuntersuchungen überließ. Der Unterschied in der Trinkwasserversorgung der beiden Nachbarstädte - in Altona Quellwasser, in Hamburg meist durch Abtrittserker verunreinigtes Fleetwasser - war so offenbar, daß sich hieraus ein Verdacht bezüglich der epidemiologischen Diskrepanz des Faulfiebers - d. h. Typhusbefalls - geradezu aufdrängte und ein so scharfsinniger Beobachter wie Struensee, der die Exkremente von Ruhrbzw. Faulfieberkranken ohnehin für ansteckend hielt, den Schluß ziehen mußte, auch fäkal kontaminiertes Trinkwasser sei ansteckend und daher zu meiden. Erfuhr er doch immer wieder, wie Bewohner Altonas nach einem kurzen Aufenthalt in Hamburg an Faulfieber erkrankten, das sie “Hamburger Krankheit" nannten. Als Armenarzt bekam er oft fiebernde Handwerksburschen zu sehen, die auf ihrer obligaten Wanderung vorher eine gewisse Zeit in Hamburg haltgemacht und, da sie stets knapp bei Kasse waren, ihren Durst mit Wasser gelöscht hatten. Da fast nur “Wassertrinker" von dem Übel befallen wurden, schien das Wasser die Hauptursache der Krankheit zu sein (43). Zu einer Zeit, als man die Ätiologie der infektiösen Darmkrankheiten im humoralmedizinischen Sinne auf ein durch Säfteverderbnis bedingtes Gallenfieber zurückführte, dürfte man es in Ärztekreisen besonders befremdend empfunden haben, daß sich ein Angehöriger ihres Faches bei seinen abweichenden Ansichten weniger auf medizinische Autoritäten als vielmehr auf Beobachtungen des gemeinen Volkes berieft (44). 12 13 * Im Rahmen seiner epidemiologischen Überlegungen stieß Struensee auf eine weitere Infektionsmöglichkeit: die Verschleppung des Ansteckungsstoffes durch Insekten. Bei der unvorstellbaren Fliegenplage, die infolge der unzulänglichen hygienischen Verhältnisse in den ruhrbefallenen Dörfern herrschte, drängte sich dieser Gedanke geradezu auf. War doch in seinen Augen das verräucherte, von Dunghaufen umsäumte Bauernhaus “mit seinen Pferden, Kühen, Schweinen, Hunden und Menschen unter einem Dach" eine “wahre Arche Noah" und zugleich eine einzige “Brutstätte von Fliegen". Das sorgfältige Studium der vergrößerten Insektenabbildungen in Hookes “Micrographia", einem Werk, das ihm sein 1757 verstorbener Großvater Dr. Johann Samuel Carl vermacht hatte, bestärkte Struensee in seinem Verdacht, daß auch die vom Pusteleiter des Pockenkranken als auch vom Stuhl der Ruhrkranken angelockten Stubenfliegen mit ihren Tarsen und Saugrüsseln das jeweilige Kontagium dieser Krankheiten verschleppen könnten (44a). Bald hatte sein mikroskopierender Freund Hartog Gerson an den Fliegenbeinen Fäkal- und Eiterpartikel nachweisen können, die ihn an ein von Swift geschildertes Gullivererlebnis im Lande der Riesen (Brobdingnag) erinnerte, “bey dem man versucht ist, sich die Nase zuzuhalten". “Das Königreich", berichtet Gulliver, “wird im Sommer sehr von Fliegen heimgesucht, und diese verhaßten Insekten, von der Größe einer Lerche, gönnten mir keinen Augenblick Ruhe. Oft setzten sie sich auf meine Nahrung und ließen dort ihren ekelhaften Unrat zurück. Bisweilen setzten die Tiere sich auf meine Nase und reizten mich dadurch bis zum äußersten, denn zugleich stanken sie auch auf höchst ekelhafte Weise." (45) * Es ist erstaunlich, wie nahe man sich im Zeitalter der Aufklärung trotz der noch recht primitiven Mikroskope an die richtigen ätiologischen und epidemiologischen Schlußfolgerungen herangetastet hatte, was aber von den meist humoralmedizinisch orientierten Ärzten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde und durch die naturphilosophischen Spekulationen der darauf folgenden experimentierfeindlichen romantischen Medizin zum großen Teil völlig in Vergessenheit geriet. Nicht umsonst stellt Struensee in seiner großen sozialmedizinischen Abhandlung die Frage: “Ist es nicht zu verwundern, daß die Größe, worauf die Wissenschaften anitzt (jetzt) gestiegen sind, so wenigen Einfluß hat? Was nützet es zu wissen, wie man ein Land groß, reich und seine Bewohner glücklich machen kann, wenn man es nicht anwendet und ausführet." (45a) Von Kant hat Goethe einmal gesagt, wenn er ihn lese, sei ihm zumute, als trete er in einen lichten Raum. Wenn man an die abwegige humoralmedizinische Interpretation und oft unklare Diktion der meisten medizinischen Abhandlungen jener Zeit denkt, so bewirkt die intellektuelle Klarheit des jungen Struensee einen ähnlichen Effekt. Als Physikus einer Hafenstadt erkannte Struensee bald in den vielen Animierkneipen am Rande seines Amtsbereiches, wo der Alkohol als “Kuppler den Berauschten mit Menschen zusammenbringt, die er im nüchternen Zustand meiden würde", die gefährlichsten Brutstätten der Lustseuche. Pflegen doch Dirnen, die oft geschlechtskrank sind, gerade solche Lokale aufzusuchen, in denen der Alkohol Betriebmacher ist (46). Daraus schlußfolgerte er, daß an der erschreckenden Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten neben der mit der Prostitution verbundenen 13 14 sexuellen Promiskuität vor allem die Trunksucht schuld sei. Bereits 1761 empfahl er daher, die Branntweingewinnung mit einer hohen Steuer zu belegen, damit das Erzeugnis für die Hersteller wegen des zu geringen Nutzens reizlos und für die Menge wegen der zu hohen Kosten unerschwinglich würde (47). Als Armenarzt hatte Struensee besonders den Mikrokosmos der Elendsquartiere kennengelernt. Man lebte dort täglich von der Hand in den Mund, ohne Rücklagen für Alter, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Unglücksfälle. Kein Wunder, daß einem solchen Milieu Diebstahl und Gewalttätigkeit, Trunksucht, Landstreicherei und Prostitution entsprangen. Genügte doch ein ganz alltägliches Ereignis - wie die Erkrankung des Hauptverdieners, die Geburt eines dritten oder vierten Kindes - um die Armut der Familie in bitterste Not zu verwandeln. Eine Folge davon war, daß sich häufig Scharen verwahrloster Kinder bettelnd auf den Straßen herumtrieben. Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern, das in einer Winternacht auf der Straße erfror, ist nicht der dichterischen Phantasie entsprungen; es hatte seine Vorgängerinnen bereits im 18. Jahrhundert. Alltäglich mit den sozialen Problemen seiner Zeit konfrontiert, bemerkte Struensee bald, daß man es in der Gesellschaft leider nicht mit einem gütigen Vater zu tun hat, der sich - wie es so rührend in der Bergpredigt heißt - um die Lilien auf dem Felde und Vögel im Freien sorgt, sondern nur mit einer hartgesottenen Obrigkeit, die entwurzelte, zu Bettlern und Landstreichern deklassierte Bauern ins Werk- und Zuchthaus sperrt oder an den Pranger stellt und gestrauchelte Mädchen auspeitschen läßt. Nur wenige kannten diese unterernährten, verlausten, dem Trunk ergebenen, von der Hand in den Mund lebenden Menschen, die in muffigen, typhusverseuchten Kellerwohnungen hausten besser als er in seiner Eigenschaft als Armenarzt (48). BILD Auspeitschung lediger Mütter nach ihrer Entlassung aus einer Entbindungsanstalt. (Stich von Daniel Chodowiecki 1782, Kupferstichkabinett Dresden) Es lag nahe, das Elend dieser Armen ihren Lastern zuzuschreiben. Es erforderte unvergleichlich mehr Einsicht und Anteilnahme, diese Menschen für das zu halten, was sie in den meisten Fällen waren: Opfer der Armut. Mit Terenz konnte Struensee von sich sagen: “Homo sum; humani nihil a me alienum puto." (,Mensch bin ich; nichts Menschliches ist mir fremd"). Aufgrund seiner großen Erfahrung mit dem unerschöpflichen Krankengut einer Hafenstadt, wo seit jeher “ln Baccho et Venere kräftig gesündigt wurde", hielt er Lues und Gonorrhoe für zwei ganz unterschiedliche Krankheiten. “Es gibt unstreitig Gifte", schrieb Struensee 1761, “welche einen Körper ansteckend machen, ohne vorher eine bemerkbare Krankheit erregt zu haben. Die Gifte der Lustseuche und des Trippers gehören dazu (49). Wie oft steckt nicht ein Venerischer oder Tripperkranker andre schon wieder an, ehe er noch selbst bemerkt, daß er angesteckt sey?" (50) Mit dieser rhetorischen Frage gab Struensee deutlich zu erkennen, daß er auch von der ärztlichen Überwachung der Prostituierten keine hundertprozentige Verhütung von Lustseuchen erwartete (50a). * Da die mittellosen Kranken infolge fehlender Behandlung oft durch abstoßende Hautausschläge gekennzeichnet - als Bettler auf den Straßen und vor den Kirchenportalen zum Ärgernis der Bürger wurden, pflegte man sie in einstigen 14 15 Leprosorien oder neu errichteten Isolierhäusern einzusperren, die mehr den Charakter von Strafanstalten als von Hospitälern hatten. Allein durch das Betreten eines solchen Hauses konnte ein Arzt in den Augen des honetten Publikums als “unrein" erscheinen und seinen bisherigen Patientenkreis einbüßen. Die Konsequenz war, daß kaum ein arrivierter Arzt noch bereit war, sich der Behandlung einer so “abgesonderten Canaille" anzunehmen, weshalb die Behörden rohe Empiriker (“Barbier-Chirurgen") für dieses “wenig lukrative und noch weniger ehrenhafte Amt" abzukommandieren pflegten. Doch auch diese fanden es oft unter ihrer Würde und wehrten sich dagegen energisch (51). Als die Lues Anfang des 16. Jahrhunderts erstmals in Hamburg auftrat und die Lustsiechen “... up den Straaten als wie Bestien verstorven sin, derwele Jedermann se medede" (sie mied), bezeichnete man das Übel “wegen der eitrigen Blattern", mit denen sie “wie Hiob vom Scheitel bis zur Sohle übersät waren", einfach als “Bladdern" oder “Pocken", und das Gebäude, in dem man sie unterbrachte, “Bladdernhus" oder “Pockenhaus" (52). Als man es 1743 als Fachwerkbau erneuerte, erhielt es den Namen Hiobshospital. Es war berüchtigt wegen der drastischen Salivationskuren, die zu schweren Quecksilbervergiftungen mit Geschwürsbildung an Zunge, Gaumen und Lippen, Lockerung und Ausfall der Zähne, aashaftem Mundgeruch und im weiteren Verlauf zu blutigen Brechdurchfällen mit meist tödlichem Ausgang führen 12a) . Als Struensee das Physikat in Altona übernahm, besichtigte er auch die Krankenanstalten der Nachbarstadt. Beim Besuch des Hamburger Hiobshospitals hatte er den Eindruck, “einen Blick in die Hölle gethan zu haben". “Wenn man durch ihre (d. h. der Lustsiechen) Stuben geht", schrieb er, “muß man verdammt aufpassen, um nicht auszugleiten, da der Boden voller Schleim und Speichel ist ... Sie liegen in einem pestialischen Dunst auf halbverfaultem Stroh und absolviren ihre Salivationskur. Ebenso miserabel wie ihre Behandlung scheint auch ihre Verpflegung zu sein.” (53) Wie berechtigt Struensees Empörung über die Behandlung der Lustsiechen war und wie wenig sich in dieser Hinsicht auch nachher geändert hatte, ist aus einer vierzig Jahre später (1801) erfolgten Schilderung des St. Hiobshospitals durch den Hamburger Physikus Rambach zu entnehmen: “Die Zucht darin ist sehr streng ... die medizinische Behandlung einem Wundarzt übertragen ... Die Methode, welche dieser anwendet, besteht darin, daß er durch die heftigsten Ausleerungen das Gift aus dem Kranken zu treiben sucht. Er gibt daher den Merkur (Quecksilber), und zwar in solchen Dosen und so anhaltend, daß eine starke Salivation dadurch entsteht. Ich habe einige gesehen, deren Speichelfluß ich einen wahren Speichelsturz nenen möchte. Wer sollte es glauben, daß in einer Stadt, die sich eines ziemlichen Grades von medizinischer Aufklärung rühmen kann, solch ein Unwesen noch stattfinden kann? Wahrscheinlich beachtet man so wenig die unglücklichen Opfer einer ekelhaften Krankheit, weil man diese für eine Strafe hält.° (54) BILD Hospital St. Hiob für Lueskranke in der Spitalerstraße (kurz vor dem Abriß). Nach einer Photographie aus dem Jahre 1883. BILD Räucherung syphilitischer Patienten mit Quecksilberdämpfen. Der bettlägerige Patient im Hintergrund beim Vollzug des Speichelflusses. Titelkupferzu Steven Blankaart(1650-1704)“Die Belagert- u. Entsetzte Venus" (Deutsche Ausgabe) Leipzig 1689. 