Tunnelblick und Gipfelglück

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Tunnelblick und Gipfelglück
Einladungsbild
Ästhetik ist neben der Kunst die konstituierende Kategorie der Bildnerischen Erziehung,
dem Fach für das ich seit Oktober 2004 am Mozarteum zuständig bin, dieser Begriff hat mir
immer Schwierigkeiten gemacht.
Meine Schwierigkeiten hängen damit zusammen, dass Ästhetik und das davon abgeleitete
„ästhetisch“ ganz Verschiedenes bedeuten können, die jeweilige Bedeutung nicht immer
eindeutig aus dem Zusammenhang hervorgeht und folglich verschiedene Autoren ihre ganz
eigenen Vorstellungen damit verbinden. Folgen wir der Definition, wie wir sie in Lexika
finden, so ergeben sich folgende Bedeutungsmöglichkeiten:
1. Im engeren Sinne meint Ästhetik die Wissenschaft, die sich mit Grundkategorien der
sinnlichen Erfahrung (das Schöne, das Häßliche, das Erhabene, das Tragische, Komische
&c.) beschäftigt.
2. Im weiteren Sinnen ist sie die Wissenschaft von den Problemen der Kunst, sie untersucht
die Bedingungen von Kunstwerken &c.
3. Seit Baumgarten, der den Begriff im 18. Jahrhundert einführte, verstehen wir darunter
eine Erkenntnisform, die im Gegensatz zum Begriff-Rationalen steht und vom Konkreten,
von der konkreten Erfahrung ausgeht – im Gegensatz zur Erkenntnis durch reines
Nachdenken.
4. An sich heißt der Begriff auf Wahrnehmung bezogen und spielt so in die
Wahrnehmungspsychologie hinein.
Dazu kommt erschwerend, dass ästhetisch sehr häufig offen oder verdeckt normativ
verwendet wird, im Sinne von schön – so wie der Begriff ja auch im Alltag verwendet wird.
Viele Autoren schreiben von ästhetischen Gegenständen und meinen damit Kunstwerke, so
als sei „ästhetisch“ eine Wesenseigenschaft, so wie hölzern bei diesem Tisch. Seit Marcel
Duchamp aber ist klar, dass Gegenstände durch den Gebrauch zu Kunstwerken werden,
„ästhetisch“ also die Art und Weise einer Verhaltensweise, nämlich der Rezeption
bezeichnet...
Fountain von Marcel Duchamp
und dass viele aktuelle Kunstwerke ihre Bedeutung gerade nicht aus dem wahrnehmbaren
Bestand ziehen, sondern vor allem aus dem spezifischen Zusammenhang. Daneben sprechen
wir dann auch noch von Alltagsästhetik, was gerade nichts mit Kunst zu tun hat.
(Talkshow)
Über Ästhetik in qualitativer Hinsicht und über die Frage, welchen Wahrnehmungen wir
uns aus welchen Gründen aussetzen bzw. welche wir vermeiden sollen, wird längst nicht
mehr in philosophischen Seminaren oder an Kunsthochschulen geredet; dafür steht sie im
Zentrum von Lifestylediskussionen in Zeitschriften und Talkshows.
(Lifestylezeitschriften)
Große Teile der Gespräche, die wir in unserer Freizeit führen, handeln von der Qualität
von Wahrnehmungsangeboten.
1
Durch diese Mischung aus Unschärfe und positiven Assoziationen (Schönheit, Kunst,
Geschmack) eignet sich dieser Begriff besonders gut zur (scheinbaren) Integration
verschiedenster kunstpädagogischer Denkansätze.
Collage Kunstpädagogik
Ein Kunstpädagoge, der sagt: „In der Bildnerischen Erziehung geht es vor allem um das
Ästhetische.“, wird von allen Seiten Zuspruch erhalten, auch wenn der Eine eher an Kunst,
die Andere eher an genaue und intensive Wahrnehmung und der Dritte an Fernsehbilder und
das Erscheinungsbild von Einkaufszentren denkt. Ästhetik und Wahrnehmung sind neben der
Kreativität der Kitt der Kunstpädagogik.
Ästhetik und Didaktik
Ästhetik im Sinne einer Erkenntnis, die sich aus der Anschauung ergibt, wird in der
Kunstpädagogik zu Beginn der 1970er Jahre eingeführt und zur Bezeichnung einer eigenen
didaktischen Bewegung.
In seiner Didaktik der ästhetischen Erziehung begründet Gunter Otto 1974:
„Den Begriff ‚Ästhetische Erziehung‘ verwende ich nicht aus Gründen der Aktualität,
sondern wegen des historischen Vorverständnisses und mit der Absicht, einige Präzisierungen
vorzunehmen:
- der Begriffsanteil ‚ästhetisch‘ signalisiert die Erweiterung im inhaltlichen Bereich. (der
Kunstpädagogik, F.B.) Ästhetisch verweist auf generelle – nicht nur an Kunst, nicht an
‚kulturelle‘ Werte gebundene – Wahrnehmungs-, Realisations- und Interpretationsweisen.
- der Begriffsanteil ‚Erziehung‘ signalisiert die Erweiterung im intentionalen Bereich.
Erziehung geht insofern über die bislang akzentuierten unterrichtlichen Informationsprozesse
hinaus, als sie an einem Generalziel orientiert ist, das nicht nur Kenntniserwerb und
Fertigkeitstraining, sondern Verhaltensänderung fordert. Erziehung wird hier als Oberbegriff
gebraucht, der Unterricht und Lernen einschließt.“ (Gunter Otto, Didaktik der Ästhetischen
Erziehung, xxxxxxxxxxS. 17f)
Entgegen seinen Aussagen verwendet er den Begriff sehr wohl aus aktuellem Anlass, was
hat ihn zu dieser Definition gebracht?
Parallel und im Anschluss an das neue Denken, das wir mit dem Schlagwort 68 und
Studentenbewegung zusammenfassen, haben junge Kunstpädagogen wie Hermann K. Ehmer,
Heino Möller und Helmuth Hartwig den damaligen Kunstunterricht – einer der Hauptvertreter
war just Gunter Otto – kritisiert und komplett in Frage gestellt.
Gegen den Kunstunterricht
Kunstunterricht gehe mit seinen Inhalten an den Interessen der meisten Schülerinnen und
Schüler und der arbeitenden Bevölkerung vorbei, er sei affirmativ und unterstütze die
herrschenden Machtverhältnisse... anstelle von Kunst, die damals stark von abstrakten und
formalen Fragestellungen geprägt war, seien Plakate, Filme, Werbung, Architektur,
Städteplanung &c. zum Gegenstand eines gesellschaftskritischen Unterrichts zu machen. Das
Fach sollte auch nicht mehr Kunsterziehung oder Kunstunterricht heißen, sondern Visuelle
Kommunikation.
Visuelle Kommunikation
Gefordert war ein vollkommener Bruch mit der Tradition.
2
Otto - Nahaufnahme
Mit seiner „Didaktik der Ästhetischen Erziehung“ versuchte Otto, die Visuelle
Kommunikation mit der Tradition des Faches wenn schon nicht zu versöhnen, so doch
wenigstens einen gemeinsamen Oberbegriff zu finden. Dafür bot sich die Wahrnehmung an.
Wahrnehmung wurde die zentrale Kategorie der Ästhetischen Erziehung. (Otto, ÄE, S.81)
Nebenbei: damals hätte Otto auch den Begriff Bild als gemeinsamen Oberbegriff
wählen können, wozu sich etwa die Fachdidaktik in Schweden entschlossen hat, aber
das wäre wohl im Anspruch zu niedrig gewesen – es ging schließlich um Erziehung
und Bildung und in der Folge um Unterrichts- und Erkenntnisprinzip, mit Anspruch
auf Omnipotenz. (ästhetische Rationalität aus dem dreibändigen Werk)
„Ästhetische Erziehung umfaßt dem Begriff nach alle Bereiche der sinnlichen
Wahrnehmung und Aktion.... und zielt nicht auf ein neues Unterrichtsfach, sondern auf ein
fächerübergreifendes bzw. fächerdurchdringendes Prinzip“1 heißt es etwa schon 1972.
1976:
„Der ästhetische Bereich ... ist nicht auf Kunst als tradierter Form der speziellen
ästhetischen Aktivitäten des Menschen eingegrenzt, vielmehr wird das Ästhetische als
allgemeines Phänomen in der Wahrnehmung und Gestaltung der Wirklichkeit durch den
Menschen gesehen.“2
Um die bildnerisch praktischen Traditionen des Faches unterzukriegen, wird ästhetisch
nicht mehr nur als Wahrnehmung konstruiert – wie es die Definition im Brockhaus macht,
sondern auch als eine Handlungsstrategie. Wer ästhetisch handelt, ist darauf aus, Gegenstände
oder Situationen herzustellen, die ästhetische Wahrnehmung auslösen. Jawohl, Sie haben
richtig gehört, Adelheid Sievert unterscheidet zwischen einer sinnlichen und einer
ästhetischen Wahrnehmung.
