Im „Long Tail of Politics“: Zum politische Potential des Internet für

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Die Integration der Muslime und die Entstehung eines
europäischen Islam1
Jonathan Laurence
Ein vergleichender Blick auf den politischen Umgang mit religiösen Konflikten
in verschiedenen europäischen Staaten lässt ein vorsichtig optimistisches Zwischenresümee im Hinblick auf die erfolgreiche Inkorporierung muslimischer
Minderheiten in Europa zu (vgl. Laurence 2012). Es zeigt sich aber auch, dass
die Präsenz muslimischer Gemeinschaften die historisch gewachsenen Beziehungen von Staat und Gesellschaft in Europa nachhaltig beeinflusst hat. Die Art
und Weise, wie diese Beziehungen neu verhandelt werden, zeigt, wie Regierungen, die darum bemüht sind, neue Gruppen in ihre politische Strukturen einzubinden, immer wieder mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Schwierigkeiten
konfrontiert werden. Für die europäischen Staaten ergibt sich ein komplizierter
Balanceakt zwischen den Interessen der Regierungen der Herkunftsländer, auf
deren Hilfe sie lange Zeit angewiesen waren, einerseits und den Interessen der
muslimischen Gemeinschaften andererseits, deren Fragmentierung und mitunter
unerfüllbaren Forderungen lange Zeit einfachen Lösungen im Wege standen. Die
Analyse des historischen Prozesses, bei dem verschiedene Regierungen in Westeuropa immer wieder versucht haben, institutionelle Lösungsansätze zu entwickeln, macht die ganze Komplexität dieser Problematik nur zu deutlich.
In den Jahren zwischen 1990 und 2010 haben verschiedene Regierungen in
Europa dann zum ersten Mal ernsthaft den Versuch unternommen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die 16 Millionen Muslime, die den Kontinent
nunmehr als ihr zu Hause bezeichnen, zu integrieren. Dabei waren die Beziehungen zwischen dem Staat und den Moscheegemeinden von besonderer Bedeutung,
weil diese ersten institutionellen Bezüge mit den religiösen Gemeinschaften den
Grundstein für eine langfristige politische Integration legen. Würde man diesen
oft transnationalen religiösen Netzwerken keinerlei Beachtung schenken – wie
Der Artikel stellt eine Übersetzung des Schlusskapitels „Muslim Integration and European Islam in
the Next Generation” des Buches “The Emancipation of Europe’s Muslims – the State’s Role in
Minority Integration” von Jonathan Laurence, Princeton University Press, 2012, dar (S. 245-272).
Wir danken der Princeton University Press für die freundliche Erlaubnis zur erneuten Veröffentlichung. Übersetzung: Nils J. Schröder und Uwe Hunger.
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Jonathan Laurence
dies in der frühen Phase des „Outsourcing“ der Staat-Islam-Beziehungen durchaus der Fall war – so kann dies tatsächlich eine Gefahr für den Staat und die
Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung darstellen. Aber durch die
Bemühungen, den Islam zu inkorporieren und in die jeweiligen, nationalen
Strukturen einzubinden, haben die europäischen Staaten damit begonnen, mit zu
beeinflussen, auf welche Art von Islam die nächste Generation der Muslime in
Europa treffen wird – ob sie ihre Religion aus rein spirituellen Gründen ausüben
oder sie als Ausdruck ihrer Abkehr von der europäischen Gesellschaft nutzen, ob
sie einfach neugierig auf ihre kulturellen Wurzeln sind oder ganz einfach familiäre Traditionen fortführen. Die Regierungen haben inzwischen ihre langjährige
Laissez-faire-Strategie gegenüber dem Islam in Europa gründlich überdacht und
sich mit den unintendierten Implikationen, die diese Politik innerhalb der Einwanderbevölkerung hatte, auseinandergesetzt; allerdings erst als klar war, dass
diese Bevölkerungsgruppen nicht mehr „nach Hause“ zurückgehen würden und
ihre Netzwerke von Botschaften und Nichtregierungsorganisationen, deren religiöse und missionarische Aktivitäten über 15 Jahre unkritisch toleriert wurden,
sich stärker als erwartet verfestigt hatten. Aber diese anfängliche Strategie, den
Islam ganz aus der öffentlichen Sphäre herauszuhalten und den Umgang mit der
Religiosität der Einwanderer auf rein diplomatischer Ebene zu regeln, stand einer
umfassenden Integration der Muslime eindeutig im Wege. Je mehr sich der Islam
als identitätsstiftender Faktor für die Nachfolgegenerationen der ursprünglichen
Arbeitsmigranten herauskristallisierte, desto mehr nahmen die nationalen Regierungen eine aktivere Rolle ein.
Nach zwei Jahrzehnten intensiver Debatten über Kopftücher, islamischen
Radikalismus und Terrorismus wurde nunmehr ein vorläufiges Gleichgewicht in
der Beziehung von Staat und Islam erreicht. So wurde eine grundsätzliche religiöse Gleichbehandlung erzielt und die Grenzen religiöser Toleranz umrissen, auch
wenn sie hier und dort immer wieder ausgetestet werden. Durch eine Vielzahl
von Maßnahmen hat sich die Integration insgesamt verbessert. Europäische Muslime heiraten Partner mit anderer Religion, steigen sozial auf, haben in zunehmendem Maße Zugang zu höherer Bildung, nähern sich in ihren Ansichten dem
allgemeinen öffentlichen Meinungsbild an und „kombinieren“ ohne große
Schwierigkeiten Aspekte ihrer religiösen und nationalen Identität (PEW 2005;
Laurence und Vaisse 2006). Frühere Spannungen im Zusammenhang mit Moscheebauprojekten und islamischen Friedhöfen konnten durch eine verbesserte
Kommunikation zwischen Staat und muslimischen Gemeinden gelockert werden. Es kommt zwar ohne Zweifel weiterhin zur Diskriminierung von Muslimen
in den Aufnahmegesellschaften wie es auch weiterhin religiösen Fundamentalismus und Anomie unter Muslimen gibt. Aber viele der sozialen Benachteiligungen, unter denen junge Muslime leiden, scheinen eher Ausdruck der typi-
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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schen Problemstellungen von Neuankömmlingen in einer Gesellschaft zu sein als
spezifisch mit der Religion zusammenzuhängen.
Der organisierte Islam in Europa ist allerdings nach wie vor weitgehend eine aus dem Ausland geförderte und gesteuerte Angelegenheit. Es gibt zwar eine
zunehmende Zahl an eingebürgerten Verbandsvertretern, aber die religiösen
Führer aus der ersten Generation und ausländische Diplomaten überwiegen.
Insofern wurde der Staffelstab der organisatorischen Führung noch nicht an die
in Europa geborene Generation übergeben. Dies stellt einen zentralen Faktor für
die nur teilweise Emanzipation der Muslime dar. Es führt auch dazu, dass in der
öffentlichen Wahrnehmung der Islam weiterhin als fremde Religion gesehen
wird. Fortschritte in anderen Bereichen werden geschmälert, indem alle möglichen ungelösten religiös-kulturellen Zwistigkeiten den Muslimen erfolgreich als
Gruppe zugeschrieben werden. Der Fortschritt bei den Staat-Islam-Beziehungen
und die Einbindung muslimischer Verbände tragen dazu bei, dass die Zweifel an
der Loyalität und den Absichten von Muslimen langsam schwinden.
Die Prinzipien der religiösen Anpassung in Europa wurden zunächst durch
eine Art de-facto Klerus aus den Herkunftsländern entwickelt, inzwischen sind
aber auch europäische religiöse Autoritäten daran beteiligt. Diese neuen Institutionen haben moderne Lesarten des Islam hervorgebracht, die es ermöglichen,
religiöse Praktiken im Rahmen neuer Theorien zum islamischen Minderheitenrecht (fiqh al-aqillayat) zu legitimieren. Europäische Fatwas haben dazu geführt,
dass sich die Vorstellungen westlicher Muslime über religiöse Pflichten und
deren Implikationen nach und nach verändert haben. Ihre Anpassung des islamischen Rechts an die lokalen Gegebenheiten liefert Orientierung in einer ungewohnten sozialen und politischen Umgebung und hat zur Akzeptanz und Rechtfertigung von sonst nicht gebräuchlichen Praktiken beigetragen: So wurden Gebetszeiten an die Arbeitszeiten einer Industriegesellschaft angepasst, das Opferschaf durch wohltätige Spenden ersetzt, Hypotheken aufgenommen und die Vorschriften des Kopftuchtragens gelockert.
Pragmatische Anpassung bedeutet natürlich nicht notwendigerweise theologische Reform, aber jede Lockerung hat Implikationen für die universelle Praxis
der islamischen Ummah. Trotz der regelmäßigen Versicherungen, dass die europäischen Fatwas sich nur auf die muslimischen Minderheiten beziehen, haben
diese Neuerungen doch eine fundamentale Änderung der Beziehungen der muslimischen Diasporagruppen zu ihren jeweiligen religiösen Autoritäten geführt,
die ihnen jeweils ein umfassendes Weltbild geboten hatten – vom marokkanischen Befehlshaber der Gläubigen, über das Präsidium für Religionsangelegenheiten der Türkei bis hin zu den saudischen religiösen Autoritäten. Nunmehr
führt jeder Akt der Anpassung und Akklimatisierung in Europa zu einer Schwächung der Beziehungen zwischen den Zentren religiöser Autoritäten und ihrer
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Jonathan Laurence
Peripherien. Dabei haben sich die muslimischen Religionsführer mehr als offen
gezeigt, in Verhandlungen mit lokalen Autoritäten einzutreten, um so die Voraussetzungen für eine freie Religionsausübung zu verbessern. Dies alles zusammengenommen kann dazu beitragen, dass nativistische Gegenbewegungen in
Europa abgeschwächt werden, indem Entwicklungen, die in Richtung einer lokalen Anpassung und Einbindung gehen, vor Augen geführt werden, wie eine lokale Imamausbildung, die Führerschaft von Moscheevereinen durch Einheimische
und lokal finanzierte Moscheen. Die Lösung der Vielzahl ganz praktischer – wie
etwa die Parkplatzknappheit in der Nähe von Moscheen, das notdürftige
Schlachten in der eigenen Badewanne in Ermangelung von öffentlich zugänglichen Halal-Schlachthäusern, ein gewisser Bekehrungseifer in Gefängnissen aufgrund eines Defizits an geschulten, muslimischen Seelsorgern – würde dabei
helfen, die Spannungen abzubauen, die oftmals auch nur wegen einer unzureichenden religiösen Infrastruktur entstanden sind. Selbst der Bau von islamischen Friedhöfen stellt ein klares Zeichen dar, dass die Führung der Gemeinde
davon ausgeht, dass die wahre Heimat gerade nicht an einem anderen Ort ist.
Ein Meinungsartikel in der Tageszeitung Die Welt aus dem Jahr 2004 richtete sich gegen ein „Appeasement in seiner groteskesten Form“ von Seiten der
Regierung inmitten „der eskalierenden Gewalt islamistischer Fundamentalisten
in Holland und anderswo“ (Matthias Döpfner: „Europa, dein Name ist Feigheit“,
Die Welt vom 20. November 2004). Was war nun der naive und „feige“ Fehler,
den der Autor mit Neville Chamberlains vergeblichen Versuch verglich, die
Naziaggression abzuwehren? „Appeasement in seiner groteskesten Form ist es
schließlich auch, wenn man auf die eskalierende Gewalt islamistischer Fundamentalisten in Holland und anderswo mit dem Vorschlag reagiert, in Deutschland doch einen muslimischen Feiertag einzuführen“ schrieb Matthias Döpfner
schrieb dies in Bezug auf den Vorschlag, Eid al-Adha in den offiziellen deutschen Kalender aufzunehmen. Dabei ist er in seiner negativen Einschätzung
hinsichtlich der institutionellen Anerkennung des Islam nicht der Einzige; andere
haben Besorgnis geäußert, dass der Konsultationsprozess zwischen Staat und
Muslimen das Risiko birgt, zu einer Politisierung der muslimischen Selbstverständnisses beizutragen. Gleichzeitig wurde die Kritik geäußert, dass die IslamRäte – und die Institutionalisierung, die damit einhergeht – nicht mehr als ein
fehlgeleiteter Versuch seien, eine offizielle „muslimische Kirche“ (Rabasa et al.