15 16 Struensee, der auf der Dach-Etage des Altonaer Zuchthauses mehrere Lustsieche abgesondert vorfand, schaffte bei diesen Ausgestoßenen und Verachteten sofort die von seinen Vorgängern geduldete unmenschliche “Salivationskur" ab, bei der die täglich ausgeworfene Schleimmenge 4-6 Pfund betrug (54a). Bei seinen “milden Kuren" bediente er sich vor allem des sog. “Liquor mercurialis Swietenii" (0,036 g Sublimat in 35 g Kornbranntwein), “welches jedoch nicht vom Leibarzt der Maria Theresia erfunden, sondern diesem von seinem Leidener Studienkollegen Antonio Núñez Ribeiro empfohlen wurde.” (55) * Als Armenarzt von Altona, der aber zugleich als Landphysikus auch auf den Herrenhöfen in der Provinz manches zu hören und zu sehen bekam, konnte Struensee anhand der Lustseuche besser als irgendwer die Auswirkung der konventionellen Doppelmoral auf die Medizin erkennen. Hielt man doch die “Lustseuche des gemeinen Haufens" für eine “wohlverdiente göttliche Strafe an den Körpertheilen, mit denen man gesündiget" (56). In Adelskreisen dagegen galt das Übel als “galante Kavalierskrankheit", deren Wunden die “vergifteten Pfeile Amors" oder der “Speer der Venus" verursacht hatten, die aber “Merkur" (d. h. Quecksilber) zu heilen vermag (57). Man scherzte ganz offen darüber und verfaßte Spottlieder (58). Beim “gemeinen Volk" dagegen, wo die Lues als “Sünde, ja sogar als Schande galt", pflegte man die Krankheit, was Struensee besonders betont, zu “verschweigen und zu verheimlichen", weshalb sie “nur selten rechtzeitig behandelt und richtig auskurirt wurde" (59). Nachdem Struensees Vater 1760 als Generalsuperintendent von Schleswig-Holstein nach Rendsburg übersiedelte, bezog der junge Physikus, der bis dahin im elterlichen Heim wohnte, mit seinem Jugendfreund, dem Juristen David Panning, ein bescheidenes Fachwerkhaus an der Ecke der Kleinen Papagoyenstraße als Mieter. Hier, wo er jeden Tag rembrandesken Gestalten begegnete, lernte er die Lebensweise der Juden besser kennen als die meisten seiner christlichen Zeitgenossen. Der Arzt bewunderte besonders ihre Nüchternheit (60). Da er seit jeher an statistischen Auswertungen besonders interessiert war, fiel ihm bald auf, daß sich unter den Geschlechtskranken und Gewaltverbrechern nur ein ganz geringer Prozentsatz von Juden befand. Er schlußfolgerte daraus: das Verschontbleiben der “Enkel Abrahams" sei vor allem ihrer Abscheu vor der Trunksucht zu verdanken. Doch dieses Verhalten war wohl weniger aus hygienischer Erkenntnis als aus der sozialen Lage zu erklären. Da der schutzlose Jude stets viel gefährdeter als der Nichtjude war, galt für ihn Nüchternheit als dringendes Gebot. Denn ein betrunkener, randalierender Jude hätte das größte Unheil nicht allein über sich, sondern über die gesamte Judenschaft seines Wohnortes heraufbeschwören können (61). Das war einer der Hauptgründe ihrer Mäßigkeit, für Struensee aber zugleich auch eine indirekte Bestätigung seiner Überzeugung. die Trunksucht wirke sich als Wegbereiterin der Lustseuche aus (62). Doch abgesehen von der Abstinenz bewahrte die Juden vor Geschlechtskrankheiten auch noch die Frühehe (63) und das strenge Sittenleben im Ghetto (64). Hinzu kam aber auch noch ein weiterer Umstand: mit dem Auflodern der Judenverfolgungen im ausgehenden Mittelalter wurde nämlich den Israeliten das Betreten von Freudenhäusern strengstens untersagt. Die fromme und tugendhafte Obrigkeit behielt das Privileg des Bordellbesuches ausschließlich ihren christlichen Untertanen vor. Diese “sexuelle Exklusivität", die bis Ende des 18. Jahrhunderts währte, verwandelte sich seit 16 17 der Entdeckung Amerikas in eine “potenzierte Anwartschaft der Christen auf die Lues" (65). Schließlich beeindruckte Struensee, der später als Minister wegen seiner rigorosen Sparmaßnahmen und Luxussteuern vom Adel als “Puritaner" gescholten wurde, die Sparsamkeit und bescheidene Zurückhaltung auch vermögender Juden. Hatten sie doch durch die Luxusverbote aus der Ghettozeit jahrhundertelang viel weniger Gelegenheit als die Christen, ihr Geld auszugeben; auch mußten sie infolge ihrer ständigen Zurücksetzung im bürgerlichen Leben all jenen Veranstaltungen fernbleiben, “die nie Geld eintrugen, sondern nur viel Geld kosteten" (66). Um die Mißgunst ihrer ohnehin feindlich gesonnenen Umwelt nicht noch mehr zu reizen, vermieden sie in der Regel mit ihrem Vermögen zu protzen (67). * Als der bekannte Pädagoge J. B. Basedow (1723-90) 1760 wegen seiner freigeistigen Ansichten seine Professur an der dänischen Ritterakademie Sorö einbüßte und als Gymnasiallehrer nach Altona versetzt wurde, lernte er dort bald den um 14 Jahre jüngeren geistesverwandten Physikus kennen. Struensee unterhielt sich mit ihm oft über prophylaktische Maßnahmen, die man bei der heranwachsenden Jugend ergreifen sollte, um sie vor Geschlechtskrankheiten zu bewahren. Basedow, dessen Eltern ihr Lebensende als Pröwen (eine Art Untermieter) im Hiobs-Hospital zu Hamburg verbracht hatten, ging wiederholt mit Struensee durch die mit Geschlechtskranken überbelegten Räume dieses berüchtigten Hauses und beide kamen zu der Überzeugung, daß die Besichtigung eines solchen Hospitals mit einem Jugendlichen diesen schneller und leichter als lange Moralpredigten davon überzeugen könnte, wie gefährlich “Amors vergiftete Pfeile" sind (68). Man kann sich gut vorstellen, wie entrüstet man in den prüden und pietistischen Kreisen der damaligen Zeit auf diesen ungewöhnlichen Vorschlag reagiert hat. War man doch sogar über das “Unsittliche" an der Einteilungsmethode der Pflanzen, wie sie der schwedische Naturforscher Linné (1753) in seinem “Species plantarum" aufgrund von männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen (Staubgefäßen und Fruchtknoten) vorgenommen hatte, zutiefst empört (69) Welche Schwierigkeiten einst die Prüderie gerade hinsichtlich der seuchenprophylaktischen Bestrebungen bereitete, ist aus dem Empörungssturm zu ersehen, den die Empfehlung des verdienstvollen Freiburger Chirurgen Mederer von Wuthwehr (1739-1805) auslöste: gegen die Lues Präservative zu benutzen (70). Besonders sein Vorschlag, die Bordelle mit einem Vorrat an Präservativen zu versehen, wurde von den Kanzeln als “Eingriff in die göttliche Vorsehung" bezeichnet, sei doch die Lues “eine wohlverdiente göttliche Strafe an den Körpertheilen, mit denen man gesündiget" hat (71). * In das Konzept der Pietisten von einer “wohlverdienten göttlichen Strafe" paßte allerdings nicht, daß oft auch unschuldige Kinder von dem Übel betroffen waren. Mit dem Hinweis, daß die Lues sogar auf außergeschlechtlichem Wege, z. B. durch infizierte Ammen, übertragbar sei, versuchte Struensee dem Übel das Odium der Sünde zu nehmen. Indem er die Offentlichkeit auf die potentiellen Infektionsgefahren beim Stillen aufmerksam machte, bemerkte er: Eine ärztliche Kontrolle wäre nicht nur bei der anzustellenden Amme, sondern auch bei den auftraggebenden Eltern notwendig. Die gleiche wechselseitige Vorsicht wie beim Stillen gelte seines Erachtens auch für das 17 18 Entbinden, bei dem nicht nur Hebammen gefährdet sind, sondern auch gesunde Mütter durch infizierte Hebammen angesteckt werden können (72). Mit dem Hinweis auf die potentielle Gefahr einer Luesübertragung durch infizierte Ammen versuchte Struensee zugleich die Mütter zum Selbststillen ihrer Kinder zu bewegen (73). * In Zusammenhang mit dieser Problematik sei eine kleine Episode erwähnt, die sympathische Züge von Uneigennützigkeit und menschlichem Mitgefühl in Struensees Charakter beleuchtet. Im Landesarchiv Schleswig-Holstein (Schloß Gottorf) fand ich vor Jahrzehnten einen Schriftwechsel zwischen Struensee und dem Landdrosten von Pinneberg, v. Berckentin (74), aus dem zu ersehen ist, daß der junge Physikus im Mai 1763 eine venerisch erkrankte Bäuerin aus Haselau, die sich als Amme an einem Herrenhof infiziert und dann auch ihre beiden Kinder angesteckt hatte, in sein Lazarett nach Altona kommen lassen wollte, um sie dort mit ihren Kindern auf Kosten des Amtes behandeln zu können. Vier Monate später, am 4. Oktober 1763, nach abgeschlossener Kur, schrieb er in obiger Angelegenheit an den Landdrosten: “Für meine Bemühungen habe ich nichts angesetzt, weil ich es Ew. Exzellenz überlasse, zu bestimmen, ob ich solches ex officio zu thun schuldig bin ... Da ich diese Verrichtung mehr aus Mitleiden als um Vortheile willen unternommen habe, so werde ich mit allem vollkommen zufrieden seyn, was Ew. Exzellenz deswegen zu verfügen geruhen wollen. Einige kleine Ausgaben, die ich wegen der großen Armuth dieser Leute gehabt, wie Strümpfe für die Kinder, Thee, Zucker, Milch, habe ich nicht mit anschreiben wollen." * Wieviel Leid und wieviel Elend hätte man bei der Beachtung noch einer weiteren Gefahr, auf die Struensee in Zusammenhang mit der Pockenschutzimpfung aufmerksam gemacht hatte, vermeiden können! Hatte er doch - trotz seines leidenschaftlichen Einsatzes für die Findlinge - bereits 1760 darauf hingewiesen, daß ein relativ hoher Prozentsatz der ausgesetzten Kinder venerisch verseucht sei, weshalb man den Eiter pockenkranker Findlinge nicht zu Inokulationen verwenden solle, weil mit deren Blatternstoff auch das Gift der Lustseuche überimpft werden könnte (75). Aber auch diese Warnung wurde in den Wind geschlagen. Sogar in den ersten siebzig Jahren der Vakzinations-Ära - solange man in Ermangelung animaler Lymphe von Arm zu Arm impfte blieben viele Impfanstalten zwecks Gewinnung eines größeren Impfvorrats an “Findelhäuser" angeschlossen. So dienten z. B. von 1865 bis 1867 im Petersburger Findelhaus elf Kinder, die später die “Anzeichen angeborener Lues" zeigten, als Stammimpflinge (76). Ähnliches geschah fast zur gleichen Zeit auch in Wien, wo man ebenfalls die Sehutzpocken-Lymphe vom Findelhaus bezog (77). Auch in Hamburg kam es noch 1874 zur Übertragung von Syphilis durch ein “hereditär luetisches Kind" als “Impfkönig" (Lymphspender), was die sofortige Absetzung des damaligen Oberimpfarztes zur Folge hatte (78). Trotz seiner glänzenden therapeutischen Erfolge schwebte Struensee zu keinem Zeitpunkt eine Praxis aurea für wohlsituierte Privatpatienten vor. Bei seinen Inspektionsfahrten durch die Provinz und seinem Einsatz als Armenarzt hatte er in den Dörfern Holsteins und in den Elendsquartieren Altonas aus nächster Nähe die unheilvolle Verkettung von Not, Krankheit, Aberglauben und Analphabetentum kennengelernt und damit zugleich auch eine Erklärung dafür gefunden, warum so vieles “faul im Staate Dänemark" sei. Was ihn reizte, waren seuchenprophylaktische und sozialmedizinische Aufgaben einer noch zu schaffenden Staatsmedizin. Das klingt 18 19 bereits im Schlußsatz seiner vier Seiten umfassenden erfolglosen Promemoria um eine Gehaltserhöhung an: “Sollte nun dieses mein submissest (untertänigstes) Gesuch, wie ich die unterthänige Zuversicht habe, stattfinden, so würde ich hierdurch in den Stand gesetzt, meine Amtsverrichtungen mit mehrerem Eifer und Vergnügen obzuliegen und da ich alsdann nicht mehr durch andere Geschäfte und weitläufige Praxin mich zu distrahieren (verzetteln) genöthiget wäre, dem Publico mit mehrerem Nachdruck und Nutzen meine Bemühungen zu widmen. Altona den 6. November 1762 - Struensee." (79) BILD Letzter Satz aus Struensees vierseitigem erfolglosen Gesuch (“Promemoria ") vom 6. November 1762 um eine Gehaltserhöhung. Sein Hungerlohn betrug 40 Reichstaler als Physikus und zusätzlich 30 Reichstaler als Armenarzt, also insgesamt 70 Reichstaler im Jahr. (Nach einer Photographie aus dem Altonaer Stadtarchiv Abt. XXXVI K1. B. 1. 13. fol. 5. Das Original verbrannte am 25. 7. 1943). Noch deutlicher geht dieser Wunsch Struensees aus einem in der Universitätsbibliothek von Oslo befindlichen Entwurf für eine Denkschrift hervor. Dieser Entwurf war die Vorwegnahme einer größeren Abhandlung (“Gedanken eines Arztes von der Entvölkerung eines Landes"), die im Heumonat (Juli) 1763 als Leitartikel im ersten Stück der in Hamburg herausgegebenen “Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen" veröffentlicht wurde. Ursachen der Entvölkerung seien Landflucht und hohe Sterblichkeit, bedingt durch Mangel an Ärzten, unzulänglicher Geburtshilfe, Säuglingsfürsorge, “hitzige Kuren" bei akuten Infektionskrankheiten und abergläubische Sitten, unwissende Hebammen und gewissenlose Kurpfuscher, Alkoholismus und Verseuchung der Landbevölkerung durch Einquartierung venerisch infizierten Militärs usw. usf. Noch niemand ahnte, wer der Autor dieser anonymen Abhandlung war, in der es vom Anfang bis zum Ende von sozialen Problemen nur so wetterleuchtete. Trafen doch die darin geschilderten Mißstände fast für alle deutschen Länder zu, und nur einige Formulierungen ließen erahnen, es handle sich bei dem Autor um einen dänischen Untertanen, und das namentlich nicht bezeichnete Land sei kein anderes als Schleswig-Holstein. Die Abhandlung, die in nuce bereits einen Großteil des sozialmedizinischen Programms enthielt, das Struensee zehn Jahre später als dänischer Minister mit seinen Reformen in Angriff nahm und zu realisieren versuchte, führt zu der Erkenntnis, die 85 Jahre später (1848) der junge Virchow so definierte: “Politik ist weiter nichts als Medizin im großen." Die Abhandlung “Von der Entvölkerung eines Landes", die seit Leibnizens “Vorschlag zur Gründung einer Medizinal-Behörde (1690) den wesentlichen deutschen Beitrag im Bereiche des öffentlichen Gesundheitswesens darstellt und eindeutig beweist, daß Struensee schon Jahrzehnte vor Johann Peter Frank bahnbrechend auf dem Gebiet der sozialen Medizin tätig war, habe ich in meiner Struensee-Monographie einer eingehenden Analyse unterzogen (80). Übrigens habe ich Struensees Abhandlung “Gedanken eines Arztes von der Entvölkerung eines Landes" in den “Beiträgen zur Geschichte Hamburgs, Bd. 19 im Faksimile-Druck wiedergeben lassen (81). BILD Türsturz der ersten norddeutschen Entbindungsanstalt im Altonaer Zucht- und Werkhaus. Die Inschrift lautet: “Königliche Algemeine Hebammenschule Für Das Herzogthum Holstein Königlich. Antheils. Der Stadt Altona UAL Und Der Gebährsaal Worauf Arme Schwangere Frey Verpfleget Werden Können Den XV August MDCCLXV Eröfnet” Der Sandstein befindet sich im Hof des Altonaer Museums. 