Auge
Die sinnliche Wahrnehmung ist das, was wir gemeinhin als Wahrnehmung betrachten: „ich
sehe ...“ Die ästhetische Wahrnehmung ist darüber hinaus bestimmt durch den Modus: „ich
sehe etwas als ...“ Ästhetische Wahrnehmung ist also genau genommen eine semiotische
Sicht. Jede ästhetische Wahrnehmung setzt eine sinnliche voraus, aber nicht jede sinnliche ist
eine ästhetische. Auch Arthur Danto unterscheidet Kunstwerke von anderen Gegenständen
aufgrund ihrer „aboutness“. Ästhetisch in diesem Sinne wäre eine Wahrnehmung dann, wenn
ihr Gegenstand interpretiert wird, wenn von etwas Wahrnehmbaren auf etwas nicht
unmittelbar Wahrnehmbares geschlossen wird. Alle Zeichen müssen wahrnehmbar sein, so
gesehen sind alle Zeichen ästhetisch, weil wir sie als etwas sehen. Zudem kann alles als
Zeichen gesehen werden.
Mercedes
Der Mercedes kann ein Zeichen für Reichtum sein, aber nicht aufgrund seiner Erscheinung
sondern aufgrund unseres Wissens über seine Kosten…
Ein weiteres Problem ist, dass viele Kunstwerke sich heute keineswegs über ihre sinnliche
Erscheinung erschließen.
1
(Klaus Matthies: Erkenntnis und Interessen der Kunstdidaktik, Köln 1972, S.59, zit. bei Mayerhofer, Zacharias:
ästhetische erziehung, Hamburg 1976, S. 23)
2
Mayrhofer, Zacharias: 1976, S. 42
3
Jeff Koons
Seit Anfang der 1970er Jahre, als die Idee der ästhetischen Erziehung entstand, hat sich die
Kunst weiterentwickelt, sie ist mit ästhetisch im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung und
Erkenntnis nicht mehr zu fassen – wenn sie das je war. Spätestens seit der Konzeptkunst ist
deutlich, dass der Begriff „ästhetisch“ nicht ausreicht, um alle Erscheinungen der Kunst unter
einen Hut zu bekommen.
Viele Schwierigkeiten, die sich aus dem Begriff ergeben.
Im Folgenden hoffe ich einige Klärungen zu bieten, die nicht nur für die Kunstpädagogik
von Nutzen sind.
Wahrnehmen ist Interpretieren
Beginnen wir zunächst mit der Wahrnehmung, so wie sie die Neurobiologie heute versteht.
Gerhard Roth, ein Kognitionswissenschaftler aus Bremen, schreibt: „Wahrnehmung ist
Interpretation, ist Bedeutungszuweisung.“3
Wie kommt die Welt in unseren Kopf, wie nehmen wir wahr, was wir wahrnehmen?
Schauen wir uns das einmal am Beispiel des Sehens an. Objekte in unserer Umgebung
strahlen Licht ab. Auf der Netzhaut entsteht eine zweidimensionale Projektion, ein Bild. Die
Netzhaut ist an der Peripherie des Nervensystems, sie besteht aus 125 Millionen
lichtempfindlichen Zellen. Das Licht reizt die Sehzellen, dieser Reiz wird elektro-chemisch an
das Gehirn weitergeleitet. Diese Reize lassen sich mit Hilfe von Apparaturen hörbar oder
sichtbar machen, sie unterscheiden sich lediglich in der Frequenz nicht in der Intensität. Alle
Empfindungen, die aus der Peripherie an das zentrale Nervensystem gemeldet werden, wie
Tasten, Hören, Riechen, Schmecken, Gleichgewicht &c. beruhen auf derartigen Reizen und
sie sind ebenso „codiert“. Die ursprünglichen Reizauslöser, die Gegenstände, das Licht das
von ihnen reflektiert wird, &c. gehen in den unspezifischen Signalen dieser neutralen Sprache
auf.4
Klick-Klick
Das Gehirn weiß lediglich, woher die einzelnen Reize kommen und dass Reize von der
Netzhaut als Sehen solche von der Fingerkuppe als Tasten behandelt werden müssen.
Bau und Funktionsweise des Auges begrenzen das Spektrum der Reize, die Netzhaut ist
lediglich für elektromagnetische Wellen zwischen 400 und 700 Nanometer Wellenlänge
empfindlich, sie „filtert“ aus der möglichen Bandbreite das sog. sichtbare Licht heraus.
Allerdings stehen einer Netzhautzelle 100.000 interne Nervenzellen zur Verarbeitung der
Reize gegenüber.5 Die wenigen Daten werden also extrem aufwändig interpretiert. Stellen Sie
sich vor: Ein Brief, der in einem Finanzamt eingeht, kann von bis zu 100.000 Beamten
bearbeitet werden.
Gerhard Roth, „Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit“ in Gerhard Pasternak (Hrsg.), Verstehen, Erklären,
Begründen. Bremen 1985 Univ. Verlag, S.8(?) zit. bei S.J. Schmidt: Der Diskurs des radikalen
Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1987, S. 15)
4
Es ist nicht so, wie der Brockhaus schreibt: „Jedes Bild, das die Augen wahrnehmen, wird von den
Photorezeptoren der Netzhaut aufgenommen und über den Sehnerv weiter ans Gehirn geleitet.“ (c)
Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001 Das Bild wird nicht aufgenommen, sondern löst eine
Unmenge von Reizen aus.
5
Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1997, S.124
3
4
So konstruiert das Gehirn mit Hilfe evolutionärem und biografischem Wissen die
wahrgenommene Welt. Es ist ein Interpretationsvorgang: aus den für das Gehirn
„unmittelbar“ gegebenen Daten = Reize von der Peripherie, schließt es auf die nur mittelbar
gegebenen Anlässe für die Reize.
Dieser Interpretationsvorgang ist durch Wiederholung derartig eingeschliffen und
automatisiert, dass wir ihn nur dann bemerken, wenn wir auf eine sog. Sinnestäuschung
hereinfallen.
Optische Täuschung (Poggendorf)
Wenn sich also eine Annahme, die wir auf der Grundlage einer solchen Interpretation
gemacht haben, als falsch erweist. Die meisten Vorhersagen erweisen sich als richtig und
lassen uns eine feste und (scheinbar) objektive Welt konstruieren. – Sehen haben wir so früh
gelernt, dass wir uns nicht mehr erinnern, dass wir die Interpretationsregeln lernen mussten.
Nun könnten wir sagen, die Ästhetik fängt erst dann, wenn diese mehr oder weniger
automatisch ablaufenden Interpretationen abgeschlossen sind, und wir dann bestimmte dieser
Wahrnehmungsgegenstände – Ergebnisse dieser automatischen Interpretationen – als etwas
sehen... die sinnliche Wahrnehmung wäre Interpretation I die ästhetische Wahrnehmung
Interpretation II. Eine Wahrnehmung, die auf der Grundlage von kulturellem Wissens und
Interpretationsregeln, zustande kommt.
Allerdings wissen wir, dass auch die Wahrnehmungen aus den Interpretationen der 1. Stufe
von denen der 2. Stufe beeinflusst werden können. Wer malt kennt des Phänomen, dass ein
Braun je nachdem von welcher Mischung (Braun erhält man über das Mischen von
Komplementärfarben, rot-grün, violett-gelb, blau-orange) her man es sieht, sich verändert, es
kann je nach Begriff, den man sich denkt die Farbe von violett nach grün und rot ändern.
Viele der kulturell erworbenen Interpretationsregeln werden immer wieder angewendet und
laufen beinahe so unbewusst ab, wie die „biologischen“.
Wahrnehmung ist immer Interpretation, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen einer
rein biologisch physiologischen und einer kulturell überformten lässt sich nicht treffen.
Optische Täuschung - Raum
Ästhetische Wahrnehmung könnten wir dann als Interpretation 3 oder 2,5 bezeichnen,
nämlich einen Interpretationsvorgang, der sich seiner bewusst ist. Wo wir zwei oder mehr
mögliche Interpretationen nebeneinander haben und zwischen ihnen abwägen, uns also die
Interpretationsregeln angesichts der Alternativen bewusst sind.
Unterscheidung Reduktion – Steigerung
Die Anekdote
Anstelle der Unterscheidung sinnliche und ästhetische Wahrnehmung möchte ich eine
andere stellen, die der Reduktion und der Steigerung der Komplexität der Wahrnehmung.
Radfahrerin
Dazu eine Geschichte:
Es ist Viertel vor ...., um sechs macht die Post zu und der Brief muss unbedingt noch weg.