2004) zu schaffen. Der Washingtoner Think-Tank RAND veröffentlichte einen
Bericht, in dem er zu den Risiken der französischen Strategie anmerkte: „Die
Aufwertung solcher Organisationen zu offiziellen Institutionen der Minderheiten
ist negativ, weil es die Integrationschancen verschlechtert […], wenn staatliche
Bemühungen für die Schaffung einer nationalen, muslimischen Kirche schief
gehen und man statt einer moderaten Kirche, die der Staat im Sinne hatte, eine
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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fundamentalistische Führung bekommt. Dieses zweite Risiko ist nicht unwahrscheinlich“ (Rabasa et al. 2004). Christopher Caldwell mindert die Etablierung
der Staat-Islam-Beziehungen herab als „die Emporhebung von muslimischen
Interessengruppen in einen pseudo-staatlichen Status einhergehend mit der Verkündung, dass auf diese Weise der Islam die Werte Europas widerspiegelt und
nicht andersherum“ (Caldwell 2004). Der Führer der Rechten in Frankreich,
Jean-Marie Le Pen, hat eine vergleichbare Erklärung veröffentlicht zu der „Legitimisierung des radikalen Islam durch die Einsetzung des CFCM“ (Le Monde
vom 17. März 2003; CFCM steht dabei für conseil français du culte musulman);
die Parteizeitung der Front National fügte eine Schlagzeile ein, wonach „Sarkozy
die Islamische Republik Frankreich durch Einführung eines französischen Islam
vorbereitet“ (National Hebdo, 9. Januar 2003).
Die Fakten sprechen jedoch ganz eindeutig gegen die Vorstellung, dass die
offizielle Anerkennung des Islam gleichbedeutend mit einer AppeasementPolitik wäre oder dass die institutionelle Einbindung ein Nachgeben gegenüber
religiösen Radikalen darstellt. Vielmehr stellt die zweite Phase der Einbindung
und Institutionalisierung eine Art Vertrag zwischen den muslimischen Vertreten
und dem Staat dar, aus dem eine wechselseitige Anerkennung hervorgeht. Ich
würde sogar sagen, dass die Staat-Islam-Konsultationen während dieser zweiten
Phase der „Inkorporisierung“ eine Bestätigung der europäischen, politischen
Tradition der Integration darstellen und keine Abkehr von ihr sind.
Vieles spricht dafür, dass politische Entscheidungsträger davon ausgehen,
dass die öffentliche Anerkennung von religiösen Bedürfnissen und muslimischen
Repräsentanten zu einer Entspannung der Beziehungen zwischen den muslimischen Gemeinschaften und dem Staat führen wird. Aber diese verbesserten Beziehungen werden nicht durch einseitige Zugeständnisse erreicht. Wenn die verbesserten Staat-Islam-Beziehungen die westlichen Regierung auch nicht vor dem
„Zorn fanatischer Islamisten“ verschonen werden, so schaffen sie doch zumindest eine Gesprächsplattform für einen Dialog mit den verschiedensten muslimischen Führungspersönlichkeiten, gerade in Zeiten von Krise und Konflikt. Ebenso werden Anschuldigungen einer bewussten Ungleichbehandlung, die oft als
Beweis für die Ausgrenzung von Muslimen in westlichen Gemeinschaften benutzt werden, entkräftet. In der Tat könnte man argumentieren, dass die Nichtbeachtung muslimischer Feiertage vielmehr den „Fanatikern“, die Döpfner im
Kopf hat, nutzt, da sie auf ein antagonistisches Verhältnis von Islam und Westen
geradezu angewiesen sind, um für ihre Sache zu werben.
Indem sie förmliche, religiöse Gemeindestrukturen fördern, unterstützen die
Regierungen gleichzeitig die Entwicklung eines offenen und transparenten Islam: sei es durch die Ausbildung von Imamen vor Ort anstatt des Imports aus
den Herkunftsländern der Gläubigen, durch die Überwachung der Geldbewegun-
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Jonathan Laurence
gen im Zusammenhang mit Halal-Schlachtbetrieben oder die Unterstützung von
Moscheebauprojekten (Klaussen 2005). Der Erfolg dieses Ansatzes basiert auf
der Annahme, dass Regierungen, die es schaffen, zwischen den muslimischen
Vertretern Konsens hinsichtlich praktischer Fragen – wie etwa der Einsetzung
muslimischer Geistlicher in Gefängnissen oder der Ausbildung von Lehrern für
islamischen Religionsunterricht – zu erzielen, auch auf die Schaffung eines moderaten Islams hinwirken. Natürlich werden die Moscheegemeinden und Verbände, aus denen sich das muslimische Führungspersonal rekrutiert, nie die Gesamtheit der gläubigen Muslime oder sogar aller Personen mit einem muslimischen Hintergrund repräsentieren. Die öffentliche Anerkennung trägt aber zu
einer Entproblematisierung des Islams als Gegenstand politischer Debatten bei.
Durch die institutionelle Einbindung des Islam fördern die staatlichen Autoritäten eine „Verwestlichung“ religiöser Praktiken (Roy 2002).
Die erste Phase des „outsourcing“ der Staat-Islam-Beziehungen war
dadurch gekennzeichnet, dass die europäischen Innenministerien kaum ihren
Einfluss geltend gemacht haben. Die zweite Phase der Staat-IslamKonsultationen hat dagegen einen ehrgeizigen Prozess eingeleitet, der darauf
abzielt, den Einfluss der Botschaften der Entsendeländer zu beschränken und
gleichzeitig die Vertreter des politischen Islam an den Verhandlungstisch zu
holen. Den europäischen Regierungen geht es nicht nur darum, einen Dialog mit
muslimischen Vertretern anzuregen oder gar eine Appeasement-Strategie zu
verfolgen; sie versuchen vielmehr, die muslimische Verbandslandschaft zu formen und an den Vorgaben des zentralisierten Nationalstaates auszurichten. Das
Angebot der öffentlichen Anerkennung des Islam wird von der Bedingung abhängig gemacht, dass die Verbände als Gegenleistung den Staat und seine verfassungsmäßige Ordnung anerkennen.
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Neokorporatismus und Staat-Islam-Beziehungen
Die europäischen Regierungen haben diesen Prozess der „Zähmung“ durch ein
tripartistisches Arrangement (Staat – politischer Islam – offizieller Islam der
Botschaften) vorangebracht, wie es auch für neokorporatistische Verhandlungen
charakteristisch ist; diese zielen ebenfalls darauf ab, Einigkeit, Kohäsion und
Mäßigung in die Beziehung von Staat und Gesellschaft zu bringen. Aber es handelt sich hier nicht um den „Korporatismus unserer Großväter“, wie es Suzanne
Berger im Hinblick auf den wirtschaftlichen Neo-Korporatismus formuliert hat;
Vergleiche mit Azpiazus Großem Korporationsrat oder Mussolinis Korporatismusministerium sind daher nicht angebracht (Berger 1981; Williamson 1985).
Die muslimischen Konsultationsgremien sind auch nicht als allgemeine Verwal-
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tungsgremien, sondern vielmehr als religiöse Vermittlungsinstanzen mit begrenzter Entscheidungskompetenz anzusehen. Sowohl die Regierung als auch die
Verwaltungspraxis sind auf einen Vermittler für die religionsverfassungsrechtlichen Aspekte, welche die öffentliche Ordnung betreffen, angewiesen: geistliche
Seelsorger in Gefängnissen, Armeen und Krankenhäusern, Begräbnisrituale,
Moscheebau, Schächten usw.
Dass den Muslimen nunmehr eine gewisse Form der Repräsentation im
Rahmen der bestehenden staatlichen Strukturen gewährt wird, dient auch dem
übergeordneten Ziel der Integration von Einwanderern. Aus dem Blickwinkel
des säkularen Staates zielen die Staat-Islam-Konsultationen auch darauf ab, eine
deutlich weniger gute Entwicklung zu vermeiden: Tariq Modood, der sich mit
muslimischen Gemeinschaften in Großbritannien befasst, argumentiert, dass es
bei der Organisation des Islam in westlichen Demokratien keinen Grund dafür
gibt, zum demokratischen Puristen zu werden: „Es bestehen gewiss Vorteile
darin, den organisierten Religionen die Möglichkeit einzuräumen, über korporatistische Strukturen Einfluss geltend zu machen, anstatt sie zu ermutigen oder gar
zu verpflichten, in den parteipolitischen Machtkampf einzugreifen“ (Modood
1998, S. 114). Er fährt fort, dass „auch die reformierte Staatskirche eine Form
der korporatistischen Repräsentation darstellt und sich den Vorwurf entgegen
halten lassen muss, undemokratisch zu sein, so wie ganz allgemein spezielle
Konsultationskomitees eine Einschränkung der direkten Abbildung des Wählerwillens darstellen. Es gibt aber keinen Grund dafür, ein Purist zu sein: Unter dem
Strich handelt es sich ohnehin um Gremien mit sehr begrenzter Macht“ (Modood
1998, S. 115)
Modoods Aufruf, die Einbindung dieser Themen in den Wahlkampf zu
vermeiden, erinnert an die Erfahrungen der christdemokratischen Parteien des
20. Jahrhunderts. Die Christdemokratie wurde einst von einem ihrer prominentesten Beobachter als ungewollte Konsequenz einer zu strikten Trennung von
Kirche und Staat dargestellt. Die Gefahr einer zu restriktiven staatlichen Politik
bestehe in diesem Zusammenhang darin, das Thema zu politisieren und so die
Wählerschaft zu aktivieren, was dann wiederum zu politischen Gegenreaktionen
führe. Die Niederlagen gegen die amtierenden Entscheidungsträger in einzelnen
Feldern, z.B. der nationalen Bildungspolitik, haben viele Katholiken dazu bewegt, selbst zu Entscheidungsträgern zu werden. Die christdemokratischen Parteien waren so gesehen ein „Nebenprodukt der strategischen Schritte, welche die
katholische Kirche unternahm, um die antiklerikalen Attacken der Liberalen zu
kontern“ (Kalyvas 1996, S. 6). So zitiert Kalyvas Heinrich Rommen, der beobachtet hatte, dass das Erstarken des politischen Katholizismus überall dort zu
beobachten war, wo politische Gruppen den „neutralen“ Staat kontrollierten, die
sich dezidiert gegen die Kirche aussprachen (Kalyvas 1996, S. 124). Eine weitere
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Jonathan Laurence
Wissenschaftlerin der Christdemokratie, Carolyn Warner, hat gezeigt, dass „die
Führung von religiösen Organisationen immer dann, wenn sie denken, dass die
Durchsetzung ihrer Ziele in irgendeiner Weise politische Ressourcen erfordert,
nach den politischen Parteien Ausschau halten, die möglichst weitgehende inhaltliche Überschneidungen bieten. […] Wird dabei nun keine passende Partei
gefunden, wird die Religionsgemeinschaft dazu übergeben, ihre eigene Partei ins
Leben zu rufen“ (Warner 2000, S. 220). Die Alternative zu einer Institutionalisierung des Islam wäre in Analogie dazu, dass sich die muslimischen Führer die
Islamisierung der staatlichen Institutionen zum Ziel setzten. Geht es nun um den
Islam, machen die europäischen Regierungen also in gewisser Weise denselben
Fehler nicht noch ein zweites Mal: Wenn die Zurückdrängung der Kirche aus der
politischen Entscheidungsfindung zu einem Erstarken der christdemokratischen
Parteien geführt hat, dann sind wohl die nunmehr gewährten institutionellen
Teilhabechancen das „Zuckerbrot“, wohingegen die geforderten Anpassungsleistungen in Form der bestehenden Staat-Islam-Konsultationen die „Peitsche“ sind.
