Still - Gabriela Joham

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STILL
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2
Gewidmet meinem Mann
Das Coverbild ist ein Auszug eines Bildes
Von
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Monika Kerschhofer
STILL
War es geworden. Rund um ihn herum.
Die Musik war verstummt und der
Straßenlärm hatte nachgelassen.
Nachdenklich saß er in der Gaststube. Er
bemerkte weder den ungeduldigen Blick
des Kellners noch die herabhängenden
Mundwinkel seines Gegenübers.
Die Worte waren ihm ausgegangen an
diesem Abend.
Zu viele Worte im Job. Und dann auch
noch viel zuviel geredet mit der Frau.
Es war nicht seine. Vor einigen Wochen
hatte die ihn verlassen. Sich von ihm
abgewandt und den Sohn bei sich
behalten.
Einfach so.
Oder auch nicht. Sie hatte mannigfaltige
Gründe genannt. Einer davon war seine
Sprachlosigkeit gewesen. Seine
Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken.
Die, die ihm jetzt gegenüber saß war
schlicht enttäuscht über den Ausgang des
Abends.
Ihm war das alles so zuwider geworden.
Doch auch das brachte er nicht über die
Lippen.
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„Zahlen bitte“ – war alles und danach
verließ er mit einem Nicken den Raum.
War nicht schade um die Verabredung, er
war ohnehin noch nicht soweit.
Und die Rechnung hatte er beglichen –
mehr war von ihm nicht zu erwarten.
Sein Handy zeigte einen Anruf an. Er
hatte es auf lautlos geschaltet. Es war ihm
einfach alles zu laut und zuviel.
Ein Freund rief an. Einer, der wenigen,
dem er noch ein Ohr schenkte.
Ein Selbsterfahrungstrip in die Sahara und
ein Teilnehmer sei ausgefallen, und ob er
denn nicht vielleicht?
Wieder blieb ihm die Sprache weg.
Selbsterfahrung? Quatsch. Er war im
Außendienst, wozu tiefer gehen?
Der andere war im Management – „ich
halte große Stücke auf dich – vielleicht ist
das die nächste Karrierestufe“ – und so
weiter und so fort.
Viel zu viele Worte.
Schlafen wollte er und vor allem nicht
mehr zuhören. Und schon gar nicht mehr
reden.
Stille wünschte er sich.
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Stille von all den Oberflächlichkeiten, die
ihn bedrohlich umzingelten.
Der Manager ließ nicht locker, der Ruhe
wegen erlaubte er ihm, das Angebot zu
mailen.
Nach einer Katzenwäsche fiel er in einen
tiefen Traum.
Viel zu früh riss ihn das Klingeln des
Handys aus dem Schlaf. Schon lange
bediente er sich dessen Weckfunktion,
hatte ihn doch das schrille Läuten der
alten und das abscheuliche Düdeln der
neuen Wecker schon als Schüler
erschreckt.
Nunmehr ertönte wenn auch elektronisch
einer seiner Lieblingssongs.
Auch der Radiowecker war einem seiner
Wutanfälle zum Opfer gefallen. Just um
die Zeit, um die er meist aus den Federn
musste, quatschten ihn die Moderatoren
voll oder brachten die einen hämmernde
Rhythmen und die anderen Lederhosen
brutal und die dritten schwere klassische
Kost.
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Von allem nahm er ab und zu einmal eine
Dosis.
Doch nicht am Morgen.
Nicht, wenn es darum ging, den Tag gut
zu beginnen.
Vor langer Zeit war er einst in einem
dieser Seminare gesessen. Positive
Thinking oder so ähnlich.
Viel war nicht geblieben. Der Trainer war
ein cooler Typ und hatte so gesund und
fröhlich gewirkt.
Nein, falsch, der hatte nicht nur so
gewirkt, der hatte eine Ausstrahlung, die
ihm imponiert hatte.
Und nach der Frage nach dessen
Erfolgsrezept kam die schlichte Antwort:
„Ich habe mir vorgenommen, dass jeder
Tag ein guter Tag wird.
Wir sind nicht nur zum happypepi
geboren, so vieles auf unserem Weg kann
gut werden, wenn wir es ihm zutrauen.“
Fast philosophisch erschien dem
Außendienstler diese Folge der Worte.
Nur ein Zufall, dass gerade er die Frage
gestellt hatte – auf der Treppe auf dem
Weg zum Frühstücksbuffet.
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Dort angekommen war es auch schon
wieder vorbei mit der Offenheit.
Der Rest des Trainings war exakt auf die
Verkäufer abgestimmt. Die Worte härter,
die Übungen kompetitiver, die
Selbstdarstellungsbedürfnisse gut
zufriedenstellend.
Der Trainer wollte der Versicherung
wieder ein Seminar verkaufen. Nur mit
positive thinking allein hätte er wohl nicht
gepunktet bei den Dinosauriern, die mit
ihren klimatisierten Autos und den
Verkaufsranglisten anreisten.
Und auch nicht bei den jugendlichen
Shootingsstars, die sich ohnehin für
unbesiegbar hielten.
Die Seminarreports kamen in den
Personalakt. Deswegen kamen die
Jungen in das Seminarhotel.
Die Dinosaurier schlugen nur die Zeit tot.
Etwas, das sie schon bald um karges
Arbeitslosengeld tun würden. Doch davon
ahnten sie nichts in ihrer
Selbstgefälligkeit.
Er war irgendwo genau dazwischen.
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Nicht nur altersmäßig.
Er stieg aus dem Bett und sein erster
Blick galt dem Fenster.
Die Sonne blinzelte ihm zu. Es würde ein
guter Tag.
Behend schlüpfte er in die Küche – sein
Körper fühlte sich viel besser, seit er
regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Der
Finger fand den Knopf der sündteuren
Espressomaschine.
Kurz darauf prasselte der Strahl der
Dusche auf seinen Rücken.
Laufen gehen in der Früh. Das stand im
Buch, das nun die Bestsellerlisten füllte.
Nein danke, nicht mit ihm. Die Dusche
danach war seine Dusche davor.
Vor dem herrlichen Espresso, der alles
Magenweh Vergangenheit sein ließ.
Ein paar Körner braunen Zucker und
sonst nichts.
Im T-Shirt und dem Slip trank er den, die
Morgenzeitung vor sich aufgeschlagen.
Er war doch ganz schön weit gekommen
nur mit der Einzelhandelslehre.
Die Seinige hatte das nie schätzen
können. Oder hatte er nicht hingehört?
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Vielleicht doch noch ein bissl Magenweh.
Aber mehr vom schlechten Gewissen.
Hinein in die Montur – heute würde er
Abschlüsse nach Hause bringen, soviel
stand fest.
Die ersten Termine waren schnelle
Geschäfte, da brauchte er nicht viel
herumzureden.
Alte Stammkunden, alles geritzt. Nur noch
höfliche Floskeln, derer er sich seit Jahren
bediente.
Mit der Zeit war es ihm klargeworden, wie
dankbar die Menschen für das
Selbstverständiche waren. Ein Blick, ein
Lächeln, ein Händedruck.
Beim letzten Rhetorikkurs in der
Firmenzentrale hatte das alles anders
geklungen, sie hatten Fünfsätze verordnet
bekommen und jede Menge Theorie.
Pfeifend setzte er sich in den Kombi. Bei
Gelegenheit würde er um einen Wechsel
des Dienstautos ansuchen. Ein
Familienfahrzeug brauchte er nun nicht
mehr.
Die Exfrau schürte die Abneigung und er
selbst wollte abwarten, bis der
Sohnemann die Glut verraucht sah und
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sich wieder eine eigene Meinung zu
bilden getraue.
Mein Gott, was hatte er in all den
Seminaren und Trainings der
Versicherungsbranche alles gelernt.
Viel mehr darüber wie man die
Kommunikation aufrecht erhält, als
darüber, wie man sie im Trockendock
liegen lässt.
Was soll´s, er war bestimmt kein
Einzelschicksal.
Der Tag hielt, was der Morgen
versprochen hatte.
Satt und zufrieden kehrte er abendlich
beim Italiener ein.
Gut, die Alimente schmälerten seine
Brieftasche,
der Überziehungsrahmen war allerdings
gleich hoch geblieben.
Ein Prosecco an der Bar und ein zwei
Blicke ins Lokal, vielleicht war ja heute
sogar noch eine schöne Frau zu finden.
Für ein Essen. Mehr wollte er
augenblicklich nicht.
Nur sich ein wenig sonnen darin, wie gut
er aussah und wie brillant er sich und
seine Produkte verkaufte. Den gestrigen
Abend hatte er bereits erfolgreich
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verdrängt. Er fühlte sich wie auf einem
Höhenflug, siegessicher und
zuversichtlich.
Die Nummer am Handydisplay irritierte
ihn.
Jahrelang hatte sein Herz schneller
geklopft, wenn seine Augen die einfache
Ziffernfolge erblickten.
Jetzt war er nur noch auf der Hut, wenn
sie auf der Anzeige aufleuchteten.
Seine Exfrau. Was konnte sie wollen, was
nicht wieder nur missgünstig und
verächtlich klingen würde?
Nein, das passte nicht in diesen Tag.
Er lehnte das Gespräch ab.
Wieder vibrierte das kleine Ding in seiner
Hosentasche. Wieder nahm er es heraus.
Hätte ein Kunde sein können oder sonst
wer.
Wieder ihre Nummer.
Nein, noch nicht nachgeben. Einmal noch
ablehnen.
Beim dritten Anruf drückte er die andere
Taste.
„was ist denn so dringend?“...Sie konnte
gleich bemerkten, dass sie ihn störte.
Nein, nicht sie.
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Dieses beschissene schlechte Gewissen,
dass es auch an ihm gelegen war, dass
da plötzlich nichts mehr lief zwischen
ihnen.
Er kippte den letzten Schluck Prosecco
hinunter und rechnete mit allem
möglichen. Nur nicht mit dem „du musst
mir helfen, ich weiß nicht mehr weiter, du
hast doch Zeit und einen Job, bei dem du
es dir einteilen kannst...“
Er verstand kein Wort. Am Tonfall
erkannte er die Ernsthaftigkeit ihrer
Gefühle. Sie schien es nicht aussprechen
zu können, wessentwegen sie denn
tatsächlich anrief.