Mit dem Rad durch die Stadt, die Augen auf den Boden, rechts und links nur, um das
Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer einzuschätzen, geht der Fußgänger auf die Straße,
biegt das Auto aus der Parklücke, kann ich den Radfahrer noch überholen... ich fahre durch
einen Tunnel, aus dem großen Angebot an Wahrnehmungsgegenständen filtere ich das
5
heraus, was ich brauche... Das Radfahren läuft automatisch, ich spüre weder den Sattel noch
die Qualität der Lenkergriffe, ich schaue auf die Uhr... ich sehe die schönen Frauen nicht, ich
höre das Flugzeug nicht, das über mir fliegt, und ich rieche auch die Abgase nicht...
Spaziergänger
Eine Stunde später gehe ich mit meiner Frau durch die selben Straßen, aber sie sind ganz
anders, wir haben Zeit... Wir reden darüber, was wir sehen und riechen und hören, wir zeigen
es uns und wir reden darüber, warum das so ist, wir bewerten natürlich auch dauernd....
Die Stadt ist die gleiche geblieben, aber die Daten, die ich aus ihr „gewinne“, sind andere.
Auf der Fahrt zur Post war ich im Modus der Wahrnehmungskomplexitätsreduktion, während
des Abendspaziergangs waren wir mit dem einfach Sichtbaren nicht zufrieden, wir haben
versucht, die Komplexität der Wahrnehmung zu steigern, durch genaues Hinschauen, dadurch
dass wir uns gegenseitig auf unsere Wahrnehmungen aufmerksam gemacht haben und
dadurch, dass wir über die Hintergründe geredet haben, wir haben also zu den
offensichtlichen Erscheinungen noch Informationen dazu gesehen, in der oben erwähnten
Tradition hätten wir also ästhetisch wahrgenommen.
Natürlich lassen sich die beiden Modi im echten Leben meistens nicht so klar trennen.
Reduktion
Reduktion als Schemabildung
Die Reduktion von Komplexität (auch der Wahrnehmung) ist von der Systemtheorie aus
gesehen der Normalfall.
Dschungel
Schon weil ein System immer kleiner ist als seine Umwelt, kann es nicht alle Daten
verarbeiten, die die Umwelt anbietet. Siehe die schon erwähnte Beschränkung des Auges. Für
viele Umweltereignisse haben wir gar keine Sinnesorgane ausgebildet – Radioaktivität
können wir nur mit Apparaten registrieren. Es geht auch nicht darum, die Welt möglichst
genau und wahrheitsgemäß wahrzunehmen. Es reicht ein Modell, das es uns ermöglicht
zurechtzukommen.6 Um zu entscheiden, was zu tun und zu lassen ist, brauchen wir lediglich
angemessene Informationen über die Situation und über mögliche Entwicklungen. Um als
Radfahrer sicher zur Post zu kommen, darf und brauche ich mich nicht mit dem Design der
Radkappen der Autos beschäftigen...
Die Reduktion der Wahrnehmung ist eine Frage der Zeitökonomie. Entscheidungen
können entsprechend schnell getroffen werden7.
Reduktion wird gelernt.
Wie wird der Weg zum Postamt für mich zu einem Tunnel, wo er doch eine Stunde später
ein reicher Garten voller bunter Wahrnehmungsangebote ist?
Wenn wir in ähnlichen Situationen die gleichen Interpretationen immer wieder erfolgreich
wiederholen, entwickeln wir Routinen; d.h. wir lernen im Laufe der Zeit zu unterscheiden,
was wesentlich und was überflüssig ist.
6
Genauer müssten wir sagen, die Weltmodelle, die wir konstruieren, bestimmen die Umwelten, in denen wir
zurechtkommen.
7
Interpretieren ist ein Vorgang und damit notgedrungen mit Zeitverbrauch gekoppelt. Je komplexer und
intensiver die Wahrnehmung desto mehr Zeit.
6
Radfahrer im Tunnel
Bei jeder Wiederholung lassen wir dann jene Details weg, die wir nicht gebraucht haben.
Die Wahrnehmung wird dadurch zunehmend einfacher, bis wir im Idealfall ein Muster
entwickelt haben, das genau passt. So reagieren wir schließlich hauptsächlich auf einige
wenige Schlüsselreize. Experten können aufgrund relativ weniger Informationen komplexe
Situationen einschätzen. Als Verkehrsteilnehmer sind wir alle Experten. Wir haben gelernt,
dass etwa die Farben der Autos oder die Muster der Kleider der Passanten für das
Zurechtkommen im Straßenverkehr unwichtig sind – es sei denn es handelt sich um die
Farben von Polizeiautos oder um Uniformen.
Als ortskundiger und erfahrener Verkehrsteilnehmer kenne ich den Weg wie im Schlaf,
was dazu führt, dass ich die Reihenfolge der einzelnen Häuser z.T. gar nicht nennen kann, und
ich fahre ebenso traumwandlerisch sicher Fahrrad. Ganz anders in einer fremden Umgebung...
(Only by forgetting, I can see the world as it really is, sagt David Byrne am Ende seines
Filmes “True Stories”)
Bild von David Byrne
Reduktion durch einfachen Input
Die Tunnelmetapher leuchtet uns ein. Ein Tunnel hat einen Eingang und einen Ausgang,
dazwischen ein gleichförmiges Wahrnehmungsangebot. Ich kann mich in ihm unabgelenkt
von überflüssigen Informationen bewegen. Bei der Fahrt zur Post habe ich diesen Tunnel
durch routiniertes Ausfiltern unnötiger Daten hergestellt.
Aber es lassen sich derartige Tunnel auch durch entsprechende Gestaltung auf der
Angebotsseite herstellen. Autobahnen sind genau aus diesem Grunde so wie sie sind. Sie
reduzieren für die Verkehrsteilnehmer, denen es pressiert, die Komplexität der Wahrnehmung
so, dass sie sich auf das Wesentliche, das Verkehrsgeschehen konzentrieren können. Die
genormten Wahrnehmungsangebote der hochgradig vorhersehbaren Autobahn machen alle zu
Ortskundigen.8
Autobahn in Dubai
Autobahn irgendwo in einem deutschen Mittelgebirge
Genormte Umgebungen erleichtern uns weltweit das Leben auf Bahnhöfen, Flugplätzen,
in Supermärkten und Fastfoodrestaurants.
Flughafen – Istanbul und München
Hier geschieht die Reduktion der Wahrnehmung dadurch, dass die Umgebungen nach den
selben Mustern gestaltet sind, wir diese Muster in entsprechenden Umgebungen gelernt haben
und sie in den neuen Umgebungen so anwenden wie in vertrauten.
Flughafen Istanbul
Die internationalen Verkehrsräume bieten nicht nur die immer gleichen Zeichen und die
immer gleiche Organisation der Räume, zwischen den Zeichen sind auch relativ wenige
Wahrnehmungsangebote, die uns ablenken. Werbung auf Flughäfen ist so gelabelt, dass wir
sie bei Bedarf sofort als solche ausfiltern können.
8
Neuere Abschnitte unterstützen dies noch mehr, das Begleitgrün verhindert zunehmend den Ausblick auf die
umgebende Landschaft.
7
Am einfachsten lässt sich die Wahrnehmung rein quantitativ reduzieren. Eine
monochrome, homogene Fläche oder ein einfaches sich wiederholendes Muster bietet weniger
Wahrnehmungsmöglichkeiten, als eine strukturierte bemalte Fläche. 9
Generell lässt sich sagen, dass Umgebungen, in denen Konzentration wichtig ist, so
gestaltet sind, dass sie möglichst wenig Reize für Interpretationen bieten – Operationssäle,
Bibliotheken und und und...
Ein spannendes Feld der Reduktion stellen Sportplätze und andere Sportumgebungen dar,
beim Fußballfeld, beim Schwimmbad oder bei der 400 Meterbahn geht es ja nicht alleine um
die Vergleichbarkeit der Bedingungen, es geht vor allem darum, dass nichts vom Spiel und
seinen Regeln abweicht.
Auf besondere Räume der Wahrnehmungsreduktion, Galerien, Museen, Konzertsäle,
werden wir später noch einmal zurückkommen.
Reduktion als ein Modus des Verhaltens
In meiner Geschichte von der Fahrt zur Post und dem Abendspaziergang habe ich von zwei
Modi des Umgangs mit Wahrnehmungsangeboten gesprochen. Reduktion bestimmt unseren
Alltag. Alltag ist Wiederholung, er spielt sich in festen sozialen Umgebungen ab, die auf
Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit des Verhaltens angewiesen sind. Damit das
Zusammenleben und die Zusammenarbeit gelingen, folgen Wahrnehmungen und deren
Interpretationen sozialen Mustern, die von der Umgebung vorgegeben und kontrolliert
werden. Der Alltag hat in der Bewältigung des Lebens feste Ziele, die möglichst geradlinig
erreicht werden wollen. Nichts soll uns ablenken.