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Islam im 21. Jahrhundert
Der Beginn des 21. Jahrhunderts wurde durch düstere Vorhersagen von Historikern an Elite-Universitäten, investigativen Journalisten und Internetpopulisten
eingeläutet, die ein islamisches Jahrhundert vorhersahen (Fallagi 2002; Lewis
2007; Bradley 2004). Manche argumentierten schlicht mit dem unausweichlichen demographischen Wandel, infolgedessen es bei weiter steigenden Geburtenraten von Muslimen und „selbstmörderischen“ Geburtsraten bei den Europäern bis zur Mitte des Jahrhunderts zu einer ganzen Reihe von islamischen Republiken im Westen kommen müsse. Zudem hätten die politisch so korrekten
Regierungen wenig gegen den „gefährlichen islamischen Extremismus und die
Kultur des Todes getan, die in den Moscheen europäischer Großstädte gepredigt
wird“ (zitiert nach Trank und Hier 2006; vgl. auch Caldwell 2009). Im Jahr 2009
sagte die futuristische Novelle „La Mosquée Notre-Dame“ die Umwandlung der
größten Pariser Kathedrale in eine Moschee binnen vier Jahrzehnten voraus und
eine italienische Tageszeitung krönte Rotterdam zur zukünftigen Hauptstadt
Eurabiens (Tchoudinova 2009; Meotti 2009).
Ein Teil dieser Science-Fiction-Geschichten basiert auf Fakten. Die Fertilitätsraten europäischer Frauen sanken stetig in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg; europäische Einwanderungs- und Familienzusammenführungspolitik führte zu einem raschen Anwachsen der muslimischen Minderheit. Dieser Beitrag
zielt aber darauf ab, zu zeigen, dass die europäische Landschaft in weit schwächerem Maße durch diese Entwicklung geformt wird, als es die apokalyptischen
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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Vorhersagen glauben machen wollen. Der Islam wird auch in der näheren Zukunft die am schnellsten wachsende Religionsgruppe sein; gleichwohl werden
evangelikale Protestanten ihnen in dieser Hinsicht Konkurrenz machen. Heutzutage gibt es im Schnitt nur einen muslimischen Gebetsraum auf etwa ein- bis
zweitausend Muslime. Die stark steigende Zahl an Moscheebauten trägt lediglich
dazu bei, dieses Verhältnis an das der Juden und Christen zu den bestehenden
Synagogen und Kirchen anzugleichen (Gabizon 2008). Mehr noch: Im Rückblick wird klar werden, dass ein Gutteil der kulturellen Spannungen und Manifestationen des muslimischen Radikalismus keine dauerhafte Erscheinung sind,
sondern sich vielmehr aus dem Zusammenwirken von andauernden Problemen
der ersten Generation von Einwanderern einerseits und der schleppend verlaufenden Anpassung der politischen Institutionen in Europa an die Bedürfnisse der
zweiten und dritten Generation andererseits ergeben.
Es scheint vielen Kritikern bisher nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass
Muslime es nicht immer darauf abgesehen haben, die Befindlichkeiten ihrer
Gastgeber zu missachten – dass Männer auf offener Straße beten schlicht in
Ermangelung von Gebetsräumen, dass manche das Opferschaf in der eigenen
Badewanne aus dem einfachen Grund schlachten, dass es zu wenige HalalSchlachtereien gibt, dass Imame importiert werden, weil Fakultäten für islamische Theologie gerade erst beginnen in Europa Fuß zu fassen, dass viele Muslime ihrem Ärger lautstark auf der Straße Gehör verschafften, weil sie bisher kein
Wahlrecht hatten und keinen entsprechenden Zugang zum Verwaltungsweg
hatten. Die Kritiker ziehen es indes vor, als Reaktion auf die immer wiederkehrenden Aktionen unreformierter Islamisten in eine Art Zirkelschlusslogik zu
verfallen: Die institutionelle Öffnung für den Islam und die Muslime, sagen sie,
würde langfristig einen Sieg der Extremisten befördern. Trotz der Rufe nach
einer Demokratisierung der muslimischen Welt verkennen die Skeptiker der
Integration von Muslimen jedoch, dass eine innere Demokratisierung durchaus
dazu beitragen könnte, die Stellung der Religiös-Moderaten in Europa zu stärken.
Auch wenn es mit dem bloßen Auge bisher vielleicht kaum erkennbar sein
mag, sind doch viele soziale, kulturelle und politische Umwälzungen bereits im
Gange, die Europa in den nächsten Jahrzehnten prägen werden. Ernsthafte Bedrohungen – wie der gewaltbereite Extremismus unter Muslimen und rechtsgerichtete Tendenzen innerhalb der „Aufnahmegesellschaften“ – werden durch ein
Zusammenwirken von gewöhnlichen gesellschaftlichen Integrationsprozessen
und der demografischen Entwicklung entschärft werden. Die maßgebliche Entwicklung wird von der immer geringer werdenden Zahl an Ausländern und der
steigenden Zahl an Staatsbürgern innerhalb der Muslime in Europa ausgehen und
zur Einbindung in die politischen, demokratischen Institutionen führen. Die
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Jonathan Laurence
Normalisierung politischer Teilhabe von und durch Muslime wird über Parteigrenzen hinweg dazu führen, dass muslimische Interessenvertreter gehört werden. Je normaler die Religionsausübung im Alltag wird, desto geringer wird auch
die Bedeutung religiöser Ungleichbehandlung für die Selbstwahrnehmung und
Mobilisierung
von
Muslimen
werden.
Die
nationalen
IslamKonsultationsgremien werden die religiösen Führer mit der Zeit einhegen und in
einem europäischen Kontext verwurzeln; muslimische Politiker werden zunehmend ihren Weg in die Institutionen finden. Sobald sich eine terroristische Bedrohungslage materialisiert, wird sich eine ganze Reihe etablierter, europäischer
muslimischer Frauen und Männer klar auf Seiten der demokratischen Gesellschaft positionieren.
Durch die Teilnahme an Wahlen und zivilgesellschaftliches Engagement
wird die politische Partizipation mehr und mehr zum Normalfall und so auch als
Nachweis für die Vereinbarkeit von Islam und westlicher Demokratie dienen.
Zwar mag so die Nische, die nationalistische Politiker und Islamisten besetzen,
nicht vollends verschwinden, aber eine auf Ausschluss bzw. Selbst-Ausschluss
gerichtete Rhetorik wird so zunehmend inhaltsleer und irrelevant erscheinen. Je
länger eine erfolgreiche Koexistenz funktioniert und je mehr muslimischeuropäische Vorbilder es gibt, desto stärker wird sich ein alternatives Narrativ
durchsetzen. Die praktische Lösung der zahlreichen Konfliktpunkte der bisherigen Generationen – Moscheebau, unzureichende Zahl an Imamen, Schächten –
wird Freiraum für die Diskussion anderer Themen schaffen und so auch den Ton
in der medialen und politischen Debatte verändern. Einige grundlegende Spannungen werden erhalten bleiben. Es gibt aber genügend Gründe für die Annahme, dass die jeweiligen politischen Kulturen und Institutionen auch weiterhin
dazu in der Lage sein werden, die Sichtweisen, die aus dem Nahen und Mittleren
Osten „importiert“ wurden, zu mäßigen.
Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wird eine kleine Zahl europäischer Metropolen annähernd „mehrheitlich muslimisch“ sein – Amsterdam, Bradford,
Malmø, Marseille – und in etwa jeder vierte Einwohner Londons, Brüssels, Paris
oder Marseilles wird einen muslimischen Hintergrund haben. David Coleman
merkte im Hinblick auf die demografische Entwicklung jedoch bereits 2006 an:
„Die Bedeutsamkeit dieser Entwicklung hängt von der fortbestehenden Abgrenzbarkeit und der Identitätsbildung der betroffenen Bevölkerungsgruppen ab; ebenso
spielt die Anpassung der Minderheiten an bestehende Normen, aber auch komplementär dazu die wechselseitige Annäherung aller Gruppen, eine Rolle. Aber selbst
nach den zugrunde gelegten Annahmen würden die betreffenden Länder mehrheitlich nicht muslimisch [...] vor dem 22. Jahrhundert” (Coleman 2006, S. 422).
Die neue demographische Entwicklung in Europa wird genauso wenig von separatistischen Bestrebungen geprägt sein, wie die „Majority-Minority-Städte“ in
den USA im späten 20. Jahrhundert. Bereits 2008 fiel der Anteil der nicht-
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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hispanischen, weißen Bevölkerung in sechs US-amerikanischen Staaten unter 60
Prozent (darunter New York) und unter 50 Prozent in vier weiteren (darunter
Kalifornien), ohne dass es zu schweren politischen Auseinandersetzungen gekommen wäre.
Dennoch wird es auch weiterhin eine kleine Zahl integrationsfeindlicher
Kommunitaristen geben, deren Halsstarrigkeit und überzogene Forderungen
hinreichenden Zündstoff für Politiker bieten, die nur auf Konflikte aus sind. Die
muslimische Minderheit wird am öffentlichen und politischen Leben teilnehmen,
wenngleich sie bei Wahlen noch immer unterrepräsentiert sein wird. Dennoch –
oder vielleicht auch gerade deswegen – wird die zunehmende Gleichstellung des
Islam als Religion und der politischen Teilhabe der Muslime nationalistische
Kampfansagen provozieren. In jedem einzelnen Staat werden Millionen Wähler
für konservative Forderungen empfänglich sein, die Integration der Muslime in
die europäischen Gesellschaften rückgängig zu machen. Dies wird dann zwar
hier und dort zu Konfrontationen führen, nicht jedoch zu großflächigen, sozialen
Konflikten.
3
Demografie ist Schicksal
Ein Gutteil der Ängste in Europa wurde durch die Äußerungen von Provokateuren aus der islamischen Welt geschürt, die ankündigten: „Wir werden Europa
erobern […] nicht mit dem Schwert, sondern durch Da'wa (Bekehrung)”2 oder
dass die „Gebärmütter muslimischer Frauen uns schlussendlich den Sieg in Europa bescheren werden”3 oder wie zuletzt dass „ihr (die Muslime) eine Minderheit in Europa seid. So Gott will, werdet ihr eines Tages zur Mehrheit und werdet die Oberhand gewinnen […] Ihr werdet die Imame und Erben des europäischen Kontinents sein.”4 Tatsächlich wird sich die demografische Entwicklung in
Europa jedoch anders darstellen.
2
Das Zitat wird einem spirituellen Führer der Muslimbruderschaft, Yusuf al-Qaradawi, zugeschrieben; Quelle: Blogeintrag „Islam and American Politics: Deepening the Dialogue“,
http://newsweek.washingtonpost.com/onfaith/georgetown/2008/04/west_islam_dialogue.html
3
Das Zitat wird dem früheren algerischen Präsidenten Houari Boumédiène zugeschrieben; Quelle:
„Houari
Boumédiène“,
http://fr.myafrica.allafrica.com/view/people/main/id/07QTlFAnWKbUCoym.html
4
So eine Bemerkung von Muammar Qaddafi, Al-Shams (Lybien), übersetzt durch MEMRI,
http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/4349.htm
12
Jonathan Laurence
Abbildung 1: Geschätzte und hochgerechnete muslimische Bevölkerung in
der EU 1985-2025
Quelle: Directorate of National Intelligence 2004, 2010.