Sie redete um den heißen Brei herum und
kurz erkannte er sich im Spiegel.
„Was willst du mir sagen?“ unterbrach er
sie ungeduldig.
„Timo, er ist verschollen“
„Verschollen? Was heißt das, ist er
abgehauen?“
Timo war sechzehn und ein eher ruhiger
zurückhaltender Junge.
Er redete nicht viel und seine Frau hatte
ihn oft mit ihm verglichen und ihn
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aufgefordert, seinen Sohn doch stärker zu
Gefühlen zu ermuntern.
Das hatte er nicht zustande gebracht.
Nicht einmal bei der Trennung war Timo
anzusehen, was er fühlte. Ihre letzte
Umarmung dauerte nur kurz.
Die beiden Männer hatten es eilig, aus der
Nähe des anderen zu kommen. Die
Tränen drückten schon im Hals und wenn
die dann vielleicht doch noch bis in die
Augen gestiegen wären?
„Was heißt verschollen?“ wiederholte er.
„Du weißt doch, er war mit auf dieser Tour
durch die Wüste...“
„Die Wüste?“
Dunkel erinnerte er sich an den
ambitionierten Geographieprofessor, der
die talentiertesten seiner Schüler auf eine
Expedition mitnehmen hatte wollen.
Auch an den wahnwitzigen Betrag, den
die Exfrau von ihm dafür verlangt hatte.
Nach dem Ärger darüber hatte er alles
wieder vergessen. Sollte sie doch sehen,
wie sie das alles alleine checkte.
Und Timo? Der wollte ohnehin gerade
nichts mit ihm zu tun haben.
„Ich bitte dich, jetzt sag schon, was los
ist!“ herrschte er in den Hörer.
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Die umsitzenden Genießer schüttelten die
Köpfe.
Am Ende des Gespräches bezahlte er
und fuhr nach Hause.
Die wichtigsten Sachen waren schnell
gepackt und das Ticket via Internet
gebucht.
Gut, dass er so toll organisiert war.
Das bemerkte er im Augenblick nicht.
Timo war verschollen, vielleicht sogar
entführt. Mitten in der Wüste Afrikas.
Sie hatte ihn gebeten hinzufliegen, auf
das Konsulat zu gehen. Dort zu bleiben
und jedem Hinweis nach zu gehen. Und
Timo in die Arme zu nehmen, wenn er
dann.....
Sie musste einfach daran glauben, dass
ihr Bub gesund zurückkehren würde.
Es war hart genug gewesen, den Mann zu
verlieren.
Zu verlieren an zuviel Oberflächlichkeit,
Lässigkeit und Schickimicki Getue.
Zu verlieren an die scheinbar
unterschiedlichen Entwicklungen der
beiden Liebenden.
Sie hoffte, diesmal würde er wissen,
worauf es ankommt.
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Die Zeitungen waren voll davon, wie die
Touristengruppe inklusive einiger Schüler
entführt worden war.
Von brutalen Terroristen und Gangstern
war da die Rede. Welchen die keine
Scheu hatten zu töten und die weithin als
gemeingefährlich galten.
Die Medien steuerten ihren Teil dazu bei,
dass die Verwandten in der Heimat nicht
mehr ruhig schlafen konnten.
Auch er saß nervös in dem kleinen
Flugzeug.
Die Reise war sehr anstrengend gewesen
und jetzt sollte ihn das kleine
Lastenflugzeug in die Nähe des Camps
bringen, wo die anwesenden Angehörigen
vom Roten Kreuz betreut wurden.
Bald hatte er es geschafft und hoffentlich
würde alles gut werden.
Das war sein letzter Gedanke.
Schlagartig ertönte ein Höllenlärm, der
Motor heulte auf und sein Körper wurde
hin und hergewirbelt.
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Ihm wurde schwarz vor den Augen und er
spürte einen stechenden Schmerz
irgendwo tiefer in seinem Leib.
Gleich darauf verlor er das Bewusstsein.
Viele Stunden später erwachte er wieder.
Kaum bekam er seine Augen auf, sie
waren verklebt von der langen Zeit, die er
dort wohl schon gelegen war.
Sein Schweiß hatte die Kleidung
durchnässt und entsetzt stellte er fest,
dass er wohl auch uriniert haben musste.
Über ihm lag ein Teil des Flugzeuges, das
ihm Schatten bot. Das hatte ihm wohl das
Leben gerettet. Ihn vor dem Austrocknen
bewahrt.
Seine Kehle war staubtrocken und er
röchelte während er sich mühsam auf die
Beine stellte.
Da war er wieder der Schmerz, an den er
sich als letztes erinnern konnte.
Automatisch griff seine Hand an die
Stelle, die den Schmerz auslöste.
Er traute seinen Augen kaum. Es war eine
tiefe Fleischwunde. Jedoch sauber und
ausgetrocknet.
Wie mit Wundbenzin gereinigt.
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Es konnte nur ein Tier gewesen sein, das
ihm diesen Dienst erwiesen hatte. Der
Pilot war nicht zu sehen.
Statt seiner lagen noch einige Knochen in
der heißen Sonne. Er ordnete sie nicht zu.
Viel später würde er wissen, dass die
Tiere unterschieden hatten. Zwischen
dem was unrettbar verloren und als Futter
diente und dem, was noch am Leben
bleiben sollte.
Jetzt gerade war nur ein Gedanke
vordringlich, er brauchte etwas zu trinken.
Das gleißende Sonnenlicht war es, das
ihn geweckt hatte. Gerade noch
rechtzeitig, um seinem Körper die Chance
auf Überleben zu geben.
Nunmehr waren es schon drei
Naturgewalten gewesen, denen er seine
Lage verdankte.
Auch das bedachte er zu diesem
Zeitpunkt noch nicht.
Jeder Schritt war eine große Last. Das
Flugzeug war zerborsten und doch nicht
explodiert. Irgendwo mussten die
Trinkwasserkanister zu finden sein, die
der Pilot als zweite Fracht mit in das
Camp bringen hätte sollen.
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„Timo“ schoss es dem Mann durch den
Kopf. „mein Gott, ich bin doch überhaupt
erst wegen Timo...“
Weiter wagte er nicht zu denken.
Nicht an das Gesicht des Sohnes, wenn
er der einzige war, dessen Vater ihn nicht
erwartete.
Nicht an die Worte der Mutter, die ihn
frühzeitig ertauben lassen würden.
Schon gar nicht daran, dass er vielleicht
nicht mehr die Gelegenheit für einen
würdevollen Abschied bekam.
„Timo“ hallte es in seinem Kopf wider. Er
verlor abermals das Bewusstsein.
Zum Glück nicht sehr lange, der stinkende
Atem eines Schakals ließ ihn erwachen.
Er schrie laut auf. So laut, dass das Tier
die Flucht ergriff.
Andere Tiere in der Umgebung merkten
auf. Sonst war hier niemand.
Endlich fand er den ersten Kanister.
Gierig stürzte er sich darauf und ließ das
Wasser die Kehle hinunterrinnen.
Viele Kilometer weit weg vom
italienischen Restaurant, seinen Kunden,
dem Rest der Welt.
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Das Wasser rann nicht nur in seinen
Schlund, es suchte sich auch den Weg
über seinen Hals und seinen Oberkörper.
Am liebsten hätte er den ganzen Kanister
über seinem brennenden Leib ausgeleert.
Ein lauter Vogelschrei irritierte ihn. Er hielt
inne.
Zum Glück. Das war die Gelegenheit, in
der seine Ratio vorpreschte.
„Du bist in der Wüste, Wasser ist knapp“
funkte sie hinunter zu den
überschwänglichen Trieben.
Wieder der Vogel. Eindringlich und schrill
war sein Geschrei.
Als er den Kanister abstellte, verstummte
der Lärm.
Die Natur hatte längst angefangen, mit
ihm zu sprechen. Er taumelte immer noch
auf der Brücke zwischen dem, wo er
herkam und dem, was ihn hier erwartete.
Langsam klärte sich sein Verstand.
Kam Ordnung in seine Gedanken.
Das erste, was er brauchte war ein
Schattenplatz, um überhaupt weiter
nachdenken zu können.
Er blickte an sich hinab und sortierte die
Kleidungsstücke.
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Das Hemd war ohnehin zerfetzt, also zog
er es aus und machte einen Turban
daraus.
Sein Kopf brauchte den meisten Schutz –
der Oberkörper würde nach einigen
Solarienbesuchen im sicheren Heimatland
schon einige Zeit durchhalten.
Wie weit war das alles weg.
Nein, nur nicht sentimental werden. Das
verwässert die Überlebenschance. Ein
Ziel, ich brauche ein Ziel dämmerte es
ihm. Etwas das mich wieder gut
hinausbringt aus der Misere.
Im nächsten Augenblick schalt er sich.
Überleben. Ist das nicht Ziel genug?
Gleich wieder korrigierte er sich. In dieser
schier ausweglosen Situation galt es eine
Strategie zu entwickeln. Viele der
ehemals gelernten Inhalte spukten ihm
durch den Kopf.
Fast wurde er wieder ohnmächtig, doch
gerade noch rechtzeitig bewahrte er sich
selbst davor.
Jetzt hieß es denken, verdammt noch mal
denken. Es ging um Leben oder Tod.
Das erstemal in seinem Leben.
Tausende Bilder zogen an seinem inneren
Auge vorbei, kiloweise
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Managementliteratur, Lebenshilfebücher
und survival guides. Endlich kam das
richtige vorbei.
Bleiben oder gehen. Bleiben oder gehen.
Bleiben oder gehen. Das war die nächste
Etappe auf dieser Reise.
Shit. In all den gruppendynamischen
Übungen, in denen er bislang gewesen
war, waren andere Menschen um ihn.
Andere, die ihre Meinung sagten, ihr
Wissen preisgaben, ihre
Überzeugungskraft und ihre Rhetorik
ausspielten.