19 20 Man kann sich heute kaum vorstellen, welch vermessenen Mut Struensee in seinen jahrelangen Bemühungen dazu aufbringen mußte, um in einer Atmosphäre voller Anfeindungen und Unterstellungen die Zulassung der ersten Entbindungsanstalt Norddeutschlands durchzusetzen, wenn auch nur im Altonaer Zuchthaus, wo man bisher “liederliche Weibsstücke durch Arbeitszwang und strenge Zucht zu bessern versucht hatte" und sie im Falle einer Schwangerschaft nach ihrer Niederkunft auch noch demütigen Strafen zu unterziehen pflegte. Ganz ungewöhnlich für jene Zeit war auch sein menschliches Mitgefühl für diese Unglücklichen: “Ein Mädgen", erklärte er bereits 1760, “das ein Kind gebirt, wird öfter härter bestraft als eine liederliche Weibsperson, die sich jedermann preisgiebet und die Früchte ihrer Ausschweifungen austheilet; die Schande, womit es überhäufet wird, nöthiget es nicht selten, dem Beyspiele dieser zu folgen. " (82) In einer anderen Abhandlung hat Struensee den gleichen Gedanken mit einer an Chamfort erinnernden Prägnanz und Hintergründigkeit in die Frage gekleidet: “Wie oft sind Laster und Tugend keine Ursachen, sondern nur Folgen?! (82) Als Armenarzt hatte er in den “Abgrund menschlichen Elends" geblickt und unter dem Eindruck des dort Gesehenen erklärt: “Die Ausstoßung der ledigen Mütter aus der menschlichen Gemeinschaft hat zur Folge, daß nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder der Betteley, Dieberey oder Hurerey verfallen.” (84) * Abhold jeglicher Systematik beschritt Struensee bereits damals erstmalig viele Wege, die man heute in der Präventivmedizin für selbstverständlich und immer dagewesen hält. Dabei mußte er sich meist mühsam durch das Gestrüpp von überholten Lehrsätzen, zähen Vorurteilen, abergläubischen Sitten, gehässigen Verdächtigungen und heimtückischen Verleumdungen durchschlagen. Da seine Vorgänger infolge ihres sozialmedizinischen Desinteressements die Kreise anderer Instanzen kaum störten, empfand man sein Engagement um so lästiger als ständige Einmischung in fremde Kompetenzen. Struensee war ein heller Verstandesmensch, der im höchsten Maße das besaß, was Nietzsche als “intellektuelle Rechtschaffenheit" bezeichnet (85). Sein leidenschaftlicher Einsatz für die Verbesserung der Geburtshilfe, für die straflose Entbindung unverheirateter Mütter und die Gleichberechtigung unehelicher Kinder, für das Verbot der Quacksalberei und die Reformierung des Arzneimittelwesens, für die Humanisierung der Luesbehandlung und das Verbot des Schnapsbrennens, für die Milderung des Strafvollzugs und die Lockerung der Pressezensur, womit nur einige Beispiele seiner sozialmedizinischen und sozial-ethischen Intentionen erwähnt sind, mit denen er schon als Physikus immer häufiger gewisse Kreise vor den Kopf stieß, lassen erkennen, daß er im Sinne Hegels - ein “Instrument der Moral von morgen" war. * Dazu den Patienten, denen Struensee in schwerer Not geholfen hatte, auch immer mehr Mitglieder des Holsteiner Adels gehörten, ist es nicht verwunderlich, daß sie ihn als Reisearzt König Christian VII. empfahlen, als dieser im Frühjahr 1768 nach England zu Besuch seines Schwagers Georg III. fuhr. In Christians Vorliebe für Voltaire fand Struensee bald einen Anknüpfungspunkt, über den er als geistreicher Causeur und profunder Voltaire-Kenner sich sehr schnell dessen Zuneigung erwarb. Mit dem 20 21 Spürsinn eines geborenen Diagnostikers beobachtete Struensee schon während der Reise nach England seinen Herrn, und obgleich es damals noch keine Psychiatrie gab und die Differenzierung der Geisteskrankheiten erst später einsetzte, war sein Verhalten gegenüber seinem Patienten das einzig richtige (86). Mit dem geradezu traumwandlerischen Instinkt des Menschenkenners packte er den jungen König an seinem Ehrgeiz und versuchte bei ihm das Interesse für die Staatsgeschäfte zu wecken. Lernte man doch auf der Reise durch wirtschaftlich entwickeltere Länder (Holland, England, Frankreich) immer wieder Institutionen kennen, die nach Struensees Ansicht auch dem dänischen König Ruhm und seinem Volk Wohlstand hätten einbringen können. Es war die bereits in Altona von ihm empfohlene Beschäftigungstherapie bei Gemütskranken, die er als Reisearzt hier anzuwenden versuchte, um seinen Herrn durch Festigung des Selbstgefühls aus der staatspolitischen Teilnahmslosigkeit herauszureißen (87). Als Struensee im Gefolge von König Christian VII. im Herbst 1768 nach England kam, ließ ihn dort die industriell fortgeschrittene gesellschaftliche Situation mit ihren Schattenseiten (wachsende Landflucht, Bildung von Slums, Alkoholismus, Zunahme von unehelichen Geburten, vermehrten Kindesaussetzungen etc.) erkennen, was in der nächsten Zeit an neuen sozialen Schwierigkeiten auch auf das noch rückständigere Dänemark zukommen würde (88). Er war davon überzeugt, daß die unvermeidliche Zuspitzung dieser Entwicklung nur durch entsprechende Reformen zu entschärfen sei. So war z. B. die Branntwein-Destillation in England von 527 000 Gallonen (24 000 hl) im Jahre 1648 - ohne entsprechenden Bevölkerungszuwachs - auf 5394 000 Gallonen (245 181 hl) im Jahre 1735 gestiegen. Ein Schöffengericht in Middlesex schrieb einen großen Teil des Elends und der Verbrechen in der Hauptstadt dem Branntweinabusus zu. Das Destillieren von Branntwein, meinte Defoe, verbrauche Korn und deshalb nütze es dem Grundbesitz; das Parlament der Grundherren dachte ähnlich. Das Ergebnis: Jedes sechste Haus in London war ein Wirtshaus und der Alkoholismus nahm beträchtlich zu (89). In der Hauptstadt gab es fast 50 000 Dirnen und die Zahl der öffentlichen Häuser soll nach dem kundigsten Sittenschilderer jener Zeit, James Boswell (1740-1795), um die 2000 betragen haben (90). Die Verquickung von Alkoholismus, Prostitution und Geschlechtskrankheiten verursachte so manchem englischen Arzt Kopfzerbrechen. Vieles von dem, was Struensee damals zu sehen und zu hören bekam, überzeugte ihn von der Richtigkeit seiner einstigen Bemühungen in Altona. BILD William Hogarth Ausschnitt aus dem “Schnapsgäßchen" (1751). Hogarth beabsichtigte damit, die Bemühungen um ein Verbot des Branntwein-Ausschankes zu unterstützen. Wie einst die Welt der Prostitution durchleuchtete er in diesem Kupferstich, bei dessen Anblick man, laut Lichtenberg, den “Branntwein geradezu riecht", mit bitterem Spott das Laster derTrunksucht. Rechtsim Vordergrund des Bildes ein zum Skelett abgemagerter Trinker, der sterbend Karaffe und Glas noch in den Händen hält; links von ihm auf der Treppe eine betrunkene Mutter mit syphilitischen Geschwüren am Bein, die nicht einmal bemerkt, daß ihr Säugling über das Geländer stürzt. Wo man hinblickt: nur Betrunkene. Die königliche Schnapsdestille, die Hogarth durch das Schild “Gin Royal" boshaft in den Vordergrund des ganzen Bildes gerückt hat, erklärt überzeugender als ein Dutzend Traktate, warum die Bemühungen zur Einschränkung des Branntweinausschankes keinen Erfolg hatten. - Ein Abdruck dieses Kupferstiches hing laut Hartog Gerson in Struensees Altonaer Wohnung. Als man Anfang 1769 nach Dänemark zurückkehrte, wurde Struensee zum Leibarzt ernannt und folgte seinem Herrn an den Hof von Kopenhagen. Dort gelang ihm die 21 22 Versöhnung des seit langem völlig zerstrittenen königlichen Ehepaares. Nach einer schweren Pockenepidemie, der 1770 allein in Kopenhagen 1200 Kinder zum Opfer fielen, impfte Struensee auf Wunsch der Königin den von ihr abgöttisch geliebten zweijährigen Kronprinzen. Als die Impfung - damals noch ein Wagnis - komplikationslos verlief, überschüttete man Struensee mit Beförderungen. Damit begann sein steiler Aufstieg von der grauen Eminenz bis zum allmächtigen Geheimen Kabinettsminister. Ich möchte zunächst nur die Reformen erwähnen, die direkt oder indirekt mit der Bekämpfung des Alkoholismus und der Geschlechtskrankheiten zusammenhingen, denn sie wurden von moralisierenden Kreisen, die selbst alles andere als moralisch waren, in anonymen Veröffentlichungen immer gehässiger gegen Struensee ausgedeutet und trugen viel zu seinem späteren Sturz bei. Die Zeitstimmung wies eine beängstigende Parallelität mit der aktuellen Verteufelung vorausschauender Epidemiologen, die nach den verpaßten Chancen des ersten AIDS-Jahrzehnts endlich die konsequente Anwendung seuchengesetzlicher Bestimmungen fordern (90a). Auch in Dänemark war die weitverbreitete Syphilis mit der Trunksucht der breiten Massen, über die sich bereits Shakespeare im “Hamlet" lustig machte, eng verknüpft (91). Obwohl Struensee schon lange vor seiner Englandreise wußte, daß man die Gutsbesitzer, die am Absatz des manufakturmäßig gebrannten Kornes sehr interessiert waren, allein mit einer Besteuerung des Branntweins zur Weißglut bringen würde, wollte er von diesem als sozialmedizinisch und seuchenprophylaktisch richtig erkannten Vorhaben nicht ablassen (92). Als er im Herbst 1770 an die Spitze des dänischen Staates gelangte, was zeitlich mit einer Mißernte zusammenfiel, entschloß er sich, diesen gordischen Knoten mit einem Schlag zu lösen, indem er durch eine königliche Kabinettsorder nicht nur die Getreideausfuhr, sondern auch das Schnapsbrennen aus Roggen verbot. Im Zuge der Reorganisation des Krankenhauswesens ließ er auch unbenutzte Kapellen in Hospitäler umwandeln, eine Maßnahme, auf die später auch Joseph II. in Österreich verfiel. So wurden damals auf Struensees Anordnung die Kirche des Friedrichshospitals und die Kapelle von Sölleröd zu Heilanstalten für Luetiker (93). Struensees Fürsorge um die Geschlechtskranken, die man bis dahin als eine Art von Aussätzigen genauso hart und unmenschlich behandelte wie die Geistesgestörten, die als Besessene oder Schwerverbrecher galten, war nur eine Facette seines vielseitigen Reformprogramms zur Humanisierung der Krankenpflege und des Strafvollzugs. Wie oft hatte man schon früher in Not- und Kriegszeiten, da es um die schnelle Unterbringung zahlreicher pflegebedürftiger Menschen ging, auf Kirchen zurückgegriffen! Doch diesmal handelte es sich um Subjekte, die als verrucht und gezeichnet galten, weshalb jeder Einsatz für sie in den Augen der prüden und moralisierenden Umwelt als ein vermessener, blasphemischer Eingriff in die göttliche Vorsehung erschien (94). Mit seinem Engagement für die Straffreiheit unverheirateter Mütter und die Gleichberechtigung unehelicher Kinder hatte Struensee bereits in Altona die pietistisch-prüden Kreise schockiert. Obwohl diese Maßnahmen nur zwei Glieder in einer langen Kette eng zusammenhängender sozialmedizinischer Reformen darstellten, wurden sie “in einer wenig moralischen, aber um so mehr moralisierenden Zeit" bewußt aus diesem Zusammenhang herausgerissen und nicht nur als “Untergrabung der öffentlichen Moral", sondern auch als “Rechtfertigung eigener Verbrechen" interpretiert. Die von Struensee eingeführte Pressefreiheit drohte nun mit der tödlichen Kehrtwendung eines Bumerangs, ihn selbst zu vernichten. Die Anonymität der Publikation, die im Zeitalter der Intoleranz als eine lebenswichtige Notwendigkeit galt, 22 23 war nach Aufhebung der Zensur zur Tarnkappe von publizistischen Brunnenvergiftern, Ehrabschneidern und Meuchelmördern geworden (95). * Selten ist über jemanden so viel Absurdes kolportiert und geschrieben, besser gesagt: kritiklos voneinander abgeschrieben worden wie über Struensee. Pamphletisten, Moritatensänger, Journalisten, Romanschreiber, Librettisten, Dramatiker und Filmregisseure haben sich wiederholt des Themas angenommen. Man verwandte dabei meist die berüchtigte “Schlüssellochperspektive der Chronique scandaleuse", die Hegel so definierte: “Für einen Kammerdiener giebt es keinen Helden ... nicht aber darum, weil dieser kein Held, sondern weil jener der Kammerdiener ist ... Die geschichtlichen Personen, von solchen psychologischen Kammerdienern in der Geschichtsschreibung bedient, kommen schlecht weg; sie werden nivelliert, auf gleiche Linie oder vielmehr ein paar Stufen unter die Moralität solcher feinen Menschenkenner gestellt. (96) Solche psychologische Kammerdiener haben vor allem Struensees “Liaison dangereux" mit der Königin breitgetreten und diese als den eigentlichen Grund für seinen