Andere Bereiche, die auf die quantitative Reduktion von Wahrnehmung angewiesen sind,
sind Lesen, Lernen, Nachdenken, aber auch Beten und Andacht.
Moschee an der Tankstelle in Dubai
Also alles Tätigkeiten, bei denen unsere inneren Stimmen sprechen. – Für Protestanten
sind so gesehen barocke Kirchen gelinde gesagt problematisch.
Alles hat wenigstens seine zwei Seiten.
Die Ökonomie der gelernten Schemata, die uns schnell und sicher handeln lassen,
erschweren es uns, neue Situationen als solche zu erkennen. Wenn irgendwo die Vorfahrt
geändert wird, dann verursachen vor allem einheimische Verkehrsteilnehmer Unfälle, deshalb
werden auffällige Blinkanlagen installiert. Trotzdem passieren Unfälle oft noch nach Wochen
oder Monaten der Umstellung, die Einheimischen sehen nämlich die neuen Verkehrszeichen
einfach nicht. Bei Routinewahrnehmungen verwendet das Gehirn die immer gleichen
Verbindungen, diese werden stabiler, je öfter sie verwendet werden.10 Für erfolgreiches
Handeln und Verhalten müssen Systeme ein angemessenes Verhältnis zwischen Schema und
Schemabruch entwickeln.
Dem Modus der Schemabildung, der Wahrnehmungskomplexitätsreduktion muss der
Modus des Schemabruchs, der Wahrnehmungskomplexitätssteigerung gegenüberstehen, um
das System flexibel zu halten.
9
Bleiben wir beim Verkehr. Designer von Oberflächenmaterialien, die im Inneren von Autos eingesetzt, haben
ein schwieriges Problem, zum einen sind die Oberflächen dem Fahrer sehr nahe, sie sollen ihn nicht
verunsichern, sie sollen ihm im Gegenteil ein Gefühl von Sicherheit geben. Sicher fühlen wir uns bei Strukturen,
die irgendwie organisch wirken, so etwa wie Leder oder Holz. Gleichzeitig darf der Fahrer nicht abgelenkt
werden durch Figuren, die er in den Strukturen sieht, was gerade bei natürlichen Materialien der Fall sein kann.
Es werden Muster entwickelt, die keine Bedeutung in Form von Bildern ermöglichen.
10
Dabei werden die verschiedenen Synapsen zunehmend isoliert, die Verbindungen also immer starrer, und wir
können nur noch schwer reagieren, wenn die Umwelt sich ändert.
8
Steigerung
Wenn wir die Schemabildung und Reduktion im Alltag, in den täglichen Routinen, in der
Arbeit, den Wiederholungen und der Konzentration gefunden haben, so sollten sich die
Steigerungen im Fest, in der Freizeit, der Muse, im Spiel, im Vergnügen und der Unterhaltung
finden lassen.
Ich möchte die Steigerung am Tourismus und an der Kunst untersuchen.
Steigerung lässt sich nach dem gleichen Modell, das wir schon bei der Reduktion
verwendet haben, sowohl quantitativ und qualitativ betrachten; also Steigerung durch Input
und Steigerung durch Verarbeitung.
Touristen als eigenartige Reisende
Straßenszene in Venedig
Ein außerirdischer oder auch mittelalterlicher Beobachter, der den Tourismus beobachtet,
sieht Menschen aus verschiedenen Gegenden an Orte reisen, an denen sie sich einige Zeit
aufhalten, ohne zu arbeiten, um dann wieder dorthin zurückzukehren, wo sie sich die meiste
Zeit des Jahres aufhalten. Die Reiseziele sind nicht gleichmäßig über das Land verteilt, es
kommt zu Konzentrationen. An diesen Orten bemerkt er, wie verschiedene Angebote
hergestellt oder inszeniert werden, Kirchen werden angestrahlt, Erlebnisschwimmbäder
gebaut. Diese Angebote werden vor allem von den Fremden genutzt.
Turm in Dubai
Allerdings wird unser Beobachter auch Reisende bemerken, die diese Angebote kaum oder
gar nicht frequentieren, sondern anderen Geschäften nachgehen. Wenn er mit großer
Sensibilität ausgestattet ist, wird er feststellen können, dass sich die zwei Typen von
Reisenden unterschiedlich benehmen: was sich z.B. an ihren Bewegungen und an ihrer
Kleidung zeigen kann.
Wir haben es längst bemerkt, der zweite Typ Reisende ist ein Geschäftsreisender, er wird
für unseren Beobachter schwieriger von den Einheimischen zu unterscheiden sein als der
Tourist. Die Motive des Geschäftsreisenden könnte er leichter verstehen als die Rationalität,
nach der der Tourist sein Verhalten ausrichtet.
Steigerung durch Input
Goethe in der Campagne
Der Tourismus, so wie wir ihn heute betreiben, hat seine Wurzeln in der Grand Tour des
18. Jahrhunderts. Diese große Reise führte als Teil der Erziehung auf verschiedenen Routen
ursprünglich von England zu den klassischen Stätten Italiens. Neben Erfahrung und eigene
unmittelbare Wahrnehmung ging es um Abenteuer und Vergnügen. Offensichtlich ging es um
mehr als Wissen, das sich auch aus Büchern gewinnen ließe, es ging um Bildung durch
Erfahrung und Erlebnis...
Goethe liest und schaut aus dem Fenster
Der Tourist gibt sich nicht mehr mit dem Wissen aus den Büchern, also mit Informationen
und Nachdenken zufrieden, er will die besondere Erfahrung:
Das Erlebnis ist das Ziel des Touristen.
9
Hatta-Pools
Die Ziele des modernen Tourismus sind immer noch die gleichen, Bildung und Vergnügen.
War die Grand Tour ein einmaliges Ereignis innerhalb der Biografie, so ist der jährliche
Urlaubsreise eine immer wiederkehrende Möglichkeit, unterschiedliche Reisestile und -ziele
auszuprobieren. Das Interesse ist längst auf nahezu alle Kulturen erweitert. Wichtig ist dabei
allerdings immer noch das Authentische. Auch die Suche nach dem Authentischen ist aus der
Tradition der Grand Tour zu verstehen, die sich nicht mit dem vermittelten Wissen zufrieden
geben will. Wie die Bildungsinteressen haben sich auch die Vergnügen ausdifferenziert, sie
reichen von der gekauften Gastfreundschaft im All-inklusiv-Club über den Sextourismus bis
hin zum lebensgefährlichen Motorradtrekking durch die weglosen Wüsten Afrikas.
Im Rahmen der Maxime „mach was aus dir“ verfolgt der Tourist das Projekt des schönen
Lebens. (vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt 1992)
Ein anderer Typ Reisender, der Wallfahrer, verfolgt als religiöser Mensch ein anderes Projekt,
das des guten Lebens.
Interessant am Rande: In letzter Zeit wird das Adjektiv gut zunehmend durch das Adjektiv
schön ersetzt, schönen Tag, ein schönes Essen, ein schöner Wein...
Das schöne Leben
Gerhard Schulze hat in seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ das Erlebnis und das
Projekt des „schönen Lebens“ als die Handlungsrationalität unserer Kultur beschrieben. Im
Erlebnis und im schönen Leben finden wir den Sinn unseres Lebens, auf seine
Verwirklichung richten sich unsere Handlungen. Erlebnisse ergeben sich aus zwei
Komponenten: der „äußeren“ Welt mit ihren Wahrnehmungsangeboten und deren
Verarbeitung – Interpretation – im „Inneren“ des Organismus. Über beide Faktoren versuchen
wir Erlebnisse zu beeinflussen: Das Wahrnehmungsangebot durch Situationsmanagement,
wie Schulze es nennt, die Verarbeitung etwa durch Rauschmittel, vor 40 Jahren wurde der
LSD-Rausch als Trip bezeichnet.
Der Tourist ist der exemplarische Situationsmanager. Er versucht in erster Linie das
Wahrnehmungsangebot zu beeinflussen. Er geht auf Reisen, um seine Sinnesorganen
bestimmten Eindrücke auszusetzen, in der Hoffnung, dass diese entsprechende Verarbeitung
und damit Erlebnisse auslösen... über die Gegenwart hinaus auch mit dem Ziel, die Biografie
durch angenehme oder spannende Erinnerungen zu bereichern. Die Gespräche von Touristen
drehen sich meist um Fragen der richtigen Situation....
Im Tourismus hat sich ein Set von Methoden und Strategien zur Erlebnissteigerung
entwickelt:
Die Fremde I – freiwilliger Schemabruch:
Souk in Dubai
Touristen begeben sich freiwillig in die Fremde, in Situationen, in denen sie sich wenig
oder kaum auf routinierte Wahrnehmung verlassen können, sie bevorzugen Orte, die sich von
ihrem Zuhause mehr oder weniger unterscheiden.