Hier war er allein. Ganz allein. Oft
gehörtes hämmerte in sein Gehirn.
Gehen oder bleiben? Welche Frage für
einen Einzelnen.
Die Sonne hatte indes ihre Wanderung
fortgesetzt, langsam würde der Abend
hereinbrechen.
Nunmehr war nicht nur das fehlende
Wasser ein Problem.
Auch die Panik, gefressen zu werden.
Dass er noch lebte, grenzte an ein
Wunder.
Dass das Tier ihn verschont hatte, war
schlicht eines.
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Er ahnte nicht, ob er für das Universum
noch von Nutzen sein konnte.
Das Tier hatte es vielleicht gerochen.
Er rechnete den Wasservorrat durch.
Allzu lange würden die Kanister nicht
reichen. Vermissen würde ihn so schnell
hier niemand. Das Geiseldrama fesselte
die Menschen höchstwahrscheinlich über
die Maßen. Oder sie waren gar nicht
informiert. Wurden dumm gehalten von
Regierung und Rebellen. Das war das
einfachste Instrument zur
Machtgewinnung.
Wieder ermahnte er sich. Für
philosophische oder realpolitische
Gedanken war hier wohl nicht der richtige
Platz.
Also doch gehen. Zum Bleiben fehlte ihm
die Kenntnis der Einheimischen. Die erste
Nacht bei Bewusstsein verbarrikadierte er
sich inmitten des Flugzeugwracks. Die
Schakale schlichen um seine Behausung
herum und er hörte den einen oder
anderen Löwen brüllen.
Irgendwann schlief er ein.
Das Brechen der Dachkonstruktion
weckte ihn unsanft aus dem Traum.
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Er hatte von Zeiten geträumt als er klein
war, ganz klein. Irgendwann so zwischen
zwei und drei Jahren. Die Zeit, in der
Kinder das Sprechen erlernen müssen
und den Kontakt zum Himmel dafür
scheinbar eintauschen. Zumindest für die
meiste Zeit des Tages.
Es war ein wunderbarer Traum gewesen,
er hatte sich so leicht und froh gefühlt –
und dann –
Dann krachte der Flugzeugflügel, der ihm
als sicheres Dach gedient hatte auf seine
Bettstatt herab.
Den Absprung der Raubkatze konnte er
fühlen. Zum Glück war sie genauso
erschrocken wie er.
Sie hatte sich getrollt.
Gehen! In dieser Sekunde stand es fest.
Noch einige Zeit verharrte er in der
gleichen Stellung. Jetzt nur nichts
riskieren und sich zu früh als Beute
preisgeben.
Mein Gott, das erinnerte ihn schon wieder
an irgendeines dieser Verkaufstrainings.
Viele von denen hatte er stets verworfen.
Jetzt schien sich so manche
Binsenweisheit als klug herauszustellen.
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Er musste packen. Trinkwasservorräte
und sonstiges Brauchbares. Den einen
oder anderen Riemen. Streichhölzer,
vielleicht sogar Treibstoff.
Als er die Liste durchging, bemerkte er
dass er nur einen Bruchteil der Sachen
würde tragen können.
Das Funkgerät, von dem er sich lange
noch Hoffnung gemacht hatte, war kaputt.
Das einzige, was noch dienlich sein
konnte an diesem Ort war der Kompass
des Flugzeuges.
Dafür hätte er allerdings wissen müssen,
in welcher Himmelrichtung die
nächstgelegene Ansiedlung lag.
Sein Blick wandte sich gen Himmel.
Wie der Zufall es wollte, sah er einen
Schwarm Vögel über sich hinwegziehen.
Sie zeigten gleich einem Pfeil in eine
Richtung.
„Warum nicht“, dachte er sich. Und nahm
es als ein Zeichen.
Schwer bepackt, vor allem mit Wasser
und Feuer begab er sich in der glühenden
Hitze auf den Weg.
In Richtung der Vögel mit dem Turban aus
feinem Hemdenstoff auf seinem Kopf.
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Die Seile, an denen er die Kanister hinter
sich herschleifte, gruben sich tief in das
Fleisch seines Oberkörpers. Die Sonne
fand kein Erbarmen und er hoffte
inständig auf die Gnade der Schöpfung.
Wie zufällig begann er, vor sich hin zu
reden.
Worte purzelten aus seinem Mund und
manchmal auch ganze Sätze. Dann
wieder Lieder. Dann wieder gar nichts.
Die Kehle trocknete zunehmens aus und
bald war seine Schlepptau um das
Füllgewicht eines Kanisters leichter.
Er glaubte einen kleinen Wald zu
erblicken, eine Siedlung vielleicht sogar.
So nahe hatte es ausgesehen und doch
war er noch immer so weit davon entfernt.
Die Sonne sank bereits und er wusste,
dass er eine Nacht unter freiem Himmel
nicht überleben würde.
Mit Märchen aus seiner Kindheit rettete er
sich mühevoll von einem Schritt zum
nächsten.
Hänsel und Gretel erzählte er sich,
Dornröschen und Rotkäppchen.
Das Blut tropfte von seinen Schultern,
seine Füße drohten die Schuhe zu
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sprengen. Die Hose klebte an seinen
Oberschenkeln und rieb sie wund.
Jetzt noch Schneewittchen.
Der nächste Kanister leerte sich über dem
Körper und in den Schlund hinein aus.
Nur noch dieses Ziel erreichen und dann
– leben oder sterben.
Doch bis dahin noch Aschenputtel.
Mein Gott, ihm gingen die Märchen aus.
Ohne Märchen würde er keinen Millimeter
weiterkommen. Er war so angewiesen auf
den Glauben, dass alles gut enden würde.
Ja, Froschkönig war da noch und dann
noch das Mädchen mit den
Streichhölzern.
Oje, das hatte doch jemand anders
geschrieben?
Bei diesem Grübeln knickten ihm plötzlich
die Knie.
Märchen. Weitererzählen. Sonst nichts.
Gerade noch rechtzeitig kapierte er.
Kurz bevor das Rumpelstilzchen sich die
Beine ausriss und die Königin ihr Kind
behalten durfte,
sackte er zusammen.
Unter dem ersten Baum nach endloser
Wüste.
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Er kletterte die ersten Meter hinauf – wie
in Trance. Er würde sich nicht mehr daran
erinnern können, geschweige denn es
nochmals versuchen.
Die Königin behielt das Kind. Er rettete
sein Leben.
Hoch oben in einem Baumwipfel beim
Einbruch der Nacht.
Irgendwann wurde er wach. Stockdunkel
war es rund um ihn. Sehen konnte er
nichts.
Die Geräusche rund um ihn wurden
dadurch nicht unbedingt harmloser.
Ein Schüttelfrost durchlief seinen Körper.
Er war unterkühlt. Die Wüste schickte ihre
tiefen Nachttemperaturen bis in die kleine
Oase.
Oder wo immer er auch gelandet war.
Angstvoll und frierend kauerte er da oben.
Trotzdem schlief er wieder ein.
Erst die morgendliche Wärme erweckte
den Körper wieder zum Leben.
Immer noch lebendig. Dem Himmel sei
dank.
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Himmel – wie lange war es her, dass ihm
dieses Wort über die Lippen gekommen
war.
Die Lippen waren aufgesprungen und
spröde, die Haut brannte und juckte, die
Verletzungen schmerzten. Am Leben!
Dem Himmel sei dank.
Die umsitzenden Geier bemerkten es
auch. Hier war nichts zu holen. Die
seltsam weiße Gestalt bewegte sich noch.
Allerdings nur sehr langsam und
vorsichtig. Er wusste nicht, wohin jetzt
weiter. Verwundert fand er sich in einer
Höhe wieder, die er sich selbst nicht
zugetraut hatte.
„Wie hast du das nur geschafft?“ fragte er
sich laut.
Das war der Anfang des Dialoges mit sich
selbst.
Der Beginn von vielen Erkenntnissen, die
seine Worthülsen entlarvten und seine
Oberflächlichkeiten dem schnellen Tod
aussetzten.
Er sprach jetzt mit jemanden, der ihm sehr
aufmerksam zuhörte.
Jemanden, der jeden Unterton bemerkte,
jede Nullinformation als Verschwendung
betrachtete.
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Jemanden, der auf das reduziert war, das
Überleben hieß.
Seine Stimme schreckte einen
Mitbewohner des Baumes auf. Ein
rabenartiges Tier gab einen krächzenden
Laut von sich.
Er blickte sich um und sah den funkelnd
roten Schädel des Vogels.
Spontan fielen ihm die Perchtenmasken
der Heimat ein. Oder die Krampusmasken
aus der Kindheit.
Aufgeregt flatterte der Vogel hin und her
und bedachte den Neuling keines Blickes.
Der war mehr als froh darüber. Auge in
Auge mit einem Raben konnte
schmerzlich ausgehen. Schon jetzt war
ihm bewusst, dass er in seiner derzeitigen
Konstitution nicht sehr weit kommen
würde.
Der Rabe hörte nicht auf zu krächzen,
was langsam einem Schreien glich.
Endlich blickte der Mann im Baum in die
gleiche Richtung wie das Tier.
„Menschen“ durchzuckte es seinen Kopf.
„Hilfe“ – seinen Lippen formten sich
schon, doch seine Stimme versagte den
Dienst.
Ein Röcheln drang aus seiner Kehle.
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Rund um war die Natur erwacht. In all die
Geräusche fügte sich seines ein.
Die zwei Männer unter dem Baum
bemerkten nichts davon.
Er selbst erschrak. Seine Stimme war das
letzte menschliche gewesen, das die
letzten Stunden mit ihm in Kontakt
gewesen war.
Ob es an der Trockenheit seiner Kehle lag
oder seine Stimmbänder sich an etwas
entzunden hatten war ihm nicht klar.
War auch unwesentlich. Tatsache war,
dass er nicht rufen konnte. Er musste
klettern.
Die Stimmen von unten blieben längere
Zeit gleich laut. Die Männer standen wohl
immer noch unweit des Baumes.
