Jürgen Dittberner - Universität Potsdam

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PERSPEKTIVEN DER GERECHTIGKEIT FÜR DIE ZUKUNFT LIBERALER POLITIK
-
ÜBERLEGUNGEN AM BEISPIEL DER FDP –
Gerechtigkeit ist eines der Ziele des Liberalismus, ein anderes ist Wahrheit. 1 Gerecht
sollen nach die Institutionen sein, die sich der Mensch schafft und in denen er lebt. Wahr
sollen die Ideen sein, die den Menschen leiten.
Gerechtigkeit hat eine institutionelle und eine inhaltliche Seite. Die Verfahren, nach denen
die Menschen miteinander umgehen, bedürfen klarer Definition, Erkennbarkeit und
allgemeiner
Anwendbarkeit.
Im
Politischen
erwächst
daraus
das
Prinzip
der
Rechtsstaatlichkeit. Dieses muss von den Bürgern her entworfen werden und nicht aus der
Sicht des Staates und seiner Interessen.
Inhaltlich bezieht sich Gerechtigkeit auf die Verteilung begehrter Ressourcen wie Geld,
Güter, Bildung oder Sozialstatus. Eine Aufgabe liberaler Politik ist es, in jeweiligen
historischen und gesellschaftlichen Umständen jenes Maß der Verteilung zu definieren, das
allgemeine Anerkennung findet. Gerechtigkeit, auch soziale Gerechtigkeit, ist nicht identisch
mit sozialer Gleichheit. Soll ein aktueller Verteilungsstatus veränderbar sein, bedarf er einer
gewissen Ungleichheit.
Wie die Gerechtigkeit verlangt die Wahrheit nach ständiger Erneuerung. Wahrheit ist nicht
Glaube, und der Feind der Wahrheit ist der Fundamentalismus. Dieser artikulierte sich im 20.
Jahrhundert im Nazismus und Stalinismus politisch, im 21. Jahrhundert religiös.
Wahrheitsfindung ist ein dialektischer Prozess: Jede Antithese ersetzt oder verfeinert jede
aktuelle These. Gegenrede ist die Quelle der Fortentwicklung.
Damit Wahrheit und Gerechtigkeit sich entfalten können, muss es Freiheit und permanenten
Diskurs geben. Freiheit der Menschen sowie Offenheit der Strukturen und Prozesse sind
Medien des Liberalismus, ohne dieser sich nicht entfalten kann.
In der vom internationalen Kapitalismus beherrschten Welt hat dieser eigene
Strukturen und Denkmuster entfaltet. Gerechtigkeit und Wahrheit haben keine zentrale
Bedeutung, wenn sie den Interessen der Global Players im Wege stehen. Genommen und wird
jener Arbeiter auf dem Globus, der die geringsten Kosten verursacht. Für seine Befindlichkeit
gibt es eine globale Unterhaltungs- und Eventkultur, die Emotionen anspricht und das
Rationale marginalisiert.
Dem widersetzt sich ein religiös gespeister Fundamentalismus vor allem in der islamischen
Welt, der den aktuellen Zustand der westlichen Welt falsch als Folge des „Liberalismus“
1
ansieht. Dieser Fundamentalismus hat seine Basis in den armen und mittleren Schichten des
„grünen Gürtels“ von Algerien bis nach Indonesien und ist entstanden aus dem Empfinden,
ausgeschlossen zu sein aus der „westlichen“ Welt.
Der Fundamentalismus in den USA dagegen ist anderer Art. Er ist die Popularisierung des
klassischen Puritanismus, jenes kapitalistischen Geistes, den Max Weber beschrieben hat.2
Der moderne amerikanische Fundamentalismus ist religiös-nationalistisch, nicht persönlich
durch harte Arbeit nach Gottwohlgefälligkeit strebend, sondern sich in der Sicherheit der
Gottwohlgefälligkeit wähnend aufgrund der Überzeugung von der Güte und Überlegenheit
des eigenen, „Gottes eigenen“, Landes: den USA.
In China wiederum setzt sich ein staatlich gelenkter Kapitalismus ohne bürgerliche
Freiheitsrechte durch. Wegen des aus Bevölkerungszahl und Nachholbedarf resultierenden
extremen Wachstums ist China ein eigener Global Player und potenzieller Rivale der USA.
Im übrigen hat sich in China die These nicht verifiziert, dass Marktwirtschaft gleichsam
systemnotwendig bürgerliche Freiheiten als erforderlichenÜberbau entstehen ließe.
Indien ist ein erwachsender Riese. Diese Land ist mit über einer Milliarde Bewohner
vordergründig die „größte Demokratie der Welt“ mit einer westlich-parlamentarischen
Fassade. Hinter dieser Fassade wirken religiöse, ethnische, soziale und Kastenkonflikte sehr
stark und werden teilweise mit brutaler Gewalt ausgetragen werden – und das im Lande
Mahmadma Ghandis! Nicht die Lehren der endemischen vielfältigen Kultur streben in die
Globalisierung – sie wirken eher konservierend, sondern die große Armut der vom westlichen
Wohlstand geblendeten Massen lockt Investoren an und löst einen Prozess aus, von dem
niemand weiß, wohin der den Subkontinent – der bevölkerungsreicher als Afrika ist – führt.
Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit werden wohl auf absehbare Zeit relevante
Kriterien nur für eine Schicht sein von „Westlern“, die an der Spitze einer Pyramide leben,
deren Basis die Kasten, der Hinduismus mit seinen auch extremen Varianten und der Islam
bleiben werden.
Schwarzafrika leidet unter dem Postkolonialismus. Die Kolonialherren haben alte Kulturen
und deren Stolz zerstört, durch Krieg und Landnahme Ungerechtigkeiten geschaffen und
schwache Staaten danach Bonapartismus, Rassismus und Misswirtschaft überlassen. Warlords
unterdrücken unentwickelte Gebiete, schweben wie Fettaugen auf der Magersuppe. Die
Länder Schwarzafrikas leben entweder mit der Ungerechtigkeit der einstigen Landnahme
mehr schlecht als recht wie Namibia, oder sie versinken nach Enteignungen und Terror von
oben im Chaos wie Simbabwe. Gerechtigkeit würde hier darin bestehen, möglichst viele
2
Menschen erst einmal zu bewahren vor Krieg, Mord und Hunger – nicht weniger, aber auch
nicht mehr.
Südamerika bewegt sich zwischen Autoritarismus und formaler Demokratie - ständig bemüht,
sich von der äußeren Abhängigkeit von der westlichen Welt (besonders der USA) und der
inneren Armut zugleich zu befreien. Im Existenzkampf dieser Staaten und ihrer Völker
erscheinen die Ideen der sozialen Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit luxuriös und
wenig aktuell.
Russland geht einen Weg des gelenkten und kontrollierten Staatskapitalismus, getragen von
Populismus, Nationalismus, Geheimdienstmethoden und Gewalt wie in Tschetschenien. Der
Fall Cholodkowski zeigt: Eine offene Demokratie ist das nicht. Aber Russland ist ein nach
wie vor militärisch starker Staat, der getragen wird von seinen natürlichen Ressourcen sowie
der
Leidensfähigkeit
seines
Volkes
und
daher
einigermaßen
stabil
erscheint.
Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit als Leitmotive bewegen nur eine kleine Schicht
von Bürgerrechtlern.
Aus den unterschiedlichen angedeuteten Gründen steht in China, in Indien, in der
moslemischen Welt, in Afrika und eigentlich auch in Südamerika und in Russland das Thema
Gerechtigkeit als Element liberaler Politik gar nicht auf der Agenda: Das ist ein Spezialpunkt
der „westlichen Welt“.
Die „westliche Welt“ – USA, Kanada, Europa, Australien, Neuseeland, Japan und vielleicht
noch Südafrika – sind Demokratien, in denen Gerechtigkeit als Perspektive liberaler Politik
durchgehend relevant sein könnte. Dabei stellen sich die Probleme in den religiösen USA
anders als in Europa, und im Westen Europas wiederum anders dar als im
postkommunistischen Osten des alten Kontinents. Insofern ist es angemessen, die Frage nach
Recht und Gerechtigkeit auf Westeuropa zu beziehen und da auf Deutschland. Und obwohl
alle deutschen Parteien Recht und Gerechtigkeit als Ziele nennen, ist es angezeigt, sich hier
speziell auf die FDP zu fokussieren. Denn wenn nicht diese ausdrücklich am Liberalismus
orientierte Partei, wer sonst würde sich bemühen zu definieren, wie Recht, Gerechtigkeit und
zugleich Liberalität hinzubekommen sein können in einer vielfältigen und doch vernetzten
Welt? Somit steht auch zur Diskussion, ob es überhaupt Inseln der Liberalität geben kann
im Zeitalter der Globalisierung.
3
Die These ist, Deutschland könnte – trotz aller aktuellen Klagen - eine dieser Inseln
liberaler politischer Kultur sein und in Deutschland selbst die dem Liberalismus verpflichtete
Partei, die FDP.
Da nun kommt man aber zu einem enttäuschenden Befund:
Als langjährige Regierungspartei hat die FDP das Land stark geprägt. Als einige der kleinen
Parteien seit 1949 hat sie jedem Bundestag angehört. Die FDP befindet sich beim Thema
„soziale Gerechtigkeit“ ebenso wie bei der Rechtsstaatlichkeit in Konkurrenz zu den beiden
anderen „Bonner“ Parteien, aber auch zu den Grünen und zur PDS/Linkspartei. Die anderen
Parteien betonen zudem, dass es nötig sei, das soziale Netz weiter zu flechten. Sie garnieren
angeblich notwendige „sozialpolitische Grausamkeiten“ mit Floskeln wie Frieden, Sicherheit
oder eben soziale Gerechtigkeit. Die dem Liberalismus verschriebene Partei vertraut im
Unterschied dazu der aufklärerischen Wirkung ihrer ordoliberalen Argumente von der
Eigenverantwortung und hofft auf Selbsteinsicht der Bürger. Sie agiert als Kleinpartei und
nimmt sich der Sorgen um negativ Betroffene nicht an. Als soziale Basis reichen ihr
privilegierte Gruppen, so dass sie als Klientelpartei der Bessergestellten erscheint.