Weil wir dort vieles nicht verstehen und doch zurechtkommen wollen, sind wir zu erhöhter
Aufmerksamkeit und intensiver Wahrnehmung gezwungen. Das geht schon bei der
räumlichen Orientierung los. Dann kennen wir die Gepflogenheiten nicht und mit der Sprache
10
haben wir auch unsere Probleme, so müssen wir auf den Kontext und andere nonverbale
Zeichen achten. Das braucht Zeit.
Touristen geben sich vor allem in den ersten Tagen durch ihre wahrnehmende Langsamkeit
im Supermarkt ebenso zu erkennen wie sonst bei den Sehenswürdigkeiten. Alles kann ihnen
zum Zeichen für alles Mögliche werden, das Normale wird zum Außergewöhnlichen und
damit zum Gegenstand von Interpretation und Gespräch.
In der Fremde sind wir automatisch auf eine Steigerung der Wahrnehmung
angewiesen. Die Fremde ist ein Wahrnehmungsmotor, eine Methode, die Komplexität
unserer Wahrnehmung zu steigern.
Zweckfreiheit und Sorglosigkeit
Madinat und Burj al Arab
Touristen verschaffen sich ein gewisses Maß an Sorglosigkeit.11
Das Fremde löst bei uns an sich zunächst das Gefühl von Unsicherheit aus – Angst ruft
eher Wahrnehmungsverengung hervor. Offene Wahrnehmung braucht eine gewisse
Sicherheit, und genau diese bietet der moderne Tourismus – Sicherheit in der unsicheren
Fremde.
Paradies
Mit der gekauften Gastfreundschaft erwerben die Touristen Sorglosigkeit. Für alle
Notwendigkeiten des Lebens und die Sicherheit sorgen die Gastgeber. Touristischer Urlaub
ist insgesamt betrachtet von einer Reduktion der Komplexität der Lebensbewältigung geprägt:
die Betten werden gemacht, das Frühstück serviert und arbeiten muss man sowieso nicht. So
bleibt alle Zeit für Wahrnehmungen. Wahrnehmung muss nicht aus Gründen der Effizienz
reduziert werden.12
Ein Bekannter hat mir erzählt, er hätte bei einem seiner letzten Urlaubsaufenthalte
in der Steiermark eine kleine Blume entdeckt und diese mit Hilfe seines
Pflanzenbestimmungsbuches benannt; einige Tage später bemerkte er dieselbe Blume
in seinem Garten, die dort wohl schon seit Jahren in größerer Menge wächst. Von ihm
unbemerkt.
Verdichtung:
Touristen bevorzugen Gebiete, die reich an Details sind.
Souk Dubai
Touristen ziehen die pittoresken Innenstädte den für den Autoverkehr gestalteten
Gewerbegebieten ebenso vor, wie die Alpen mit ihren unterschiedlichen Tal-, Berg- und
Felsformationen der norddeutschen Tiefebene. Aus Gastgebern sind im Laufe der Geschichte
Anbieter von touristischen Erfahrungen geworden, die sich nicht mehr allein auf das
Vorgefundene verlassen.
Souk - Madinat
11
So erscheint der Tod von Touristen durch Naturkatastrophen oder Unfälle in der Berichterstattung der Medien
tragischer, als der Tod oder die Entführung von Geschäftsreisenden.
12
Wobei bei der Reise zu den Urlaubsgebieten durchaus auf Effizienz geachtet wird. Auch die Bewertung der
Sehenswürdigkeiten durch Baedeker stellen eine Rationalisierung der Wahrnehmung dar.
11
Wahrnehmungsangebote werden von Spezialisten entworfen und hergestellt, um die
Bedürfnisse von Touristen zu befriedigen.
Wüste Dubai
Wo es nichts gibt, wie in den Wüsten Nevadas oder der arabischen Halbinsel, da werden in
Las Vegas oder neuerdings in Dubai künstliche Erlebniswelten nach romantischem Muster
gebaut.
Bellagio,
Dubai Madinat
Nebenbei bemerkt: An diesen künstlichen Erlebniswelten lassen sich viele der Bedürfnisse
der Touristen besser und genauer erkennen und ablesen, als an den zufällig gewachsenen,
denn sie sind verdichtet und beruhen auf einer Analyse der Bedürfnisse der Gäste.
Themenparks und Themenhotels sind verdichtete Nachbauten und als solche sehen die
Besucher sie immer auch noch als Zeichen für die Originale. Wer Themenhotels besucht,
beobachtet das Ergebnis von Beobachtungen. Touristen vergleichen den Nachbau gerne mit
dem Original – Steigerung der Wahrnehmung.
Dubai Skihalle
In Dubai wird momentan ca. 2km vom Strand entfernt eine Indoorskihalle gebaut.
Detailreichtum bedeutet pro Flächeneinheit eine hohe Dichte an unterscheidbaren
Wahrnehmungsgegenständen, die sich nicht mechanisch wiederholen. Bei Themenparks
gehen die bedeutungslosen Zwischenräume gegen null; sie übertreffen ihre Vorbilder an
Detailreichtum.
In detailreichen Umgebungen gibt es aber immer noch weniger interessante
Zwischenräume, so besteht immer die Gefahr, dass wir die begrenzte Zeit unnötig
verplempern. Hier hilft uns Baedeker mit seinen Sternen die bedeutenden Sehenswürdigkeiten
von weniger bedeutenden zu unterscheiden. Mit Baedeker fahren wir von Highlight zu
Highlight und Klammern den Raum dazwischen aus. – Dies leisten die Erbauer von
Themenparks schon im Entwurf – das Hotel Venetian ist
Venetian, 2x
abgesehen von der Markuskirche - die aus Gründen der Pietät nicht gebaut wurde - eine
Verdichtung Venedigs auf die Sterne Baedekers.
Verdichtung erreichen wir durch mehr Details und durch Geschwindigkeit.
Venedig Kulisse
Und wenn in Venedig umgebaut wird, dann verdeckt ein Riesenbild die Baustelle.
Fotograf
Fotografieren
12
In Urlaubszeiten und vor allem auf touristischen Reisen erreicht die Fotografie ihren
alljährlichen Höhepunkt. Wer fotografiert, unterscheidet zwischen erinnerungswert und nicht
erinnerungswert und zwischen fotografierenswert und belanglos, so wird genauer und
intensiver geschaut. Alle Phänomene bekommen die Zusatzverarbeitung und damit
Aufmerksamkeit „Bild“.
Ansichtskarten
Ansichtskarte
Erzählen
Wer eine Reise tut, hat etwas zu erzählen. Auch das Erzählen von der Reise und den
Eindrücken, denn davon wird in erster Linie erzählt, steigert die Komplexität der
Wahrnehmung.
Tourismus als Verarbeitungsweise von Wahrnehmungen
Wenn wir den Tourismus nur unter dem Aspekt des Situationsmanagements betrachten,
übersehen wir etwas, was vielleicht das Wesentliche ist.
Touristen von Duane Hanson
In den Sommermonaten werden von der Punta Sabbioni im Osten Venedigs mit Schiffen
Tausende von Touristen, die ihre Ferien an der nördlichen Adria verbringen, nach Venedig
gepumpt. Sie unterscheiden sich von den Einheimischen, die entweder zur Arbeit oder zur
Schule fahren, durch ihr Verhalten und ihre Kleidung. Sie versuchen sofort, die Plätze auf
dem Sonnendeck der Schiffe zu ergattern, dann reden sie die ganze Zeit, schauen neugierig
auf alles, was sich in der Lagune tut. Manche lesen in Reiseführern. Ihre Kleidung ist so, wie
sie ihre Kinder in den Kindergarten schicken, kurze Hosen, kurze Hemdsärmel, T-Shirts,
Spaghettiträger, nackte Füße in Sandalen... und alles sehr bunt. Sie freuen sich auf die
Sehenswürdigkeiten, sie sind mit Fotoapparaten ausgerüstet Aber mit ihrer Kleidung werden
viele nicht in den Markusdom eingelassen werden, die Verantwortlichen halten ihre kindische
Kleidung für der Würde einer Kirche unangemessen.
Narrenkappen
Auch die Kleidungsstücke, die im Umfeld des Markusplatzes angeboten werden, würden
ihnen nicht helfen eingelassen zu werden. Hier gibt es seit Jahren Narrenkappen, die wir in
etwas abgewandelter Form auch vom Münchner Oktoberfest kennen. Sie eignen sich für den
einmaligen Gebrauch und werden in der Regel bis zur Stadtgrenze allerhöchstens bis zum
Erreichen des Hotels oder des Campingplatzes getragen.
