Die dunkle Vergangenheit eines Lehrers ... Was soll ich schreiben? Fünf Jahre des Lebens sind eine lange Zeit, das sind etwa 110.000 Personen, die ich "befördert" habe, laut Abschreiber1 , ca. 70.000 "Touren", eine eigentlich unübersehbare Schlange von Leuten, die da hinten ein- und wieder ausgestiegen ist. Das sind in bis jetzt fünf Jahren und zwei Monaten fast genau 580.000 Kilometer - innerhalb von Berlin - durchschnittlich 30 Touren am Tag, 2400 km die Woche. Man kennt jede Straße, jeden Baum, jede Baustelle, jeden Schleichweg, jeden Dauerauftrag, jede Stoßzeit am Flughafen, jedes Lokal, jeden Club, jede Brücke, auf der es morgens glatt sein könnte, die Stellen, wo die Blitzer oder die "Kanone"2 stehen oder wo Funkstop gemacht wird, jede Currywurstbude und wann sie auf hat, jede Blitzer-Ampel. Was also soll ich schreiben? Die Lokale, das Neon, bei Nacht, Regen auf der Scheibe, AFN3 ist an im Auto, 350 km bin ich heute nacht gefahren? "Morgens und besonders im Winter stirbt die Nacht im Schmutz der langen Straßen", habe ich mal geschrieben, "aus Mülltonnen am Schlesischen Tor steigt steif ein neuer Tag, Kamine husten grau die Wolken an, und in Moabit beginnt eine matte Sonne über die Dächer zu schlürfen." War das womöglich poetisch? - Stadtautobahnzubringer Richtung Flughafen, morgens um 6, wenn ich zurückfahre am Kanal entlang, wo jetzt - im Herbst - dünner Nebel 1 Abschreiber = Ein (bei der Firma, für die ich arbeitete) grüner Block von DIN A 6-Format, in den man bei Schichtende unter diversen Rubriken den Kilometerstand, die Anzahl der Touren, der transportierten Gepäckstücke, die Zahl der "leer" gefahrenen und der besetzt gefahrenen sowie der insgesamt gefahrenen Kilometer und noch einiges andere mehr eintragen mußte. Die konkreten Zahlen dazu konnte man von der Taxiuhr ablesen, die das alles den ganzen Tag über genau registriert. War das Verhältnis der leer zu den insgesamt gefahrenen Kilometern schlechter als 1 zu 3, gab es Lohnabzug. Man konnte also nicht unendlich viele Kilometer leer durch die Gegend gondeln, sondern war solcherart u.U. gezwungen, an Taxihalteplätzen (im Jargon: "Halten") zu stehen, auf Kunden zu warten (und Zeit zu vertrödeln). Hatte man eine Taxe über längere Zeit non stop, konnte man den Tages-Abschreiber hinsichtlich zu vieler Leerkilometer natürlich fälschen - man mußte das nur irgendwann wieder aufholen. 2 Kanone = Die Blitzer am Rand kannte man ja, man wußte, an welchen Stellen man besonders und auf was für Autos man achten mußte. Auch sah der trainierte Blick die "Hütchen" sehr früh, die vor dem Blitzer standen, um dort ein Einparken anderer Autos zu verhindern. Gewöhnlich reichte die Reaktion, noch rechtzeitig zu bremsen, aber damals kam gerade die LASER-Geschwindigkeitsmessung auf, die von den Taxifahrern als besonders heimtückisch empfunden wurde. Denn dabei wird von vorne gemessen, und zwar aus einer Distanz von bis zu 1200 Metern. Das geschah mit einem fernrohrähnlichen Gerät auf einem Stativ, eben jener ominösen "Kanone". 