Ein weiter gedachter Liberalismus müsste sich dem Klientel-Vorwurf nicht aussetzen, denn
Freiheit und Wahrheit für möglichst viele setzt soziale Gerechtigkeit voraus – und eben
danach gibt es in Deutschland ein Grundbedürfnis. Hier wird fehlende soziale Gerechtigkeit
besonders im Osten des Landes beklagt. Die FDP als Partei des organisierten Liberalismus
wird unter den politischen Parteien zuallerletzt als jene Organisation gesehen, die an dieser
Stelle das Auseinanderdriften der deutschen Gesellschaft bekämpfen würde. Mit dem
Stichwort von der „Partei der Besserverdienenden“ hat die Partei selber den Beleg für diesen
Befund geliefert und damit ihre politische Absenz im deutschen Osten in der zweiten Hälfte
der neunziger Jahre begründet.
Es ist der FDP nicht wiederfahren, dass sie die soziale Gerechtigkeit und zeitweilig sogar die
Rechtstaatlichkeit aus den Augen verloren hat, sondern das wurde bewusst so entschieden.
Der Parteivorsitzende Guido Westerwelle sieht es so: Der „Verteilungsstaat“ habe die soziale
Gerechtigkeit zum obersten Prinzip erhoben und herausgekommen sei „Gleichmacherei“.
Gemeint ist jener „Verteilungsstaat“, den die FDP selber mitgestaltet hat! An die Stelle der
sozialen Gerechtigkeit wird seit Ende der neunziger Jahre der Begriff „fair“ aus der
Theoriediskussion entliehen:
„Fair ist, wenn Leistung sich lohnt und Fleiß sich auszahlt.“3
Das Problem ist, dass in der Öffentlichkeit der Begriff soziale Gerechtigkeit verstanden wird,
der Begriff „fair“ dagegen weniger.
4
Die Rechtsstaatlichkeit büßte zur selben Zeit an Priorität ein mit der Begründung, der Bürger
fürchte sich nicht mehr vor dem liberalen Staat, sondern vor ausufernden Bürokratien. So
konnte es geschehen, dass die Partei des Liberalismus in der Ära Kohl aus Koalitionsräson
dem Angriff auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung in Form des „großen
Lauschangriffs“ zustimmte.
Im Unterschied hierzu konnte die „alte FDP“ mit den Begriffen Gerechtigkeit und Rechtsstaat
etwas anfangen. Es gab Sternstunden der Rechtsstaatlichkeit. Eine ereignete sich am 7.
November 1962, als der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion im Deutschen
Bundestag, Wolfgang Döring, in der Debatte über die „Spiegel“-Affäre den inhaftierten
Rudolf Augstein leidenschaftlich gegen Bundeskanzler Konrad Adenauer verteidigte und
dabei ein Plädoyer für den Rechtsstaat hielt. In den Wiesbadener Grundsätzen von 1997
jedoch wurde unter dem gedanklichen und auch linguistischen Einfluss von Guido
Westerwelle die Haltung der FDP zum Rechtsstaat verwischt:
„Der Staat ist nicht Vormund der Bürger, sondern deren Instrument zur Sicherung
der offenen Bürgergesellschaft. Deshalb gewährt nicht der Staat den Bürgern
Freiheit, sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit
zur Wahrung der gleichen Rechte aller."4
Zur sozialen Gerechtigkeit: Das als rechtslastig geltende „Deutsche Programm“ aus den
frühen 50er Jahren stellte sich eine freie Marktwirtschaft vor, die Wirtschaftswachstum,
soziale Sicherheit und Gerechtigkeit garantieren könne. Ebenso gab es im Berliner Programm
von 1957 diese Passage:
„Soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und wachsenden Wohlstand gibt es nur
in einer auf Freiheit der Persönlichkeit, dem Privateigentum und dem
Leistungswettbewerb aufgebauten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.“5
Freilich ging es der an Wohlstand auch für die breiten Massen interessierten alten FDP um
eine Wachstumswirtschaft, bei der Zuwächse zu verteilen waren. Nach dem Ende des
Verteilens von Wachstum ist das Ziel der sozialen Gerechtigkeit jäh verschwunden.
In den Freiburger Thesen noch hatte der Zusammenhang zwischen Liberalismus und sozialer
Gerechtigkeit einen besonderen Dreh:
„Der Kapitalismus hat, gestützt auf Wettbewerb und Leistungswillen des
Einzelnen, zu großen wirtschaftlichen Erfolgen, aber auch zu gesellschaftlicher
Ungerechtigkeit geführt.“6
Die FDP erreichte eine programmatische Tiefe und drang zum Wesen des Liberalismus, der
in dieser Zeit mehr als Etikette war, vor. In der These 2 wurde von „Wahrheit und
Gerechtigkeit“ gesprochen, die nicht als „fertige Antworten“ zu verstehen seien, sondern in
der sich wandelnden und offenen Gesellschaft „als stets neu sich stellende Fragen“.7
5
Mit dem Ende der sozialliberalen Phase werden diese Erkenntnisse verschüttet, und in den
1997er Wiesbadener Grundsätzen war vage von einer „Bürgergesellschaft“ die Rede, die
Globalisierung und Wohlstand verbinden könne. Soziale Gerechtigkeit wurde nun verstanden
als Produkt der Leistungsgesellschaft, in der Ressourcen geschaffen würden, die auch zur
Verteilung verwandt werden könnten. Soziale Gerechtigkeit war nicht mehr zentrales Ziel
liberaler Politik, sondern eine Option, die dann Realität werden könnte, wenn
„Leistungsträger“ freie Bahn bekämen: Das war der Sturz der sozialen Gerechtigkeit vom
konstitutiven Ziel zum Abfallprodukt „liberaler“ Politik!