Narrenkappe
Diese Narrenkappen können wir als ein äußeres Zeichen für die innere Verfassung der
Touristen betrachten. Oder wir können sie als Versuch sehen, durch dieses Outfit, Naivität
und Neugierde, also offenes und unvoreingenommenes Wahrnehmen von Narren und Kindern
zu erreichen.
Outfit und Benehmen sind deutliche Hinweis auf die spielerische Einstellung gegenüber
der Stadt und ihrem Erlebnisangebot. Ohne Rücksicht auf andere als oberflächliche
13
ästhetische (sinnliche) Reize, verstehen die Touristen die Welt als ein vergnügliches
Wahrnehmungsangebot. Dieses Verhalten ist den Kulturtouristen ein Graus und ein Ärgernis,
und die Stadt Venedig will es auch nur bis zu einem gewissen Grad tolerieren, wenn wir uns
die Kleidungsvorschriften anschauen – Verbot für Männer mit entblößtem Oberkörper
herumzulaufen.
Nur nebenbei: In ihrem destruktiven, rücksichtslosen, verantwortungslos
aggressiven und imperialen Verhalten gleichen sich Tourist und moderner Künstler…
Pornokrawatten und Schürzen (3 Bilder)
Auch an den Waren, die an Orten wie Venedig angeboten werden, lässt sich diese
besondere Einstellung festmachen.
Der Tourismus lässt sich auch anders lesen: es geht nur vordergründig um
Situationsmanagement eigentliches Ziel ist ein spezifisches Verarbeitungsverhalten von
Wahrnehmungsangeboten, und die Reise ist nur eine Methode diesen Zustand zu erreichen.
Von dieser allgemeinen Aufmerksamkeit und Neugierde profitieren auch Museen und
andere kulturelle Sehenswürdigkeiten, die gerne im Rahmen von touristischen Reisen besucht
werden. Einheimische kennen sie oft gar nicht von innen.
Andere Beispiele der Wahrnehmungssteigerung: Filme, Computerspiele,
Stammtischgespräche, Essen gehen, besonders Kochen, Weine verkosten, &c. Unsere Freizeit
ist angefüllt mit diesem Verhalten, wenn wir wollen, können wir die Freizeit als ein großes
Feld des Lernens betrachten... und unser Wort Schule, das bekanntlich vom lateinischen
schola (Muße) kommt, endlich richtig verstehen.
Steigerung durch Verarbeitung
Kunstbetrachtung als Steigerung der Wahrnehmungskomplexität
Wie der Tourismus so findet die Kunstbetrachtung in der Freizeit statt – außerhalb der
Sorge um die Bedürfnisse des Lebens. Während der Tourismus als Vergnügen und Erholung
betrachtet wird, gilt die Kunstbetrachtung als eine ernsthafte Beschäftigung, die
entsprechende Mühen bereiten kann und muss.13
Museumsbesucher
Modus Aufmerksamkeit
Wie Touristen so erkennen wir die Besucher von Museen und Galerien sofort am
Verhalten14. Sie gehen langsam, betrachten die Bilder mit ein wenig zur Seite geneigten
Köpfen, manche halten sich mit der Hand das Kinn zum genaueren Hinschauen, lesen die
Titel, schauen sich die Kunstwerke von verschiedenen Entfernungen an, manche bleiben
lange vor einem Bild sitzen, in Betrachtung versunken. Unterhaltungen werden leise geführt,
die Besucher weisen sich gegenseitig auf ihre Beobachtungen und Wahrnehmungen hin, sie
reden über die Ausstellung, die ausgestellten Werke und über die Kunst.
Das Verhalten erinnert an meinen Abendspaziergang.
„Aufgabe der Kunst ist es,“ schreibt Michael Goldhaber, „Aufmerksamkeit zu erzeugen.“
13
Der Grund könnte unter anderem in der Sender- oder Empfängerorientierung der jeweiligen Bereiche liegen,
es gibt vermutlich allerdings auch senderorientierten Tourismus.
14
Schon als Kinder erwerben die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht als soziales Kapital das richtige
Verhalten in Museen.
14
Aber schauen wir uns – bevor wir uns mit Fragen der besonderen Nutzung und Funktion
von Kunst beschäftigen – an, wie die Ausstellungsbesucher in das Museum, den „Ort des
gelehrten Tuns“, gekommen sind.
Die meisten haben schon etwas über die Ausstellung gelesen und gehört. Es gibt eine
spezielle Textsorte, die Ausstellungen und einzelne Kunstwerke zum Gegenstand hat, die
Ausstellungskritik. Das Feuilleton, ein besonderer Teil von Zeitungen, beobachtet neben
anderen sogenannten kulturellen Ereignissen wie Bucherscheinungen, Konzerte,
Theateraufführungen oder besondere Architekturen regelmäßig Ausstellungen und berichtet
über sie. Die Ausstellungsbesucher wissen sich in einem wichtigen Raum. Was ausgestellt ist,
ist kulturell wichtig.
Ausstellungsbesucher
Museen sind spezielle Ort der Wahrnehmung und Interpretation
Systemtheoretisch gesehen ist das Wichtigste am Museum die Tür, dort wird entschieden,
was herein gelassen und damit gesehen wird und was nicht; dort wird das Besondere vom
Üblichen unterschieden. Die Exponate erwerben ihren hohen Status allein schon aus der
Tatsache, dass sie ausgewählt und mit entsprechend hohen finanziellen Mitteln aufbewahrt,
erhalten und gezeigt werden. Für den Besucher besagt die Schwelle, dass alles, was hier
ausgestellt ist, innerhalb der Hierarchie von kulturellen Gegenständen einen der oberen Plätze
für sich beanspruchen kann.
Der Besuch eines Museums ist streng ritualisiert. Zunächst ist eine große Türe zu
passieren, die Eintrittskarte zu besorgen, Mäntel und Taschen abzugeben, um dann mit der
Eintrittskarte in die Ausstellung zu gehen.
Die Räume sind hoch und groß und fast leer, die Materialien gediegen, wertvoll und
unaufdringlich, die Zwischenräume zwischen den Exponaten sind, vor allem wenn es sich um
zeitgenössische Kunst handelt, sehr groß. In der Mitte der Räume gibt es, wenn überhaupt, ein
paar Sitzmöglichkeiten. Ansonsten werden die Werke im Stehen betrachtet, zu große
Bequemlichkeit würde der Konzentration schaden. Die Architektur dämpft die Geräusche von
außen und die Geräusche, die eventuell von den sowieso vorsichtigen Besuchern verursacht
werden.
Was traditionell der aufwändig hergestellte Goldrahmen leistete, die Sonderstellung,
geschieht heute über den leeren Raum, den die einzelnen Kunstwerke um sich herum
beanspruchen, es sind asketisch unstrukturierte Flächen. Museen sind nicht mit einer
gemusterten Tapete ausgekleidet. Offensichtlich haben wir uns so an diese Situation gewöhnt, dass wir andere Hängungen, die St. Petersburger etwa nicht mehr ertragen können.
Alles ist wichtig
Kunst ist keine Wesenseigenschaft, sondern eine Gebrauchsanweisung. Der Umgang
macht Gegenstände zu Kunstwerken. Kunst ist eine Zuschreibung, die u. a. besagt, dass in
einem Kunstwerk sich eine ganze Welt manifestiere, eine in sich stimmige Welt, in der alle
Elemente sich gegenseitig brauchen. Es gibt keine unwichtigen Details, eine selektive
Betrachtung widerspricht der Kunstbetrachtung. Die reizarme Umgebung des Museums soll
eine entsprechende Betrachtung ermöglichen, wie Konzertsäle das richtige Hören.
Rubens
15
Bei der Bildbetrachtung, so wie sie in der Tradition der Kunstpädagogik üblich ist, wird
eine wache und inhaltlich möglichst offene Wahrnehmung geübt: das Bild darf zunächst nur
beschrieben werden, inhaltliches Deuten und Sehen wird dabei unter hohem Aufwand an
Disziplinierung aufgeschoben, damit soll das gewöhnliche schematische und kategorisierende
Sehen unterdrückt und eine Steigerung des gewöhnlichen Sehens erreicht werden. Durch
Zurückstellen des Interesses (Begehren) eine Steigerung der Wahrnehmung (Erkenntnis).
..........
Rotes Bild
Manche Bilder der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind schon so gemalt,
dass sie sich unserem Begehren, Inhalte zu erkennen entziehen. Wir schauen uns etwa ein
schwarzes Bild von Ad Reinhardt so lange und intensiv an, bis wir Flächen von
unterschiedlichem Schwarz entdecken. Bei gewissen Bildern nähern wir uns hier eindeutig
den Grenzen unserer Wahrnehmung, unserer Unterscheidungsmöglichkeit, und manchmal
erreichen wir die Unterscheidung nur dadurch, dass wir mit Hilfe von Wörtern – als mentale
Schlüsselreize – gezielt unsere Wahrnehmung beeinflussen.