kometenhaften Aufstieg und jähen Sturz bezeichnet (97). In Wirklichkeit galt diese Liaison seinen eigentlichen Gegnern, die selbst keineswegs tugendhaft waren, nur als Vorwand, mit dem sie die Ressentiments verschiedener Kreise und Volksschichten anheizen konnten, was eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen ihres von langer Hand geplanten Staatsstreiches war. Um Struensees verhaßte Reformen möglichst abschaffen zu können, mußte er diffamiert und zum zwielichtigen Abenteurer gestempelt werden (98). Man kennt daher sein Bild fast nur so, wie es seine Gegner und Ankläger gemalt und beschrieben haben, “deren Pinsel und Feder von Haß und Voreingenommenheit triefen". Sein Charakterbild' ist infolgedessen bis heute noch in ähnlicher Weise verzerrt wie jenes von Spinoza bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, von dem man bis dahin nach Lessings Worten wie von einem “toten Hunde" sprach. Das “Zwielichtige an Struensees Gestalt", worüber so viel gedeutelt wurde, ist in Wirklichkeit eine Erfindung seiner Gegner, die sich in Anbetracht seiner vielen, offenkundigen und nicht abzustreitenden positiven Eigenschaften und Leistungen dessen bewußt waren, daß eine völlige Schwarzmalerei ihre Beschuldigungen unglaubwürdig erscheinen ließe. Das Positive an dem verhaßten Reformer mußte daher als “Popularitätshascherei", als vorgetäuschter tarnender Schein gedeutet werden, hinter dem er ungestört seine dunklen, gegen Staat und Religion, gegen Volk und König gerichteten Schachzüge vorzubereiten oder vorzunehmen versuchte. In Wirklichkeit ist an Struensees Charakter nichts Zwielichtiges oder Zweideutiges. Sein tragischer Lebenslauf weist eine zielbewußte Geradlinigkeit ohne die geringsten Schwankungen oder Abweichungen auf, wobei die sozialmedizinischen Vorstellungen des Arztes und Schriftstellers aus Altona fast kongruent den späteren Reformen des Ministers in Kopenhagen entsprachen. Denn auch für Struensee war - wie bereits erwähnt - “die Politik weiter nichts als Medizin im Großen". Hatte sich während der Altonaer Zeit in dem jungen Arzt mit sozialethischen Zielen der politische Reformator geregt, so erwies sich später der Staatsmann mit den gleichen Zielen wiederum ganz als Arzt. Als Arzt, der es jetzt nicht mehr mit dem Körper eines einzelnen Individuums zu tun hatte, sondern mit dem Staatskörper. Und da er als Arzt erkannt hatte, daß die fortschreitende geistige Umnachtung des Königs, der diesen Staat repräsentierte, nicht mehr aufzuhalten war, versuchte er den völlig kranken Staatskörper zu heilen, indem er die Machtbefugnisse des Königs nach außen hin bis zum Absolutismus steigerte, dabei 23 24 aber vorgeblich im Namen der Majestät nach seinem eigenen Willen dekretierte und reformierte. BILD Die Grabinschrift auf Hartog Hirsch Gerson's Grabstein (Stele) auf dem Jüdischen Friedhofzu Altona (Königstraße) lautet: “ Wehe um den Gerechten, der in Treue lebte! O, Du Herrlicher, der Du auf der Höhe des Lebens standest. Tief warest Du in den Schacht der medizinischen Wissenschaft hinabgestiegen, wußtest den richtigen Maßstab an alle Leiden der Menschen anzulegen. Nur durch Dich gelang Heilung und Genesung von allen Krankheiten. Du erfreutest Leidende. -Sehet,IhrWanderer. Wer hier seine Ruhestätte gefunden! Lasset die Tränen fließen ob des gewaltigen Verlustes, denn hier ist hingesunken ein Fürst, ein Großer. Aberauch als Mensch war ergroß und übte Wohltun an allen Ecken und Enden. Es ist der berühmte Arzt Zebi Hirsch, Sohn des Arztes Dr. Gerson, gestorben 24. Kislew 5562" (29. November 1801 nach unserer Zeitrechnung). Die ersten acht Zeilen der Grabinschrift sind ein gereimtes Lobgedicht. Die Anfangsbuchstaben (v. r.) bilden ein Akrostichon: Hirsch Rofe (der Arzt Hirsch). Die Grabinschrift ist in deutsch, nur die Lettern sind hebräisch. BILD Die letzte (17.) Seite der von Struensee etwa 14 Tage vor seiner Hinrichtung in französischer Sprache verfaßten Denkschrift über König Christians Geisteszustand. Zu einer Zeit, als es noch keine Psychiatrie gab, hat er das Krankheitsbild seines Patienten so genau beschrieben, daß man anhand der Symptomatik retrospektiv die Diagnose Schizophrenie stellen kann. Reichsarchiv Kopenhagen (Frederik VI's arkiv 46: Struensee, Reg. 109, pg. 17). Seine überragende Intelligenz und enzyklopädische Bildung mit der genauen Kenntnis der sozialen Mißstände hatten ihn, den einstigen Armenarzt, für die längst fälligen Reformen geradezu prädestiniert. Er trieb die Reorganisation des komplizierten Staatskörpers in hektischer Eile voran, so daß sich die von ihm erlassenen Gesetze und Verordnungen geradezu überstürzten. Mehr als 1800 Kabinettsorder hat er in seiner kaum anderthalbjährigen Regierungszeit mit leidenschaftlicher Hingabe erlassen (99). Nur seine ungewöhnliche Arbeitskraft und sein Blick für tüchtige Mitarbeiter -deren bester wohl sein älterer Bruder Carl August Struensee, der spätere preußische Finanzminister war - erklären es, daß er in einer so kurzen Frist so viele Reformen durchführen oder in Angriff nehmen konnte. Erwähnt seien: die Verkündigung der Pressefreiheit, Einschränkung der bäuerlichen Frondienste als erster Schritt zur endgültigen Aufhebung der Leibeigenschaft, Abschaffung der Folter, Milderung der Strafgesetze, Beschleunigung des Geschäftsganges im Verwaltungsapparat, Verbot von “Sporteln" (Schmiergeldern), Verkündigung der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, Bekämpfung der Rangsucht, Regelung der Stellenbesetzung nach bürgerlichen Gesichtspunkten und Ausschließung unwürdiger Personen von Ämtern, Erweiterung der religiösen Toleranz, Aufhebung der kirchenpolizeilichen Aufsicht über die Sitten, Gleichstellung der unehelichen Kinder mit den ehelichen vor dem Gesetz, Reform des Schulwesens mit Abschaffung der Prügelstrafe, Reform der Universität mit der Absicht, statt Latein Dänisch als Unterrichtssprache in Kopenhagen einzuführen, Zulassung von Bürgerlichen an die Ritterakademie von Sejrö, Erlaß von Luxussteuern, Einschränkung von Luxus am Hofe, Auflösung kostspieliger Garderegimenter mit nur repräsentativem Zweck, Verbot der Getreideausfuhr und des Schnapsbrennens aus Roggen, Anlage von staatlichen Kornmagazinen zur Vermeidung von Wucherpreisen in 24 25 Notzeiten, Freigabe der Korneinfuhr für das südliche Norwegen, Erlaß der ersten dänischen Armengesetze, Reorganisation der Geburtshilfe und des Krankenhauswesens, gemeinsame Ausbildung der bis dahin unstandesgemäßen Chirurgen mit den Medizinern, Umwandlung unbenutzter Kapellen in Hospitäler, Errichtung einer Pockenimpfanstalt in Kopenhagen zur Intensivierung der Inokulation und einer Quarantäneanstalt am gleichen Ort zur Vermeidung der Seucheneinschleppung aus fremden Häfen, Bekämpfung der Kurpfuscherei, Fertigstellung einer dänischen Pharmakopöe, Gründung einer tierärztlichen Hochschule in Christianshafen, Verbot des Sklavenhandels in den überseeischen dänischen Kolonien (auf den Karibikinseln St. Thomas, St. Croix und St. Jan), Einsetzung des Stadtphysikus von Kopenhagen als erstem Beigeordneten des Bürgermeisters für städtehygienische Maßnahmen zur Vermeidung einer Boden-, Wasser- und Luft-Verseuchung, Reinhaltung und Beleuchtung der Straßen, Numerierung der Häuser usw. usf. Mit seinen Reformen, die nach seinem Sturz zum großen Teil wieder abgeschafft wurden, hatte Struensee auf unblutige Weise wichtige Maßnahmen der Französischen Revolution vorweggenommen. Seine gesetzgeberische Reformtätigkeit kommt einem wie eine sich atemlos steigernde und j äh abbrechende Fuge vor, deren meiste Themen allerdings schon während des kaum beachteten zehnjährigen Präludiums in Altona administrativ oder publizistisch angeklungen waren. Was Benedetto Croce einmal von Leonardo da Vinci sagte, trifft auch für Struensee zu: “Wie ein Simultan-Schachspieler ging er, von innerer Unrast getrieben, umher, um da und dort einen Zug zu machen, von denen so mancher wie eine Offenbarung wirkte, mußte dann aber die fast schon gewonnenen Partien mitten im Spiel abbrechen und stehen lassen." (100) Hätte sich Struensee mit seinen Erlassen direkt an das Volk, dem er doch helfen wollte, gewandt, wäre er in der Lage gewesen, sich auf breiter Basis einen Rückhalt zu schaffen. Doch infolge seiner deutschsprachigen Erlasse blieb er dem Volke fremd und ermöglichte es seinen Gegnern, mit Hilfe der “entfesselten Presse" ihn als “Verächter der dänischen Sprache" zu verteufeln. Dabei diente Deutsch in Dänemark schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts als Amtssprache. Deutsch war damals die Kommandosprache im Heer, deutsch die Geschäftssprache in den Kammern. Da man auch bei Hofe deutsch sprach, mußte sogar bei der Aufführung Holbergscher Komödien in der Hofloge des königlichen Theaters eine deutsche Übersetzung vorliegen. Es ist kennzeichnend, daß von der Hand Bernstorffs, der vor Struensee über zwanzig Jahre die Geschicke Dänemarks lenkte, auch nicht eine einzige Zeile in der Landessprache existiert (101). Die Gepflogenheit, Verordnungen in deutscher Sprache auszustellen, fiel bei Struensee nur deshalb so peinlich auf, weil er in den anderthalb Jahren seiner Amtszeit fast täglich drei und mehr Kabinettsordern erließ und diese in ihrer Auswirkung für die einst tonangebenden adligen und orthodoxen Kreise alles andere als angenehm waren. Obwohl Struensee den hohen Adel, der zum großen Teil deutsch war, keineswegs protegierte, gelang es seinen Feinden den lange vor seiner Ankunft latent angestauten Deutschenhaß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreise Kopenhagens auf ihn, ihren neu geadelten Kontrahenten, abzulenken, indem sie ihn, einen enzyklopädisch gebildeten Geist mit weltbürgerlich-humanitären Idealen, zum “Dänenfeind" stempelten (102). Diese absurde Behauptung vermag ein einziges Beispiel zu widerlegen: Bei der schon längst als notwendig empfundenen Reform des Kopenhagener Universitätsunterrichts ließ Struensee, wie bereits erwähnt, statt des üblichen Lateins gerade das Dänische als Sprache des Lehrvortrages einführen. In Wirklichkeit war Struensee ebenso wie auch die anderen großen Deutschen jener Zeit (Lessing, Wieland, Herder und Goethe) kein Chauvinist, sondern in seiner ganzen Bildung weltbürgerlich und gehörte mit ihnen zu den “besten Europäern", die es je 25 26 gegeben hat. Goethes Erklärung, warum er während der Freiheitskriege keine antifranzösischen Lieder schreiben konnte, gehört zu den edelsten Offenbarungen dieser geistigen Haltung: “Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß! ", sagte er am 14. März 1830 zu Eckermann. “Wie hätte ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdanke! Überhaupt ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und am heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man Glück oder Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet." Ähnlich empfand auch Struensee, der mit seinen Reformen - zunächst unter Deutschen (in Altona und Holstein) und dann auch in Dänemark dem Volke helfen wollte und dafür auf dem Schafott sterben mußte. Der französische Moralist Chamfort (1741-1794), der Struensee 1768 in Paris als Reisearzt des jungen Dänenkönigs kennengelernt hatte und vom Wahnsinn seines Souveräns nichts ahnte, präzisierte seine Enttäuschung nach der Hinrichtung des großen Reformers in einer rhetorischen Frage, deren trauriger Wahrheitsgehalt sich auch nach mehr als zweihundert Jahren um keinen Deut vermindert hat: “Wenn man bedenkt, daß dreißig bis vierzig Jahrhunderte Arbeit und Aufklärung zu nichts geführt haben, als daß dreihundert Millionen Menschen auf der Erde zum größten Teil einfältigen Despoten ausgeliefert sind, von denen wieder jeder einzelne von drei oder vier mitunter stupiden Schurken beherrscht wird - was soll man dann von der Menschheit denken, was in Zukunft von ihr erwarten?" (103) Struensee ist ein tragisches Beispiel dafür, daß ein Genie, mag es noch so hervorragend sein, nur dann zur Wirkung gelangt, wenn - um mit Hegel zu sprechen - “die Zeit reif ist und die Umwelt sich in einer Entwicklung befindet, die der welthistorischen Persönlichkeit die Gelegenheit bietet, ihr Wollen in die Tat umzusetzen." (104) ______________________________________________________________________ Anmerkungen und Schlußbemerkungen auf Seiten 28ff ANMERKUNGEN (1) Johann Friedrich Struensee, Versuch von der Natur der Vehseuche und der Art, sie zu heilen. Schleswig-Hollsteinische Anzeigen. Glückstadt 1764, Stück 7, Sp. 97-108. (2) Struensee (wie Anm. 1) Sp. 108. - Mit seiner Erwägung, “die Einpfropfung könne dieser Viehseuche nützlich sein, zumal ein Tier, so sie einmal überstanden, solche nicht widerbekommt", hat Struensee mit seherischem Scharfblick die erfolgversprechendste Art der Prophylaxe bei der Maul- und Klauenseuche angedeutet, die erst 180 Jahre später ernsthaft in Angriff genommen wurde: die aktive Immunisierung. Aus der gleichen Arbeit konnte ich ersehen, daß Struensee es nicht unter seiner Würde fand, verendete Rinder und Pferde zu sezieren, was bis dahin nur Schinder und Metzger getan hatten. - So wurden z. B. im benachbarten Hamburg noch 11 Jahre später “bei einer bedrohlichen, in der Umgegend herrschenden Viehseuche" - wie aus einem 26 27 Bürgermeisterprotokoll von 1775 hervorgeht - “für die veterinaerpolizeiliche Aufsicht zwei Schlachter aus Eppendorf in Eid genommen". (3) Stefan Winkle, Struensee und die Publizistik. (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 19), Hamburg 1892. - Im Altonaer Stadtarchiv fand ich seinerzeit auch Struensees Privatbibliothek, die er nach seiner unerwarteten Berufung als königlicher Reisearzt Anfang Juni 1768 bei dem Altonaer Apotheker Nebelung hinterließ, mit dessen Tochter er verlobt war. Darunter befanden sich nicht nur medizinische Werke, sondern auch Schriften von Montaigne, La Rochefoucauld, Voltaire, Rousseau, d'Alembert, Diderot, Swift, Rabener und Liscow. Aus Anstreichungen und Randbemerkungen in diesen Büchern konnte man entnehmen, was Struensee interessierte und wie er darüber dachte, was für mich sehr aufschlußreich war. - Von seinen vielen medizinischen Büchern, die ich in Altona fand, möchte ich nur das bedeutende Seuchenbuch von Fracastoro: De contagione et contagiosis morbis eorumque curatione libri III. Venet. 