Aber verhält es sich bei der FDP nicht ebenso wie bei den anderen Parteien? Die
„Legende“ der FDP ist der Liberalismus. Verlieren die etablierten Parteien alle ihre
Legenden und erklärt das die Tatsache, dass eine neue Linkspartei, die sich auf soziale
Gerechtigkeit beruft, drauf und dran ist, das traditionelle deutsche Parteiensystem
zu
verändern?

Als Gerhard Schröder noch die Doppelfunktion des Bundeskanzlers und SPD-
Parteivorsitzenden ausübte, setzte er gesellschaftspolitische Veränderungen durch, die den
Sozialstaat zurückdrängten und an das „sozialdemokratische Herzblut“ gingen. Bis dahin war
das Wesen der sozialdemokratischen Legende ohne alle Umschweife soziale Gerechtigkeit.
So resümiert Franz Walter:
„Es gibt nicht mehr die umfassende sozialistische Erzählung, die über hundert
Jahre das Sozialdemokratische ausgemacht hat, die Kitt und Treibstoff der Partei
war, allerdings auch Belastung Barriere bedeutete. Die modernen
Sozialdemokraten können oder müssen nun ohne all dies leben.“8
Es fällt – wie man sieht – ihnen schwer.

Bei der CDU scheint das „C“ zur Monstranz ohne Inhalt zu werden. Die Partei muss sich
auf die zunehmend säkularisierte Gesellschaft einstellen und – so stellt Frank Bösch fest:
„Bei neuen Themen wie der Asylpolitik, der inneren Sicherheit oder der
Gentechnik droht die christliche und wirtschafts-liberale Anhängerschaft der CDU
zunehmend auseinander zu brechen.“9

Die Grünen haben sich meilenweit entfernt von den ökologisch-pazifistischen
Überzeugungen ihrer Gründungszeit. Die „Anti-Parteien-Partei“ der Petra Kelly ist zur
pragmatischen Staatspartei Joschka Fischers geworden. Die Grünen tragen Auslandseinsätze
der Bundeswehr mit, und die gebremste Umweltpolitik Jürgen Trittins steht im Schatten der
6
Außenpolitik des (un)heimlichen Vorsitzenden. Fast sarkastisch klingt die Schlussfolgerung
von Joachim Raschke:
„Seit dem 27. September 1998 sind die Grünen Regierungspartei oder sie sind
nichts. Sie sind Regierungspartei in den Ämtern oder – als Opposition – im
Wartestand. Die Frage nach ihrer Regierungsfähigkeit lässt sie nicht mehr los.“10

Die PDS – solange sie reine Ostpartei war - hatte sich von Anfang an vor der eigenen
Legende gefürchtet. Sie ist zwar die SED-Nachfolgerpartei, aber sie verurteilt die Politik der
alten Staatspartei. Sie spricht zwar vom „demokratischen Sozialismus“, aber da wo sie kann –
in Berlin und Mecklenburg-Pommern zum Beispiel – macht sie eine marktwirtschaftliche
Politik. Sie war bisher die Regionalpartei des Ostens, träumte aber stets von einem
dauerhaften Platz im gesamten deutschen Parteiensystem. So wurde die PDS zum
Sammelbecken für Protestler und Ostalgiker, hatte als solche den Bundestag 2002 verlassen
müssen und hofft nun durch die WASG-Auffrischung auf den Wiedereinzug. Wenn auch Eva
Sturm zu dem Ergebnis kommt, dass die PDS nicht den Weg der Aufklärung ginge, denn sie
wende sich an
„Menschen, die emotionsgesteuert handeln, die ´fühlen´ und ´Eindrücke haben´
und nicht etwa die Realität erfassen, - Menschen also, die nicht den Mut oder die
Entschlossenheit aufbringen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.“11
– so scheint sie doch 2005 gerade mit dieser Methode beim Aufnehmen des von den anderen
Parteien vernachlässigten Zieles der sozialen Gerechtigkeit Wählerzulauf zu erhalten.