Die Gesamtbevölkerung der EU-25 wird durch Einwanderungsprozesse bis zum
Jahr 2025 leicht zunehmen und danach zurückgehen: von 458 Millionen im Jahr
2005 auf 469,5 Millionen im Jahr 2025 und auf 468,7 Millionen im Jahr 2030
(Europäische Kommission 2005). Der muslimische Bevölkerungsanteil wird von
etwa 16 Millionen im Jahr 2008 auf 27 Millionen im Jahr 2030 steigen, was
einem Anstieg des Prozentanteils auf 7 bis 8 Prozent entspricht (gegenüber einer
Quote von 3,7 % in 2008) – in Frankreich und Deutschland wird der Anteil sogar
bei 15 bis 16 Prozent liegen (vgl. Abb. 1) 5. In Großbritannien werden im Jahr
2030 27 Prozent der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund (darunter
auch Nicht-Muslime) haben, bei den unter 14-jährigen sind es 36 Prozent.6
Die Fertilitätsrate wird bei Frauen muslimischen Hintergrunds nach wie vor
höher sein; der Unterschied zur übrigen Bevölkerung wird sich aber deutlich
verringern. In der Tat gab es bereits im Jahr 2008 Anzeichen dafür, dass der
demografische Wandel, wenngleich irreversibel, doch weniger drastisch und
weniger schnell erfolgen dürfte, als zunächst befürchtet. Der Anteil der Muslime
5
Für das Jahr 2005 wurde eine muslimische Bevölkerung in Europa von 13,8 bis 17 Millionen angenommen und für 2025 eine Zahl von 25 bis 40 Millionen prognostiziert, wobei diese Schätzungen
offensichtlich einen möglichen EU-Beitritt der Türkei außer Betracht lassen. Der National Intelligence Council hielt sich 2008 auch eher an die vorsichtigen Schätzungen und sagte, dass für 2025 bei
gleichbleibenden Geburten- und Einwanderungsraten mit einer muslimischen Bevölkerung von 25-30
Millionen zu rechnen sei (vgl. Pew Forum 2011; DNI 2004, 2010; Europäisches Parlament 2007).
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Unter den 65-Jährigen und Älteren würde der Anteil bei nur 11 Prozent liegen (vgl. Coleman 2006,
S. 422).
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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an der Gesamtbevölkerung wird zwar weiterhin steigen, jedoch weniger schnell,
da die jährlichen Wachstumsraten der muslimischen Bevölkerungsgruppen sinken (Pew Forum 2011). 2008 hatten Frauen mit einem nordafrikanischen, westafrikanischen oder türkischen Hintergrund in Europa noch eine deutlich höhere
Geburtenrate als „einheimische“ Frauen – 2,3 zu 3,3 Geburten pro Frau – zu
verzeichnen. Gleichwohl lag auch bei ihnen die Geburtenrate bereits niedriger
als in den jeweiligen Herkunftsregionen. In den Niederlanden sank die Geburtenrate von in Marokko geborenen Frauen in den Jahren zwischen 1990 und 2005
von 4,9 auf 2,9; die von in der Türkei geborenen Frauen gar von 3,2 auf 1,9
Geburten (Walker 2009). In Deutschland brachten 1990 muslimische Frauen
noch im Schnitt zwei Kinder mehr zur Welt als der Gesamtdurchschnitt; 1996
lag der Unterschied dann nur noch bei einem Kind – im Jahr 2008 bei 0,5.
Gleichzeitig sind die Geburtenraten in manchen westeuropäischen Staaten wieder gestiegen – in Großbritannien von 1,6 im Jahr 2001 auf 1,9 im Jahr 2007; in
Frankreich gar von 1,7 im Jahr 1993 auf die magische Reproduktionsrate auf 2,1
Geburten pro Frau im Jahr 2007. Auch in der Zukunft wird es lebhafte Debatten
darüber geben, welche Bedeutung Familienpolitik für die Entwicklung dieser
Zahlen hat und darüber ob muslimische Frauen die Statistik gewissermaßen
„künstlich“ in Ländern wie Schweden oder Frankreich aufbessern (beide Staaten
konnten im Zeitraum von 2001 bis 2009 steigende Geburtenraten verzeichnen;
vgl. Jackson et al. 2008; Kröhnert et al. 2008, S. 31, 131). Die Vorhersage geht
indes dahin, dass sich die Geburtenrate muslimischer Frauen bis zum Jahr 2030
bei etwa 1,75 bis 2,25 einpendeln wird (Münz und Ulrich 2001; Coleman 2006;
Jackson et al. 2008).
3.1 EU-Erweiterung und Demografie
Die Überalterung der europäischen Gesellschaften – man denke an die Abermillionen Über-Sechzig-Jährigen, die es vor einer Generation so noch nicht zu verzeichnen gab – wird auch in Zukunft dazu führen, dass Europa seine verbleibenden Wohlfahrtsstaatssysteme und öffentliche Altersvorsorge nur noch durch
weitere Zuwanderung wird finanzieren können. Auch muslimische Einwanderer
werden weiterhin den Weg nach Europa anstreben – sei dies als hochqualifizierter Arbeitsmigrant aus Indien, im Wege der Familienzusammenführung aus der
Türkei oder Nordafrika oder als Flüchtlinge aus dieser Region. Die Neuankömmlinge werden dann jedoch systematisch im Hinblick auf ihre kulturelle Integrations- und ökonomischen Erfolgschancen gefiltert werden; sei dies durch Sprachanforderungen oder verpflichtende Kurse über die moralischen Gepflogenheiten
und die Geschichte der europäischen Aufnahmestaaten – von der Aufklärung bis
hin zu den jüngsten EU-Verträgen.
14
Jonathan Laurence
Eine Generation weiter werden wohl weitere Staaten – wie Serbien, Montenegro oder Mazedonien – der EU beigetreten sein und so die Gesamtbevölkerung vergrößern; die grundsätzliche demografische Entwicklung wird dies jedoch nicht umkehren. Die jährliche Netto-Einwanderung müsste sich verdoppeln
oder sogar verdreifachen, um den Trend einer stetig schrumpfenden Erwerbsbevölkerung umzukehren (Director of National Intelligence 2008). Die Europäische Union würde insofern gleich mehrere Ziele erreichen, wenn sie einen EUBeitritt der Türkei zustimmen würde (Frankreich und einige andere Staaten würden sich mit einem Referendum einverstanden zeigen, wenn die Türkei ein kleineres Sitzkontingent im Europäischen Parlament akzeptieren und sich auf einen
geteilten Sitz in der Kommission einlassen würde).
Ein EU-Beitritt der Türkei könnte dafür genutzt werden, die sinkenden
Einwohnerzahlen zumindest teilweise auszugleichen und damit einen Anteil von
6 bis 7 Prozent an der Weltbevölkerung zu halten, was ihnen den Status als
„Global Player“ sichern würde (Kröhnert et al. 2008, S. 60). Auch die chronischen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt könnten so durch Bürger aus einem Staat
ausgeglichen werden, der sich verpflichtet hat, die Kriterien des acquis communautaire anzuerkennen. So betrachtet könnte die EU – auch wenn sich einige
Regierungen eine weitere Zuwanderung aus mehrheitlich muslimisch geprägten
Ländern ablehnen – durch den Beitritt der Türkei gewissermaßen ihre eigene
„interne“ Einwanderungsquelle generieren. Darüber hinaus könnte eine EUMitgliedschaft der Türkei zu einem Symbol des Stolzes und des Dazugehörens
für die ca. vier Millionen in der EU lebenden Türkeistämmigen werden und so
viele Wunden heilen, die bei der türkischstämmigen Bevölkerung in Europa im
Zuge der langwierigen und heiklen Beitrittsgespräche und Plänen zur Abhaltung
nationaler Referenden zu dieser Frage entstanden sind. Im Zuge der Beitrittsverhandlungen könnte sich die türkische Regierung darauf einlassen, die Arbeit
eines reformierten Präsidium für Religionsangelegenheiten mit den Aktivitäten
der Europäischen Kommission in den Bereichen Kultur und Religion abzustimmen.
Der EU-Beitritt der Türkei würde natürlich auch die muslimische Bevölkerung in der EU enorm vergrößern. Mit einem voraussichtlichen Bevölkerungszuwachs von 25 Prozent in der Zeit von 2008 bis 2030 wird die Türkei auf 85 bis
90 Millionen Einwohner anwachsen und würde so zum bevölkerungsstärksten
Mitgliedsstaat der EU werden, der gleichzeitig auch eine höhere Geburtenrate
und jüngere Altersstruktur als der EU-Durchschnitt aufweisen würde (Europäische Kommission 2005). Der Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung
(die Türkei eingeschlossen) würde sich auf annähernd 20 Prozent erhöhen;
gleichwohl gibt es Studien die davon ausgehen, dass die Netto-Einwanderung
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
15
aus der Türkei in die übrige EU die Zahl von drei Millionen nicht übersteigen
wird.7
3.2 Politik mit dem Stimmzettel
Die Einbindung der Muslime in die bestehende Parteienlandschaft hat sich als
schwierig herausgestellt. Noch etwa die Hälfte der ca. 16 Millionen Muslime in
Europa hat eine ausländische Staatsbürgerschaft, und nur die Hälfte der derjenigen, die die europäische Staatsbürgerschaft besitzen, ist volljährig und damit
wahlberechtigt. Obwohl sich die politischen Parteien in ganz Europa aktiv um
die Unterstützung durch die Wähler mit Migrationshintergrund bemüht haben –
in Frankreich haben z.B. alle maßgeblichen Kandidaten bei der Präsidentenwahl
2007 den Banlieues Besuche abgestattet, so haben es doch nur wenige Politiker
mit muslimischem Hintergrund in Spitzenämter der Parteien geschafft oder entsprechende Listenplätze bei Wahlen erhalten. Zu einem gewissen Maße lässt sich
dieser Umstand noch auf die frühere, restriktive Einbürgerungspolitik zurückführen, die dazu geführt hat, dass viele Muslime ihre alte Staatsbürgerschaft behalten haben. Als Ausländer mit einer Aufenthaltsgenehmigung sind sie nicht wahlberechtigt. Darüber hinaus ist die Situation aber auch schlicht auf ein niedriges
Durchschnittsalter der Muslime zurückführen. Würde man Minderjährige von
der muslimischen Bevölkerung in Europa abziehen, würde nur eine geringe Zahl
(in etwa ein Drittel) volljähriger Staatsbürger übrig bleiben. Die Zahl an gewählten und ernannten politischen Repräsentanten und Regierungsmitgliedern aus
diesem Milieu ist nicht unbedeutend aber dennoch überschaubar. Etwa eine Generation nachdem sich der Aufenthalt der früheren Arbeitsmigranten verstetigt
hat, finden sich die Kinder der Migranten muslimischen Hintergrunds in gewählten Ämtern auf allen Regierungsebenen. Im vergangenen Jahrzehnt gab es bei
Wahlen, an denen Kandidaten mit muslimischem Hintergrund beteiligt waren,
folgende Ergebnisse: Dreihundert Stadträte in Großbritannien, jeweils 10 bis 15
Abgeordnete auf nationaler Ebene in Belgien, Deutschland, den Niederlanden
und Großbritannien sowie eine Handvoll Kabinettsmitglieder in Frankreich, den
Niederlanden und Großbritannien (vgl. Abbildungen 2 und 3). Die IslamKonsultationsgremien bieten muslimischen religiösen Führern darüber hinaus
eine weitere Form der Interessenvertretung innerhalb staatlicher Institutionen
und sind damit zumindest bis hierher in gewisser Weise konkurrenzlos.
7
Die Einwanderung aus der Türkei in die EU wird auf 2,1 bis 2,7 Millionen zwischen 2004 und 2030
geschätzt. Deutschland wird etwa die Hälfte der Neueinwanderer aufnehmen (das höhere Szenario
geht von einer gescheiterten Erweiterung aus), vgl. Erzan et al. 2006.
