KEIN LIBERALISMUS IN DEUTSCHLAND? Man kann die Entwicklung des Liberalismus in Deutschland auch so sehen: -1688, als England die Glorious Revolution erlebt, stirbt in Preußen der „Große Kurfürst“. Sein Nachfolger krönt sich selber als Friedrich I. in Ostpreußen zum „König in Preußen“. Der 30-jährige Krieg liegt 40 Jahre zurück. Deutschland ist ökonomisch ausgeblutet und politisch ein Flickenteppich. In England erkennt der König die Rechte des Parlamentes an. Vom Liberalismus gibt es in Deutschland keine Spur. -1776 erklären sich die Vereinigten Staaten von Amerika für unabhängig. In Deutschland wird eine mecklenburgische Prinzessin geboren, die einmal als „Königin Luise“ den großen Napoleon um Gnade für ihr dynastisches Preußen bitten wird. Die Moderne hat Deutschland längst nicht erreicht. Die fälligen Verwaltungsreformen kommen sowohl in Preußen durch Stein-Hardenberg wie im Königreich Bayern durch Montgelas erst nach Napoleon. -Im Vormärz 1815 bis 1848 verbleiben die deutschen Liberalen als Professoren und andere „Intellektuelle“ im politischen Oberbau und werden mit dynastischer Gewalt bekämpft. -Die Frankfurter Paulskirchenversammlung wird durch den König von Preußen gedemütigt und durch dessen Ablehnung der deutschen Kaiserkrone lächerlich gemacht. -Die Industrialisierung Deutschlands nach 1871 holt nach, was andere Länder hinter sich haben und wird begleitet von einer Zersplitterung des ohnehin nicht mächtigen politischen Liberalismus. Die deutsche Bourgeoise wendet sich mehr und mehr dem Konservativismus zu. -Die Weimarer Koalition aus DDP, SPD und Zentrum verliert nach 1919 an Resonanz und kann die erste deutsche Republik nicht tragen. „Weimar“ wird zur Demokratie ohne Demokraten. -Liberale Politiker wie Walter Rathenau oder Gustav Stresemann können die Geschicke der ersten deutschen Republik nicht lenken. Der eine wird von Rechtsradikalen ermordet, und der andere fällt politischem Rufmord zum Opfer. -Die liberalen Parteien DDP und DVP versagen 1933 und diskreditieren den politischen Liberalismus. Die einst stolze linksliberale DDP nennt sich „Staatspartei“ und stimmt den „Ermächtigungsgesetzen“ Hitlers zu. Dann verschwindet sie im totalitären „Führerstaat“. -Die nach 1945 gegründete FDP vermeidet auf Betreiben von Theodor Heuss den Begriff „liberal“ und wird vom Bundeskanzler Konrad Adenauer als Objekt der Integration in die Union gesehen. -Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel bleibt ein „abweichender Fall“ in der deutschen Parteiengeschichte. In der zweiten Hälfte dieser Periode verschreiben 1 sich Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher dem Pragmatismus. Die innenpolitischen Regelungen der Sozial-Liberalen werden weitgehend zurück genommen. -In der 16-jährigen Koalition unter Helmut Kohl entwickelt sich die FDP zur „Partei der zweiten Wahl“, zum Mehrheitsbeschaffer der Union. Der Liberalismus wird nur als wahlarithmetische Kategorie wahrgenommen. Der Parteivorstand der FDP gibt für Bundestagswahlen sogar die Parole aus: „Wählt FDP, damit Kohl Kanzler bleibt“. -1998 wird die FDP aus der Bundesregierung abgewählt. Sie bleibt 11 Jahre in der Opposition, zuerst gegen das rot-grüne Projekt, dann gegen die große Koalition. Die FDP schlägt mehrere Irrwege ein wie beim „Projekt 18“ oder bei der Parole der „Partei für das ganze Volk“. „Liberale“ Politik wird woanders definiert – etwa bei der „Homoehe“ oder beim Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“. Nicht die liberale Partei, sondern einzelne Liberale erkämpfen vor dem Bundesverfassungsgericht Urteile, welche die Bürgerrechte stärken (Lauschangriff, informationelle Selbstbestimmung). Nach der Wirtschaftskrise 2008 ff scheint der Liberalismus endgültig abgewirtschaftet zu haben. Mit einem Satz: In Deutschland hatte sich der Liberalismus zu keiner Zeit voll durchsetzen können. Dann kam das überraschende Wahlergebnis vom 27. September 2009: 6.313.023 Bürger haben der FDP ihre zweite Stimme gegeben. Das entspricht 14,6% und ist das beste Ergebnis, das die FPD bei Bundestagswahlen je errungen hat. Die Großparteien haben zugleich verloren; besonders hart traf es die SPD. In der Koalition mit der Union ist die FDP so stark wie nie. Wird Deutschland nun liberal? Nach der Theorie müsste sich der Staat fortan jeglicher ökonomischer Tätigkeit enthalten: Also raus aus der Hypo Real Estate, ´raus aus allen Eigenbetrieben, Schluss mit allen Konjunkturprogrammen? Soll der Staat nur noch den Rahmen setzen für die Wirtschaft? Nach der Theorie müsste allein der Diskurs in den Parlamenten die Methode politischer Willensbildung sein. Ist jetzt also Schluss mit allen Bemühungen um direkte Demokratie, ist das Ende aller Demonstrationen der Gemeinsamkeit der Demokraten gekommen? Gehören auch die Talk-Shows im Fernsehen der Vergangenheit an? Liberale sind davon überzeugt, dass es keine letzten Wahrheiten gebe, dass von jeder These die Gegenthese richtig sein könne. Das müsste das Ende der politischen Korrektheit sein. Wird Sarazin also künftig für seine Courage gelobt? Das Hauptproblem des Liberalismus ist die soziale Gerechtigkeit. Zwar ist sie ein Ziel, darf aber nicht in Gleichheit enden, weil diese die Leistungsbereitschaft schmälern würde. Die Gerechtigkeit muss nach liberaler Auffassung stets neu erfunden werden. Nach der Theorie 2 könnte Gerechtigkeit erreicht sein, wenn alle Mitglieder des Gemeinwesens mit der gegebenen Verteilung einverstanden sind, sie als „fair“ empfinden. Der Staat nur als Schiedsrichter im Wirtschaftsgeschehen, das Parlament als zentraler Ort des politischen Diskurses, Schluss mit der politischen Korrektheit und Gerechtigkeit als Fairness der Sozialsysteme: Es sieht nicht so aus, als ob das nach dem großen Wahlsieg der FDP politische Wirklichkeit in Deutschland wird. Denn selbst die FDP ist mittlerweile sozialdemokratisch eingestellt. Und so kann sie keine nur minimale Gerechtigkeit zulassen. Auch nach der Wahl 2009 wird sich Liberalismus in Deutschland nicht durchsetzen. Viele haben zwar die FDP gewählt, aber nachdem sie die staatliche Abwrackprämie kassiert haben. Eine liberale Gesellschaft wollen sie nicht. Die Gesellschaft soll sozial und sozialdemokratisch bleiben und die FDP soll das stabilisieren. Es ist merkwürdig: Nun, da fast alle sozialdemokratisch denken und handeln, verliert die sozialdemokratische Partei Anhänger. Und diejenige Partei, die sich „Die Liberalen“ nennt, verzeichnet Zulauf, obwohl sich doch fast alle vor dem Liberalismus fürchten. Als Stabilisator des Wohlfahrtsstaates aber ist die FDP vielen gerade recht. JÜRGEN DITTBERNER (OKTOBER 2009) 3