Das Glück, gebraucht zu werden Es ist eine der schönsten Liebeserklärung, die man machen kann. Die Geliebte, der Geliebte macht sich schutzlos. Sie gestehen, dass man ohne einander nicht leben will und kann: Ich brauche dich! Es ist das größte Vertrauen, das Liebende einander schenken können, wenn sie ihre Unabhängigkeit und die eigene Autarkie aufgeben und sich in die Liebe des anderen flüchten: Ich brauche dich. Die Kälte des Lebens ist da hereingebrochen, wo man einander sagt: Ich brauche dich nicht mehr! Der Satz: Ich brauche dich! Reißt Mauern ein, man ist nackt und schutzlos vor der Geliebten. Die Stärke dessen, der >>am mächtigsten allein<< ist, ist eher eine tödliche Stärke. Es ist die Herrschaftsstärke, die etwas ausrichtet, aber nichts gebiert. Jemanden brauchen und sich brauchen lassen, ist Lebensreichtum. Niemanden zu brauchen und sich nicht brauchen lassen, ist Lebensgeiz. Sich brauchen zu lassen, ist nicht nur gut und moralisch. Ich möchte es lieber mit einer ästhetischen Kategorie benennen: Es ist schön. Der hinwendungsfähige Mensch ist ein schöner Mensch. Der seine Bedürftigkeit bejahende Mensch ist ein schöner Mensch. Es gibt ein Wort im Neuen Testament, das ich liebe: überfließen. Damit ist die Liebe, die Großmut des Menschen gemeint, der sich selber nicht aufspart, der nicht mit sich geizt, sondern verschwenderisch mit sich selber ist. Sich verschwenden können – eine herrliche Kunst. Verschwenden hängt mit verschwinden zusammen. Aber man verschwindet gerade nicht, wenn man sich verschwendet. Wo man verschwindet hinter der Verschwendung, da ist sie falsch. Man hat oft von Frauen verlangt, dass sie sich verschwenden und zugleich verschwinden. Man hat die Tugend, sich brauchen zu lassen, vor allem ihnen zudiktiert. Eine Tugend, die nicht in gleicher Weise für alle gilt, ist ein Laster. Und alle Menschen haben das Recht, sich zu entziehen, wo nicht mehr verlangt wird als ihr Dienst und höchstens noch ihre schattenhafte Anwesenheit. Wenn man glücklich ist, spürt man sich selber nicht. Man ist bei dem Menschen, den man liebt, man vergisst sich. Man ist bei der Sache, für die man steht, man vergisst sich. Man ist in dem Buch, das man liest und das einen bannt. Man ist in der Musik, die man liebt, und man vergisst sogar, dass man Kopfschmerzen hat. Diese Selbstvergessenheit ist keine Moral oder Tugend, sie ist Glück. Unglück dagegen ist, sich selber stets gegenwärtig zu haben und unerträglicher Gast seiner selbst zu sein. Wie es eine Selbstvergessenheit gibt, die keine Moral, sondern Glück ist, so gibt es eine narzisstisch-selbstbezogene Anwesenheit der eigenen Person, die reines Unglück ist und die nicht moralisch zu beurteilen ist. So werden einsame Menschen oft egoistisch, einfach weil ihnen kein anderes Thema gewährt ist als die eigene Person. Ich erinnere mich an einen Besuch in einer Klosterkirche. Ich betrachtete die Figuren und Gemälde. Da kam ein alter Mönch auf mich zu, der offenbar schon lange auf einen anderen Menschen gelauert hatte. Er erklärte mir lange, umständlich und ohne meine Ungeduld zu bemerken die Kirche. Als ich mich endlich losmachen konnte, bat er mich fast flehentlich, am nächsten Tag wiederzukommen, er könne mir noch viel mehr zeigen. Der alte Mönch litt an dem Unglück, nicht mehr gebraucht zu werden. Er konnte sich selber nicht entkommen, weil er offensichtlich keine