16
Jonathan Laurence
Abbildung 2: Gewählte Abgeordnete und Kabinettsmitglieder mit muslimischem Hintergrund auf regionaler und lokaler Ebene (1989-2007)
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Wie kann sich Europa nun vor einer politischen Entfremdung von Muslimen
schützen, die einige Beobachter vorhersagen? Der zentrale Unterschied zwischen
der muslimischen Bevölkerung 2009 und 2030 wird darin liegen, dass ein Großteil der Muslime in Europa Staatsbürger und nicht länger Drittstaatsangehöriger
sein wird. Das bedeutet wiederum, dass sie nicht mehr nur das bloße Objekt
politischer Debatten sein werden, sondern in zunehmendem Maße diese Debatten auch selbst mitgestalten, und zwar als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Die große Mehrzahl der Muslime wird wahlberechtigt sein, sie werden
die jeweiligen Amtssprachen auf dem Niveau von Muttersprachlern beherrschen
und die Praktizierung des Islam wird in mancherlei Hinsicht europäisiert sein.
Die politischen Debatten über Muslime in Europa werden schwerpunktmäßig um
die sozioökonomischen Bedürfnisse einer emanzipierten und wahlberechtigten
Minderheit kreisen.
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
17
Abbildung 3: Gewählte Abgeordnete und Kabinettsmitglieder mit muslimischem Hintergrund auf nationaler Ebene (1989-2007)
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Die hervorstechendste politische Entwicklung wird die Herausbildung einer
kleinen muslimischen Wählerschaft sein. Auch wenn heute in den Umfragen ein
Großteil der Muslime in Frankreich, Deutschland und Großbritannien sich zu
linken und sozialdemokratischen Parteien bekennt, werden sich die politischen
Ansichten unter den Muslimen dahin entwickeln, dass nach und nach alle Teile
des Parteienspektrums vertreten sein werden – von sozial konservativen, über
ökonomisch liberale bis hin zu außenpolitisch pazifistischen Ansichten. Deutschland wird möglicherweise den dramatischsten Wandel erleben, wenngleich an
dieser Stelle zunächst auf den relativen Erfolg türkischstämmiger Deutscher im
Bundestag hingewiesen werden soll: Sie machen gerade einmal ein Prozent der
deutschen Staatsbürger aus und erhielten 2005 bis 2013 dennoch fünf Sitze (0,8
%) im Bundestag (Akturk 2010). Bei den Wahlen 2005 besaß nicht einmal jeder
fünfte Muslim das Wahlrecht. Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts von
1999 – die vorsieht, dass die Kinder von Ausländern die Staatsbürgerschaft erhalten, solange ein Elternteil einen legalen Aufenthaltsstatus innehat – hat dazu
geführt, dass jedes Jahr 50.000 bis 100.000 neugeborene Staatsbürger mit muslimischem Hintergrund hinzukommen. Die erste Generation in Deutschland
geborener Muslime wird 2017 das wahlfähige Alter erreichen. Vergleichbare
18
Jonathan Laurence
Entwicklungen können in Frankreich beobachtet werden, wo 1,5 bis 2 Millionen
muslimischstämmige Wähler sich an den nationalen Wahlen 2007 beteiligt haben. Bis 2030 wird sich diese Zahl auf etwa 3 bis 4 Millionen verdoppeln, was
dann knapp einem Zehntel französischen Wähler entspricht.
Eine entscheidende Neuerung, die sich aus den demografischen Veränderungen und der neuen Zusammensetzung der Wählerschaft ergeben, besteht
darin, dass sich in fast jeder nationalen, politischen Arena kleine Gruppe von
offen religiös auftretenden muslimischen Politikern etablieren wird. Die Zahl der
Muslime, die sich bei den Wahlen auf eine rein muslimisch-religiöse Agenda
beschränken, wird nicht ausreichen, um eine ernstzunehmende „muslimische
Partei“ hervorzubringen; dennoch werden die etablierten Parteien realisieren,
dass es in ihrem eigenen Interesse ist, sich dieser wachsenden Minderheit zu
öffnen. Dafür müssten zunächst die Bemühungen intensiviert werden, politischen Nachwuchs aus der muslimischen Wählerschaft zu rekrutieren und auch
vordere Listenplätze vorzusehen, ganz konkret auch für Kandidaten mit muslimischen Namen. Konservative Muslime, die in der Regel wirtschaftlich besser
gestellt sind und häufig das politische Establishment im Heimatland ihrer Großeltern unterstützen, werden den Parteien beitreten, die im politischen Spektrum
mitte-rechts anzusiedeln sind.
Die Annäherungsversuche der großen Parteien werden dabei durch eine Pioniergeneration muslimische Politiker erleichtert werden, die offen über die
Vereinbarkeit ihres Glaubens mit der nationalen Staatsbürgerschaft reden und
dabei Rücksicht auf die nationalen Kontexte nehmen, in denen sie sich bewegen.
In Deutschland und Italien könnten sie an die Tradition politisch aktiver Kirchenmitglieder in den Zwischenkriegsjahren und an das Aufkommen der Christdemokratie im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Kirche aus dem politischen Leben anknüpfen. In Frankreich und Großbritannien könnten sie sich auf
jüdische Staatsmänner des 19. Jahrhunderts, wie etwa den französischen Innenminister (und Präsident der Alliance Israélite Universelle) Adolphe Crémieux
oder den britischen Parlamentsabgeordneten Lionel Rothschild beziehen. Der
Sieg von Barack Hussein Obama bei den Wahlen in den Vereinigten Staaten
wird ein wichtiger Bezugspunkt sein, auch wenn er für die einen etwas anderes
bedeutet als für die anderen: für die einen steht er für die unbegrenzten Möglichkeiten der Integration, für die anderen für den Abbau aller Zugangsbeschränkungen zu den westlichen, politischen Systemen.
Nichtsdestotrotz wird der Weg von Muslimen hin zu voller politischer Teilhabe auch in Zukunft in mancherlei Hinsicht ein steinig sein, da Muslime, die
nach einem öffentlich Amt streben, sich weiterhin mit vielen Schwierigkeiten zu
kämpfen haben werden. Dies mag zu einem an strukturellen Hindernissen liegen,
denen sich alle Newcomer im politischen Geschäft gegenüber sehen, aber in
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
19
vielen Fällen könnte es auch mit dem Islam selbst zusammenhängen: So könnte
man sich fragen, ob der Ex-Muslim der bessere Muslim ist. Der prominenteste
Muslim in der italienischen Politik, Magdi Allam, hat scharfe anti-islamistische
Traktate verfasst und wurde persönlich durch Papst Benedikt getauft. Die prominenteste Muslima in der niederländischen Politik , Ayaan Hirsi Ali, Autorin des
Buches „Mein Leben, meine Freiheit“, hat sich von ihrer religiösen Herkunft
(und schließlich auch ihrer Staatsangehörigkeit) losgesagt und vor der Bedrohung des Islam für die westliche Normen des Zusammenlebens gewarnt. Dennoch könnte der Herbst 2008 einen Wendepunkt in der politischen Integration
europäischer Muslime darstellen, als nämlich Ahmed Aboutaleb zum Bürgermeister Rotterdams und Cem Özdemir zum Vorsitzenden der Grünen in
Deutschland gewählt wurde.
Die Bemühungen, neue politische Koalitionen – und Wählerstimmen – zu
gewinnen, werden auf lange Sicht auch dazu beitragen, die Zersplitterung innerhalb der muslimischen Bevölkerung zu überwinden. Die Mehrheit der muslimischen Wähler wird sich dabei an die sozialdemokratischen und ökologischen
Parteien halten, aber gleichzeitig könnten zwei weitere Gruppen zu wichtigen
Minderheiten werden. So wird sich eine Allianz aus den Überresten linker Globalisierungsgegner und Anführer des politischen Islam entwickeln und zu wahltaktischen Absprachen führen. Ihre gemeinsame außenpolitische Agenda wird
darauf abzielen, die Hegemonie der USA und der EU im Nahen Osten zu begrenzen und die Bedingungen für einen Beitritt der Türkei zur EU und die Anerkennung eines palästinensischen Staates neu zu verhandeln. Im Jahr 2030 werden sich die USA und ihre Verbündeten lange aus Afghanistan und dem Irak
zurückgezogen haben und die Islamisten, die einst über blasphemische Cartoons
und neo-imperialistische Bestrebungen geschimpft haben, werden genauso wunderlich und harmlos erscheinen wie die gealterten Mitglieder der BaaderMeinhof-Gruppe und der Roten Brigaden, die in den frühen 2000er Jahren aus
ihren Gefängniszellen krochen.
4
Die politischen Ansichten der neuen Generation
Wie wird muslimische Politik in der nächsten Generation aussehen? Werden die
europäischen Muslime eher an lokalen und nationalen Belangen interessiert sein
oder eher an internationalen Beziehungen und der Außenpolitik, die Muslime in
anderen Teilen der Welt betrifft? Die Auseinandersetzungen innerhalb der muslimischen Bevölkerungen in Europa werden sicher zunehmen. Die „Assimilationisten” werden sagen, dass die europäischen Aufnahmegesellschaften ihre offenen anti-muslimischen Praktiken eingestellt haben und nunmehr ihre Arme und
20
Jonathan Laurence
Institutionen für Muslime weit geöffnet haben. Die „Separatisten” werden einwenden, dass Europas Mischung aus einer latenten Islamophobie und einem
tiefsitzenden Zionismus es für Muslime unausweichlich macht, sich aus dem
täglichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben zurückzuziehen und
gesellschaftliche Enklaven zu bilden. Die Separatisten werden jedoch eine kleine
Minderheit darstellen. Zudem werden ihre Unterstützer mit jeder Legislaturperiode weniger werden aufgrund der praktischen Teilhabechancen, die von den
nationalen Regierungen als Anreize für politische Partizipation gesetzt werden.
Dazu mag dann auch etwa der versuchsweise Einsatz von Friedensrichtern bzw.
freiwilligen Sharia-Gerichten für die Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten
gehören.
Es gibt zwar keine Hinweise darauf, dass es so etwas wie ein muslimischreligiöses Wählerspektrum gibt, aber dennoch zielen Politiker darauf ab, die
Stimmen der Muslime für sich zu gewinnen. Schließlich bedeutet die Tatsache,
dass es keine fest umrissene muslimische Wählerschaft gibt, nicht, dass Politiker
nicht versuchen würden, sie zu umgarnen. Es zeigt sich aber, dass die muslimische Bevölkerung ganz und gar nicht die Ansichten einer konservativen, religiösen Minderheit vertritt, sondern eher zu typisch linken Standpunkten tendiert,
auch wenn ein kleiner Teil auch von den großen konservativen Parteien angezogen zu sein scheint (vgl. Abbildungen 4 und 5).
Abbildung 4: Parteipräferenzen von Muslimen in Frankreich (in %)
Quelle: Kaya und Kentel 2005, S. 38.
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
21
Abbildung 5: Parteipräferenzen von Muslimen in Deutschland (in %)
Quelle: Kaya und Kentel 2005, S. 38.
Die Befürchtungen, dass manche Muslime eine geteilte Loyalität haben – also
ihr Glaube ihnen wichtiger ist als die Nationalität und Staatsbürgerschaft – werden aber auch in der nächsten Generation noch nicht vollständig verschwunden
sein. Es wird auch weiterhin Umfrageergebnisse, wie die des Guardian aus dem
Jahr 2004, geben, die als Beweis dafür herangezogen werden, dass eine gar nicht
mal so kleine Minderheit der Muslime sich nur der Sharia unterwerfen wollen
und terroristische Bestrebungen unterstützen würde. Werden sich also Muslime
bis zum Jahr 2030 unaufhaltsam von der Mehrheitsgesellschaft wegbewegt haben? Werden sie eine „ausgegrenzte, geschlossene und verbitterte“ (Leiken
2005) Gruppe darstellen?