1546 erwähnen. Struensee hatte auf dem Umschlag handschriftlich nur den gekürzten Titel: “De morbis contagiosis" vermerkt. In der 1772 in Kopenhagen gedruckten Versteigerungsliste von dem bescheidenen Nachlaß des hingerichteten Struensee wurden namentlich 241 philosophische und medizinische Werke aus seiner dortigen Bibliothek angeboten. Unter Nr. 47 fand ich abermals den Titel “De morbis contagiosis". Er hatte es sich in Kopenhagen neu besorgt! (3a) Wie wenig man jedoch darüber wußte, was Struensee während seines zehnjährigen Wirkens in Altona als Arzt eigentlich getan und geleistet hat, geht aus dem abschätzigen Satz in Schlössers Dissertation hervor, mit dem er die Berufung des jungen Physikus im April 1768 zum königlichen Reisearzt als die entscheidende Zäsur in dessen Laufbahn kennzeichnet. “Was im Leben dieses Mannes vor dem genannten Zeitpunkt liegt, beschattet das Dunkel der Alltäglichkeit" (Rainer Schlösser, Struensee in der deutschen Literatur, Altona 1931, S. 1). Schlösser, der 1933 Reichsdramaturg wurde, hat, wie ich von dem Stadtarchivar Dr. Paul Th. Hoffmann erfuhr, über zwei Jahre an seiner Dissertation am Altonaer Stadtarchiv gearbeitet! Hoffmanns knapper Kommentar: “Der hat eben von Seuchenmedizin nichts verstanden." (4) Stefan Winkle, Johann Friedrich Struensee. Arzt, Aufklärer und Staatsmann. - Beitrag zur Kultur-, Medizin- und Seuchengeschichte der Aufklärungszeit. 658 Seiten. Gustav Fischer, Stuttgart 1983. 2. Aufl. 1989. (5) J. Fr. Struensee, Gedanken eines Arztes vom Aberglauben und der Quacksalberey. Gemeinnütziges Magazin 1760 (ohne Angabe des Erscheinungsortes), Stück II, S. 82. (6) J. Storch, Theoretische und praktische Abhandlungen von Kinderkrankheiten. Eisenach 1751, Bd. 4, S. 138. -Besonders schlimm waren die Zustände im Potsdamer großen Militärwaisenhaus, das einst vom Soldatenkönig - vor allem für die unehelichen Kinder seiner Grenadiere - gegründet worden war. Süßmilch, der einstige Feldprediger Friedrichs des Großen, schrieb gewissermaßen zur Rechtfertigung der dortigen Zustände in seinem medizinalstatistischen Standardwerk: “Ich habe mir sagen lassen, daß die Krätze im Pariser Findel- und Waisenhaus ihren ewigen Sitz aufgeschlagen habe." J. P. Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen 27 28 Geschlechtes. 3. Aufl. Berlin 1765, Bd. I, S. 113. - Auch dieses Buch befand sich in Struensees Altonaer Privatbibliothek. (7) Auch im benachbarten Hamburg waren die Verhältnisse nicht besser. Noch 1789 berichtet Krunitz, daß im dortigen “Pesthof" (der zwar seit der Epidemie im Jahre 1713 keine Pestkranken mehr beherbergte) “falls jemand zu später Stunde starb, dieser bis zum Morgen in seinem Bett blieb", und “in diesem Fall muß der Lebendige, der an demselben Bette Theil hat, entweder die ganze Nacht an der Seite des Toten liegen oder aufsitzen". (Ökonomischtechnologische Enzyklopädie. Hrsg. von dem Arzt Joh. G. Krunitz (17731798), Teil 47, S. 567 f.). Erst um 1770 erfolgte eine Absonderung der ansteckenden Fieberkranken von den übrigen Insassen des Pesthofes.Im “Pesthof", der mit 800-1000, zeitweise mit 1100 Personen belegt war, war die Luft in allen Sälen durch Nachtstühle verpestet, und da der ganze Gebäudekomplex von einem Graben umgeben war, in den sich sämtliche übelriechenden Abwässer entleerten, gewann man nichts, wenn die Saalfenster geöffnet wurden. (8) Altonaer Stadtarchiv, Abt. 36. KI.B.l. 12 fol. 18. (am 25. Juli 1943 verbrannt). - Von Anfang an war Struensee bemüht, die ihm anvertraute Institution aus einem “Hort der Caritas" in ein “Krankenhaus" umzugestalten, in das statt Sieche und Unheilbare, Kranke aufgenommen und behandelt werden sollten. Dabei berief er sich auf den Grundsatz des großen Sydenham: “Aegrorum nemo a me alias tractatus est, quarr egomet tractari toperem, si mihi ex iisdem morbis aegrotare contigeret." (“Niemand ist anders von mir behandelt worden, als ich behandelt sein möchte, wenn ich dieselbe Krankheit bekäme.") So forderte er u.a., die Kranken sollten vor der Aufnahme im Lazarett nicht nur “gewaschen und gesalbt", sondern auch mit sauberer Leib- und Bettwäsche versehen werden. Das Gleiche gelte auch für die Kinder im Waisenhaus. (9) Struensee, Gedanken eines Arztes vom Aberglauben (wie Anm. 5), S. 82. - Es ist gewiß kein Zufall, daß Struensee gerade in seiner Abhandlung “Vom Aberglauben und der Quaeksalberey" der Krätze einen so breiten Raum gewidmet hat, denn was über ihre Ätiologie in den verschiedensten Köpfen herumspukte, war purer Aberglaube und was therapeutisch unternommen wurde, nichts weiter als Quacksalberei. (10) Von unvernünftigen Curen der Krankheiten des gemeinen Mannes. “Der Arzt", Hamburg 1759. Zweyter Theil, 54. Stück, S. 294-295. - Wie allgemein dieses Vorurteil war, beweist auch eine Notiz Lichtenbergs, der sich zunächst für die Französische Revolution begeisterte, dann aber unter dem Eindruck des einsetzenden Terrors die Meinung vertrat, Frankreich sei toll geworden, “teils von verdorbenen Säften her und teils von den Heilmitteln, die man ihm verordnete, ohne die Krankheit gehörig untersucht zu haben. Man hat Exempel, daß Leute von einer übel behandelten Krätze toll geworden sind" (Paul Wiegler, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1930, Bd. 1, S. 490). (11) 28 29 Da die Pocken in den vergangenen Jahrhunderten so allgemein verbreitet waren wie noch unlängst die Masern, hielten viele Ärzte das Pockenexanthem für einen erforderlichen physiologischen Läuterungsprozeß, den jeder Mensch einmal durchmachen müsse, um aus seinen Säften die materia peccans zu eliminieren. Noch 1812 vertrat der angesehene Jenenser Kliniker Kieser (in seinen Vorlesungen über allgemeine Pathologie und Therapie) die Ansicht, daß Pocken-, Masern- und Scharlach-Exantheme “normale Entwicklungsvorgänge beim Kind" darstellten. Deshalb sei es “verwerflich", wenn man durch Impfung oder sonstige Maßnahmen “den Ausschlag zu verhindern oder unterdrücken" versucht, da er in solchen Fällen “zurückschlagen" und zu schweren “inneren Störungen" führen könnte. (12) Spezielle Nosologie und Therapie, nach dem System eines berühmten deutschen Arztes, hrsg. von Reinhard, Würzburg 1834-1836. - In einem Gespräch auf St. Helena, das Napoleons Generaladjutant Gourgaud in seinem Tagebuch unter dem 28. Januar 1817 notiert hat, berichtete der Kaiser mit beißendem Sarkasmus über eine ähnliche Erfahrung: “Wirklich, eine schöne Sache, die Medizin! In Wien (1809) hatte ich am Hals eine juckende Flechte, die mir viele Beschwerden machte. Ich ließ Johann Peter Frank kommen. Er versicherte mir, es sei gefährlich, die Flechte zu vertreiben, weil sie nach innen schlagen könnte; der Kurfürst von Trier sei infolge einer solchen Krankheit wahnsinnig geworden. Ich wartete, bis Corvisart (sein Leibarzt) kam. Er sagte mir: “Was? Bloß darum lassen Eure Majestät mich von Paris kommen? Ein bißchen Schwefel und die Flechte ist verschwunden. Und tatsächlich war ich in einigen Tagen vollkommen geheilt (Gaspard Gourgaud, Sainte Hélène. Journal inédit de 1815 à 1818. Paris 1899. Hrsg. von Grouchy u. Guillois). (13) Struensee Von der Einpfropfung der Blattern. Schleswig-Hollsteinische Anzeigen 1763, Stück 40, Seite 652 f. (14) Struensee, Gedanken eines Arztes von der Entvölkerung eines Landes. Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen. Hamburg 1763, Stück I, S. 14. (15) Goethe, Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 1. Buch. (16) Struensee, Von den Blattern und der Blattern-Einpfropfung. Gemeinnütziges Magazin 1760, Stück III, S. 164-165. (17) Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 165. - Heute ahnt man kaum, wieviel Menschen damals von den Pocken gezeichnet und für ihr Leben entstellt waren. Die Bilder der Fürsten und Vornehmen aus jener Zeit in unseren Schlössern und Museen sind nur allzuoft von den Malern idealisiert worden, so daß ihr in Wirklichkeit pockennarbiges Gesicht makellos erscheint. Wer weiß schon heute, daß Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven pockennarbig waren? In Steckbriefen aus der 2. Hälfte des 18. 29 30 Jahrhdts. wurde noch als besonderes Kennzeichen angegeben, daß der Flüchtige “nicht pockennarbig" sei. (18) Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 183. - 34 Jahre später (1794) hat Struensees Freund und Kollege aus Hamburg, Dr. Reimarus, in der Vorrede zu einem Pesttraktat den “Seuchenstoff" so charakterisiert: Das Merkzeichen, welches den Seuchenstoff von eigentlichen Giften auszeichnet, finde ich darin, daß sich die durch ihn erregte Krankheit im lebendigen Körper von einem zum andern fortpflanzt. Ich vermuthe daher, daß er (d. h. der Seuchenstoff) eine Art von feinem, lebendigen und sich vermehrenden Wesen ist." (“Herrn von Antrechauxs merkwürdige Nachrichten von der Pest in Toulon, übersetzt und herausgegeben von Baron Knigge. Hamburg 1794, S. 31, 32. (19) Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 185. (20) ebenda. (21) Struensee, Anmerkungen über die Gifte und ihre Arzneikräfte. Schleswig-Hollsteinische Anzeigen, Glückstadt 1764, Stück 43, Sp. 685. - Die für seine Zeit verblüffend modern anmutenden kontagionistischen Ansichten Struensees sind zweifellos durch die bereits um die Mitte des 17. Jhdts. einsetzende “Mikroskopierleidenschaft" bedingt, von der sogar sein Großvater mütterlicherseits, Dr. Johann Samuel Carl, nicht ganz verschont blieb. Dieser bedeutende Arzt, der als Lieblingsschüler des mit Leibniz korrespondierenden Hallenser Klinikers Ernst Stahl (1660-1734) galt, vollendete 1699 unter dessen Anleitung seine wertvolle Inauguraldissertation “Decorum medici". Darin beklagt er den Mangel an Krankenhäusern in Deutschland und verlangt zugleich, daß diese durch Angliederung von anatomischen Theatern, botanischen Gärten, chemischen Laboratorien und sonstigen wissenschaftlichen Einrichtungen vervollkommnet, der ärztlichen Ausbildung dienen sollten. Dies war ganz im Sinne von Leibniz, der sich seit seiner frühen Jugend der Bedeutung des Mikroskops für die medizinische Diagnostik bewußt war und daher dessen Anwendung für alle Untersuchungen des Harnes, des Blutes, des Speichels und “der anderen liquorum" forderte: “weil solches wird tausenderley Dinge entdecken machen, wird man in kurzer Zeit zu solchen Resultaten kommen, so alle bisherigen übertreffen" (Leibniz, Directiones ad rem medicam pertinentes. Hss. der Staatsbibliothek Hannover med.I.3). (22) Aus der Familie Gerson sind in Altona und Hamburg über mehrere Generationen hinweg tüchtige Ärzte hervorgegangen. In den beiden Nachbarstädten sprach man daher scherzhaft vom “Stamm der Gersoniden". Der Hamburger Physikus Dr. Gernet veröffentlichte in seinen“ Mitteilungen aus der älteren Medicingeschichte Hamburgs" (Hamburg 1869, S. 316) sogar einen kurzen Stammbaum der Gersoniden. Auch der erste Ordinarius für Venerologie und Dermatologie an der Hamburger Universität, Paul Gerson Unna (1850-1929) gehörte zu dieser ärztlichen Familie. (22a) Die Variolation, die den Effekt der “Infektionsübertragung" unbestreitbar erkennen ließ, machte Struensee bereits zu Beginn seines Physikats zum überzeugten Kontagionisten. 