Die ersten zwei, drei Schritte kosteten ihn
viel Überwindung, Er begab sich damit in
das Blätterdickicht und verlor den Blick
über alles, was unter ihm war.
Sein verwundetes Bein zeigte bei jeder
intensiven Anstrengung an. Der Schweiß
trat ihm aus allen Poren, das Salz
fraß sich in seinen aufgeschunden Körper.
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Ameisen kletterten an ihm auf und ab und
immer wieder rutschte er ein Stück die
Rinde hinunter.
Ein seltsamer Baum. Ließ ihn überleben
und machte ihm das Entkommen dennoch
schwer.
Es waren so ungefähr zehn Meter, die es
zu überwinden galt.
Ein Weg, der für einen Sportler wie ihn
ansonsten in kürzester Zeit zu bewältigen
gewesen wäre.
Plumps. Etwas Schweres schlug dumpf
unten am Boden auf. Plumps noch mal.
Es hörte sich an, wie die Schritte eines
Riesen. Einige Male mehr wiederholte es
sich.
Er hielt inne. Was nun, wenn er auf den
Boden kam und ihm gegenüber war das
Fremde, das Animalische oder einfach
das Nichts.
Wie begegnete man dem Neuen, dem
Überraschenden. Noch dazu wenn man
auf dessen Wohlwollen angewiesen war.
Alleine würde er es nicht mehr lange
durchhalten.
Langsam bewegte er sich weiter. Grüsste
er die Männer, bat er um Hilfe, blickte er
in ihre Augen oder musste er sich eine
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Waffe mitnehmen, einen Ast abreißen, um
zu zeigen, dass er kein Schwacher war.
Galt es, ein Geschenk aus der Tasche zu
holen, um Anklang zu finden. Oder reichte
sein weißes Antlitz, um ihnen Ehrfurcht
einzuflößen.
In all den Jahren im Außendienst hatte er
sich noch nie so viele Gedanken über den
Erstkontakt gemacht.
Mit verkäuferischem Optimismus hatte er
die meisten Gespräche begonnen.
Begleitet von einem untadeligen Äußeren
und einer anbiedernden Freundlichkeit.
Meist war nach kurzer Zeit klar, worauf die
Käufer Wert zu legen schienen. Auf dieser
Linie blieb er dann mit Strahler70Lächeln
und einem abschlussbereiten
Füllfederhalter in der Tasche.
Ja, Füllfederhalter, dass hatte so was
seriöses und es wirkte.
Je länger er darüber nachdachte, was es
nun zu tun galt, desto größer wurde auch
die Angst, die Männer könnten sich
entfernen, bevor er zu einem Entschluss
gekommen war.
Die Angst wurde nicht kleiner, als er sie
endlich sehen konnte.
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Ihre Haut war dunkelbraun und ihre
Augen fast schwarz. Die Körper schlank,
groß gewachsen und gut gebaut.
Ihre Kleidung schillerte herrlich bunt.
Tücher um Oberkörper und Geschlecht
geschlungen.
In ihren Händen hielten sie lange Stöcke
mit Speerspitzen.
„die Massai!“
Und er gleich einem verletzten, fremden
Tier auf diesem Baum hängend.
Was nun?
Der Geographieunterricht war lange her.
Auch die Universum Sendungen hatten in
den letzten Jahren den Krimis oder
Sportsendungen auf anderen Kanälen
Platz machen müssen.
Bei zuviel Natur war er eingeschlafen oder
aber nicht von seinem speedigen Alltag
heruntergekommen.
Mehr ein innerer Impuls denn eine
Entscheidung war es, die ihn springen
ließ.
Plumps, da lag er unten.
Die Männer wendeten die Köpfe.
Das Plumpsen der riesigen Früchte des
Leberbrotbaumes war ihnen bekannt.
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Dieser Aufprall unterschied sich und sie
wandten sich ihm zu.
Zuvor hatten sie den Geräuschen des
Baumes nur wenig Augenmerk geschenkt.
Sie warteten ab, welches Tier wohl den
Stamm heruntergerutscht kam. Neugierig
und wachsam. Das Geräusch war neu
aber nicht gefährlich.
Das Paket, das nun zu ihren Füssen
gelandet war, bestätigte diese Vermutung.
Dennoch kamen sie nur langsam auf ihn
zu. Hatten wohl schon die eine oder
andere Wunde durch Weiße wie diesen
erfahren.
Vielleicht auch nur durch Ächtung und
Unverstand. Vielleicht aber auch durch
Gewalt.
Sie hockten sich rund um ihn und waren
so auf gleicher Höhe.
Wieviele Eltern verabsäumen dies bei
ihren Kindern. Sprechen von oben herab
und halten die großen Geister klein.
Diese Männer taten das nicht. Sie
begaben sich auf seine Ebene und mit
einem Mal war es ihm, als teilten sie auch
seinen Schmerz und seine Verzweiflung.
35
Ihre Gesichter waren bunt bemalt und ihre
Zähne schimmerten strahlend weiß ob der
Dunkelheit der sie umgebenden Haut.
In vielen Kundenterminen oder
Verkaufssitzungen hatte er mehr
Feindseligkeit erlebt als in diesem
Moment.
Sie halfen ihm auf die Beine und legten
seine Arme um ihre Schultern.
Mehr als er mit ihnen ging, schleiften sie
ihn in das naheliegende Dorf.
Frauen gaben ihm zu trinken und zwei
andere pflegten seine Wunden Ein
stinkendes Zeug taten sie darauf. Es roch
so ekelig, dass er sich beinahe übergeben
musste.
Zum Glück kam gleich danach etwas
anderes, wohlriechendes und salbendes
darauf.
Die Hände der zwei Frauen glitten
behende über seinen Leib.
Selten zuvor hatte er sich so gut
aufgehoben gefühlt.
Seine Männlichkeit schwieg. Das Kind ihn
ihm war es, das die Frauen berührten,
nahezu liebkosten durch ihre
Bewegungen.
36
Ernst gemeint und ausschließlich an
seiner Genesung interessiert, taten sie es.
Keine Spur von Mache, kein Gedanke an
Profit.
Wie herrlich erleichternd fühlte sich das
an.
Erschöpft und friedlich schlief er ein.
Früh morgens erwachte er durch die
Geräusche der Tiere ringsum.
Erschrocken setzte er sich auf. Eine
starke, dunkle Hand gebot ihm, sich
wieder hinzulegen. Das Gesicht dazu war
unmissverständlich.
Die Geste hieß, er möge weiterschlafen,
die Welt drehte sich ohne ihn.
Beinahe hätte er das auch getan. Doch im
nächsten Augenblick dachte er an das,
wessentwegen er überhaupt in dieses
Land gekommen war.
Kaum war er selbst sichtlich außer
Gefahr, gedachte er seines Sohnes.
Er hob an zu reden. Die Stimme war
wieder da, doch die Sprache war wohl die
falsche.
Nichtsdestotrotz fing er an zu sprechen,
eher leise, und jedes Wort sorgfältig
gewählt.
37
„Mein Sohn, er wird vermisst, ich muss ihn
finden!“ nein, korrigierte er sich „ich
möchte ihn finden“. Am Ende des Satzes
stand diesmal der Punkt. Es war eine
Tatsache für ihn selbst. Kein Appell – wie
nutzlos wäre der auch wenn das
Schicksal um Mithilfe gebeten wird.
Der Dunkle verstand die Worte nicht, nur
deren Ausdruck. Der Mann war in Not,
konnte sich der Pflege und der Sicherheit
der Siedlung noch nicht ergeben.
Die Nachricht von den vermissten Weißen
war bis hierher gedrungen.
Denen, die verschwunden waren und
dann wieder aufgetaucht waren.
Sie hielten ihn für einen von denen, die
längst vom Rotkreuzlager abgeholt und in
ihre Heimat zurückgeflogen worden
waren.
Jene hatten sich schlicht verirrt. Sonst
nichts. Die Rederei und erst recht die
38
Journalistik um eine Entführung waren
reine Erfindung gewesen.
Fremde Hände, Mächte – wenn auch nur
Zeitungen – waren im Spiel, der Auflage
und der Sensationsgier wegen.
Irgendwo im Dorf musste noch eines der
Exemplare zu finden sein, das ihre
Landsleute auf das Böseste verleumdete.
Einer der Schwarzen hatte es vom
Rotkreuzlager mitgebracht und seinen
Inhalt preisgegeben.
Der Dunkle erhob sich und seine rechte
Hand.
Der Weiße möge sich gedulden, möge
liegen bleiben. Er würde bald
zurückkommen.
Der Außendienstmann war mehr als
verwundert über die Eindeutigkeit der
Gesten. Er wagte nicht, ihnen zuwider zu
handeln.
Sie waren von einem freundlichen
Gesichtszug begleitet worden. Keine Spur
jeweiliger Drohgebärde und doch so
eindeutig wirksam.
Wieder fielen ihm die wild
gestikulierenden Menschen seiner
Alltagsumgebung ein, die nichts
39
bewirkten. Außer, dass ab und an ein
Glas umgestoßen wurde, oder das Mikro
einen Schlag abbekam. Alles viel zu
hektisch und viel zu weit außerhalb der
Menschen, die sich der Gesten bedienten.
Fertig gedacht, war der Dunkle auch
schon wieder da und hielt ihm ein
Zeitungsexemplar entgegen.
The wild population let them free, we do
not know the real thing, but all of the
young people got the possibility to return
to their countries. Denmark, Sweden,
Germany and Austria”
Darunter ein Gruppenfoto mit jungen
Männern.
Sein Sohn stand ganz hinten und lachte.
Beim Anblick des Bildes traten ihm die
Tränen in die Augen. Der Dunkle schob
seinen Oberkörper mit sanfter Gewalt
wieder in die liegende Position.
Er strich ihm über das Gesicht und
begann leise ein Lied zu singen.
Wieder fiel er in einen tiefen Schlaf. Und
sie ließen ihn ruhen, bis er von selbst
wieder zu sich kam.
Gaben ihm und sich selbst die Zeit,
kraftvoll an den nächsten Schritt
40
heranzugehen und sich nicht sinnlos zu
vergeuden.