Die CSU verfolgt scheinbar ihre alten Ziele der Entwicklung und Förderung Bayerns und
wird – wie Alf Mintzel prophezeit – Hegemonialpartei in Bayern bleiben:
„Das eine Ziel ist, bayerische Staatlichkeit, soziokulturelle Eigenprägung und
politische Kultur sowie wirtschaftlichen Wohlstand im Wandel der Zeiten zu
bewahren und zu fördern, und Bayerns Gewicht als historisch gewachsene vitale
Kulturregion Deutschlands und Europas auch in neuen, übergreifenden und
europaweiten Entwicklungen zu erhalten. Das andere Ziel ist, Bayerns historisch
begründeten Mitspracheanspruch und Geltungsauftrag in der deutschen und
europäischen Politik zur Geltung zu bringen.“12
Doch diese europa- und bundesweit operierende bayerische Regionalpartei könnte mehr und
mehr ihre Sonderrolle verlieren, denn auch im Freistaat erfolgen Einschnitte ins soziale Netz,
und Proteste dagegen werden immer häufiger.

Wie steht es mit der FDP?
Sie betont nach wie vor ihre Legende des Liberalismus. Dabei ist sie in einen Zwiespalt
geraten: Den Wirtschaftsliberalismus, den sie vertritt, praktizieren die anderen Parteien in
ihrer Politik ebenfalls. Und was sie sonst „liberal“ nennt, ist oft schlichte Organisationspolitik.
7
Ob sie sich als Korrektiv sieht oder als eigenständiges Medienereignis: Koalitionsaussagen
oder „18%“-Strategien haben viel mit dem Wunsch nach Selbsterhaltung, aber wenig mit dem
Liberalismus zu tun. Der Selbsterhaltungstrieb der Organisation mag die Ursache für das
Weiterbestehen der FDP sein; die liberale Legende wurde mehr und mehr zur Kulisse, die
`mal gezeigt, `mal nach hinten geschoben wurde.
Siegt sich der Liberalismus zu Tode? Die nationale Frage ist gelöst. Den Rechtsstaat
beschwören alle Parteien. Die parlamentarische Demokratie wird praktiziert. Die Kirchen
beherrschen nicht mehr den Staat und die Politik. Die Marktwirtschaft hat sich durchgesetzt,
und selbst ihre schärfsten Kritiker fordern noch nicht ihre Abschaffung. Der nicht mehr
bezahlbare Sozialstaat wird zurückgebaut von anderen Kräften als jene, die sich „liberal“
nennen.
Was nützt da der FDP der Bezug auf den Liberalismus? In allgemeiner, abstrakter Form weiß
sie ihn zeitunabhängig zu definieren: als Streben nach Freiheit. Freiheit wird bezogen auf die
Person, Eingrenzung der Freiheit wird diagnostiziert bei Institutionen und Organisationen.
„Vorrang der Person vor der Institution“, lautet das Politschlagwort dieser Philosophie. Bei
der FDP kommt man damit in jeder Debatte durch. Doch wer fordert schon „Vorrang der
Institution vor der Person“? Keiner der Konkurrenten der FDP tut das. Dennoch schreitet die
Bürokratisierung des Lebens voran und engt den Handlungsspielraum ein. Die liberale
Philosophie will das verhindern, kann es aber nicht. Und so scheint es, als habe die Legende
der FDP, der Liberalismus, seine inhaltliche Wirkungskraft verloren –sei nur noch aufgesetzte
Fassade.
Im Kampf gegen klerikale, feudale und dynastische Herrschaft war der Liberalismus die
leitende Idee des aufsteigenden Bürgertums. Das Bürgertum erkämpfte seinen Platz in der
Gesellschaft, etablierte seine eigene Macht und eroberte eigene Ressourcen. Der Liberalismus
war erfolgreich, weil hinter ihm das Interesse einer neuen Klasse stand. Deren Wucht setzte
die liberalen Ziele durch. Und als das geschehen war, wurde das ehemals liberale Bürgertum
defensiv – verteidigte seine Stellung.
Wo ist am Beginn des 21. Jahrhunderts das gesellschaftliche Interesse, das Liberalismus als
Wunsch nach individueller Freiheit braucht? Die Global Players wollen diesen Liberalismus
nicht. Durch Investitionsentscheidungen setzten sie Fakten und schießen die privilegierten
Sozialsysteme des Westens sturmreif. Den Abriss überlässt man am besten Sozialisten,
Sozialdemokraten oder Konservativen, weil es bei ihnen am unverdächtigsten oder
glaubwürdigsten ist. Liberale sind dazu nicht nötig, höchstens als Stichwortgeber hilfreich.
8
Diese Stichworte hierbei heißen Eigenverantwortung, Leistung und Flexibilität – nicht
Freiheit und Gerechtigkeit.
Die Mehrzahl der Menschen in der Bundesrepublik sieht weniger die persönliche Freiheit als
vielmehr
die
soziale
Sicherheit
bedroht.
Einkommensschwund,
sozialer
Abstieg,
Arbeitslosigkeit können jeden erreichen. Bedrohungen der persönlichen Freiheit durch die
staatlichen Repressionssysteme wie Polizei oder Justiz werden weniger gefürchtet. Die
Staaten, allen voran die Hegemonialmacht USA, beschwören zwar die Gefahr durch den
Terrorismus, doch die Bürger haben andere Sorgen. Sie fühlen sich allenfalls belästigt durch
Abwehrmaßnahmen dagegen wie Wartezeiten an den Flughäfen, Absperrungen oder
Kontrollen in den Großstädten. Es ist keine relevante soziale Schicht zu sehen, die sich aus
einem gewichtigen Interesse heraus den Abwehrmaßnahmen gegen den Terrorismus in den
Weg stellte.