30 31 (23) Struensee, Von der Einpfropfung (wie Anm. 13), S. 651-652. (24) Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 186. - Genau 40 Jahre später äußerte der Arzt und Entomologe Jördens in Zusammenhang mit der Stubenfliege den gleichen Verdacht: “In der Pockenkrankheit sieht man sie zur Zeit der Abtrocknung beständig auf den stinkenden Blattern und Krusten herumirren und das Blattergift einsaugen. Unaufhaltbar durch alle Absonderungsmittel und Pockenhäuser wird also das Blattergift, blos durch die Stubenfliege, in ganz entfernte Gegenden verpflanzt, und dadurch erklärbar, wie Personen, die oft ganz abgesondert wohnen, auf einmal ganz unerwartet die Pocken bekommen können" (Johann Heinrich Jördens, Entomologie und Helminthologie. Hof 1801, 1. Bd. 1, S. 154). (25) Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 184. (26) 1769 schrieb Amtmann Jobst Böse in den Göttinger “Allgemeinen Unterhaltungen", daß sich in seiner Heimat (wahrscheinlich Holstein) solche Leute, die einmal Kuhpocken gehabt haben, “gänzlich schmeicheln, vor aller Ansteckung von unseren gewöhnlichen Blattern gesichert zu seyn." Der “Wandsbeker Bote" von Matthias Claudius berichtet, daß 1787 der Pächter Jensen auf Bockhorst bei Neumünster in Holstein fünf seiner sechs Kinder gemäß einer Familientradition mit Kuhpocken geimpft habe. Das sechste Kind, das bei der Impfung gerade nicht zu Hause gewesen war, erkrankte später an echten Pocken, steckte aber seine fünf geimpften Geschwister nicht an. (27) Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 189. - Nicht umsonst heißt es in Goethes “Zahmen Xenien": “Die Krankheit ist ein Kapital, wer wollte das vermindern?" (28) M. Schian, Über Prediger und die Medizin, Leipzig 1905, S. 63. - Besonderes Aufsehen erregte Struensees Entschluß, 1758 “alle noch nicht gepockten Waisenkinder zu belzen". (29) J. Ch. W. Juncker, Archiv der Ärzte und Seelsorger wider die Pockennoth. 7 Bände. Leipzig 1796-1798. (30) Struensee “Kurze Anweisung, wie man sich bey dem seit einiger Zeit im Schwange gehenden hitzigen Fieber zu verhalten hat" befindet sich im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv (Abt. 172, Nr. 553, fol. 5-11). (31) Struensee, Von den hitzigen Fiebern und wie man sich bey ihnen zu verhalten hat. Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück 1, S. 28. - Zwei erfahrene Seuchenhygieniker, die das Fleckfieber bereits während des Ersten Weltkrieges in Anatolien kennengelernt hatten, erklärten noch 1942: “Nehmen wir täglich Abwaschungen des Körpers vor, und leeren wir täglich den oft trägen Darm, so haben wir auch alles versucht, einen 31 32 Menschen dem Fleckfiebertod zu entreißen" (H. Zeiß und E. Rodenwaldt, Einführung in die Hygiene und Seuchenlehre. Stuttgart 1942, 4. Aufl. S. 250). (32) Struensee, Von den hitzigen Fiebern (wie Anm. 31), S. 29. (33) “Gedanken eines Arztes vom Aberglauben", (wie Anm. 5), S. 85. - Auch Pastor Süßmilch (der Pionier der Seuchenstatistik) berichtet vom plötzlichen Auftauchen der Diphtherie während des Siebenjährigen Krieges: “Dieses Übel zeigte sich im Jahre 1758 und 1759 auch hier in Berlin an Kindern, deren Eltern wegen der russischen Invasion hierher geflüchtet waren. Ich habe einen Auszug aus dem Kirchenbuch zu Messow, nicht weit von Crossen, gemacht. Innerhalb eines Jahres sind in einer einzigen Landparochie siebenundfünfzig Kinder daran gestorben ... Der böse Hals allein hat also in einem Jahr ohngefehr den zwanzigsten Theil der Einwohner weggerafft. Man schließe von dieser Dorfpfarre auf andere, so wird man leicht urtheilen, daß es vielleicht mehr als Tausenden das Leben gekostet ..." (Süßmilch, Die göttliche Ordnung. Berlin 1763, 3. Aufl., I. Teil, S. 528 ff.). (34) Gedanken eines Arztes vom Aberglauben (wie Anm. 5), S. 85. - Diese Schilderung erschien 16 Jahre später wortwörtlich ohne Quellenangabe in “Unzers medicinisches Handbuch" (Leipzig 1776, S. 234 f). - Als es 1764 in Frankfurt a. M. zu einer “Cynanche trachealis" genannten DiphtherieEpidemie kam, der auch Dr. von Bergens 6. Tochter zum Opfer fiel, ließ der Vater das vor ihrem Tode ausgehustete pseudomembranöse Röhrchen samt Verzweigungen in Kupfer stechen und seiner Krankheitsbeschreibung beifügen. (35) Der Talmud und die Arzneykunde. - Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück II, S. 103. - Beiläufig erwähnt Gerson, der die Nachfahren vieler einst aus Spanien nach Holland geflohener Glaubensgenossen kannte, daß die brandige Halsbräune" aufder iberischen Halbinsel “Garottillo" hieße, nach der “Garotte", dem Halseisen, womit dort die Todesstrafe durch Erdrosseln vollstreckt wurde. (36) Der Talmud und die Arzneykunde (wie Anm. 35), S. 105. - Dieses rituelle Speisegebot wurde aus z. Mos. 25, 3. und 5. Mose 14, 21 (“Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen") abgeleitet, wo der Genuß von Mischgerichten aus Fleisch und Milchprodukten verboten wird. Daher waren für den rituell geführten Haushalt zweierlei Töpfe, Geschirr und Bestecke erforderlich, streng getrennt für Fleisch- und Milchgerichte. (37) Gedanken eines Arztes vom Aberglauben (wie Anm.5), S. 85. Dadurch entfielen den Betroffenen die sich aus häufigen Beerdigungen ergebenden wichtigen Nebeneinnahmen. So beklagte sich z. B. einst aus Leipzig Johann Sebastian Bach in einem Brief vom 18. Oktober 1730 an seinen Jugendfreund, den “kaiserlich-russischen Agenten zu Danzig", Georg Erdmann: “Meine itzige Station beläufet sich auf etwa 700 Thaler, und wenn es etwas mehrere als ordinairement Leichen gibt, so steigen auch 32 33 nach Proportion di accidentia; ist aber eine gesunde Lufft, so fehlen hingegen auch solche, wie denn voriges Jahr (1729) an ordinairen Leichen accidentia über 100 Thaler Einbuße gehabt` (Johann Sebastian Bachs Briefe !Gesamtausgabe], Hrsg. v. Hedwig N.E.H. Müller von Asow. Regensburg 1950, S. 119. (38) Dabei erfuhr Struensee, daß Hartog Gerson der Enkel eines Amsterdamer Talmudisten war. Sein Vater David Gerson ließ sich nach beendetem Medizinstudium in Utrecht (1734) zuerst in Hamburg und dann in Altona nieder, wo er als heimlicher Spinozist mit seinem Gesinnungsgenossen Dr. Gottfried Polykarp Kuhnard befreundet war. Hartog Gerson war zwölf Jahre alt, als der aus dem Kerker entflohene heimliche Spinozist Johann Lorenz Schmidt unter dem falschen Namen Schröder in seinem Elternhaus Unterschlupf fand und dort 1742 Spinozas ,Ethik" zum ersten Mal ins Deutsche übersetzte. (Näheres hierüber in: Stefan Winkle, Johann Friedrich Struensee und das Judentum. Aus: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel-Aviv. Bd. XV, 1986, S. 55 ff. -Stefan Winkle, die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit. Beiträge zur Geschichte Hamburgs. Bd. 34, Hamburg 1988, S. 57 ff. (39) J. Fr. Struensee, Vom Ruhrgang und dem Faulfieber. Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück II, S. 95. -Struensees zahlreiche medizinische Abhandlungen waren Vorstufen zu dieser geplanten, infolge seiner Berufung nach Kopenhagen jedoch nicht mehr fertiggestellten medizinischen Topographie. (40) Auch Stockholm und Amsterdam galten mit den stagnierenden Gewässern ihrer Kanäle als Brutstätten des Typhus, und in Venedig kam noch die Malaria hinzu. Ein großer Teil des Hamburger Kanalnetzes wurde nach dem großen Brand 1842 im Zuge der Aufbau- und Sanierungsarbeiten mit dem Schutt zugeschüttet. Mit weiteren Fleeten geschah das gleiche infolge der Zerstörungen während des 2. Weltkrieges, insbesondere durch die Juli-Katastrophe von 1943 (“Unternehmen Gomorrha°). (41) “Die Fleete", berichtet der Hamburger Physikus Rambach noch 1801, “nehmen aus Gassen und Häusern eine Menge Unreinigkeiten auf . . . Wer an einem Fleete wohnt, darf es ungescheut zum Rezipienten seiner tierischen Ausleerungen machen und das thut auch ein jeder" (J. J. Rambach, Versuch einer physisch-medizinischen Beschreibung von Hamburg. Hamburg 1801, S. 48.) - Nach Rambach zogen die Hamburger das Fleetwasser dem besten Brunnenwasser vor: “Manche trinken sogar das in den Kanälen stehende Elbwasser, besonders aus denen, wo es sich mit dem Alsterwasser mischt, sehr gern, und finden trotz seiner mannigfaltigen Verunreinigung viel Geschmack daran. Zum Kochen und Brauen gebrauchen die Hamburger es ohne allen Ekel" (ebenda, S. 128). -Spöttelnd pflegte man darauf hinzuweisen, daß das im Mittelalter so berühmte Hamburger Bier, das zu den begehrtesten Ausfuhrartikeln der Hanse gehörte, seinen “unnachahmlichen Wohlgeschmack" einst direkt der “spezifischen Beschaffenheit des Fleetwassers" verdankte. Die Vorliebe der Brauer für dieses Wasser war auf dessen geringere Härte zurückzuführen, die eine leichtere Herstellung obergäriger Biere ermöglichte. Noch 1783 wetterte Johann Peter Frank gegen die Unsitte der Bierbrauer, hartes Wasser durch Beimischung von Kuhmist weich zu machen (J. P. Frank, System einer vollständigen medicinisohen Polizey, 3. Bd., 2. Teil, Mannheim 1783). 33 34 (42) Die liebevolle und rührende Heimatpflege schuf aus einem imbezillen Vertreter der Wasserträgergilde, den die Straßenjungen wegen seiner brummigen Wesensart mit dem Ruf “Hummel, Hummel!" zu hänseln pflegten, eine symbolische Gestalt, dessen Spitzname heute überall in der Welt instinktiv die Gedankenassoziation mit Hamburg auslöst. (43) Struensee, Vom Ruhrgang (wie Anm. 39), S. 95. - Die gleiche Meinung vertrat vier Jahrzehnte später auch Rambach: “In Hinsicht auf die Gesundheit", versicherte er, “steht Hamburg fast überall in einem übeln Ruf . . . Die vorzüglichsten Gründe, warum diese Meinung so allgemein ist, sind ... die Fleete und die elende Bauart unsrer Gassen ... Sehr viele Fremde werden in den ersten Wochen ihres Aufenthaltes krank ... Eine Art dieses Übelbefindens ist besonders häufig und wird von den Handwerksburschen die,Hamburger Krankheit' genannt. Ich habe sie bei solchen Ankömmlingen mehrmals beobachtet. Sie besteht in einem Fieber, dazu kömmt in den allermeisten Fällen ein Durchfall und ein unleidliches Kopfweh. Die Ursache dieses Übels scheint aber nicht in unserer Luft, sondern vielmehr in unserem Wasser zu liegen..." (Rambach [wie Anm. 41], S. 282-283). (44) Struensee hat als Pastorensohn mehr als andere das Lutherwort befolgt und dem Volk aufs Maul geschaut. Bei der Lektüre von Struensees Seuchenberichten, Denkschriften und Veröffentlichungen war ich immer wieder verblüfft über die vielen genau beobachteten Details, die von anderen übersehen wurden. Ich mußte an Goethes Mutter (die Frau Rath) denken, die von ihrem Sprößling einmal sagte: “Wenn mein Sohn Wolfgang von Frankfurt über den Main nach Sachsenhausen geht, erlebt und bemerkt er mehr, als wenn ein anderer eine große Reise macht." (44a) Struensee, Vom Ruhrgang (wie Anm. 39), S. 99. - Struensee, Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 186, s. Anm. 24. (45) Jonathan Swift, Gullivers Travels, London 1726. z. Buch, 3. Kap. (45a) “Gedanken eines Arztes über die Entvölkerung eines Landes". Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen, Hamburg 1763, Stück I, S. 18. (46) Struensee, Von der Lustseuche und was dagegen zu thuen sey, Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück III, S. 185. - Der Alkoholismus spielte damals in der Epidemiologie der Lues eine ähnliche Rolle wie heute die Drogensucht bei der Verbreitung von AIDS. (47) Struensee, Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 185. Als Armenarzt wußte Struensee nur zu gut, daß der Rausch für viele eine vorübergehende Flucht aus der Hoffnungslosigkeit des grauen Alltags ist, “ein Schluck aus der Lethe, um zu vergessen”. (48) Struensee, Von der Lustseuche (wie Anm. 461, S. 185. 