Menschen und keine Sache fand, für die er wichtig war. Und so war er sich selbst ausgeliefert. Man leuchtet sich selber nicht ein. Man kann nicht mehr wachsen, wenn man nicht gebraucht wird, man schrumpft auf sich selber zurück. Man leuchtet sich selber nur ein, wenn man liebt; wenn man für etwas kämpft oder leidet oder an etwas arbeitet. Man leuchtet sich selber ein, wenn man gebraucht wird. Ein wundervolles Glück in der Liebe oder in der Freundschaft ist, wenn ein Mensch sagt: Ich brauche dich! 1 Ich brauche dich! ist ein verkappter religiöser Satz. Wer ihn spricht, weiß, was Gnade ist. Gnade ist nicht das Mittel, die Unterlegenheit des einen vor dem anderen zu überbrücken, auch nicht die Unterlegenheit des Menschen vor Gott. Gnade ist die Gewährung des Ansehens und der Liebe der Angewiesenen untereinander. Und so können wir nicht nur sagen, dass wir Menschen von der Gnade Gottes leben, er ist auch auf unsere Gnade angewiesen. Gott will geliebt werden, das sagen wir zwar in unseren Theologien, aber wir sprechen ihm gern die Liebesbedürftigkeit ab, indem wir uns immer nur seiner Erhabenheit, Souveränität und Unbedürftigkeit erinnern. Lebendig sein heißt in Beziehungen stehen. Beziehungslosigkeit ist der Tod des Menschen, und eine der möglichen Beziehungen zu anderen und zur Welt ist, dass man nötig ist, dass man uns braucht und gebraucht. Mit dieser Kunst, sich brauchen zu lassen, hängt eine andere zusammen, die Kunst, jemanden zu brauchen. Ich halte sie für die viel schwerere Kunst. Es gibt Menschen, die jederzeit für andere da und bereit sind; die selbstlos jedem Hilferuf folgen, die sich aber viel schwerer damit tun, selber andere zu bitten und andere in Anspruch zu nehmen. Sie lassen sich brauchen, wagen oder wollen aber nicht andere brauchen. Vielleicht glauben sie, dass sie es nicht verdienen, andere zu brauchen. Vielleicht können sie nicht auf ihre kärgliche Unabhängigkeit verzichten. Wenn ich jemanden brauche, gebe ich zu, dass es nicht genug ist, mein eigener Souverän zu sein. Ich gebe in Demut zu, dass ich angewiesen bin und mit mir allein nicht auskomme. Die Angewiesenheit auf andere ist keine Schwäche, es ist Schönheit. Die eigentliche Größe des Menschen ist, diese Verwiesenheit zu bejahen und sich ihrer nicht zu schämen. Je geistiger ein Wesen ist, umso mehr ist es angewiesen und abhängig, und es schämt sich nicht dieser Abhängigkeit. Erst von einem Wesen, das seine eigene Hilfsbedürftigkeit nicht verleugnet, kann man sich helfen lassen, ohne dass diese Hilfe beschämt. Das eine Unglück der Menschen ist, von niemandem gebraucht zu werden. Das andere Unglück besteht darin, nur als Instrument gebraucht zu werden. Benutzt werden heißt entwürdigt werden. Man ist ein Ding, man ist ein Instrument. Man ist sich nicht mehr Selbstzweck, man wird von anderen zu Zwecken benutzt. Es kommt dabei nicht auf die Person eines Menschen an, sondern auf die Funktion, die er ausübt. Wenn man zu diesen Zwecken nicht mehr taugt, ist man ein überflüssiger Fresser und kann eliminiert werden. Das ist das andere Ungiück, nur für die Zwecke anderer zu existieren. Jedes den Menschen nicht schändende Gebrauchtwerden hat etwas mit Liebe zu tun: gebraucht werden als eine Möglichkeit, die anderen zum Leben verhilft, ob man nun gebraucht wird für Menschen, für eine Idee oder ein Ziel, das menschenwürdig und menschenfördernd