Oft noch würde er an sie zurückdenken.
Diese dunkelbunten Menschen.
Einige Morgen später war es, als er
schließlich aufwachte. Ihm war, als hätte
er sein Leben bis zu diesem
Sonnenaufgang nur geträumt. Als wäre er
vorbeigegangen an alldem was gut und
wahrhaftig war. Vielleicht abgesehen vom
Augenblick der Geburt seines Sohnes.
Und die Worte und Gesten, die er bislang
verwendet hatte, entpuppten sich als eine
leere Hülle ohne Leidenschaft und Liebe.
Die vielen Seminare und Trainings, die
rhetorischen Kniffe und Tricks. All das
hatte er niemals mit seiner Lebendigkeit in
Verbindung gebracht und klingen lassen.
Er hatte es vor sich hergetrieben wie Vieh,
das ihn satt machte ohne ihn zu nähren.
Es sollte ein Aufbruch sein an diesem
Tag. Ein Aufbruch in eine neue alte Welt.
Der Dunkle spürte es sofort. Die
Ausrüstung für den Weißen war gepackt
und die notdürftigen Schuhe geflickt.
41
Sie wussten, dass er keiner von ihnen war
und hatten ihn dementsprechend
ausgestattet.
Zum nächsten Rettungsstützpunkt war es
nicht mehr allzu weit.
Trotzdem würde er das letzte Stück
alleine gehen müssen.
Nicht weil die Dunklen vor Einbruch der
Nacht wieder in ihrer Umgebung sein
mussten.
Ihre Augen und Körper hatten sich der
Geschmeidigkeit der nächtlichen
Serengeti längst angepasst.
Nein, deswegen weil sie die Distanz zu
den Weißen beibehalten wollten.
Und auch deswegen, weil sie den Gast
seinem eigenen Schicksal überlassen
wollten. Im festen Glauben daran, dass es
gut war.
Den Hilfsbegriff der Weißen betrachteten
sie aus ihrem eigenen Blickwinkel.
Manchmal war Hilfe etwas Mächtiges,
Entmündigendes.
Das konnten die schwarzen Männer nicht
brauchen.
Auf Ausnahmen unter den Helfern hofften
sie nicht. Sie lebten aus Erfahrungen und
meistens behielten sie recht.
42
Nur manchmal, wenn es bestimmte
Medizin nur noch über die Helfer zu
beziehen gab, ließen sie sich ein und
waren dann doch froh, dass die sich in
ihrer Nähe niedergelassen hatten. Die
Männer mit den roten Gesichtern, den
weißen Gewändern und dem lauten
Lachen.
Die, die länger geblieben waren, lernten
dazu. Die anderen kehrten ahnungslos in
ihre Dreizimmerwohnungen in der Heimat
zurück.
Der, den sie gesund gepflegt und
aufgenommen hatten, war ein
besonderer.
Sie wussten es noch, bevor es ihm selbst
gewahr wurde.
Deswegen auch die Eskorte.
Es war ein langer, zäher Marsch und
plötzlich schnalzten die Begleiter mit der
Zunge, nickten ihm zu und wiesen ihm mit
den Händen den Weg.
Dann drehten sie sich um und
beschleunigten den Schritt.
Es war spät geworden.
Im Ächzen der Umgebung ging er das
letzte Stück allein.
43
Diesmal jedoch erkannte er die
Geräusche der Serengeti und war sich
seines guten Ankommens gewiss.
Die Ordnung und die Struktur in seinem
Kopf, die
Bewegungen, die sich der Umgebung
anpassten und die Wachsamkeit für alles,
was sich um ihn herum begab, leiteten ihn
in das Lager.
Wie selbstverständlich traf er ein und
erbat etwas zu trinken.
Der Empfang war ganz anders als bei den
dunklen Männern.
Sie fragten ihm Löcher in den Bauch und
rückten ihm nicht vom Leib.
Hier musste er noch durch. Er wollte nach
Hause.
Dorthin wo der Kleine war und dorthin wo
eine Frau endlich gesagt bekommen
würde, wie recht sie mit allem gehabt
hatte.
Für sie beide war die Zeit vorbei. Für ein
neues Leben noch nicht.
Endlich landete der Hubschrauber.
Zitternd ging er an Bord.
Zu frisch war die Erinnerung. Die Wunde
begann zu schmerzen.
Der Flug gelang.
44
Er hatte die ganze Zeit mit dem Wind, der
Sonne und dem Himmel geredet. Leise
vor sich hin.
In einer neuen, reduzierten, kraftvollen
Sprache. Er programmierte sich
richtiggehend selbst. Positiv, freudvoll und
gütig.
Gerädert, geläutert und gespannt auf
alles, was noch kommen würde stieg er
viele Stunden später aus dem Flugzeug,
das am Heimatflughafen gelandet war.
Er wollte so schnell wie möglich heim.
Und in diesem Fall war es das Zuhause
seines Sohnes.
Die Schwäche holte ihn wieder ein, als er
als erster durch die Schwingtüre ging.
Gepäck war keines da. Ein provisorischer
Ausweis war alles, was er am Körper trug.
Beim Hinausgehen in die Flughafenhalle
blinzelte er. Das Licht, das die
Neonröhren abgaben,
war grell. Die Menschen sahen in diesem
Licht verzerrt und verzweifelt aus.
Egal, nur nach Hause.
Durch den Schranken und zielstrebig zum
Taxistandplatz. Der Fahrer würde ihn
hoffentlich nehmen, mit dem Versprechen
45
auf den notwendigen Lohn bei der
Ankunft.
Auf der Bank beim Taxistandplatz
lungerte ein junger Mann. Er schien schon
länger hier zu sein und wirkte fast ebenso
zerzaust wie er selbst.
Beim zweiten Blick öffnete sich sein Herz.
Der Junge erwachte und sprang auf.
„Papa, endlich!“ rief er und fiel ihm um
den Hals.
Tränen schossen dem Vater in die Augen
und diesmal sagte er es auch.
„Ich bin so froh, dass du lebst, dass es dir
gut geht! Ich bin so froh, dass es dich
gibt!“
Der Kleine, der ihn an Zentimetern schon
überragte ergab sich dieser Umarmung.
Noch nie hatte er den Vater so etwas
sagen hören.
Noch nie war es ihm so warm und wohlig
um sein junges Herz gewesen.
Sie stiegen beide in das Taxi und der
Vater machte die Probe auf das Exempel.
„Ich habe kein Geld bei mir, komme direkt
aus Afrika und habe bei einem
Flugzeugabsturz alles verloren, was ich
bei mir trug.
46
Bitte bringen Sie mich in die
soundsostrasse 7,
dort bekommen Sie ihr Geld. Sicher. Sie
können mir vertrauen.“
Der Taxilenker sagte „ist schon in
Ordnung, ich glaube Ihnen“. Es wurde still
und sie fuhren los.
Der Sohn blickte seinen Vater, den er
immer so überdrüber in Erinnerung
gehabt hatte lange an.
„aber Papa, ich habe doch Geld....“.
„und..der hat dir das einfach geglaubt, ich
meine, das könnte doch jeder
sagen...und....“
Genau, das war der springende Punkt.
Er war nicht mehr „jeder“ und bald würden
das auch alle merken, die es mit ihm zu
tun bekamen.
Lächelnd strich er dem Jungen durch das
Haar.
„Ich bin aber nicht jeder, jetzt nicht mehr –
und ich bin froh, dass dem so ist.“
„du kannst mir aber trotzdem die Fahrt
bezahlen, finde ich“ und mit einem
Grinsen gingen sie auf ein anderes
Thema über.
Die beiden Männer auf der Rückbank des
brummenden Diesels. Es fing etwas an
47
und die Worte, die fielen waren frei von
Floskeln und Oberflächlichkeiten.
Der Sohn kam aus dem Staunen kaum
heraus. Vielleicht hatte er sich über all der
Zeit nur ein falsches Bild gemacht, dem
anderen keine Möglichkeit gegeben, sich
nackt zu zeigen.
Oder aber der Ausflug in die sogenannten
Entwicklungsländer hatten ihnen beiden
eine sprunghafte solche ermöglicht.
Früher, als ihnen beiden lieb war, hielt der
Wagen vor der genannten Adresse.
Der Sohn bezahlte den Fahrer und der
wiederholte nochmals: „Wäre nicht nötig,
Ihr Vater ist mir im Wort.“ Nachdem dieser
nickte, nahm er den Lohn
dankend an, schrieb die Quittung und fuhr
weg mit einem Gefühl von Freude.
Eine Freude, die er weder seiner Frau
noch den Kumpels im Taxicafé erklären
würde können.
Das war auch nicht so wesentlich. Er trug
sie in sich und der Mann, der zu ihm ins
Taxi gestiegen war hatte einen großen
Anteil daran.
48
An der Türe, die einst der Eingang in sein
Zuhause gewesen war, begann das Herz
des Mannes stark zu klopfen.
Die Frau, die ihnen öffnete war froh, ihn
wiederzusehen.
Hauptsache lebendig, Hauptsache
gesund. Das gönnte sie ihm. Viel mehr
wollte sie nicht mehr von ihm wissen.
Das war in Ordnung so. Und doch
beruhigte sich das Klopfen in seiner Brust
erst als er ein „es tut mir leid“
ausgesprochen hatte.
„Mir auch“ antwortete sie und beide
wussten, wovon sie da eben sprachen.
Der Sohn verstand es nicht und es war
auch nicht nötig.
Die beiden Grossen trennten sich im
Einverständnis. Die beiden Männer
vereinbarten ein Wiedersehen.
Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Im
Büro waren Autoschlüssel, Auto und die
Wohnungsschlüssel. Mein Gott, wie
sicherheitsbewusst er abgereist war und
wie frei kam er nun zurück.
Arbeit wartete auf ihn. Jenseits der Emails
und Aktenberge.
Der Portier sah ihn an wie einen Geist.
49
In der Firma war nur die Nachricht der
heldenhaften Rettung des Sohnes
verbreitet worden. Ungenau und nicht der
Wirklichkeit entsprechend.