Und so hatte es die FDP zwischen 1998 und 2002 gar nicht versucht, hier die Stimme zu
heben. Sie stellte keinen „Anti-Beckstein“ und keinen „Anti-Schily“. Die Worte „Skymarshal“, „Rasterfahndung“ und „Genetischer Fingerabdruck“ lösten zunächst keine
Protestrufe bei der FDP aus. Zwar heißt es immer wieder „Weniger Staat wäre mehr“, 13 aber
bei der Terrorbekämpfung schien dieser Satz in FDP-Kreisen suspendiert. Die FDP wollte
sich beim Thema Terror nicht in die Ecke der nicht „Wachsamen“ drängen lassen. Schließlich
lag die Organisation dicht an der 5%-Sperrgrenze. Da wollte sie ihre Existenz nicht gefährden
mit einem Beharren auf den Rechtsstaat. Seit 2002 gab es vorsichtige Versuche, diese
Position des Opportunismus zu verlassen. In Erwartung einer schwarz-gelben Koalition bleibt
abzuwarten, was Substanz und was Lippenbekenntnis ist.
Freiheit erfordert Aufklärung. Die Freiheit der Medien jedoch hat Entertainment in
den Mittelpunkt gerückt. Auch Politik wird durch Unterhaltung verkauft. Die unter anderem
von der FDP einst freudig begrüßten Neuen Medien brachten die Quote als Maß aller Dinge.
Liberalen sollte das zuwider sein. Aber die FDP – immer in ihrer organisatorischen Existenz
bedroht – geht gegen die Macht der Medienbosse nicht an. Sie will nicht sauertöpfig wirken,
und ihr Vorsitzender hatte sogar keine Probleme, in den Container der Selbstentblößung zu
gehen. „Aufklärung durch die Medien“ – an diesem Thema war die FDP nicht dran – es
schien ihr zu riskant.
Die Freiheit der Wissenschaft hingegen hatte die FDP auf ihre Fahnen geschrieben. Bei der
Gentechnologie und der Embryonenforschung war und ist sie auf der Seite der Wissenschaft,
will die Grenzen des Zulässigen weit ziehen. Das ist ein Freiheitskampf auf einem sehr
9
schmalen Feld. Nicht immer ist erkennbar, dass die FDP den ethischen Argumenten der
Gegner neuer Technologien gerecht wird. Hier von „Bedenkenträgerei“ zu reden, ist nicht
angemessen – klingt mehr nach Lobbyismus als nach liberaler Weltsicht.
Immer wieder ist aus FDP-Kreisen zu hören, „liberal“ zu sein, habe auch etwas mit
Lebensgefühl und –stil zu tun. Beim Projekt 18% schien die Partei insofern den richtigen Ton
getroffen zu haben: Harald Schmidt, das Guidomobil, der Fallschirm und die goldene 18 an
den Schuhsohlen schienen einem Hedonismus zu entsprechen, der große Teile der jüngeren
Generation erfasst hatte. Die Umfragen und Parteibeitritte Jüngerer bestätigten es: Die FDP
schien vielen den richtigen Ton gefunden zu haben. Doch die bunte Seifenblase zerplatzte
2002. Eine Mode war vergangen – nichts, was sich mit dem Begriff Liberalismus deuten ließ.
Es blieb die Realität: Aus der FDP selber heraus wurde geklagt, man habe die liberalen
Themen aufgegeben.

Die Partei habe sich bei der Terrorismusbekämpfung in einen Konsensus mit den anderen
Parteien begeben und verlöre dabei die Verteidigung der Bürgerrechte aus den Augen
verloren.

Die Partei lasse jegliches Gefühl für soziale Verantwortung vermissen. Wer schamlos
steigende Spitzengehälter einiger kritisiere und zunehmende Armut vieler beklage, dem werde
von der FDP-Führung vorgeworfen, er schüre Neid.

Die FDP sei nicht mehr die Partei der die Kultur tragenden Schichten. Diese neigten zur
SPD oder zu den Grünen.

Das Umweltthema habe die FDP schon 1982 im Verlaufe der Wende aufgegeben.

Die FDP verspiele die Kompetenz in der Europapolitik wie sie von ihren Außenministern
aufgebaut worden sei.
In 16 Jahren Verschleiß während der Ära Kohl und zunehmend rasanter nach dem Verlust
ihrer strategischen Position 1998 hatte die FDP in der Parteiführung ihre liberale Leidenschaft
für die Freiheit verloren. Der Wunsch nach Selbsterhaltung der Organisation und Bewahrung
der Pfründe herrschte vor. Mal probierte man es mit Show, dann mit Populismus. Mal war
von gleicher Augenhöhe zu den Großparteien die Rede, dann wieder lieferte sich die FDP in
der Bundesversammlung der Union als Hilfstruppe aus.
Dem Publikum erschien das unseriös, und das Renommee einer verdienstvollen Partei
schmolz dahin.
Dennoch: Die FDP hat eine Perspektive, wenn sie verlorene Politikfelder wieder erobert. Sie
ist im Innern nicht tot. Es gibt sie noch, die Liberalen, die zu den Kleinen halten wollen.