Umfragen, die 2009 und 2010 von Gallup und dem Open Society Institut
durchgeführt worden, kamen zu dem Ergebnis, dass sich Muslime stärker mit
ihren europäischen Aufnahmegesellschaften identifizieren, als dies bisher angenommen wurde, und dass ihr Vertrauen in die Justiz und andere Institutionen
sogar leicht über dem Durchschnitt in der Gesamtbevölkerung liegt (vgl. Abbildungen 6, 7 und 8; The Gallup Coexist Index 2009). Die Gallup Umfrage ergab
auch, dass 96 bis 98 Prozent der Muslime Ehrenmorde oder Beziehungstaten
nicht unterstützen, was etwa dem Gesamtdurchschnitt entspricht. Es wurde aber
auch deutlich, dass die europäischen Muslime in vielerlei Hinsicht deutlich konservativer sind – sei dies im Hinblick auf den Umgang mit Pornografie oder auch
die Thematik des vorehelichen Geschlechtsverkehrs.
22
Jonathan Laurence
Abbildung 6: Fühlen Sie sich zur Stadt zugehörig?
Quelle: Open Society Institute 2010.
Abbildung 7: Sehen Sie sich selbst als [Britisch, Französisch etc.] an? Befragte Muslime nach höchstem erworbenen Bildungsgrad
Quelle: Open Society Institute 2010.
Der am meisten nachdenklich stimmende Abschnitt in der Gallup Umfrage von
2009 war allerdings derjenige, der sich auf indirekte Weise mit Fragen der Toleranz, politischer Gewalt und Terrorismus auseinandersetzte und daher als guter
Gradmesser für zukünftige Unterschiede im politischen Wertesystem der Muslime und ihrer „Aufnahmegesellschaften“ herangezogen werden kann. Die Studie
ergab auch, dass die Einstellungen der Muslime im Hinblick auf zivile Todesopfer weitaus differenzierter sind, als dies bisher – insbesondere von Kritikern in
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
23
Großbritannien – angenommen wurde. Anstatt eines einfachen Ja-Nein-Schemas
bot die Umfrage vier Abstufungen der Zustimmung bzw. Ablehnung an und kam
so zu dem Ergebnis, dass zwischen 82 und 91 Prozent der Muslime in Großbritannien, Frankreich und Deutschland der Überzeugung sind, dass zivile Todesopfer unter keinen Umständen gerechtfertigt werden können. Bei den Muslimen in
diesen Ländern war auch das Vertrauen gegenüber Justiz und anderen staatlichen
Einrichtungen stärker ausgeprägt als bei der Gesamtbevölkerung.
Abbildung 8: Vertrauen von Muslimen in verschiedene Institutionen in
Frankreich, Deutschland und Großbritannien
Quelle: Gallup 2009, S. 22-23.
Auf Grundlage der Daten des World Value Survey (1981-2007) kommen Ronald
Inglehart und Pippa Norris zu dem Ergebnis, dass die grundlegenden, gesellschaftlichen Wertvorstellungen von Muslimen, die in westlichen Gesellschaften
leben, im Durchschnitt „zwischen den im Herkunftsland und den im Aufnahmeland vorherrschenden Wertvorstellungen anzusiedeln sind” (Inglehart und Norris
2009). So wurden für Muslime z.B. folgende Werte ermittelt: Religiosität: 76
Prozent (zwischen 60% im Herkunfts- und 83% im Aufnahmeland); sexuelle
Liberalisierung: 37 Prozent (zwischen 24% und 50%); Geschlechtergleichheit:
75 Prozent (zwischen 57% und 82%) und demokratische Werte 75 Prozent (zwischen 71% und 81%). Sie kommen daher zu dem Ergebnis, dass „Muslime im
Hinblick auf Integration keinesfalls besonders resistent” seien (Inglehart und
Norris 2009; vgl. Maxwell 2010).
Was die Herausbildung einer eigenständigen politischen Identität anbelangt,
werden mitgliedschaftsbasierte, islamische Organisationen prosperieren, die
besonders ein Gemeinschaftsempfinden und religiöse Praktiken kultivieren.
Durch Zusammenschlüsse auf europäischer, nationaler, regionaler und kommunaler Ebene werden diese Organisationen als Aktionsnetzwerke fungieren und
als Nährboden für andere politische und religiöse Vereinigungen. Solche Netzwerke werden indirekt an die transnationalen Bekehrungsbestrebungen der islamischen Weltliga und die Exil-Dependancen der Muslimbruderschaft anknüpfen,
24
Jonathan Laurence
deren Vertreter und Dissidenten aus Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten einst im Europa der 1960er und 1970er Jahre auf eine Mischung
einer relativ liberalen Flüchtlingspolitik und einer weitgehend unklaren Politik
im Hinblick auf den Islam getroffen sind. Die Dissidenten aus Nassers Ägypten,
dem Syrien der Baath-Partei und der kemalistischen Türkei kamen nach Europa,
um dort akademische Abschlüsse zu erwerben und gründeten häufig „muslimische Studentenvereine”, um für religiöse Rechte zu kämpfen. Aber bald wird die
Kohorte ausländischer Studenten der 1980er und 1990er Jahre die Führung an
die nächste Generation der in Europa geborenen Muslime weitergeben, die in
den Jugendorganisationen sozialisiert wurden und dann aller Voraussicht nach
ihre Unabhängigkeit dadurch zum Ausdruck bringen werden, dass sie einem
politischen Dialog offener gegenüberstehen und sich mehr auf Kompromisse
einlassen, als dies noch ihre Eltern getan haben.
Die transnationalen und pan-europäischen Föderationen, die die direktesten
Verbindungen zur islamischen Weltliga und der Muslimbruderschaft haben,
werden auch weiterhin nur begrenzten Einfluss auf die tagespolitischen Diskussionen und das Alltagsleben der Muslime in Europa haben. Der maßgebliche
politische Arena für Debatten um religiöse Rechte, Anti-Diskriminierung, Teilhabe durch Wahlen etc. wird weiterhin die nationale Ebene sein. Für die europäischen Muslime werden weiterhin die nationalen Verbände, die auch auf regionaler und kommunaler Ebene aktiv sind, die maßgeblichen Ansprechpartner bleiben, da nur diese Organisationen dazu in der Lage sind, die politische Entscheidungsfindung zu beeinflussen.
Viele muslimische Verbände werden ihre Relevanz für die Staat-IslamBeziehungen weitgehend verlieren, da sie nicht organisatorisch an ein Netzwerk
von Moscheegemeinden gebunden sind. Daher werden sie auch weiterhin von
den Staat-Islam-Konsultationsgremien (wie dem Conseil français du culte musulman, der Deutschen Islam Konferenz, dem MINAB (Mosques and Imams
National Advisory Board)) ausgeschlossen bleiben, was dazu führt, dass die
Kontakte zur Ministerialverwaltung auf Moscheeverwalter und Verbände mit
angeschlossenen Gebetshäusern beschränkt sein wird. Gleichzeitig werden säkulare Verbände an Bedeutung gewinnen und mit den religiösen Verbänden konkurrieren, nicht zuletzt um sich aus deren Erstarrung zu befreien; dies reflektiert
ein wachsendes politisches Bewusstsein einer kleinen, aber im Wachsen begriffenen muslimischen Mittelschicht.
Diejenigen, die an politischen Aktivitäten der muslimischen Verbände teilnehmen oder Führungspositionen bekleiden, werden eine ganz bestimmte politische Sozialisierung erfahren, die ihre Sicht auf nationale und internationale politische Debatten prägen wird. Dabei wird es sich häufig um Personen handeln, die
in Europa groß geworden sind und kaum für längere Zeit im Ausland gelebt
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
25
haben. Die Verbindungen zu den ursprünglichen Herkunftsländern und auch die
persönlichen Bindungen an Geberorganisationen in den Golfstaaten oder andernorts werden an Bedeutung verlieren. Folglich werden sie auch offener für
transnationale oder internationale Einflüsse sein. Ihre Foren werden wohl auch
weiterhin kritisch gegenüber der US-amerikanischen Außenpolitik eingestellt
sein, die palästinensischen Autonomiebestrebungen unterstützen, den Zionismus
ablehnen und sich für den Kampf gegen Islamophobie im Westen stark machen.
Die zukünftigen Führungspersönlichkeiten werden sich daher zwar auch kritisch
gegenüber den Missetaten mancher Muslime – wie etwa terroristische oder antisemitische Bestrebungen – äußern. Ihr Hauptaugenmerk wird aber auf der Verwundbarkeit der muslimischen Welt gegenüber Angriffen von außen liegen – sei
dies im Hinblick auf Afghanistan, Palästina, den Irak oder den nach wie vor
ungesicherten politischen Status der muslimischen Minderheit in Europa. Dies
wird in eine gewisse Opferrhetorik eingebettet sein (auch zu beobachten in Publikationen) und mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für islamfeindliche Zwischenfälle einhergehen. Dies wird dann auch im Zusammenhang mit anderen
Minderheitenpolitiken zu sehen sein; die Verbände werden von nichtmuslimischen Interessengruppen gelernt haben, dass Angriff die beste Verteidigung ist. Jenseits der aktiven Förderung von Gebetsmöglichkeiten und der Förderung einer gemeinsamen muslimischen Identität werden sich zahlreiche Vertreter der neuen Generation in den Verbänden eher mit Fragen der Diskriminierung und Vorurteilen auseinandersetzen, was auch mit ihren eigenen Diskriminierungserfahrungen – sei dies als Universitätsstudenten, junge Arbeitssuchende
oder auch nur bei alltäglichen Dingen wie der Fahrt mit der Straßenbahn – zu tun
hat. Religiöse Führungspersönlichkeiten werden blasphemische Äußerungen
gegenüber dem Islam verurteilen. Sie werden sich aber öffentlich gegen Gewalt
aussprechen und statt dessen dafür eintreten, „den Islam zu lehren” entweder
durch breit angelegte Aufklärungs- oder Öffentlichkeitskampagnen oder mit der
Absicht einer Bekehrung bzw. Re-Islamisierung.
4.1 Soziale Indikatoren
Trotz konkreter Fortschritte im politischen Sektor wird die gesellschaftliche
Integration an Grenzen stoßen. Die Europäer müssen daher die spezifischen,
nationalen Faktoren bearbeiten, die zu einer gesellschaftlichen und politischen
Entfremdung führen und so denjenigen Vertretern in die Hände spielen, die auf
einen Konfrontationskurs aus sind und eine systematische Ausgrenzung der
Muslime sehen.
Die sich abzeichnenden wohlfahrtsstaatlichen Reformen werden muslimische Familien zunächst am härtesten treffen, letztendlich dann aber auch dazu
26
Jonathan Laurence
führen, dass die Erwerbstätigenquote der Muslime steigt (Kröhner et al. 2008).
Die Befürchtungen vor einer muslimischen Unterschicht werden jedoch nicht
ganz unbegründet sein. Es wird überdurchschnittlich viele Erwerbslose und Geringverdiener unter ihnen geben. Auch wenn sie im Vergleich zu den USA auch
weiterhin gering sein mag, wird die Zahl der Inhaftierten deutlich steigen und
Muslime werden in den Gefängnissen die Mehrheit ausmachen.
Der überproportional hohe Anteil von Muslimen unter Inhaftierten und Arbeitslosen ist Ausdruck der fortbestehenden sozioökonomischen Marginalisierung vieler Muslime in Europa. In dieser Hinsicht werden die Pessimisten also
recht behalten. Auch in der nächsten Generation werden noch viele junge Muslime durch das bildungspolitische Netz fallen und leider auch zu einen höheren
Maß an Kleinkriminalität und gelegentlichen Unruhen beteiligt sein, wie dies
auch für andere sozioökonomisch marginalisierte Gruppen der Fall ist. Sie werden zwar vielleicht nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, aber dennoch
von den Skeptikern als Beispiel dafür angeführt werden, dass Muslime niemals
in europäische Gesellschaften passen oder sich an diese anpassen können.
