Die soziale Lage der Muslime in Indien

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Die soziale Lage der Muslime in Indien
Indien wird gemeinhin als ein Land der Hindus wahrgenommen. Tatsächlich ist die muslimische
Minderheit in Indien mit über 13 % der Bevölkerung (2001 138 Mio.) die größte religiöse
Minderheit weltweit. Ihre Situation in der Gesellschaft ist entsprechend komplex.
Nach der Teilung des Subkontinents 1947 emigrierten sehr viele muslimische Intellektuelle,
Regierungsbedienstete, Ärzte und Juristen nach Pakistan. Dies zog eine Änderung der
gesellschaftlichen Struktur der Muslime nach sich. Die Muslime, die in Indien zurück blieben,
stammten zum großen Teil aus ländlichen Gebieten. Der Auszug der urbanen und
wirtschaftsstarken muslimischen Avantgarde förderte neben der wirtschaftlichen Schwächung der
muslimischen Gemeinde daher auch ihren politischen Niedergang. Nach 1947 fehlte es den
indischen Muslimen an wirtschaftlichen Ressourcen, sie gerieten bei der Restrukturierung des
indischen Verwaltungsdienstes wegen ihrer Religionszugehörigkeit weiterhin ins Hintertreffen,
und es mangelte ihnen an einer politischen Führung. Wirtschaftliche Misere und soziale
Desintegration führten Ende der 1950er wieder zu verstärkten kommunalistischen
Auseinandersetzungen in den Ballungszentren.
Noch heute lebt die Mehrheit der indischen Muslime von der Landwirtschaft. Da der
Arbeitsmarkt für Muslime in höheren Rängen der Administration im säkularen Indien begrenzt
zu sein scheint, verzichten Teile der Mittelschicht zusehends auf Bildung und Schulbesuch und
versuchen vermehrt, sich auch mit wenig Bildung auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren, z. B. im
Bereich des Handels.
Religiöse Unterschiede innerhalb der muslimischen Gemeinde
Der Islam in Indien ist trotz seiner formalen Orientierung am international gültigen islamischen
Schriftgut vor allem in Ritualen an kulturelle Gegebenheiten der jeweiligen Ortschaft angepasst.
Beim Volks-Islam der ländlichen Muslime spricht man von Indigenisierung: Die lokale und
islamische Kultur ergänzen sich, sind verwoben oder bestehen nebeneinander. Ein gutes Beispiel
hierfür ist der weit verbreitete Heiligenkult, der von Indern - sowohl Muslimen als auch Hindus gleichermaßen gelebt wird, und im Gegensatz zum schriftzentrierten oder auch
fundamentalistischen Islam steht. Lokale Heiligtümer dienen als Treffpunkte, an denen Grenzen
zwischen den Religionszugehörigkeiten verschwimmen. So findet man nicht selten HinduMusiker an islamischen Heiligengräbern u.a.
Im städtischen Bereich herrscht aufgrund von Abgrenzungstendenzen zwischen Mehrheit und
Minderheit eine strengere Islamisierung vor als auf dem Land. Ein strenger Islam wirkt dort
oftmals identitätsstiftend und gibt den nötigen sozialen Halt. Städtische Gruppen tendieren eher
zur auf die Schrift basierende Religion (der so genannte Skripturalismus), so wie er etwa auch
von den Vertretern des so genannten politischen Islam propagiert wird, obgleich auch hier volksislamische Werte beliebt sind. Die Skripturalisten finden ihre gesellschaftliche Basis meist in der
mittleren und unteren Mittelschicht und vertreten nicht selten eine Islamisierung im Sinne einer
Reinigung des Islam von lokalen Einflüssen. Dieser Purismus führt oft zur Abschottung und
Isolation von der als kulturell andersartig empfundenen Umwelt und entzündet religiös motivierte
Auseinandersetzungen. Neben diesen Spannungen zwischen städtischen und ländlichen
Gesellschaftsbreichen bestehen Uneinigkeiten einerseits zwischen verschiedenen sunnitischen
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Denkrichtungen, andererseits zwischen Sunniten und Schiiten. Es kommt immer wieder zu
gewaltsamen Ausschreitungen zwischen ihnen.