Alle waren von seiner Mitwirkung
überzeugt, wiewohl das wiederum
nirgends kolportiert worden war.
Sie hatten ihn rasiert und mit
Heldenmiene zurückerwartet.
Hier stand er nun, zerfetzt und müde. Kein
anderer hätte in diesem Aufzug Zutritt in
den Glaspalast bekommen.
Der Mann in Portierloge war ein Mensch.
So betrachtete er den Ankömmling und
erkannte in ihm den Mister Erfolgreich des
Außendienstes.
„Mein Gott“ hub er an. „Lassen Sie den
nur aus dem Spiel“ bekam er die prompte
Antwort. „Ohne den stünde ich wohl nicht
hier – oder seinen
Helfern auf unserer Erde“.
Das Staunen hinter der Scheibe vertiefte
sich abermals.
„Machen Sie einfach auf, es ist alles in
Ordnung.“
Das entsprach schon mehr dem Mann,
den er kannte und er drückte den
Türöffner.
50
Kaum war der Außendienstmann drinnen,
griff der Portier zum Telefon.
Die oben wussten also schon Bescheid,
als er die Tür zum Vorzimmer öffnete.
Fein manikürte und in der neuesten Mode
gekleidete Assistentinnen betrachteten
den zerlumpten Typen, dessen Anzüge
sie sonst stets bewunderten.
Auch hier verlautete ein „Mein Gott.....“.
„Das darf ja wohl nicht sein, meine
Damen!“
Er strahlte sie mit herrlich fröhlichen
Augen an.
„Sie werden doch nicht den Herrgott
rufen, wo es nur eine Dusche und frische
Kleider braucht. Ich komme direkt aus
Afrika, aus der Serengeti.“
„Aber Sie können doch nicht so, Sie
werden doch nicht...“
„Bitte“ er holte tief Atem. „Bitte, sprechen
Sie nicht weiter. Ersparen Sie mir
Interpretationen und Vermutungen.
Schalten Sie Ihr Hirnkastel ein und lassen
Sie mich meine Sachen holen. Mein
Wohnungsschlüssel ist im Schreibtisch.
Würden Sie ihn in die Serengeti
mitnehmen?
51
Fassungslose Blicke begegneten dem
doch sonst so charmanten Mann.
„Nein, bitte antworten Sie nicht gleich.
Denken Sie einfach in Ruhe nach.
Sprache ist Werkzeug. Gefasel
verbrauchte Luft.“
Fast schon zu viele Worte. Hurtig holte er
seine Schlüssel und mit einem „In zwei
Stunden bin ich wieder da. Bitte geben
Sie meinem Chef Bescheid“
entschwand er aus ihren Blickfeldern.
Die Frauen blieben zurück. Schwer
verwirrt und ihre Verwirrung sofort auf ihn
zurückspielend.
„der spinnt doch „ sagte die eine.
„vielleicht auch nicht“ antwortete die
andere.
Die war es auch, die den Chef
benachrichtigte.
Ohne die Schilderung des Auftrittes. Er
hätte auch einfach angerufen haben
können.
Worte sind Werkzeuge. Dieser Satz war in
ihrem Kopf haften geblieben.
Es stand ihr nicht zu, Vorverurteilung zu
betreiben.
Das erledigte die andere mit einigen
Telefonaten im Haus.
52
Zwei Stunden waren lang genug, um sich
über diesen unsympathischen Auftritt zu
mokieren.
Zwei Stunden waren lang genug sich
ausgiebig zu duschen und eine Mahlzeit
zu verzehren.
Worte sind Werkzeuge, klang es auch in
seinem Kopf nach.
Er drehte den Fernseher auf und wieder
ab.
Das gleiche passierte mit dem Radio. Still.
Das war gut.
Alles, was zuvor an seine Ohren drang,
war gespickt mit Aggression und
Negativmeldungen.
Wenn die Menschen tagtäglich damit
gefüttert werden, was sollte dann auch
aus ihnen herauskommen?
Seine Gedanken wanderten in die
Serengeti zurück. An die Kraft der
heilsamen Gedanken und Worte.
War die Berichterstattung deswegen so,
um das Volk klein zu halten?
Oder um die Einschaltquote zu erhöhen.
All diese Informationen legten sich an die
Magenwand wie schweres Essen. Sie
lähmten und vergifteten die Luft.
53
Er atmete tief durch, wischte sich den
Mund ab und stand auf.
Don Quichote sattelte das Pferd. Don
Quichote, der es mit Windmühlen
aufnehmen wollte. König Artus stieg auf
und ritt los.
König Artus, der in einer Reihe großer
Schlachten seine Krieger so wirksam
gegen die Sachsen führte, dass, was als
Invasion begann, als mehr oder minder
friedliche Besiedlung endete.
Das war sein Ziel.
Er wollte die Aufrichtigkeit und
Authentizität vor den Vorhang bitten.
Den Handel und die Geschäfte nachhaltig
und wertschätzend betreiben.
Seine Sprache war ihm Lanze und Schild.
Die seines Körpers, die seiner Stimme
und die seiner Worte.
Im Anzug und frisch rasiert kehrte er in
das Versicherungsgebäude zurück.
Der Portier lächelte erleichtert und
betätigte den Türöffner.
Der Außendienstverkäufer zwinkerte ihm
zu. Die Welt war in Ordnung.
Im achten Stock des Verkaufsleiters
würde es nicht so glatt gehen.
54
Aus langjähriger Erfahrung hatte er
sowohl den Laptop mit einer
PowerpointPräsentation als auch das
Tischflipchart dabei.
Die Ebene des Geprächspartners zu
betreten, ihn von dort abzuholen.
Wenn er wollte, dass er Veränderungen
einläuten durfte, musste er den
Vorgesetzten auf seine Seite bringen.
Und zwar freiwillig und nicht über den
Tisch gezogen.
Das war die erste Übung von vielen, die
er sich vorgenommen hatte.
Sein Chef war ein erfahrener
Versicherungsprofi. Er wusste, dass
trauernde Hinterbliebene eher bereit
waren, eine Sterbeversicherung
abzuschließen und dass Eltern von
Kleinkindern allen möglichen Vorsorge
und Unfallversicherungsmodellen selbst
auf die Gefahr der Unfinanzierbarkeit hin
– sehr aufgeschlossen waren.
Er kannte die Formulierungen, denen
Kunden sich nicht zu widersprechen
trauten. Er war sich des souveränen
Auftrittes im Anzug bewusst.
55
Die Kunden mussten glauben, dass der
Versicherungsvertreter es einfach besser
wüsste, was gut für sie ist.
Und da gab es an die hundert von
Strategien.
Alle liefen auf dasselbe hinaus.
Die Beiträge mussten möglichst hoch sein
und möglichst regelmäßig auf dem Konto
der Versicherung eintreffen.
Eine gute Kundenbeziehung stand
natürlich auch in der Geschäftsidee.
Die Beziehung musste so gut sein, dass
die Kunden es nicht bemerkten, wenn die
Versicherung es zu gut mit ihnen meinte.
Im Laufe der Jahre war sie zur
Geschäftemacherei verkommen.
Gutmeinen, das Gegenteil von gut.
Vielleicht sah er alles jetzt zu schwarz
weiß.
Doch er kam von der Grenze zwischen
Leben und Tod, für Grauzonen und rosa
Brillenglas war dort kein Platz.
Die Frage, die sich stellte, war die, wie
viel Wahrhaftigkeit das
Versicherungsgeschäft vertragen konnte,
um trotzdem schwarze Zahlen zu
schreiben.
56
Mit einem „deswegen“ würde er nicht
durchkommen.
Also blieb er in der Argumentation bei
dem „trotzdem“.
Das Taktieren fiel ihm schwer, doch mit
der Tür ins Haus fallen konnte er dem
Vorgesetzten nicht.
Der behäbige Mann hinter dem schweren
Schreibtisch hieß ihn mit der Hand, Platz
zu nehmen.
Die Frage nach dem Afrikaaufenthalt
drängte sich auf und er stellte sie.
Die Antwort war kurz und deutlich.
Der Außendienstmann wollte den
Afrikabonus nicht vertun.
Die Neugierde des anderen brauchte er
für das,
was er an Veränderung in der
Verkaufsstrategie anzubieten hatte.
Die Powerpoints sprudelten vor sich hin
und der Mann hinter dem Schreibtisch
wurde mit jedem Mausklick durch eine
Waschstraße der Gefühle geschoben.
Mal fühlte er den Pioniergedanken des
Versicherungsgeschäftes, mal den
Umsatzdruck der Konzernmutter. Bei der
einen Folie überkam ihn die Rührung, bei
einer anderen wurde er fast aggressiv.
57
Manche Worte landeten einen Schlag in
die Magengrube und andere holten ein
Lächeln auf seinen schmalgewordenen
Mund.
Ihre Augen waren immer in Kontakt, wie
bei zwei Katern, die sich nicht der
Kontrolle des anderen überlassen wollen.
Am Ende stimmten die Augen des
Versicherungsdinosauriers den Ideen des
jungen Mannes zu. Die Worte taten es
nicht.
Sie erzählten etwas von „noch nicht reif
dafür“ und „keinesfalls auf höherer Ebene
durchzubringen“.
Beim Abschied hatten sie den
Augenkontakt verloren.
Beide blickten in die gleiche Richtung. Der
eine erlaubte es sich.
Der andere nicht.
Der Außendienstverkäufer sortierte seine
Unterlagen und setzte sich an seinen
Schreibtisch.
Gut, er handelte nun auf eigene Faust.
Das konnte ihm seinen Arbeitsplatz
kosten.
58
Was war das schon gegen das Leben,
das ihm vor kurzem geschenkt worden
war.
Sein Computer sortierte eifrig die
Kundenliste.
Diesmal nach der Höhe der
Versicherungssummen.
Bei den niedrigsten wollte er anfangen.
Das würde der Versicherung nicht gleich
auffallen und doch einer Menge von
Menschen helfen. Die Augen öffnen.
Akt für Akt überprüfte er die Leistungen
auf Relevanz für den Kunden.