Offene Interpretation
Diese offene Wahrnehmung wird unterstützt von der Auffassung, Kunstwerke seien mehr
als das, was wir sehen. Kunstwerke haben immer die Seite des Bestandes und den Inhalt, die
Bedeutung, den Sinn. Kunstwerke – das ist banal – sind Gegenstände, die gedeutet werden
wollen, mindestens sind sie Gegenstände, an denen entlang wahrgenommen und gedacht
werden soll, die in uns eine Veränderung hervorrufen sollen, die uns etwas bringt, dies kann
innovativ oder versichernd sein. Moderne Kunst will dabei tendenziell eher verunsichern,
Fragen stellen – von der Methode her erinnert das an den Touristen, der auszieht, um in der
Fremde ein gewisses Maß an Unsicherheit zu finden.
Warhol-Fake
Damit wir mit Kunstwerken nicht gleich fertig sind, haben wir die Idee entwickelt, dass sie
mehr- oder vieldeutig sind. Dies wird nicht wie in der alltäglichen Kommunikation als
Mangel sondern als Qualität begriffen. Wer ein Kunstwerk deutet, ist sich bewusst, dass seine
Interpretation eine von verschiedenen Möglichkeiten ist, und er geht wie Gombrich davon
aus, dass sie sich im Laufe der Zeit wieder ändern kann. Andere mögen zu anderen Schlüssen
kommen, wir sagen, deshalb nicht, dass sie sich irren. Die Interpretation von Kunstwerken ist
prinzipiell offen und unabgeschlossen.
Schauen wir uns zwei Situationen an, bei denen genaue Wahrnehmung und scharfe
Beobachtung ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Ein Jäger auf der Pirsch ist auf eine
möglichst genaue Beobachtung der Umgebung angewiesen, er reagiert auf das kleinste
Geräusch und geringste Bewegung, er versucht seine Sinne zu schärfen, zum Sehen nimmt er
ein Fernglas zu Hilfe. Sobald er denkt, er habe ein Wild ausgemacht, unterzieht er diese
Beobachtung einer genaueren Wahrnehmung und Deutung, ein brauner Fleck, der ein Hase
sein könnte, wird so lange beobachtet, bis sich die Hypothese bestätigt oder verworfen werden
muss. Wenn der Fleck sich als Maulwurfshügel herausstellt, wird er nicht mehr beachtet. Ziel
ist es, möglichst alle auch die kleinsten Veränderungen zu registrieren und diese dann als
relevant oder irrelevant einzustufen.
Ein Arzt, der eine Diagnose stellen soll, muss zunächst wie der Jäger die einzelnen
Symptome erkennen und diese im Zusammenhang sehen. Seine Leistung ist es, die
Symptome an der Hypothese zu erproben. Riskant ist es, wenn die Symptomgruppen falsch
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zusammengestellt und damit falsch gedeutet werden. In beiden Fällen gibt es richtige und
falsche Deutungen, die an den Folgen ablesbar sind.
Hase von Dürer
Um handlungsfähig zu bleiben, müssen die Deutungen irgendwann einmal abgeschlossen
werden, auch auf die Gefahr des Irrtums hin.
Kunstwerke verwenden wir anders, sie befinden sich in einer eigenen Sphäre. Gerade weil
Kunst Kunst ist, und alles andere alles andere, haben sie keine Relevanz in der Welt. Gerade
weil Kunstwerke nur dazu da sind, betrachtet, wahrgenommen und interpretiert zu werden,
kann ihre Interpretation unabgeschlossen bleiben. Kunstwerke haben keine Zwecke außerhalb
ihrer selbst und deshalb haben sie auch keine direkten Auswirkungen auf die Welt. Sie sind
keine Kommunikationsmittel. Das lässt sich sehr leicht zeigen, wenn wir uns einen Maler
vorstellen, der seine Bilder so lange umändert, bis er verstanden wird.
Eine abgeschlossene Interpretation hat immer etwas mit Zwecken zu tun. Einen
Sachverhalt verstehen heißt immer, ihn auf sich beziehen, möglichst scharf zwischen Figur
und Grund zu unterscheiden und zu verstehen, was dies soll. Ein „richtig“ verstandenes
Kunstwerk, das mir ein pragmatisches Handeln ermöglicht, hat aufgehört, ein Kunstwerk zu
sein.
Aber noch mal: die unabgeschlossene und offene Deutung der Kunstwerke ist nicht
Wesens immanent sondern eine Setzung, Teil der Gebrauchsanweisung Kunst. Wie
unterstützt die Kunst diesen Gebrauch?
Hiermit trete ich aus der Kunst aus.
Mehrdeutig
Kunstwerke sind keine Kommunikationsmittel, dennoch gehen wir immer mit der Frage
nach ihrer Bedeutung an sie heran. In der Bildwissenschaft werden Bilder als Prädikate
verstanden; um mit ihnen kommunizieren zu können, muss das, worüber sie eine Aussage
machen, benannt werden. Bilder in der Bildkommunikation bekommen vom Sender die
Information darüber mit, worüber das Bild eine Aussage macht.
Feuerlöscher
Dieses Bild kann uns zeigen, wie Feuerlöscher aussehen, wie sie bereit gehalten werden,
dass es sich um einen Innenraum handelt, dass die Anstreicher nicht ganz sauber gearbeitet
haben, dass der Feuerlöscher überprüft wurde, dass die Putzfrau nicht aufgeräumt hat.... wenn
einer mit diesem Bild etwas mitteilen will, dann muss er dazu sagen, was er mitteilen will.
Kunstwerke können wir als Bilder verstehen, bei denen die Regel gilt, dass der Betrachter
das, worüber das Werk eine Aussage macht, selbst wählen kann. Diese Regel gilt nicht immer
in der gleichen Stringenz. Aber wir kennen vor allem aus den 60er und 70er Jahren des letzten
Jahrhunderts die weitverbreitete Sitte, Kunstwerke mit „ohne Titel“ zu betiteln. Eine andere
Methode, unabgeschlossene Interpretationen und damit immer neue Wahrnehmungen zu
provozieren, ist es, eine unauflösbare Diskrepanz zwischen bildlichem Befund und Titel zu
erzeugen: habe ich das eine gedeutet, widerspricht dieser Deutung das andere, usf. so entsteht
eine unablässige Interpretationsmaschine... dass wir die Interpretationsversuche nicht
irgendwann aufgeben und den Gegenstand als Unsinn abtun, hängt mit der Annahme der
Wichtigkeit der Werke zusammen.
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Innovation - Schemabruch
Seit der Entstehung des Kunstbegriff im 18. Jahrhunderts wurde die Forderung nach
Innovation und Schemabruch zu der Konstanten der Kunst. Kunst und innovativ werden
synonym gesetzt. Aufgabe des Künstlers ist es, Neues neu wahrzunehmen und zu formulieren,
damit der Betrachter die Welt neu sieht.
Kunst kennt natürlich nicht nur die Steigerung durch Verarbeitung, allerdings dominiert
dieser Modus die moderne Kunst qualitativ und quantitativ.
Tourismus und Kunst
Wir haben festgestellt, dass es zwischen dem Tourismus und der Kunst einige signifikante
Parallelen gibt:
 in beiden Systemen geht es um die Steigerung der Komplexität der Wahrnehmung und
um Schemabruch
 beide Systeme sind von einem ähnlichen Set von Verhaltensweisen und Einstellungen
geprägt
 beide stellen in dieser oder jener Form eine Alternative zum Alltag dar
Unterschiede bestehen tendenziell eher in der Inszenierung der Wahrnehmungsangebote,
während der Tourismus auf Informationoverload und Opulenz setzt,
Venetian (Wiederholung)
operiert die Kunst überwiegend mit Askese und Reduktion, tendenziell ist der Tourismus
eher durch die Quantität der Wahrnehmungsangebote, die Kunst durch die Quantität der
Interpretationen geprägt.
Museumsbesucher
Künstlerische Großereignisse wie die Documenta oder die Biennale in Venedig setzen
allerdings zunehmend auch auf Quantität im touristischen Sinne. Was von traditionellen
Kunstfreunden eher kritisch vermerkt wird. Die bürgerliche Ethik verabscheut den Tourismus
immer ein wenig als billiges, weil oberflächliches Vergnügen und spricht der Kunst dagegen
einen der höchsten zu vergebenden Werte zu. Tourismus ist Erholung und Zeitvertreib, Kunst
Erbauung und höchster Erkenntnisgewinn mit dem Versprechen der tiefsten Einsichten.
Erlösung aus dieser Diskrepanz verspricht der Kulturtourismus....
Steigerung durch Input oder Verarbeitung?