Selbst ein Wirtschaftsliberaler wie Günter Rexrodt ließ die Kleinen wenigstens nicht
10
unerwähnt. Zwar hielt er zu den „Leistungsträgern“: Denen wollte er ermöglichen, Leistung
zu zeigen, sich zu entfalten. Dann würde sich eine Volkswirtschaft entwickeln,
„die Ressourcen besitzt, damit sie den wirklich Schwachen, denen, die leisten
wollen, es aber nicht können, solidarisch zur Seite steht.“14
Wenn man zu den Leistungsträgern hält – so diese Philosophie, hilft man damit auch
leistungswilligen Schwachen. Die „leistungsunwilligen Schwachen“ – die es ja geben muss –
bleiben außerhalb dieser Betrachtung. Gilt für sie der Liberalismus nicht - jene
„Geisteshaltung, die dem Menschen Freiheitsspielräume einräumt, die es
ermöglichen, dass er nach seinen Vorstellungen ein freies und erfülltes Leben
führt“(Rexrodt)?
Wie weit sich die zu Beginn des 21. Jahrhunderts eindeutig wirtschaftsliberale FDP von ihrer
Gründerzeit entfernt hat, wird deutlich, wenn man die Einstellung eines Politikers wie des
verstorbenen Günter Rexrodt vergleicht mit einem Gründungsdokument von 1946: In den
„Programmatischen Richtlinien“ der FDP der britischen Zone hieß es:
„Wie der Staat nicht Selbstzweck ist, sondern dem Volke dient, so auch die
Wirtschaft. Erstes Ziel der Wirtschaftspolitik ist deshalb entsprechend dem
Bedürfnis der breiten Massen die Steigerung der Erzeugung auf allen Gebieten
zur Befriedigung des Lebensbedarfs der vermehrten Bevölkerung im verengten
Raum... Persönliche Initiative und freier Wettbewerb steigern die wirtschaftliche
Leistung, und persönliches Eigentum ist eine wesentliche Grundlage gesunder
Wirtschaft. Andererseits darf jedoch die Freiheit der Wirtschaft nicht unsozial
missbraucht werden und nicht zur Übermacht von Überstarken führen. Das Recht
und die Möglichkeit der Kleinen, sich neben den Großen zu behaupten, muss
ebenso gesichert sein wie das Recht derer, die ihr Leben nicht in Selbständigkeit,
sondern als Mitarbeiter in großen oder kleinen Betrieben verbringen.“15
Bei allen zeitbedingten Forderungen: Es ist die Haltung, die sich bei den Freien Demokraten
geändert hat: Anfänglich standen die Bedürfnisse der „Massen“ – des Volkes – im
Mittelpunkt des Denkens. 60 Jahre später sind die Interessen der Funktionseliten das Primäre
für die FDP, und als sozialpolitische Absicherung wird behauptet, das diene wenigstens einem
Teil der Schwachen. Wie Hohn klang da die Werbeformel von der „Partei des ganzen
Volkes“!
Was muss die FDP tun, um von den Wurzeln her den Liberalismus neu zu entfalten? Die FDP
müsse wieder Themen besetzten, sagt Gerhart-Rudolf Baum: „Kulturpolitik, Bürger- und
Menschenrechte, Bildungspolitik, Umweltpolitik...“ Und Wolfgang Lüder bringt es auf die
Formel: „Liberalismus muss erklärt werden: was wollen wir sein.“ Die FDP müsse
„Leuchtfeuer“ aufstellen: Datenschutz, Recht und Umwelt.“ Und er fordert ein „Nachdenken
über das Verhältnis zu den Grünen.“
11
Die FDP selber stellt seit den Wiesbadener Grundsätzen das Thema Gerechtigkeit als
„Generationengerechtigkeit“ in den Mittelpunkt. Im „Deutschlandprogramm 2005“ heißt es:
„Die Lasten einer überalterten Gesellschaft müssen gerecht auf die Schultern aller
Generationen verteilt werden“.
Allerdings handelt es sich hier nicht um eine substanzielle Position liberaler Politik, sondern
um Klientelpolitik - zugunsten von Wählern aus der jüngeren Generation.
Die FDP könnte es schaffen, sich von unten zu reformieren und im deutschen Parteiensystem
neu zu positionieren als Partei eines an Gerechtigkeit orientierten Liberalismus. Bei aller
Bedeutung der Rechtsstaatsthemen und der Beziehungen zur Konkurrenz: Alles steht und fällt
mit der sozialen Frage. Entgegen verbreiteten Vorurteilen hatte die FDP seit den 50er Jahren
soziale Verantwortung gezeigt. Wahrer Liberalismus will die Emanzipation möglichst aller,
muss Ungerechtigkeit und Armut mit Herz und Verstand bekämpfen. Die FDP jedoch war
zwischen 1998 und 2002 zur Apologetin des globalen Kapitalismus geworden.