Das Kastenwesen
Ein Ergebnis der Anpassung der Muslime an die lokale Kultur ist, dass die Sozialstruktur der
muslimischen Minderheit in Indien sichtbar vom indischen Kastensystem geprägt ist. Im
Unterschied zu den Hindus wird das Kastenwesen bei den Muslimen aber nicht religiös
legitimiert. Es besteht Endogamie, die Idee des Geburtsstolz und der Abstammung ist verbreitet,
jedoch steht dies nicht auf der Grundlage einer Ideologie der Reinheit. Wohlstand und andere
säkulare Faktoren scheinen hier mehr Bedeutung zu haben, um den gesellschaftlichen Status zu
bestimmen. Ferner besteht unter den Muslimen keine rituell reine Kaste mit bestimmten
Aufgaben wie etwa Brahmanen.
Muslimische Identität und Konflikte
Eine einheitliche muslimische Identität wird von Teilen der in Indien zurückgebliebenen
muslimischen Elite - sofern sie nicht säkular orientiert ist – trotz bestehender Unterschiede
angestrebt. Die meist in städtischen Zentren konzentrierten Vertreter dieser Elite proklamieren
ihre eigenen Vorstellungen als gesamtgesellschaftlich gültigen Entwurf und betrachten ihre
Gemeinde als religiöse Minderheit, die sich lediglich für die Aufrechterhaltung ihrer Sprache
(Urdu) und Kultur einsetzt, und nicht als politisierte nationale Minderheit. Die von ihnen
geförderte Isolation der muslimischen Gemeinde von der hinduistischen Mehrheit führt zu
weiteren Unterrepräsentation der Muslime im öffentlichen Dienst und macht damit das Dilemma
indischer Muslime zu einem Dauerzustand.
Diese propagierte muslimische Kollektividentität und der gesteigerte Hindu-Nationalismus
verstärken bestehende Konfliktpotenziale. Die Zahl der Auseinandersetzungen zwischen
Muslimen und Hindus hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Jedoch geht es nicht um
Religion an sich, sondern um lebensweltliche Interessen, die religiös artikuliert werden. Den
Vertretern des religiösen Purismus gelingt es, religiöse Gefühle unter den wirtschaftlich und
sozial schwachen Gruppen auszunutzen, sie zu politisieren und zu radikalisieren. Bei diesen
Unruhen spielen sozio-ökonomische Gesichtspunkte eine zentrale Rolle: mangelhafte
Möglichkeiten der Grundbedürfnisdeckung, fehlende vertikale Mobilität und soziale
Desorientierung im Zuge der Migration.
Der Artikel ist eine Kurzfassung des Aufsatzes „Die gesellschaftliche Lage der Muslime in
Indien“ aus dem von Werner Draguhn herausgegebenen Buch „Indien 2000: Politik, Wirtschaft,
Gesellschaft“.
Jamal Malik
ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Erfurt. Er beschäftigt sich u.a. mit
muslimischen Minderheitengesellschaften in Europa, der Sozialgeschichte Südasiens, dem
Kolonialismus, der Interkulturalität, dem politischem Islam und der Religionssoziologie.
Literatur zur Geschichte und sozialen Lage der Muslime in Indien
Annemarie Schimmel: Islam in the Indian Subcontinent, Leiden-Köln 1980
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Jamal Malik: Islam in Südasien, in A. Noth & J. Paul (Hg.): Der islamische Orient - Grundzüge
seiner Geschichte, Würzburg 1998
Imtiaz Ahmad (Hg): Caste and Social Stratification among the Muslims, New Delhi 1973
Imtiaz Ahmad (Hg): Family, Kinship and Marriage among Muslims in India, New Delhi 1976
Imtiaz Ahmad (Hg): Ritual and Religion among Muslims of the Sub-continent, Lahore 1985
Imtiaz Ahmad (Hg): Modernization and Social Change among Muslims in India, New Delhi
1983
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