Beide Vorgehensweisen können wir als Methoden beschreiben, unser Wissen zu
vermehren und flexibel zu halten. Das Kulturverständnis, das unsere Hochkultur bestimmt,
tendiert dazu, die Steigerung von Wahrnehmung durch Verarbeitung, also Interpretation
höher zu bewerten, als die durch Steigerung des Inputs. Lieber ein langsamer europäischer
Kunstfilm als ein schneller aus Hollywood, lieber Venedig in der Adria als Venetian in Las
Vegas. Die feinen Unterschiede zwischen dem Souk am Creek von Alt-Dubai und seinem
Nachbau in der Nachbarschaft des Burj al Arab sind so gesehen vor allem soziologisch
relevant.
Was ist zu lernen?
Als Fachdidaktiker muss ich mich fragen, was zu lernen ist.
18
Im Feuilleton wird bis heute eher über das Besondere, das Außergewöhnliche berichtet,
Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte, Bucherscheinungen, die jeweils nur einen
Bruchteil der Bevölkerung erreichen, sind Gegenstand von öffentlichen Diskursen.
Architektur kommt nur vor, wenn es sich um spektakuläre Bauten handelt...
Burj al Arab
Das Feuilleton versteht sich offensichtlich weniger als kritische, denn als vermittelnde
Instanz. Tiefbau und damit Streckenführung und die damit verbundene Inszenierung von
Landschaft durch Straßenbau sind z.B. nicht Gegenstand der öffentlichen Beobachtung,
obwohl diese unser Weltbild wesentlich nachhaltiger beeinflusst als irgendein Museumsbau
oder eine Ausstellung.
Genauso wenig kümmern sich die Feuilletons um die alltägliche Architektur. Hier Beispiele
von Villen, wie sie momentan in Dubai zu hunderten in den Sand der Wüste gestellt werden.
Villen aus Dubai
Wie wir übersieht auch die Zeitung das Normale.
Der Umgang mit Kunst ist extrem unwahrscheinlich
Museumsbesucher
Der Umgang mit Kunst, so wie wir ihn in unserer Kultur seit ca. 250 Jahren betreiben, ist in
der Geschichte der Menschheit einzigartig und extrem unwahrscheinlich. Die
Kunstwissenschaft ist noch immer damit beschäftigt, dieses Phänomen angemessen zu
erklären... Kunst wird heute u.a. als eine wichtige Alternative zur weltweit zunehmenden
Schematisierung der Wahrnehmung verstanden. Wir sind der Überzeugung, dass keine andere
Institution hier entsprechende Angebote macht. Weil der Umgang mit Kunst nicht
selbstverständlich ist, muss er gelernt und geübt werden. Dazu gehört neben der Übung in
Analyse und Deutung auch die Möglichkeit, sog. Kunsterlebnisse zu erfahren, um das
Interesse für dieses Phänomen ein Leben lang zu wecken.
Zu vermitteln ist vor allem die besondere Aufmerksamkeit, die Kunstwerke brauchen, zu
vermitteln durch Wissen über den Umgang mit Kunst, aber vor allem durch Übung, also
durch praktischen Umgang durch Erfahrung.
Dies leistet der Kunstunterricht in der Regel durchaus erfolgreich.
Das Schema ist das Normale und fast unsichtbar
Die schematische Wahrnehmung und die daraus folgenden Verhaltensschemata laufen, wie
wir gesehen haben, weitgehend unbewusst ab. Dies gilt für die alltäglichen Situationen ebenso
wie für die Medien, man sieht oder hört sie und hat schon verstanden. Zumal die
Massenmedien sich mit hohem Aufwand darum kümmern, ihre Botschaften so zu
formulieren, dass uns das Verstehen leicht fällt. Dass wir dieses Verstehen und Wahrnehmen
auch einmal gelernt haben, haben wir im Laufe der Schemabildung weitgehend vergessen.
Die Welt wird als gegeben und fest angenommen, es gibt nichts zu verstehen.
Unsere Welt ist die der schematisierten Wahrnehmung, diese Wahrnehmung ist unsere Kultur,
sie ist das Normale, in ihr bewegen wir uns wie der Fisch im Wasser. Die Kunstpädagogik,
die sich von der Kunst her legitimiert, kümmert sich bis heute wie das Feuilleton um das
Besondere, das Alltägliche vergisst sie weitgehend.
Geht es bei der Kunst darum, unwahrscheinliche Verhaltensweisen zu lernen und zu
verstehen, was die Kunstwerke bedeuten, so geht es bei der Wahrnehmung im Alltag darum
19
normale, also wahrscheinliche Verhaltensweisen, die jeder beherrscht, zu verstehen und zu
verstehen, wie das Verstehen funktioniert. Dies ist gar nicht so leicht bei Erscheinungen, die
uns nicht besonders auffallen. Kunstpädagogik ebenso wie ihre Schwester die
Museumspädagogik fällt z.B. in der Regel auf die Exponate in den Museen herein und
übersieht dabei das Museum als Medium.
Nachdem geklärt ist, dass auch das Normale Gegenstand der Bildnerischen Erziehung sein
muss, da es den größten Teil der Welt ausmacht, bleiben die methodischen Fragen noch offen.
Es bieten sich hier zwei Lösungen an:
Touristische Lösung
Touristen
Wir betrachten andere Kulturen und sehen durch sie hindurch unsere Kultur, unsere
Normalität als eine von vielen Alternativen, die sich prinzipiell verändern lässt. So können
wir den Einfluss unserer Normalität auf unser Denken verstehen und wenn nötig verändern.
Wenn die Globalisierung der Weltansichten so fortschreitet wie bisher, werden wir
zunehmend Schwierigkeiten haben, entsprechende Kulturen zu finden, die sich in ihrer
Differenz als alternative Standorte eignen.
Dschungelcamp
Vielleicht werden wir dann Erlebnisumgebungen schaffen, die sich in ihren Regeln und damit
Wahrnehmungen soweit von der normalen Welt unterscheiden, dass sie spielerisch wie heute
der Tourismus diese Funktion erfüllen können – erste Ansätze finden sich schon in TVShows, vielleicht werden wir nach dem Ekel-Modell von „Holt mich hier raus! Ich bin ein
Star!“ rohe Ameisen und Schnecken verzehren und im Winter im tiefen Schnee Lapplands
ohne Zelt nächtigen... vielleicht werden die Computerspiele Funktionen des Tourismus
übernehmen.
Wir könnten aber auch fiktiv in die Rolle eines Touristen schlüpfen und unsere Umgebung,
unsere Gebräuche und Schemata mit seinen Augen betrachten, oder wir könnten etwas ganz
ähnliches versuchen, nämlich die
Lösung Duchamp
Vor ungefähr neunzig Jahren hat Marcel Duchamp aus einer dadaistischen Laune heraus,
einige gewöhnliche Gegenstände, deren Wahrnehmung schematisch war, auf den Sockel
gestellt.
Duchamp
Mit der damit verbundenen Gebrauchsanweisung oder besser –empfehlung: „Betrachten Sie
es als Kunst!“ sind aus diesen Gegenständen Kunstwerke geworden. Duchamp wollte damit
den Kunstbetrieb in Frage stellen oder lächerlich machen oder kritisieren... Damit hat er der
Kunst eines ihrer größten Probleme gemacht: Kunst muss seit dem nicht mehr hergestellt
werden, es reicht, wenn ein Künstler sie hinstellt. Nachdem seine Ready-mades vom System
anerkannt wurden, werden sie ebenso intensiv betrachtet wie Kunstwerke. Nichts wird für
selbstverständlich erachtet, allem eine tiefere Bedeutung unterstellt. Allerdings können
aufgrund der Struktur des Kunstsystems – Verbot des Plagiats, Gebot nach Innovation – nicht
beliebig viele Gegenstände und Vorgänge auf entsprechende Sockel gestellt werden...
Deshalb schlage ich in kleiner Abwandlung zu Duchamp vor, die Umgangsweise, die wir in
der Kunst entwickelt haben und die wir im Kunstunterricht vermitteln, auf den Alltag
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anzuwenden, nach der Gebrauchsempfehlung: „Betrachten Sie es wie Kunst.“15 Anstehen an
der Kasse des Supermarkts als Performance und die Wegführung der Autobahn wie einen
Park, die Tankstelle und das Tanken wie eine Kathedrale, die Plakattafel wie ein
Wandgemälde und das Ikea-Glas wie eine Skulptur...
In diesem Sinne würde es mich freuen, wenn Sie die Stempel, die Sie bekommen, unserer
kulturellen Normalität aufdrücken und sie aus der Dunkelheit ihrer schematischen
Wahrnehmung herausreißen würden, als kleiner Beitrag zur kulturellen Bildung.
Franz Billmayer, Salzburg im Jänner 2005
15
Gerhard Schulze schlägt hier vor, die Normalität wie Sehenswürdigkeiten zu betrachten.
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