ist. Ein humanes Gebrauchtwerden heißt, dass das Herz gebraucht wird, nicht nur die Hände. Wo dies nicht der Fall ist, ist man entwürdigt und nur noch Mittel zum Zweck. Es gibt Wörter in unserer Sprache, die diese Art von Benutzung anzeigen, etwa das Wort Menschenmaterial der Nazis oder das gebräuchliche Wort Humankapital. Auch das Wort Arbeitskräfte kommt in die gefährliche Nähe eines solchen Begriffs. Hier ist nur noch an die Verwendungsmöglichkeiten des Menschen gedacht. Manchmal geht man Wege, die einen an den eigenen Ausgangspunkt zurückführen, ohne dass man sie vergeblich gemacht hätte. >>Vom Glück, gebraucht zu werden<< könnte ein Thema sein, das man vor 40 oder 50 Jahren in einem religiösen Journal für Barmherzige Schwestern finden konnte. Es war damals ein erwartbarer Titel in einer Zeit, in der Selbstlosigkeit alles war und in der die Entfernung von sich selbst und dem eigenen Glück Ziel in sich war. Wir haben uns dann langsam von den glücksfeindlichen Diktaten entfernt. Wir lernten Ich zu sagen und das Glück des eigenen Gedankens, der eigenen Erfüllung und der eigenen Sexualität zu verlangen. Wir lernten, uns selber zu beabsichtigen. Dann 2 stellten wir fest, wie sehr man sich in der Selbstbeabsichtigung erschöpfen kann. Wir lernten, dass sie ein ebenso gefährliches Ziel ist wie die pure Selbstlosigkeit. Wir haben eine alte Wahrheit neu gelernt: wer seine Seele sucht, wird sie verlieren. Wer nicht anderes im Auge hat als sich selber, verheert sich und seine Welt. Nun sind wir wieder am alten Ausgangspunkt, ohne dass der Weg überflüssig war. Wir fragen nach dem Glück, das darin liegt, gebraucht zu werden. Aber wir fragen dies als solche, die sich nun selbst gelernt haben und die das eigene Giück nicht mehr scheuen. Wir lernen den Satz, der das Thema des letzten Vortrags von Dorothee Sölle war: >>Wer nur das Glück sucht, sucht nicht Gott<<. Weniger kann man eigentlich nicht suchen wollen. Findet mich das Glück? Normalerweise fällt mir das Schreiben leicht. Merkwürdig holprig aber nähere ich mich dem Thema Glück. Könnte es sein, dass Theologen mehr vom Unglück als vom Glück wissen? Könnte es sein, dass wir dem Glück misstrauen und es unterschätzen? Sind wir eher ins Unglück als ins Glück verliebt? Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, wenn ich sehe, wie die Themen von uns Theologen eher Schmerz, Leid, Schuld und Unglück sind als das Glück. Vielleicht ist das so, weil Unglück leichter darzustellen ist als das Glück und das Glücken. Vielleicht aber ist einfach die erste Aufgabe von Religion, sich um die Unglücklichen zu kümmern. Sie sind die ersten Adressaten jenes großen Versprechens vom Lebensglücken, das das Evangelium bietet. Was heißt Glück? In dem Wort steckt das Verb gelingen. Glück ist das Gelungene oder der günstige Ausgang eines Ereignisses. In einem ersten und eher oberflächlichen Sinn ist Glück ein positives und zufälliges Ereignis, das den Menschen trifft wie etwa ein Gewinn im Lotto. Dieses Glück kann man kaum beeinflussen. Es kommt, dann hat man eben Glück. Es bleibt aus, dann hat man eben Pech. Der Ziegel, den der Sturm vom Dach weht, knallt gerade neben mir auf den Boden. Dann habe ich Giück gehabt; oder aber er trifft meinen Kopf, dann habe ich Pech gehabt. Man hat gelegentlich auch diesen Zufall herbeizuführen oder ihn abzuwenden versucht mit den Mitteln der