Dort, wo diese beiden augenscheinlich
nicht zusammenpassten und der
Abschluss ausschließlich aufgrund seiner
rhetorisch- verkäuferischen Fähigkeiten
zustande gekommen war, markierte er die
Namen.
Abends war eine stattliche Liste all dieser
Menschen zusammengekommen.
Er druckte sie aus und informierte das
Sekretariat über die Außentermine der
nächsten Tage.
Bevor er nach Hause ging, nahm er sich
noch die neueste Software mit. Er wollte
allen genau das anbieten, was für ihre
59
Lebenssituation das richtige und
notwendige war.
Und weil er die Menschen nicht wirklich
kannte, würde das einige Fragen
brauchen und dann die Antworten aus
dem Computersystem.
Oder vielleicht schlicht ein Kündigungsoder Stillegungsformular.
Mal sehen.
Selten war er so lange in den
Wohnzimmern, Hinterzimmern, Küchen
gesessen.
Er tauschte den Anzug gegen Jeans und
ein weiße Hemden.
Betrat die Haushalte und stellte Fragen
nach dem Leben.
Manche wiesen ihm die Tür.
Andere erzählten ihm ihre Geschichten.
Langsam lernte er wie präzise und
fokussiert er vorgehen musste, dass sie
beim Versicherungsbedarf blieben.
Ein Teil der Leben gehörte zum
Gespräch, ein anderer sollte wohl eher
zum Therapeuten oder auch schlicht zum
Friseur.
Mit jedem Termin wurde er konkreter und
dennoch intimer. Er fragte, was er wissen
musste. Er sagte, was es zu sagen gab.
60
Er tauschte sein Wissen und seine
Erfahrung gegen die Polizzen, die er
verkaufte.
In einigen Fällen erbat er die Unterschrift
zur vorzeitigen Kündigung.
Familien am Existenzminimum brauchten
das Geld zum Überleben.
Er hinterließ seine Karte mit der
Zuversicht auf bessere Zeiten.
An der falschen Politik der Regierung
verdiente auch noch die Versicherung.
Das konnte er nicht mehr vertreten.
Mit dieser Ansicht wäre er mit Sicherheit
hochkant aus einer Vorstandssitzung
geflogen. Die Vorstände waren verbandelt
mit den Regierungsparteien.
Einige Wochen lang ging alles glatt.
Die Abteilung, die die neuen Verträge
hereinbekam, lobte ihn wegen seiner
Abschlüsse.
Wiewohl sie ihn auf finanzkräftigere
Adressen hinwies, die sein Ergebnis noch
weit besser aussehen lassen würden.
Die Abteilungen, die Änderungen und
Kündigungen bearbeiteten taten dies
61
anfangs recht leidenschaftslos. Waren
lauter kleine Fische.
Nun ging es in die nächste Kategorie.
Desto mehr Geld die Menschen hatten
oder auch desto intellektueller sie waren,
umso schwieriger war es mit ihnen
aufrichtig zu reden.
Hinter jeder klaren und wahrhaftigen
Formulierung vermuteten sie einen Angriff
auf die Etikette oder ihre geschützte
Realität.
Die Anzüge kamen wieder aus dem
Schrank und die Termine vereinbarte er in
dem üblichen Versicherungsjargon.
Erst in den Häusern, den Villen und den
Eigentumswohnungen oder den
Stadtbüros bekannte er Farbe.
Zu all diesen Terminen brachte er auch
andere Möglichkeiten mit, wie die
Wohlhabenden ihre Gelder loswerden
konnten.
Die Frage, ob sie eine falsche
Versicherung denn nicht lieber gegen
einen Dauerauftrag bei „Ärzte ohne
Grenzen“ oder „Greenpeace“ oder „der
Caritas“ oder irgendeiner anderen
sinnstiftenden Organisation tauschen
möchten, weckte bei vielen Klienten
62
Misstrauen. Einige warfen ihm sogar
Sektentum vor.
Lieber hielten sie sich an die
mitgebrachten Investmentmöglichkeiten.
Von der Versicherungsgesellschaft oder
der Bank.
Noch war er also ziemlich loyal bei all
seinen Aktivitäten.
Es war augenscheinlich, dass es trotzdem
bald auffliegen würde, welchem Auftrag er
folgte.
Manche Klientinnen wollten ihn privat
wiedersehen, nachdem er so bestimmt
und authentisch in ihre Wirklichkeiten
getreten war.
Andere stornierten bald darauf das
Glamour-Magazin.
Dritte wiederum verlangten den Namen
seines Vorgesetzten und sonst nichts.
Mit den Männern verhielt es sich anders.
Sie erörterten manchmal kurz die Motive,
aus denen sie in die Versicherung
einzahlten. Viele versuchten es mit einem
„na, Sie wissen eh...“.
Die meisten runzelten kurz die Stirn,
hielten Rückfrage mit der
63
Marketingabteilung oder der Ehefrau und
schlossen dann einen Vertrag ab,
der ihnen besser nützte.
Sie wollten immer auch noch etwas dazu.
Einen Bonus.
Den konnte und wollte er nicht anbieten.
In seiner Argumentation kam das klar und
ohne Bitterkeit über die Schreibtische.
Gut ein Drittel der Klienten stimmte ihm
zu.
Worte wie Werkzeuge.
Am Ende dieser Gespräche war es
heilsam still.
Die anderen Termine endeten mit
Beschwichtigungen, Geschwätz oder
Lärm.
Lärm, der bis in die Zentrale zu hören war.
Er hatte schon darauf gewartet und an
einem dieser Morgen war es soweit.
„Sie sollen zum Chef kommen“ sagte die
Sekretärin.
Die eine, die sich mit dem veränderten
Auftritt des Außendienstverkäufers gut
angefreundet hatte.
Seine Stimme klang tiefer, seine Worte
waren eindeutiger, sein Füße in gutem
Bodenkontakt.
64
Die Farbe seiner Augen schien heller und
sein Mund zeigte einen Schwung, der ihr
vorher wohl entgangen war.
Sie war glücklich verheiratet, es war die
Wahrhaftigkeit, die ihr gefiel und die in der
Branche selten geworden war.
Die andere war enttäuscht von dieser
Wandlung. Nach seiner Scheidung war er
ein potenzieller Lover für sie gewesen und
fast schon hatte sie ihn soweit gehabt.
Aber jetzt mit seinen lauteren, klaren
Worten und diesem Blick der kein
Hutschpferdgrinsen oder um den Finger
wickeln mehr erlaubte, sah sie ihre
Chancen schwinden.
Der Sohn hatte die Veränderung auch
bemerkt, für ihn war der Vater aus einer
anderen Galaxie in den Familienkosmos
zurückgekehrt.
Sie trafen einander immer wieder, tranken
Bier oder gingen zu einem Fußballmatch.
Da war was nachzuholen und was
rauszulassen.
Sie hatten großen Spaß dabei.
Irgendwann weihte der Vater den Sohn
ein.
65
Nun hatte er hatte einen Verbündeten und
war vorbereitet auf das, was ihm im
Glaspalast blühte.
Der Blick des Vorgesetzten wich ihm aus.
Wieder nahm er in dem tiefen Sessel
Platz, der ihn automatisch um einige
Zentimeter niedriger sitzen ließ als den
Höherrangigen. War wohl eines dieser
äußeren Zeichen.
Es ermöglichte dem Langgedienten über
den jüngeren hinwegzusehen.
Der Blick des Chefs schweifte zum
Fenster hinaus.
Der Inhalt seiner Worte war klar. Der
Junge müsse aufhören, diese Geschäfte
zu machen oder es wäre sein letzter Tag
in dieser Versicherung.
Bei allen edlen Motiven, die ihn wohl dazu
bewegen würden, es ginge nicht an,
dass...
Und so weiter und so fort.
Der Außendienstverkäufer wartete auf das
Ende des Redeschwalles. Dann erhob er
sich.
Endlich begegneten sich ihre Blicke.
Sie reichten einander die Hände und der
Alte sah ihn lange an.
66
„Also gut, dann kündige ich Sie hiermit“
sagte er. „dann steigen Sie wenigstens
besser aus.“
Ein Schnauben, das ein bitteres Lächeln
nach sich zog stieß der Junge aus den
Nasenlöchern.
„Gut“ antwortete er. Einfach „gut“ und
sonst nichts.
Als sie sich trennten, war beiden Männern
klar, dass ihre Planeten einander vielleicht
nie wieder begegnen würden.
Das weckte in beiden Bedauern.
Bei dem einen, weil er die Kraft und den
Optimismus des jüngeren vermissen
würde.
Bei dem anderen, weil der ältere in seiner
Stabilität und Fähigkeit den Druck der
Branche auszuhalten stets ein Vorbild
gewesen war.
Still schloss sich die gepolsterte Türe und
die Karte des jeweils anderen wanderte
an einen Platz, der ein Wiederauffinden
leicht machen würde.
Die beiden Sekretärinnen bekamen den
Abgang nicht mehr mit. Er hinterließ eine
Mail und erklärte seine Kündigung mit
einem herausfordernden Karriereschritt.
67
Einige der Kollegen grinsten hämisch, die
anderen neidisch. Wenige schüttelten ihm
die Hand oder riefen ihn am nächsten Tag
an.
Er ertappte sich dabei, dass er nach der
rettenden Gruppe schwarzer Männer
Ausschau hielt, die ihn vor dem
Verdursten gerettet hatte.
Als erstes brauchte er eine neue
berufliche Identität. Keiner der lukrativen
Kunden würde ihn als Nobody in den
Terminkalender kommen lassen.
Und die Menschen von nebenan? Die
hatten schon genug von den vielen
dahergelaufenen Gutmeinern.
Wieder erinnerte er sich an Afrika.
Er spürte die Hände, die ihn gesalbt
hatten und die Augen, die ihm eine
Zukunft versprachen.
Wahrhaftig und lebendig.
So wollte er herangehen an seine
Geschäfte.
Es dauerte noch einige Tage bis er die
Kraft für die Umsetzung aufbrachte.
Die Steuernummer, die Visitkarten, das
Konzept. Sein Kopf brummte und seinen
Sohlen glühten. Er nannte sich selbst
68
einen Träumer und spürte die
Erschöpfung in seinen Knochen. Es
brauchte noch einige traumlose Nächte.