34 35 (49) Struensee, Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 174. Den Terminus “Tripper" prägte 1711 Stranitzky aus der früheren altertümlichen Bezeichnung “Trüpfer", die noch den Begriff des Tröpfelns enthält. - Den Begriff des Tropfens findet man auch noch im französischen Vulgärnamen ja goutte militaire", der zugleich die weite Verbreitung beim Militär erkennen läßt. Die Bezeichnung “chaude-pisse" deutet auf das Brennen der Harnröhre beim Urinieren. (50) Struensee, Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 174. Fast die gleichen Sätze kommen einundzwanzig Jahre später in Johann August Unzers “Einleitung zur allgemeinen Pathologie der ansteckenden Krankheiten" (Leipzig 1782, S. 79) vor. Doch wirken die Ausführungen dieses alten Plagiators gegenüber Struensees eindeutig kontagionistischen Ansichten recht verworren, zumal er die Entstehung der ansteckenden Materie, die er Miasma nennt, noch ganz im humoralpathologischen Sinne auf eine Säfteverderbnis zurückführt. (50a) Eine Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten wurde erst in der bakteriologischen Ära mit Hilfe des Erreger- oder Antikörpernachweises möglich. (51) Als man z. B. 1770 den Berliner Chirurgen Joachim Friedrich Henckel dazu “beorderte", die Behandlung der Geschlechtskranken in der Charité zu übernehmen, versuchte er vergeblich, sich dieser “Zumutung" zu entziehen, indem er auf das Medizinaldelikt verwies, wonach es Chirurgen streng verboten sei, stark wirkende Medikamente wie Quecksilber innerlich zu verabreichen (Charité-Akten 114 No. 1, Vol. 2, fol. 180). - Abgesehen davon, daß er der “Malice gottverdammter Huren ausgesetzt" sei, erregte er sich vor allem darüber, daß ihn bei der so aufoktroyierten Tätigkeit ein Oberinspektor (Habermaas) dienstlich überwachen sollte. “Ich muß mich prostituiret sehen bey der Nachwelt", klagte er, “wenn man in einer Instruktion lesen wird, daß man auf mich Achtung geben soll, ob ich auch 2 mahle in der Woche die Charité besuche . . ." (Charité-Akten II 4 No. 1, Vol. 2 fol. 176). - Die berüchtigten und gefürchteten “Salivationsstuben", wo Geschlechtskranke im Rahmen einer qualvollen Quecksilberkur “täglich bis zu 4, ja sogar 6 Pfund speicheln" mußten, befanden sich im linken Flügel des II. Stockwerkes der damaligen Charité. (52) Wegen des eitrig-pustulösen Hautausschlages zu Beginn der Luespandemie bezeichnete man in Unkenntnis des venerischen Charakters der Krankheit in Deutschland das Übel zunächst einfach als “Blattern" oder “Pocken". Auch in England sprach man von “pokkes" (“pocks"), in Frankreich von “la vérole", während man die echten Pocken wegen der kleineren Pusteln “pétite vérole" nannte. Diese konfuse Terminologie (vérole = Syphilis; petite vérole = Pocken) verleitete den französischen Esprit oft zu recht zweideutigen Wortspielereien. Als z. B. in einem Pariser Salon erzählt wurde, daß eine Dame der Gesellschaft an “petite vérole" erkrankt sei, bemerkte der junge Voltaire: “Das wundert mich nicht, ich habe sie schon immer als sehr 35 36 anspruchslos gekannt." - Der Terminus “la vérole" hatte einen so anrüchigen Beiklang, daß er sogar noch 1877 in der Gesamtauflage des Voltaireschen Oeuvres nur mit den Anfangsbuchstaben und drei Pünktchen (v . . .) angedeutet wurde. (52a) Man vermutete, daß “die Pocken beim Lustsiechen", wie es noch 1670 der aus Hamburg stammende Anatom Rollfink definierte, “ein äußerliches Zeichen innerer Fäulnis sind", woraus sich auch die Antwort des ersten Totengräbers auf Hamlets Frage erklärt, “wie lange wohl einer in der Erde liegen müsse, eh' er verfault": “Meiner Treu! Wenn er nicht schon vor dem Tode verfault ist, wie wir denn heutzutage viele lustsiechen Leichen (“many pocky corpses") haben, die kaum bis zum Hineinlegen halten, so dauert es auch acht Jahre, bei einem Lohgerber kaum neun Jahre" (5. Aufzug, 1. Szene). (53) Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 179. - Bei dieser Gelegenheit besichtigte Struensee auch den Hamburger “Pesthof", der außerhalb der Stadtmauer lag. Besonders entsetzt war er über die “unmenschliche Behandlung" der Irren, die man dort oft in enge Tollkoben einsperrte. Sein Fazit: “In solchen Behausungen des Grauens kann wohl eher ein Vernünftiger zum Wahnsinn als ein Wahnsinniger zur Vernunft gebracht werden" (Struensee, Gedanken eines Arztes vom Aberglauben, [wie Anm. 5], S. 80). (54) Johann Jakob Rambach, Versuch einer physisch-medizinischen Beschreibung von Hamburg (Hamburg 1801, S. 419-421). Mit “Strafe" meinte Rambach “Strafe Gottes". (54a) Es war dasselbe Milieu, das Mephisto der Witwe Schwerdtlein in Zusammenhang mit dem Ende ihres lustsiechen Ehegatten so schilderte: “Ich stand an seinem Sterbebette. Es war was besser als von Mist, von halb verfaultem Stroh, allein er starb als Christ ..." (Goethe, Urfaust. 1773, Vers 805-806). (55) Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 175. (56) M. Schian, Über Prediger und die Medizin. Leipzig 1905, S. 43. - Peter Hessel, der seit 1671 Prediger am Pestlazarett vor den Toren Hamburgs war, wetterte in einer seiner Kapuzinaden auch gegen die Lues: “Was für ein Sündennest ist allein Hamburg! ... Es kompt nicht ungleich der Stadt Sodom und Gomorrha, davon Gott der Herr sagt: Es ist ein Geschrey zu Sodom und Gomorrha / das ist groß / und ihre Sünde ist schwer. / Eben daß mag der gerechte Gott / auch wol über Hamburg außruffen / darin Hurerey, Franzosen (Lues) und Mordthaten (an Neugeborenen) im vollen Schwange gehen ..." (Peter Hessel, Hertzfliessende Betrachtungen von dem Elbe Strom. Altona 1675). (57) Es gab Ärzte, die sich bei der Behandlung vermögender Luetiker in der geradezu alchimistischen Kunst übten, “Quecksilber in Gold zu verwandeln". Nicht umsonst ließ der Regimentsmedikus Schiller in seinem Erstlingswerk den Räuber Razmann erklären: “Ich kenne einen Dokter, der sich ein Haus aus purem Quecksilber gebauet hat" (Die Räuber, 1. Akt, z. Szene). 36 37 (58) So bezog z. B. der junge Voltaire (1714) in einem Couplet auf die Schauspielerin Duclos mit tändelnder Ironie deren Krankheit samt Quecksilberkur ein: “Belle Duclos! / Vous charmez toute la nature! / Belle Duclos, / Vous avez les dieux pour rivaux: / Et Mars tenterait l'aventure, / s'il ne craignait le dieu Mercure / Belle Duclos!" (“Schöne Duclos! Sie bezaubern die ganze Natur! Schöne Duclos, Sie haben die Götter zu Rivalen. Und Mars würde sich in das Abenteuer einlassen, fürchtete er nicht Gott Merkur, schöne Duclos!"). Voltaire, Oeuvres complètes. Garnier Frères. 1877, Bd. X. (“Poésies mêllées"), S. 471. (59) Struensee, Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 195. - Struensee, der kein Verständnis dafür hatte, “wenn zwey dasselbe thuen, es nicht dasselbe sey" (“Si duo idem faciunt, non est idem°), distanzierte sich ostentativ von der hier praktizierten Doppelmoral. , Es ist falsch zu glauben was die einen thuen, sey Galanterie, und was die anderen thuen, sey Unzucht. Es giebt nur eine Moral, wie es auch nur eine Geometrie giebt ` (Von der Lustseuche ... Op. cit. S. 196). (60) Diese an Abstinenz grenzende Zurückhaltung hatte die sauflustige Studentenschaft kleiner Universitätsstädte schon oft zu beschämenden Ausschreitungen gegenüber den “Enkeln Abrahams" gereizt. So zwangen z. B. betrunkene Hallenser Studenten einen alten Juden, sich mit Likör taufen zu lassen. Diese ruchlose Tat, einen Hilflosen in seiner menschlichen Würde zu erniedrigen, trug vielleicht dazu bei, daß Struensee schon als Jüngling die aus gelassenen Kneipereien mit dem Ziel, sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen, verabscheute. (61) Wozu ein Betrunkener fähig ist, verdeutlichte dem Volk der Bibel Noahs schamloses Verhalten (1. Mose 9, 21) und Lots blutschänderisches Vergehen (1. Mose 19,32-36). (62) Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 185. - Es ist gewiß kein Zufall, daß im Anschluß an die Abhandlung, in der Struensee die verderbliche Rolle des Alkoholismus in der Epidemiologie der Lustseuche besonders betont, in der gleichen Zeitschrift eine jüdische Parabel folgt, die vermutlich von Gerson beigesteuert wurde. Ihr kurzer Inhalt: Als Noah den Weinstock anpflanzte, kam Satan und schlachtete zunächst ein Schaf, dann einen Löwen, ferner einen Affen, schließlich ein Schwein und tränkte jeweils mit dem Blut die Wurzeln des Rebstockes. Daher sei der Mensch nach dem ersten Becher Wein zahm wie ein Lamm, nach dem zweiten Becher laut, auftrumpfend und gewalttätig wie ein Löwe, nach dem dritten geschwätzig und albern wie ein Affe und nach dem vierten unflätig wie ein Schwein, das sich im Straßenkot wälzt (Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück IIl, S. 192). (63) So berichtet z. B. Glückel von Hameln, daß sie (1657) im Alter von 12 Jahren verlobt und zwei Jahre später verheiratet wurde (Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen übersetzt von Alfred Feilchenfeld. 4. Aufl., Berlin 1923, S. 35). - Das Buch ist eine profunde Quelle zur Geschichte der deutschen Juden im 17. Jahrhundert. (64) 37 38 Das strenge Sittenleben im Ghetto hob sich kraß von der Promiskuität in der christlichen Umwelt ab. Struensee, der über eine ausgeprägte satirische Ader verfügte, hat den Voltaireschen Einfall einer bis Kolumbus zurückreichenden Lues-Infektkette in seinem “Candide"-Bändchen wegen ihrer kunterbunten Skurrilität seitlich angestrichen. Pangloß (alias Leibniz), der unerschütterlich an die beste aller Welten glaubt, berichtet dort über die Vorgeschichte seines Leidens: “Sie haben doch sicher die hübsche Zofe unserer erlauchten Frau Baronin gekannt? In ihren Armen habe ich alle Wonnen des Paradieses genossen, und diese wiederum sind die Ursachen der Höllenqualen, unter denen ich jetzt so entsetzlich leide. Sie hatte dieses Geschenk von einem hochgelehrten Franziskaner erhalten, der es von einer alten Gräfin hatte, die es ihrerseits von einem Rittmeister bekam; dieser wiederum verdankte es einer Marquise, die es von einem Pagen übernommen hatte; der aber hatte es von einem Jesuiten empfangen, welcher es noch als Novize von den direkten Nachkommen eines Gefährten von Christoph Kolumbus erhalten hatte . . ." (Voltaire, Candide, 4. Kapitel). - Den homosexuellen Ursprung des skurrilen Stammbaumes, der uns an die ursprünglich bekanntgewordene Infektkette von AIDS erinnert, hat Struensee mit der Randglosse “sic!" versehen. (65) Die Aufhebung der Ghettoschranken nach der Französischen Revolution, die Assimilation der Juden an das Bürgertum, äußerte sich mit allen Folgeerscheinungen, die der bürgerlichen Welt eigen sind. Frühehe und strenge Moral verschwanden, und auch die Juden machten mit der Trunksucht und der Prostitution ihre Bekanntschaft. Das Ergebnis war ein rasches Ansteigen der Geschlechtskrankheiten und die Abnahme der hohen Fruchtbarkeit in den jüdischen Familien. (66) Gedanken eines Arztes vom Aberglauben (wie Anm. 37), S. 85. - Auch Shylock warnte seine Tochter vor dem Vergnügen des venezianischen Karnevals: “Was gibt es Masken? Jessica, hör' an: Verschließ die Tür, und wenn du Trommeln hörst und das Gequäk der quergehalsten Pfeife, so klettre mir nicht an den Fenstern auf; steck nicht den Kopf hinaus in offne Straße, nach Christennarren mit bemaltem Antlitz zu gaffen stopfe meines Hauses Ohren – die Fenster, mein' ich, zu und laß den Schall der albernen Geckerei nicht dringen in mein ehrbar Haus. Bei Jakobs Stabe schwör ich, Ich habe keine Lust, zu Nacht zu schmausen." (W Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, z. Aufzug, 5. Szene) (67) Als enyzklopädisch gebildeter und von humanitären Ideen durchdrungener Rationalist dachte Struensee auch viel über das Unrecht nach, das Menschen wegen einer anderen Religion oder Hautfarbe zu erdulden haben. Bereits 1763 setzte er sich mit messerscharfer Ironie in seinem pseudotheologischen Traktat “Über die Seelenwanderung" für verfolgte Minderheiten (Juden und Indianer) ein: “Ich esse niemals Hummer, ohne mir dabey die Qual vorzustellen, in welcher sie ihr Leben geendigt haben. Aber sobald ich denke,daß es wahrscheinlicherweise Spanier in Mexico oder Inquisitoren zu Goa gewesen sind, esse ich sie ohne Beängstigung meines Gewissens. Ich vergnüge mich vielmehr dabey, indem ich mir vorstelle, daß ich den Seelen so vieler Millionen geschlachteter Indianer und armer verbrannter Juden ein 38 39 angenehmes Opfer bringe" (Struensee, Die Seelenwanderung. Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen, Hamburg 1763, Stück I, S. 30). (68) Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 194. - 1770 empfahl Basedow in seinem “Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker" aus pädagogischem Kalkül (“um den moralischen Belehrungen Nachdruck zu verleihen") jenen Weg einzuschlagen, den er einst mit Struensee im Hiobshospital eruiert hatte: “Ungefähr im fünfzehnten Jahr", so verlangte er, “sollte ein Knabe nach einer gewissen Vorbereitung mit seinen Eltern oder Aufsehern etlichemale ein Lazarett besuchen, wo die Hurer und Ehebrecher durch häßliche und höchst schmerzliche Krankheiten für ihre ehemals gering geachteten Sünden büßen." (69) Besonders anstößig fand man die “schlüpfrige Eintheilung der Pflanzen" in “bedecktsamige" (Angiospermen) und “nacktsamige" (Gymnospermen), deren Samenknospen nackt, d. h. nicht wie bei den bedecktsamigen Pflanzen in einem Fruchtknoten eingeschlossen sind. “Ein so unkeusches S-stem", schrieb ein Petersburger Botaniker 1774, “dürfe der studierenden Jugend nicht mitgeteilt werden". (70) Mederer war es übrigens auch, dem seine Freiburger Studenten eine Katzenmusik darbrachten und ihn verprügeln wollten, als er 1774 für die Vereinigung der Chirurgie mit der Medizin eintrat, weil sie darin eine “Herabwürdigung der Heilkunst" sahen (Paul Diepgen, Medizin und Kultur, Stuttgart 1938, S. 199). (71) Schian (wie Anm. 56), S. 43. - Fast mit den gleichen Worten verbot 1826 Papst Leo XII. den Gebrauch des Kondoms. Und was wir heute - in Anbetracht der AIDS-Gefahr und der Überbevölkerung in der hungernden Dritten Welt bezüglich der Ablehnung dieses infektions- und empfängnisverhütenden Mittels ex cathedra Petri zu hören bekommen, ist von einer erschreckenden Gedankenlosigkeit und wirkt wie ein “seuchenhistorisches Déjä-vu°-Erlebnis aus finsterster Vergangenheit. (72) Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 182-183. (73) Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 184. (74) Schleswig Holsteinisches Landesarchiv Abt. 112, Nr. 553, fol. 54-59. (75) Von den Blattern (wie Anm. 16), S. 188. (76) Joukowsky, St. Petersburger Zeitschrift 1872, Bd. 1, S. 73. (77) Wiener Medizinische Wochenschrift, 4. Juli 1868. (78) 39 40 E. Paschen, Die animale Vaccine im“ Handbuch der Pockenbekämpfung und Impfung°, hrsg. von O. Lentz und H. A. Gins. Berlin 1927, S. 364. (79) Altonaer Stadtarchiv, Abt. 36, KI B I 13 fol. I f. (verbrannt am 25. Juli 1943). - P. Th. Hoffmann, Struensee als Altonaer Stadtphysikus. Amtsblatt der Stadt Altona, 6. Jg. 1926, Nr. 14. (80) Winkle, Struensee (wie Anm. 4), S. 47-54. (81) Winkle, Struensee und die Publizistik, Hamburg 1982, S. 123-155. (82) Struensee, Gedanken eines Arztes von der Entvölkerung eines Landes. Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen. Hamburg, Juli 1763, Stück 1, S. 24. (83) Struensee, Von der Geburtshülfe, von den Schwangeren und den Säuglingen. Gemeinnütziges Magazin 1760, Stück 1, S. 28. (84) Struensee, Von der Lustseuche (wie Anm. 46), S. 95. (85) Ich habe oft an Struensee denken müssen, wenn ich diese Worte des “Unwetters aller Werte" las: “Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte ... Man muß nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängnis wird ... Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen niemand heute den Mut hat; den Mut zum Verbotenen ... neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten ... (Friedrich Nietzsche, Umwertung aller Werte. Aus dem Vorwort). (86) Näheres über die Schizophrenie des jungen Monarchen in meiner Monographie "Struensee, die Geisteskrankheiten und König Christians Leiden" im Hebbel-Jahrbuch 1980. Heide 1980, S. 97-175, sowie in verschiedenen Kapiteln meines Struensee-Buches (wie Anm. 4) von S. 87 bis S. 632. (87) Die Humanisierung der psychiatrischen Praxis scheint den jungen Physikus bereits in Altona interessiert zu haben, denn in einem seiner Lieblingsbücher, dem Gulliver-Band, hat er u.a. sogar eine Stelle angestrichen, die sich als Arbeitstherapie für Geisteskranke deuten läßt. Es handelt sich um die groteske Szene, da anläßlich Gullivers letzter Reise auf der Insel der Houyhnhnms (der klugen und edlen Pferde), wo die menschlichen Wesen, die Yahoos, als abstoßende, obszöne, affenartige Bestien geschildert werden, ein vornehmer Houyhnhnm Gulliver zu erklären versucht, wie man gegen eine Abartigkeit dieser verächtlichen Rasse vorgehen könne: “Bisweilen überfällt einen Yahoo eine absonderliche Laune; er verkriecht sich in einem Winkel, kauert sich zusammen, heult, stöhnt und jagt alle fort, die sich ihm nähern, obwohl er jung und wohlgenährt ist und ihm nichts abgeht an Speise und Trank ... Das einzige Mittel, womit diesem Übel abgeholfen werden konnte, war dies: man ließ ihn harte körperliche Arbeit verrichten. Alsdann kam er jedesmal unfehlbar wieder zur Besinnung. - Ich, (d. h. der 40 41 Mensch Gulliver) schwieg aus Parteilichkeit für mein eigenes Geschlecht. Doch konnte ich hier deutlich die wirklichen Hintergründe des Spleens erkennen, der nur die im Luxus lebenden Müßiggänger befällt. Würden diese zu derselben Kur gezwungen, so möchte ich mich für ihre Heilung verbürgen." (Jonathan Swift, Gullivers Travels. London 1726, 4. Teil (A Voyage to the Houyhnhnms), Kap. 7. Struensees Randbemerkung dazu lautete: “Gemüthskranke sollen unter Aufsicht zur Arbeit angeleitet werden, um sie von ihrem Leiden abzulenken." (88) In “Wilhelm Meisters Wanderjahren" schildert Goethe, wie die Handspinnereien in den Bergtälern vom Eindringen der Maschine bedroht wurden. An einer Stelle heißt es dort: “Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen" (3. Buch, 13. Kap.). Ähnliches dürfte auch Struensee empfunden haben, als er an der Peripherie von Manchester die krebsartig wuchernden Slums der Fabrikarbeiter und in den Betrieben selbst das Überhandnehmen der Frauen- und Kinderarbeit als Folge der zunehmenden Mechanisierung und Verelendung zu sehen bekam. (89) Leopold Mozart, der sich 1764 mit seinen beiden Kindern auf eine Konzertreise nach England begeben hatte, berichtete einem Freund, daß es in London 8659 Branntweinschänken gebe (Fred Hamel, Mozart. Berlin 1932, s. 19). (90) Jeder zehnte Einwohner von London lebte damals in irgendeiner Form als Dirne, Kellner, Zuhälter oder Wirt von der Prostitution, die geradezu industrielle Formen angenommen hatte. Die Macht des Sexualtriebes war stärker als alle Vernunft und Angst vor der Syphilis. Allein in England soll es damals etwa 5 Millionen Syphilitiker gegeben haben. (90a) Laut der neuesten Zahlen der WHO gibt es weltweit 10-12 Mio. HIV-Infizierte. Das Bundesgesundheitsamt schätzte unlängst die Zahl der Betroffenen bei uns auf 100000. Es handelt sich um eine folgenschwere Unterlassung, daß man jahrelang nicht den Mut hatte, auf eine tödliche Infektion, die überwiegend durch Geschlechtsverkehr übertragen wird, die entsprechenden Bestimmungen unseres Seuchengesetzes anzuwenden. Doch leider denken die meisten Politiker nicht an die nachfolgenden Generationen, sondern nur in Vierjahres-Dimensionen. Daher handeln sie stets im Sinne eines pervertierten kategorischen Imperativs, der da lautet: “Handle in jedem Augenblick so, daß wenigstens der Schein Deiner Handlungen Dich die nächste Wahl gewinnen läßt." (91) Die Charakteristik, die Shakespeare den Dänenprinz über sein Volk sprechen ließ, lautet: “Der schwindköpf'ge Zecher macht verrufen bei andern Völkern uns in Ost und West; man heißt uns Säufer, hängt an unsre Namen ein schmutzig Beiwort; und fürwahr, es nimmt von unsern Taten, noch so groß verrichtet, den Kern und Ausbund unsers Wertes weg" (Hamlet, 1. Aufzug, 4. Szene). 41 42 (92) Dem Durst der Dänen ging sogar Christians Schwager, der Landgraf Karl von Hessen, in seinen Memoiren mit einer erschütternden Schilderung auf den Grund, ohne allerdings die geschäftstüchtigen Hintermänner zu erwähnen. “Die seeländischen Bauern", berichtet er, “hatten kleine Pferde, denen im Winter fast nur Kräuter und Wurzeln als Futter dienten, kleine Karren, mit denen sie ein wenig Korn zum Markt nach Kopenhagen fuhren . . . Sie kamen auf den Markt, verkauften, liefen ins Wirtshaus, um sich zu berauschen fuhren betrunken und mit verhängtem Zügel ab, hielten aber pünktlich bei jeder Kneipe, mit denen die Landstraße alle Viertelstunden weit besäet war, um nicht aus dem einzig glückseligen Zustand, den sie kannten, herauszukommen" (Denkwürdigkeiten des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Kassel 1866). (93) Schon 1761 hatte Struensee geschrieben: “Das Vorurtheil, die Lustseuche mit Verachtung zu behandeln, statt Hülfe - und zwar ohne Geld - anzubieten, führet dazu, daß die Angesteckten durch Verheimlichung ihre Krankheit verschleppen und somit nur noch mehr Unheil anrichten. Daher sollte man in Gebäuden, die nicht unbedingt benöthiget werden, Hospitäler für Lustsieche einrichten" (Von der Lustseuche !wie Anm. 45], S. 192). (94) “Die Lustsiechen umsonst zu behandeln", polterte Pastor Münter von der Kanzel, “hieße der Immoralität Thür und Thor zu öffnen!" Unter dem Hinweis, daß die Portugiesen ihre Dirnen und Lustsiechen nach Brasilien verbannen, schlug er im Spätherbst 1771 vor, man möge die beiden Kirchen, die “zu einem Sündenpfuhl entweiht" wurden, räumen und die “verseuchte Canaille" endlich “nach Westindien (damals dänische Kolonie) verfrachten" (J. P. Harms, Die Prostitution in Hafenstädten. Hamburg 1885, S. 45). (95) Winkle (wie Anm. 81), S. 88 ff.). - Auch für die von Struensee erlassene Pressefreiheit gilt jene bittere Erkenntnis, die Lichtenberg später so definierte: “Was die wahre Freiheit am deutlichsten charakterisiert, ist der Mißbrauch derselben" (Sudelbuch-Notiz, Heft L, 402). (96) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Einleitung zu “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte". - H. H. Glockners Jubiläumsausgabe 1927, 11. Bd., S. 59. - Schon Goethe hat sich über die Weisheit: “Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden" tüchtig geärgert und spöttisch erklärt, daß dieses immer nur die Schuld des Kammerdieners wäre, “der über das Allzumenschliche seines Herrn, das er täglich aus der Froschperspektive sieht, größenblind geworden" ist. “Vom ganzen Achilles sieht er nur die Ferse." (P. Wiegler, Goethe in Briefen und Gesprächen. Leipzig 1929, S. 59). (97) Als die Königin am 2. Juli 1771 eine Tochter zur Welt brachte, munkelte man, der Vater sei Struensee. Es war Prinzessin Luise Augusta, die Urgroßmutter der letzten deutschen Kaiserin. Sie wurde in Kopenhagen allgemein “Prinzessin Struensee" genannt. “Ich habe nie etwas müßiger gefunden", schreibt der einstige Reichskanzler Bülow, “als solche recherche de la paternité. Nicht nur, weil ein solches Herumschnüffeln widerwärtig ist, sondern auch, weil wir vor Gott alle gleich sind. Das war übrigens auch die Ansicht des Kaisers, der mir einmal eine hübsche Äußerung seiner Tante, der Prinzessin Henriette von Schleswig-Holstein-Sonderburg -Augusten-burg erzählte ... Als sie einmal wegen ihrer 42 43 angeblichen Abstammung von Struensee gehänselt wurde, erwiderte sie: ,Ich will lieber von einem gescheuten Arzt abstammen als von einem vertrottelten König: Kaiser Wilhelm IL fand diese Antwort ausgezeichnet." (Bernhard Fürst von Bülow. Denkwürdigkeiten. Berlin 1923, Bd. 1, S. 67). (98) Trotz Warnung seiner Freunde wollte sich Struensee auch in der großen Politik der für das Privatleben gültigen Ethik bedienen und blieb somit auf verhängnisvoll unpolitische Weise tolerant gegenüber der Intoleranz. “Denn zwischen dem Leben, wie es ist und wie es sein sollte", erklärte schon Machiavelli, “besteht ein gewaltiger Unterschied. Wer daher das, was man tut, mit dem verwechselt, was man tun sollte, wird eher seinen Untergang als seine Erhaltung bewirken. Ein Mensch, der immer nur das Gute tun will, muß zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind" (Niccolo Machiavelli, Il Principe, 15. Kap). (99) H. Hansen, Kabinetsstyrelsen i Danmark 1768/72. 3 Bände. 1916-1923. (100) B. Croce, Leonardo filosofo. Milano 1919, S. 19. (101) Als Folge des Eindringens deutscher, vor allem holsteinischer Adliger in die höheren Hof- und Regierungsstellen begann man den Begriff adlig" mit deutsch und “bürgerlich" mit dänisch gleichzusetzen. Und so wuchs im Laufe der Zeit in bürgerlichen Kreisen Dänemarks ein unterschwelliges Ressentiment gegen alles Deutsche, weil man deutsch gewissermaßen als die Sprache einer fremden Herrenkaste betrachtete. (102) Bei der Hetzkampagne gegen Struensee mußte ich immer an eine Bemerkung Lichtenbergs von zeitloser Aktualität denken: “Ich möchte was darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden." (103) Schon damals konnte man von jener verhängnisvollen Entwicklung etwas ahnen, die anderthalb Jahrhunderte später bei uns mit bestürzender Präzision begann und deren Wegrichtung der hellsichtige Grillparzer so vorausgesagt hat: “Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität". (104) A. Bäumler, Hegel. Leipzig 1927, S. 39. - So ist z. B. die kometenhafte Laufbahn eines Napoleon nur dann verständlich, wenn man weiß, daß durch die Ideale der Französischen Revolution und ihre Ausstrahlung auf das französische Bürgertum und Heer j jedem Grenadier bei geeigneter Tapferkeit und geistiger Fähigkeit ermöglicht wurde, von dem Marschallstab, den er - nach Napoleons Worten - in seinem Tornister trug, Gebrauch zu machen. Einige Jahrzehnte vorher, als die höhere Offizierslaufbahn noch ein ausschließliches Privileg des Adels war, hätten dem körperlich unscheinbaren 43 44 Korsen weder seine persönliche Kühnheit noch seine glänzenden strategischen Fähigkeiten viel geholfen. Als Napoleon nach einem Siegeslauf sondergleichen mit seinen Armeen in zwei gesellschaftlich rückständige Imperien (Spanien und Rußland) eindrang, wo es noch kein aufgeklärtes, selbstbewußtes Bürgertum gab, “war es, als sei er in ein Vakuum gestoßen: die Ideen der Französischen Revolution, anderswo begierig aufgegriffen, blieben hier ohne Resonanz" (Alexander Herzen, Russische Zustände. Leipzig 1854, S. 41). 44