Glücksbringer oder mit Gegenständen, die das Unglück bannen sollten: Das an die Wand genagelte Hufeisen soll Glück bringen. Die Hasenpfote soll das Unglück bannen. Wenn sich Menschen am Anfang eines Jahres, neuen Lebensabschnittes, einer Taufe, eines Geburtstages Glück wünschen, dann wünschen sie ihnen nicht nur, dass ihnen kein Ziegel auf den Kopf fällt. Was also wünschen sie, und was ist 3 das Glück? Es ist zunächst das Gelingen in den einfachen Dingen des Lebens, das Gelingen der Selbstverständlichkeiten. In einem alten Trausegen finde ich folgende Wünsche für das Paar: Ihr sollt Kinder haben; ihr sollt Freunde und Freundinnen haben, die euch in Freud und Leid zur Seite stehen; eure Arbeit soll gesegnet sein, und ihr sollt die Früchte dieser Arbeit genießen; ihr sollt miteinander alt werden und „die Ernte des Lebens" genießen. Den Menschen wird das Glück der Schöpfung gewünscht: dass sie Brot haben, das ausreicht; eine Arbeit, die sie erfüllt; ein Dach über dem Kopf, Gesundheit, Frieden. Wenn eines dieser Dinge fehlt, sind das Giück und die ruhige Selbstverständlichkeit des Lebens gestört. Es gibt übrigens ein selbstgemachtes Unglück, das darin besteht, nicht wahrzunehmen und nicht zu würdigen, dass man das Glück der einfachen Dinge hat. Es ist das Unglück mürrischer Leute, die haben, was sie brauchen, und die die Dankbarkeit nicht kennen und nicht das Lob der einfachen Dinge. Man muss das Glück auch lesen lernen in dem kleinen Gelingen des Lebens: dass man Brot hat, eine Wohnung, sauberes Wasser, Zeit zum Lesen und Spielen, eine Arbeit. Nicht erst das Unglück soll Menschen lehren, was Glück ist. Wer kein Brot hat, weiß, was Brot ist. Wer krank ist, weiß, was Gesundheit bedeutet. Oft weiß man es zu spät, weil man nicht gelernt hat, die Dinge, die schon geschenkt sind, zu loben. Das, was uns fehlt, drängt sich immer lautstark auf. Manchmal muss man ihm den Mund verbieten, damit man hört, was schon da und gelungen ist. Das Glück ist gestört, wo die einfachen Dinge fehlen. Aber sie machen nicht das ganze Glück aus. Das tiefste G1ück erfährt der Mensch in der Liebe, das tiefste Unglück in der Verlassenheit. Du bist mein Glück, sagen wir zu einem geliebten Menschen. Hier helfen keine Hasenpfote und kein Hufeisen. Das Glück der Liebe kann man nicht machen. Diesem Glück kann man kaum auf die Beine helfen. Es muss von selbst kornmen. Die Dinge, von denen man am tiefsten lebt, kann man nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung. Sie sind gratis. Dieses Wort kommt von dem lateinischen Gratia, das heißt Gnade. Der Blick der Liebe wählt uns aus, ohne dass wir uns selbst zur Wahl stellen können. Dieses Glück findet uns. Es ist ein merkwürdiges Glück, das uns erfüllt und das uns ledig und frei von uns selber macht. Wenn uns das Glück der Liebe findet und wenn man sich nicht dagegen wehrt, verliert man alle Selbstbedachtheit. Man vergisst sich, man verliert sich, man besteht nicht auf sich selber, nicht einmal darauf, dass man dieser Liebe unwürdig ist. Im Weihnachtslied von Friedrich Spee heißt es: >>In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab, mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab<< Es gibt eine Selbstaufgabe, die die höchste Form der Selbsterfüllung ist. Es gibt eine Selbstvergessenheit, die die höchste Form des Glücks ist. Aus „Der Schatz im Acker“ von Fulbert Steffensky 4