Bis zu jenem Moment wo es plötzlich
anfing.
Jene, mit denen er es zu tun hatte, hörten
ihm zu und folgten seinen Worten.
Der Glanz kehrte in seine Augen zurück
und die Zuversicht wog schwerer als der
Kontostand.
Er mietete einen Büroraum.
Er wollte erreichbar sein.
Bastelte an einer Homepage. Einer, die
genauso viel Vertrauen wecken sollte, wie
er verdiente. Das ging nicht so recht
voran.
Anfangs läutete das Telefon selten.
Das eine oder andere Mal hörte er seine
ehemaligen Mitstreiter. Sie fragten ihn
lachend nach seinen Motiven, verhöhnten
ihn oder zogen schlicht über seine
Dummheit her.
Dann kamen all die Keiler, die sich Schritt
für Schritt an die neuen Selbständigen
heranmachten, um sie als
Geschäftspartner für dubiose Belange zu
gewinnen.
69
Und nicht fehlen durften mannigfaltige
Strukturvertriebe, die ihm weismachen
wollte, dass ihr Produkt das einzig wahre
sei.
Wie alle jene zu seiner Telefonnummer
gekommen war, war ihm schleierhaft.
Gewiss hatten einige nachgeholfen, die
ihm bislang seine Kontakte neideten.
Zum Glück kamen auch Anrufe r
bestehender Kunden, die ihn auch ab und
an weiter empfahlen.
Das war keineswegs so klar wie früher.
Den meisten hatte es genug Mut gekostet,
eine wahrhfaftige Lösung für sich selbst
zu suchen.
Es sich im Bekanntenkreis verbreiten zu
getrauen ohne gleich als Gutmensch
abqualifiziert zu werden. Gutmensch,
dieses Wort hatte großen idealistischen
Anklang gefunden, bevor die „Frankfurter
Allgemeine“ allen Anstrengungen und
Kraftsammlungen eine Lektion mit diesem
Wort erteilte. Sie als Kindsköpfe
abkanzelte. Mit großem Erfolg und hoher
Verunsicherung. Das arbeitete ihm nicht
gerade zu.
Wie auch immer. Er schaute sich nun
beinahe täglich nach einer neuen,
70
kleineren Wohnung um, sortierte die
Einrichtungsgegenstände und trennte sich
von seiner Gewohnheit, Essensreste aus
dem Eiskasten einfach wegzuschmeißen.
Er kaufte bewusster ein.
Eines Abends ließ sich das Läuten des
Handys so gar nicht abstellen.
Immer wieder meldete er sich so wie er es
sich vorgenommen hatte. Deutlich,
freundlich und als ein Willkommen für den
Anrufer.
Mit jedem Mal fiel es ihm schwerer.
Der letzte Anrufer an diesem Tag sagte
gar nicht viel zu ihm.
„Arbeiten Sie für mich, so wie Sie es
früher getan haben. Sie bekommen eine
gute Provision, vergessen Sie doch
diesen idealistischen Kinderkram.“
Die Stimme war ihm wohlbekannt, es war
die des vierten Vorstandes.
Das Angebot stand. Drei Tage hatte er
Zeit.
In diesen drei Tagen war sein Kopf
ständig am Nachdenken. Doch jedes Mal
am Ende eines Gedanken, schüttelte er
ihn von links nach rechts und von rechts
nach links.
71
Mal weniger, mal heftiger und schließlich
wild und zornig.
„Nein, nein, nein“ schrie er hinaus.
In diesem Augenblick betrat sein Sohn
den Raum und fand den Vater inmitten
von einigen Bierflaschen und nach
Alkohol riechend.
„Spinnst du total, Alter“ entfuhr es dem
Sohn bei diesem Anblick. „Was machst du
hier?“
„Nein, nein, nein, zum Glück nicht.“ War
der erste Satz.
Und der zweite: „Hilfst du mir?“
Es war wieder dermaßen eindringlich,
dass der Junge sich gar nicht entziehen
konnte.
„Wir schaffen das, der wird schon sehen!“
Sie telefonierten mit allen Leuten, die sie
jetzt brauchen konnten.
Die Homepage, der Folder, die
Telefonlisten, die Fotos, die Texte, die
neuen Karten, die Kontakte mit den
Zeitungen.
Wie ein Buschfeuer informierte einer den
anderen.
72
Die beiden Männer hatten zuvor nicht
gewusst, wie viel sie verband und wie
viele Menschen sie im Laufe der Zeit
angesammelt hatten, die tatkräftige Hilfe
leisten konnten. Und auch wollten.
Nur einige Tage später saßen sie
gemeinsam um den Tisch.
Sogar seine Exfrau war gekommen.
Die Telefonlisten würden zwei ihrer
Kolleginnen bearbeiten.
Sie selbst umarmte ihn und wünschte ihm
viel Glück.
So glücklich und aufgeregt hatte sie ihre
beiden Männer noch nie zusammen
gesehen. Das alleine war schon ein
Grund, dem Projekt Erfolg zu wünschen.
Und das tat sie von ganzem Herzen.
Dieser Mann war in Ordnung, hatte sie
doch nicht so schlecht gewählt damals.
Beruhigt fuhr sie anschließend wieder
nach Hause.
Der Vater ihres Sohnes würde er immer
bleiben, die Liebe hatte nunmehr bereits
ein anderer.
Er blickte ihr ohne Wehmut nach. Sie
gehörte zu einem Teil seines Lebens, der
nun hinter ihm lag.
73
Gut, dass der Sohn die Verbindung immer
ausdrücken würde. Sie war wohl eine gute
Frau gewesen, doch er hatte es nicht
erkannt.
Die Lawine wurde in dieser Nacht
losgetreten.
Das erste Mail am nächsten Mittag kam
von seinem langjährigen Chef.
„ich wünsche Ihnen viel Erfolg“ stand da
und „unsere Organisation ist stolz, dass
Sie zuvor bei uns gearbeitet haben.
Das hieß soviel wie, sie würden ihm nichts
mehr in den Weg legen.
Er war erleichtert darüber, wenn ihn auch
vermutlich nichts aufhalten konnte.
Sie stürmten den Markt und boten alles
auf, was sie gelernt hatten.
Doch diesmal authentisch und wahrhaftig.
Mit strahlenden Augen und glühenden
Wangen öffneten sie die trockensten
Märkte.
Ungefähr ein Jahr später strahlten sie die
Sendung aus.
Am Tag der Reportage im Fernsehen, die
vom Erfolg der aufrichtigen Redner und
Kommunikatoren im
74
Versicherungsgeschäft berichtete, saßen
sie wieder gemeinsam vor der Video Wall,
die inzwischen im Großraumbüro
aufgebaut war.
Die Reportage unterschied sich vom
Programm davor und danach. Der
Moderator war einer, der schon lange
nicht mehr zu sehen gewesen war und
den sich der ehemalige Außendienstmann
für die Sendung vorbehalten hatte.
Die Pressestimmen kamen von den
sozialkritischen Zeitungen ebenso wie die
marktwirtschaftlich orientierten.
Die Frau, die in einem flotten Kostüm und
mit Make-up, das ihren Typ betonte, die
Gäste begrüßte, tat das mit festem
Handschlag.
Die Absätze ihrer Schuhe ließen sie gut
und fest die Erde unter ihren Füssen
spüren.
Nichtsdestotrotz waren es welche der
neuesten Mode.
Die Gäste schilderten ihre Erfahrungen. In
Worten, die zu ihren Gesichtern passten.
Mit Gesten, die ihre Körper nicht
marionettengleich erscheinen ließen. Jede
tat das ihre. Jeder tat das seine.
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Die Frauen und die Männer waren
Menschen, die etwas zu sagen hatten.
Die Fragestellerin hörte ihnen zu.
Ließ sie ausreden und fragte das nach,
was sie nicht genau genug verstanden
hatte.
Die Gäste kamen miteinander ins
Gespräch.
Der Moderator beteiligte sich mit
wesentlichen Strukturhilfen. Ließ die
ruhigeren vor den Vorhang, bat die
lauteren respektvoll um Rückzug.
Die Menschen, die daheim auf den
gemütlichen Sofas diese Runde
verfolgten, fühlten sich miteinbezogen und
vergaßen darüber, dass es ein Bericht
über eine neue Art und Weise des
Versicherungsgeschäftes war.
Erst gegen Ende, als das Insert mit dem
Logo der Firma eingeblendet wurde, war
es offensichtlich.
Das Logo blieb einige Sekunden am
Bildschirm stehen. Darunter die
Telefonnummer und die Internetadresse.
Und – eine kostenfreie Telefonummer, die
einfach zu merken war, sollten die
anderen nicht haftengeblieben sein.
76
Am Schluss trat er vor die Kamera – der
Außendienstverkäufer.
Seine Augen leuchteten über den
Bildschirm hinaus, das was er sagte, hatte
Gewicht.
Wären am nächsten Tag Wahlen
gewesen, die Menschen hätten wohl
seinen Namen auf dem Stimmzettel
gesucht.
Vergeblich. Vielleicht in ein paar Jahren.
Im Büro drehten sie den Ton lauter und
der, der gerade zu sehen war, bekam rote
Wangen.
So hatte ihn zuvor kaum jemand erlebt.
Als er sich im Fernsehen verabschiedete,
bangte er, welche Reaktion seine
Mitstreiter nun zeigen würden.
Sie standen ALLE auf. Erhoben ihre Arme
und applaudierten, riefen „bravo, super,
toll“ und alles Mögliche, was sie sich für
Superlative aufgespart hatten und nicht
mehr täglich inflationär durch die Gegend
quakten.
Lange dauerte die Begeisterung. Er war
glücklich und gerührt. Das war sein Weg
in die Zukunft. Leise löste die Ehrfurcht
die lauten Zurufe ab.
77
Der Anfang war gemacht.
Glücklich und zufrieden endete dieser
Abend und er hatte ein Stück Frieden
gestiftet.
Langsam wurde es
78
STILL.
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