Die Führung der FDP hatte spätestens ab 1998 das Augenmaß bei der Parteinahme für die
Marktwirtschaft verloren. Sie übernahm keine Verantwortung beim Kampf gegen die
ungleiche Verteilung von Ressourcen. Ihr fehlte die Leidenschaft beim Engagement für
soziale Gerechtigkeit. Es waren gar nicht einmal die wohl formulierten Sozialprogramme,
geschrieben im Politiker- und Bürokratenstil, an denen es mangelte. Das Publikum spürte,
dass den Repräsentanten der FDP beim politischen Kampf um soziale Gerechtigkeit das Feuer
fehlte.
Aber das Spiel war noch nicht verloren. Immerhin sagten im Jahre 2004 29% der Deutschen
in einer Umfrage:
„Wir brauchen die FDP.“
Elisabeth Noelle schloss daraus:
„Die FDP ist ein fester Bestandteil unserer politischen Landschaft.“16
Schließlich werde die FDP im Unterschied zu ihren Konkurrenten als Partei der Mitte
gesehen. Dennoch sahen 44% der Befragten die FDP als „out“ an, und nur 9% fanden sie
„in“.
Das Dilemma der FDP: Generell ist sie erwünscht, weil ein Land wie Deutschland eine
liberale Partei will. In ihrer konkreten Erscheinungsform zu Beginn des Jahrhunderts war sie
weniger gefragt, weil die FDP nicht die erwünschte liberale Partei zu sein schien. In diesem
Dilemma ruhte wieder einmal eine Chance, dass es im Innern der FDP-Organisation
genügend Kräfte gäbe, die einen freiheitlichen Liberalismus für alle erkämpfen wollen.
12
Nach 2002 wurde nach außen deutlich, dass zumindest die Rechtsstaatlichkeit bei der FDP
wieder in Mode kommen könnten. Bürgerrechtsthemen werden aufgegriffen. Soziale
Gerechtigkeit wurde wenigstens verbal beschworen. Aber was wird daraus?
Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann sich die FDP– entgegen geäußerter anderer
Wünsche ihres führenden Personals – bald in der Rolle einer Funktionspartei der
Mehrheitsbeschaffung für die Union wieder finden. Ihre Rolle kann quantitativ relevant
werden ohne qualitativ brisant zu sein. Es sichert das Überleben und bringt Pfründe. Das
Materielle siegt meistens über das Ideelle.
Aber in der Politik kommt es manchmal anders als nach den Erfahrungen vermutet. Noch ist
die FDP nicht an der Macht. Sollte der Sprung in die Regierung ausbleiben – sei es wegen
einer absoluten Mehrheit der Union oder anderer Koalitionen als „schwarz-gelb“ - dann
müsste sich die FDP inhaltlich und organisatorisch tatsächlich reorganisieren. Eine liberale
Renaissance, bei der die FDP die Chancen für die Freiheit dem beginnenden 21. Jahrhunderts
gemäß formuliert, wäre unter diesen Umständen möglich. Die Überlebensstrategie der FDP
würde darin bestehen müssen, sich nicht mehr ausschließlich um die Platzierung ihres
Produktes auf dem Politikmarkt zu kümmern, sondern zuerst zu sagen, was es heißt, im
Zeitalter der Globalisierung und Mediatisierung liberal zu sein.
Verkaufs- und Marktfragen würden nachrangig. Sie wären nach der programmatischen und
politischen Neujustierung der FDP zu erörtern. Fast möchte man mithin hoffen, dass die FDP
noch einmal den Zugang zur Macht verpasst, weil das die Voraussetzung für eine liberale
Renaissance wäre und der Gerechtigkeit als Ziel liberaler Politik eine Perspektive eröffnen
könnte. Denn eine andere Partei, die überhaupt eine Chance hätte, mit liberaler Politik zu
Gerechtigkeit zu gelangen, existiert nicht in Deutschland.
Jürgen Dittberner
(Juli 2005)
1
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975 sowie
ders., Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998
2
Max Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist; in: Max Weber, Soziologie.
Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1964, S. 357 ff
3
Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation. Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden
2005, S. 321
4
ebenda, S. 349
5
ebenda, S. 323
6
ebenda, S. 324
7
ebenda, S. 338
8
Franz Walter, Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002, S. 267
9
Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002, S. 274
10
Joachim Raschke, Die Zukunft der Grünen. „So kann man nicht regieren“, Frankfurt/M. 2001, S. 442
13
Eva Sturm, „Und der Zukunft zugewandt?“ Eine Untersuchung zur „Politikfähigkeit“ der PDS, Opladen 2000,
S. 337
12
Alf Mintzel, Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer, Passau 1998, S.
282
13
Guido Westerwelle, Neuland. Einstieg in einen Politikwechsel, München/Düsseldorf 1998, S. 142
14
Dieses Zitat von Günter Rexrodt wie die folgenden von Gerhart-Rudolf Baum und Wolfgang Lüder stammen
aus Interviews, die Studenten der Universität Potsdam geführt haben.
15
Programmatische Richtlinien der Freien Demokratischen Partei der britischen Zone von 1946. Quelle: Eilert
Tantzen, Verwahrer des Familienarchivs Tantzen
16
Elisabeth Noelle, Vor der Europa-Wahl. Ein Porträt der FDP – zwischen Avantgarde und Zünglein an der
Waage; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Mai 2004, S. 5
11
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