Fortschritte im Bereich der Früherziehung werden dazu führen, dass sich
die sprachlichen Fähigkeiten der Enkel und Urenkel der nordafrikanischen und
türkischen Arbeitsmigranten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stetig verbessern
werden. Außerhalb Frankreichs wird Englisch zunehmend als zweite Sprache für
Türkisch- bzw. Arabischmuttersprachler akzeptiert sein. Die Diskrepanz zwischen den sprachlichen Fähigkeiten von Deutschen und Einwanderern in
Deutschland wird sich in Richtung dessen entwickeln, was sie sich in Belgien,
Frankreich, Spanien und Portugal beobachten lässt, wo Einwanderer aus den
früheren Kolonien in der Regel über bessere Sprachkenntnisse verfügten, weil
etwa die Einwanderer aus französischen Kolonien bereits in ihrer Heimat Französisch sprachen (Adserà und Chiswick 2006, S. 110).
Die Sprache allein wird jedoch zunehmend als eher oberflächliche Gemeinsamkeit gesehen werden, die für sich genommen noch nicht ausreicht, um eine
Übereinstimmung der Wertvorstellungen von Migranten und der Aufnahmegesellschaft zu sichern. Eine Reihe von Ländern wird auch weiterhin versuchen,,
Heiratsmigration (Stichwort „importierte Bräute“) zu begrenzen, ein ständiger
Grund zur Sorge der Behörden, uns zwar nicht einfach nur weil sie fürchten, dass
viele dieser Ehen arrangiert sind, sondern auch weil diese Praxis immer wieder
dazu führt, dass eine neue Einwanderungssituation entsteht, in der jedes Jahr
Zehntausende Kinder in Haushalte geboren werden, in denen die Eltern nicht
über ausreichende Sprachkenntnisse der Aufnahmegesellschaft verfügen. Familienangehörige werden daher ein gewisses Mindestalter erfüllen und Sprachnachweise erbringen müssen.
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
27
4.2 Terrorismus und Nativismus
Die schwerwiegendsten Bedrohungen für die Integration in der nächsten Generation werden sich nach wie vor in Gestalt von Terrorismus und Nativismus zeigen. Beides zusammengenommen wird immer wieder dazu führen, dass die positiven gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, besonders im Hinblick
auf erst kürzlich eingewanderte Muslime, konterkariert werden. Zum ersten Mal
werden sowohl die Anführer als auch die Unterstützer von terroristischen Zellen
in Europa geboren sein. Der Übergang der europäischen Muslime von „Ausländern” zu „Einheimischen” wird neue Risiken mit sich bringen und eine Überarbeitung der bestehenden Anti-Terrorismus- und Anti-Radikalismus-Programme
erforderlich machen. Die zugrundeliegende Ideologie wird zwar weiterhin aus
dem Ausland kommen, gleichwohl werden die meisten terroristischen Zwischenfälle und Verhaftungen in diesem Zusammenhang „hausgemacht“ sein. Verdächtige werden daher auch zum ausschließlichen Problem europäischer Behörden,
die sie nicht mehr einfach abschieben können. Eine der weitreichendsten Folgen
der Europäisierung des Islam wird sein, dass Terrorverdächtige die vollen staatsbürgerschaftlichen Rechte genießen werden und nicht mehr die begrenzten Rechte von auf europäischem Boden lebenden Drittstaatsangehörigen. Es werden in
Zukunft höhere Anforderungen erfüllt werden müssen – und ggfs. kontroverse
gesetzgeberische Änderungen erfolgen – um Verdächtige überwachen zu können, sie zu verhören oder auszuweisen. Die Gefahr der Radikalisierung wird an
den Rändern organisierter, religiöser Gruppen weiterhin bestehen, aber die bisherigen Instrumente zur Überwachung und Bekämpfung von radikalen Bestrebungen innerhalb der ehemals ausländischen erwachsenen muslimischen Bevölkerung werden für EU-Bürger nicht mehr zur Verfügung stehen.
Diese Entwicklung wird wie Sand im Getriebe der vielgepriesenen Terrorabwehrstrategien in Großbritannien, Frankreich und Deutschland sein und neue
Gefahren im Hinblick auf die bürgerlichen Rechte und Freiheiten muslimischstämmiger Bürger heraufbeschwören. Menschenrechtsorganisationen und nationale Regierungen werden ihre Streitigkeiten auch vor Gerichten ausfechten, und
eine neue Generation von Anwälten wird gegen die weit verbreitete Praxis von
stichprobenartigen Identitätskontrollen vorgehen, während sich die Exekutivapparate neue Festnahmebefugnisse sichern werden. Gefangen zwischen den beiden Lagern werden dann Tausende neuer muslimisch-stämmiger Gesetzeshüter
stehen. Wie die italienisch-stämmigen FBI-Ermittler und Staatsanwälte, die der
Mafia in den amerikanischen Großstädten im 20. Jahrhundert das Handwerk
gelegt haben, so werden auch muslimische, europäische Ermittler gewaltbereite
Extremistennetzwerke infiltrieren und enttarnen. Die wechselseitige Abhängigkeit von Polizei und muslimischen Gemeinschaften wird sich immer mehr ver-
28
Jonathan Laurence
stärken, und die ersten muslimischen Polizeipräsidenten werden in europäischen
Städten ihr Amt antreten. Die Sicherheitsbehörden in Deutschland und andernorts werden ihre Bedenken hinsichtlich der Bildung von muslimischen Parteien
beiseite legen und sich stattdessen darauf konzentrieren, wie sie die Organisationen finanziell so unterstützen können, dass sie über die Ziele und Ambitionen
der Parteiführung im Bilde bleiben.
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Religiöse Praktiken und der organisierte Islam im Jahr 2030
Die Zahl der Moscheen wird auf dem ganzen Kontinent weiter ansteigen, so dass
sich die Relation von Muslimen zu entsprechenden Gebetshäusern an jene von
Juden und Christen zu Synagogen und Kirchen angleicht. Die meisten dieser
Gebetshäuser werden dann nicht mehr angemietete Räumlichkeiten sein, sondern
vielmehr Neubauten – repräsentative Moscheen mit Minarett und Kuppel.
Europa wird immer noch eine Generation von gänzlich einheimischen und
im Lande ausgebildeten Imamen entfernt sein, aber zum ersten Mal wird eine
kleine Mehrheit der Imame „staatsbürgerkundliche“ Fortbildungen unter der
Ägide der nationalen Integrationsprogramme durchlaufen haben. Hunderte von
national zertifizierten geistlichen Seelsorgern werden tätig sein, um in europäischen Gefängnissen geistlichen Beistand für muslimische Häftlinge anzubieten.
Sowohl die Finanzierung als auch die personelle Ausstattung von Moscheen
wird weiterhin schwerpunktmäßig aus dem Ausland erfolgen, aber beide werden
in zunehmenden Maße Kontrollen in den Aufnahmestaaten unterworfen sein.
Marokko und die Türkei werden die Zahl der Imame, die für die Abhaltung der
Gottesdienst in die europäischen Staaten entsandt werden, stark erhöhet haben,
insbesondere auch um die zunehmende Zahl an radikalen Imamen zu bekämpfen,
die Spenden in den europäischen Gemeinden sammeln, um einen Regimewechsel an der Heimatfront herbeizuführen.
Die ganz überwiegende Mehrheit der Muslime, die in vierter oder fünfter
Generation in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden oder
andernorts leben, werden sich in einer Minderheitenidentität einrichten, sich
selbst als „europäische Muslime” bezeichnen und sich miteinander verbinden, in
Organisationen zusammenarbeiten und sich politisch engagieren über die Grenzen hinweg. Die Beziehungen zwischen den etablierten, institutionalisierten,
muslimischen Gemeinschaften und den permanenten neu einreisenden Arbeitsmigranten aus der Türkei und Nordafrika werden angespannt sein. Manche der
neuen Zuwanderer werden ihre eigenen Gebetshäuser einrichten, in denen sie
frei ihre Muttersprache sprechen können. Die alten Bräuche und das begrenzte
Wissen über die Aufnahmegesellschaften auf Seiten der Neuankömmlinge wer-
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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den zu Gräben innerhalb der Gemeinden führen und manch einheimische muslimische Führungspersönlichkeit wird sie herablassend oder argwöhnisch auf sie
herabblicken.
Die größte Gemeinsamkeit zwischen den muslimischen Bevölkerungen in
den unterschiedlichen europäischen Staaten wird in ihrer tiefen Spaltung liegen.
Die nationale Herkunft wird weiterhin ein guter Prädiktor für die Religiosität und
politische Einstellungen sein, auch wenn durch Ehen über ethnische (türkisch/
kurdisch, arabisch/ berberisch) und nationale Grenzen (türkisch/ deutsch, marokkanisch, alergerisch) hinweg sowie durch Ehen von Muslimen und NichtMuslimen simplifizierende Kategorien, wie sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts
bestanden, an Bedeutung verlieren werden. Der zentrale Konflikt innerhalb der
Gemeinden wird sich aber an der Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben
entzünden, wobei die alten Lager von politischem Islam und dem Islam der Vorfahren, der über die Botschaften verbreitet wird, gegeneinander ausgespielt werden. Diese beiden Linien, deren Synthese zu einem „Euro-Islam” einst vorhergesagt wurde, werden sogar noch stärker hervortreten. Diese innere Spaltung wird
sich in beständigen Konfliktlinien niederschlagen. In den meisten Städten wird
es eine „türkische Moschee”, eine „pakistanische Moschee”, eine „marokkanische Moschee” und eine „islamistische Moschee” geben, wobei die Berührungspunkte untereinander gering sein werden. Die Vertreter des Islam der Botschaften werden grundsätzlich eher dazu neigen, die Vorgaben der Aufnahmestaaten,
sowie die Trennung von Staat und Religion zu respektieren, wohingegen die
Vertreter des politischen Islam auch weiterhin versuchen werden, über die bestehenden Institutionen eine größere Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben
zu erreichen.
In Umfragen werden fast alle Europäischen Muslime sagen, dass sie während des Ramadan fasten und einmal in ihrem Leben nach Mekka pilgern werden. Moscheen werden an Freitagen nicht ganz so leer sein wie katholische oder
protestantische Kirchenbänke an Sonntagen. Aber genauso wie in den Kirchen
wird auch in den islamischen Gebetshäusern der Hauptbetrieb an den höchsten
Feiertagen des Jahres stattfinden. Aber über solche oberflächlichen religiösen
Gemeinsamkeiten hinaus wird es nichts geben, was einer Europäischen Ummah
ähnelt.
6
Fazit
Indem sich die westlichen, demokratischen Institutionen – Ministerien, aber auch
Gerichte, Stadträte und Parlamente – langsam den neuen Herausforderungen der
religiösen Vielfalt gestellt haben, ist die Integration und Institutionalisierung des
30
Jonathan Laurence
Islam stetig vorangeschritten. Die Befürchtungen, dass es nach der Fatwa gegen
Salman Rushdie und die Schulverweise gegen kopftuchtragende Mädchen in
Frankreich zu sozialen Unruhen kommen könnte, haben sich weitgehend gelegt.
Religiöse Kundgebungen sorgen nicht länger für Befremden. Anstelle von Straßenkundgebungen hat sich der politische Aktivismus mehr und mehr auf institutionelle Konsultationen, Lobbying und Gerichtsprozesse verlagert. Viele der
muslimischen Führungspersönlichkeiten sind zu verantwortungsbewussten Akteuren in einem institutionellen Umfeld geworden und haben daher einen Status
erreicht, bei dem sie auch etwas zu verlieren haben. Dieser Befund lenkt unsere
Aufmerksamkeit auch auf ein anderes, zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen den muslimischen Gemeinschaften in Europa und den zentralen Konfliktpunkten in der Nahostpolitik. Es mag zwar sein, dass Yusuf al-Qaradawi im
Hinblick auf seine Anhängerschaft ein Interesse daran hat, den Holocaust herunterzuspielen, die muslimischen Verbände in Europa haben indes schnell gelernt,
dass es nicht in ihrem Interesse ist, es ihm gleich zu tun.
Bei Gesprächen mit staatlichen Vertretern der europäischen Innenministerien – die einzigen, die regelmäßig Kontakt zu islamistischen Führern haben –
erhält man den Eindruck, dass die aktuelle Herausforderung nicht etwa vergleichbar ist mit der kommunistischen Internationalen, sondern vielmehr mit
einer islamischen CGT oder CGIL, den linken Gewerkschaften in Frankreich
und Italien, deren Führung ihre revolutionäre Ideologie ablegte und stattdessen in
Verhandlungen mit dem Staat eintrat. Mit anderen Worten: Mögen islamistische
Verbandsvertreter zwar so reden, als ginge es ihnen um den großen Wurf, in
Wirklichkeit haben sie sich aber mit Kompromissen angefreundet.
Die vielfältigen Konflikte zwischen den muslimischen Führungspersönlichkeiten und den Mehrheitsgesellschaften in den letzten Jahren haben genug Anschauungsmaterial geliefert, um die These von einem „Kampf der Kulturen” zu
überprüfen bzw., ganz konkret, die Institutionen, die aus dem Wandel von einer
weitgehenden Delegation hin zu einer strukturellen Einbindung des Islam hervorgegangen sind. Als das Kopftuch 2004 aus französischen Klassenzimmern
verbannt wurde, schwappten die Proteste nicht auf die Straße über, sondern islamistische Führer forderten eine Änderung des Gesetzes. Als die dänische Cartoon-Affäre in der islamischen Welt zu gewalttätigen Protesten führte, strengten
die islamistischen Führer Gerichtsprozesse an (vgl. Klausen 2009). Einerseits ist
dies durchaus eine Geschichte des Scheiterns, da das Scheitern eines Dialoges
vor Ort in Dänemark dazu geführt hat, dass die Unterstützung für den Protest im
Ausland gesucht wurde – mit den offensichtlichen Konsequenzen.
Andererseits haben diese Zwischenfälle aber auch manch positive Entwicklung zur Folge gehabt: Während des Karikaturenstreits haben sich die Muslime
Europas in keiner Weise an Protesten vergleichbar denen im Libanon, Libyen,
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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Nigeria oder Pakistan beteiligt. Stattdessen haben Europas Muslime ihre Wut
und ihre Betroffenheit auf gesetzliche Art und Weise, im Rahmen der alten und
neuen Institutionen, die zur Regelung der Beziehungen von Staat und Islam geschaffen wurden, zum Ausdruck gebracht. Mitglieder des CFCM in Frankreich,
der Consulta in Italien und der Deutschen Islam Konferenz haben beispielsweise
allesamt sowohl die Karikaturen als auch die gewaltsamen Proteste verurteilt.
Mit anderen Worten haben sie sich in mancherlei Hinsicht genauso verhalten wie
ihre katholischen und jüdischen Pendants: Sie sind für ihre Religion und deren
Angehörige eingetreten, als diese sich bedroht und gering geschätzt fühlten;
dabei haben sie rechtlichen und politischen Schutz über die bestehenden Institutionen gesucht. Als in französischen Vororten 2005 Proteste ausbrachen, nannten
Vertreter des politischen Islam das entstehende Chaos „unislamisch”. Die Tatsache, dass ihre Rufe von den Protestierenden größtenteils ungehört blieben, wirft
sowohl ein Licht auf ihren angeblichen Einfluss als auch auf ihre wahren Absichten. Islamistische Verbände haben die staatliche Intervention so reagiert,
dass sie ihr Verhalten sowie ihre umstrittenen Standpunkte (etwa im Hinblick auf
die innermuslimischen Beziehungen, die Beziehungen zwischen Islam und Judentum und die uneindeutige Haltung im Hinblick auf politische Gewalt) stark
verändert und angepasst, um einen stärkeren Einfluss im Rahmen der StaatIslam-Konsultation in einer Vielzahl von Ländern zu erhalten.
Bis aber die „Einbürgerung” des europäischen Islam vollständig ist, bis also
eine hinreichende Zahl an Imamen in Europa ausgebildet sind und sich die lokalen Moscheegemeinden ihre Anstellung – sowie den Bau von Moscheen – leisten
können, wird Islampolitik nicht nur vor Ort stattfinden. Die Frage, ob die bestehenden Konsultationsgremien irgendwann ein stabiles Gleichgewicht erreichen –
und dann auch in ihrer alltäglichen Arbeit weniger sichtbar sein werden so wie
ihre nicht-muslimischen Pendants – ist in gewisser Weise eine Herausforderung
für die Zukunftsfähigkeit des Nationalstaats und seine Fähigkeit, transnationale
Kräfte, die auf seine Bürger einwirken, aufzufangen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt herrschen Übergangslösungen vor: De-facto bestehen nach wie vor Absprachen zwischen den europäischen Regierungen und muslimisch geprägten
Staaten, dass religiöses Personal und die Mittel für den Moscheebau aus dem
Ausland kommen, auch wenn dies gewissermaßen über den Kopf der europäischen Muslime erfolgt. Die Regierungen Europas delegieren weiterhin zahlreiche Aufgaben an die inoffiziellen Vertreter Algeriens, der Türkei, SaudiArabiens und Marokkos. Für die beteiligten Regierungen bietet dies zwar die
Möglichkeit, Kontrolle über die religiösen Organisationen auszuüben und unliebsame Vertreter herauszufiltern, gleichzeitig hemmt es aber den Prozess einer
bottom-up-Integration und die Entstehung eines „europäischen Islams”.
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Nichtsdestotrotz haben die Konsultationsgremien bei der institutionellen
Einbindung des Islam durchaus Erfolge verzeichnen können: Dies reicht von der
Benennung von geistlichen Seelsorgern für die Streitkräfte und den Strafvollzug
über die Schaffung von Studiengängen für Religionslehrer, die an öffentlichen
Schulen Islamunterricht geben können, bis hin zur Unterzeichnung von „Wertekonsensen”. Während die Kapazitäten für eine lokale Imamausbildung nach wie
vor nicht ausreichend sind, setzt sich mehr und mehr die Ausbildung von Imamen in Rabat und Ankara vor deren Ausreise nach Europa durch, auch wenn für
die Imame in Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich
eine Teilnahme an einem Eingewöhnungskurs verpflichtend ist.
Aber es ist auch die Ohnmacht und die in ihrer Natur wohnenden begrenzten Einflussmöglichkeiten dieser Gremien deutlich geworden. Der französische
CFCM konnte z.B. die restriktive Gesetzgebung gegen Kopftuch (2004) und
Burka (2009) nicht verhindern, ebenso wenig wie auch die Vereinigungen in der
Schweiz sich nicht gegen das Referendum zum Minarett-Verbot wehren konnten
(2009). Was sagt dies nun über die institutionelle Mitbestimmung der Muslime
in Europa aus und was können die Gremien gegenüber den Muslimen, die sie
repräsentieren, vorweisen? Sind sie dazu verdammt, den Platz zwischen dem
„Hammer“ des Staates und dem „Amboss“ der Gemeinden einzunehmen bzw.
die Rolle eines „Feuerwehrmanns“ für die „Brandstifter“ in ihren Gemeinden,
wie einige Kritiker anmerkten? Waren die Skeptiker im Recht, die in den 1970er
Jahren den Neo-Korporatismus dahingehend beschrieben, dass ihm „gleichzeitig
das Wesen staatlicher Kontrolle und der Anschein von Demokratie” (Winkler
1979, S. 11) innewohne? Oder sind die Islamgremien vielleicht, allem Anschein
zum Trotz, die letzten Rückzugsorte, in denen islamische Führungspersönlichkeiten „sie selbst” sein können in einer zunehmend vergifteten Atmosphäre des
anti-muslimischen Populismus?
Nur wenige US-Politiker konnten sich beim Anblick der brennenden Barrikaden in Chicago, Los Angeles, New York und Washington D.C. in den späten
1960er Jahren vorstellen, dass zwei Afroamerikaner das State Department von
2001 bis 2009 anführen würden oder dass eine afroamerikanische Familie kurz
darauf in das weiße Haus einziehen würde. Die schlimmsten Spannungen in USamerikanischen Innenstädten wurden durch eine zwar inkohärente aber gleichwohl effektive Mischung aus Fördermaßnahmen, Antidiskriminierungspolitik,
Interventionen durch Gerichte, den Neuzuschnitt von Wahlkreisen, eine Reform
der innerparteilichen Kandidatennominierung, Anti-Drogen-Gesetzgebung und
Reformen im Strafvollzug entschärft. Auf vergleichbare Weise werden sich im
Jahr 2030 die Europäer an eine wachsende Teilhabe der Muslime in der Gesellschaft und der Politik gewöhnt haben, werden die demokratischen Institutionen
ihre Arbeit machen lassen und schließlich darauf hoffen, dass die Wirtschaft
Die Integration der Muslime und die Entstehung eines europäischen Islam
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stark genug ist, um den Muslimen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. So lange hinreichende Schutzmechanismen gegen Diskriminierung bestehen und es eine Politik gibt, die soziale Teilhabe und Bildungserfolg vorantreibt,
haben sie allen Grund zur Hoffnung.
Bei einem Blick auf die Silhouette europäischer Kleinstädte zur Mitte dieses
Jahrhunderts wird es kaum noch nachvollziehbar erscheinen, mit welcher Energie noch wenige Jahrzehnte zuvor so viele Aktivistengruppen – von prominenten
Ex-Muslimen bis hin zu kirchenfeindlichen Gruppen in wechselnden Koalitionen
– sich gegen den Bau von Moscheen eingesetzt haben. Der islamistische Terrorismus wird aller Voraussicht nach als treibende Kraft für die Ausgestaltung der
Islampolitik an Bedeutung verlieren. Als Ergebnis davon wird die Frage der
Integration von Muslimen immer mehr zum normalen Tagesgeschäft werden und
von der geringeren medialen Aufmerksamkeit profitieren. Die Vertreter der Muslime des Jahres 2030 werden den Wegbereitern früherer Generationen – Politikern, Staatsbediensteten und Gemeindeführern – Tribut zollen, die zu einem
Zeitpunkt die These vertreten haben, dass die Muslime zu einem festen Bestandteil europäischer Gesellschaften geworden sind, als dies politisch noch riskant
war.
2030 wird es Jahrzehnte her sein, dass über den Dächern Oxfords ein großes
Minarett zum ersten Mal emporragte und damit die Prophezeiung des Historikers
Edward Gibbons aus dem 18. Jahrhundert erfüllte (Ferguson 2004). Tatsächlich
wird es in jeder Hauptstadt eine große repräsentative Moschee geben oder zumindest Pläne für den Bau einer solchen. Diese Kuppeln und Türme werden
dann jedoch nicht mehr als Bedrohung für die europäische Zivilisation und ihre
christlichen Wurzeln angesehen werden, wie dies noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Fall war. Eine definitive Vorhersage über Erfolg oder Scheitern der
Emanzipation der Muslime in Europa mag in Anbetracht der dynamischen Entwicklungen nicht möglich sein. Der Prozess bestehend aus Emanzipation und
Einbindung wird noch viele Generationen in Anspruch nehmen und hat gerade
erst begonnen. Die europäischen Nationalstaaten haben es aber schon heute geschafft, Routinen für den Kontakt mit muslimischen Vertretern zu etablieren und
haben so die gegenseitige Vertrautheit auf eine neue Ebene gehoben und zudem
einen langsamen aber stetigen Prozess der Einbindung religiöser Autorität eingeleitet. Wie schon der französische Gelehrte Jacques Berque vorhersagte, haben
die Staaten den Raum dafür geschaffen, dass – genauso wie ein Islam des
Maghreb oder ein indonesischer Islam sich mit der Zeit entwickelte – nunmehr
auch ein Islam Europas wachsen und gedeihen kann.
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