3 AFN = American Forces Network, der amerikanische Soldatensender in Berlin Dahlem, bis zu seiner Abschaffung nach dem Mauerfall und dem Verschwinden der amerikanischen Soldaten aus Berlin eigentlich der Sender. Da hatte man schon in der Schulzeit sein Englisch her. Brachte einmal in der Stunde Nachrichten, keinerlei Werbung, aber die Musik, die wir liebten, und das rund um die Uhr, und vor allem - das haben sich ja die heutigen Sender abgewöhnt - mit jeweiliger Ansage dazu: Titel und Gruppe/Sänger/in. Und immer brandaktuell die amerikanischen Charts, lange bevor das im deutschen Rundfunk auftauchte. 1 über dem Wasser steht, die Pappeln werden schon kahl im frühen Morgen, draußen ist es kalt, die Straßenränder sehen nach Rauhreif aus, keine anderen Autos unterwegs, Joe Cocker: "You're so beautiful", dann: wieder auf der Stadtautobahn, allein, nordwärts, mit gemächlichen 100: Feierabend - Feiermorgen. Morgens vor dem Berufsverkehr fahre ich am liebsten, todmüde, wenn die vierzehnte Stunde am Steuer anbricht. Wenn die Vögel singen, gehe ich bei uns zu Hause durch den Garten, schließe die Haustür auf, knieweich, fröstelnd, völlig übermüdet, die Taxe steht draußen überraschend still vorm Zaun, und wenn ich mich dann ins Bett lege und die Augen schließe, ist in meinen Füßen immer noch die Vibration vom Gaspedal, und die endlosen Lampenketten der Nacht ziehen über mir dahin. ######## Was ist Taxifahren? Man übernimmt meinetwegen, wie mir geschehen, einen Mercedes mit 24 km auf dem Tacho, fährt ihn im ersten Jahr 120.000 km weit, und im nächsten Jahr kriegt man einen neuen. Das Auto gehört T&S, bei Unfall zahlt die Firma den Schaden. T&S, eigentlich "Taxi und Service", aber im Jargon nur "Trümmer und Schrott". Taxifahren, das ist abends privat ins Kino gehen, in der überfüllten Innenstadt. Wo es absolut keine Parkplätze gibt, gibt es für Taxis immer einen Parkplatz, notfalls hinten auf der Taxihalte vorm Europacenter, notfalls Uhlandstraße, notfalls zweite Spur: Taxis schleppt keiner ab. Die Verwarnung hinter'm Scheibenwischer gebe ich lässig im Büro ab, Bemerkung dazu: "Habe alter Dame den Koffer nach oben gebracht, währenddessen aufgeschrieben worden." Beiderseitiges Schulterzucken, Sorry, beiderseitiges Grinsen. Das war nicht immer so. Der Anfang: schüchtern. Lernen: Anstellen um halb acht, sonntags, Krümelecke4 , als fünfter. Nur ein Idiot kann das tun. Morgens ist da tote Hose: Die leere Straße wird gefegt, die Geschäfte und Cafés sind zu, die Sonne scheint. Kein Motorengeräusch verdirbt den Tau zu dieser stillen Stunde, nur der Besoffene brabbelt und sabbert vor sich hin, und eine Weile torkelt er auch draußen in der Nähe der Tür herum und es sieht so aus, als ob er einsteigen könnte. Aber dann entscheidet er sich doch für die U-Bahn. Den totsicheren Blick dafür, ob einer fahren will oder nicht, den entwickelt man erst nach zwei Jahren. Wenn man jetzt eine Zeitung hätte. Nichts passiert. Aber am ersten Morgen ist man viel zu aufgeregt für eine Zeitung. Noch ist es nicht so weit. Jetzt geht vorne der erste Wagen weg, ich rücke auf und bin vierter. Eine Viertelstunde später dritter. Eine lange Zeit darauf zweiter. Ich berühre den Ganghebel 4 Krümel-Ecke = Der Taxistand an der Südwestecke der Kreuzung Kurfürstendamm/Joachimsthaler Straße. Hier befand sich lange Jahre (und all die Jahre des "alten West-Berlin über) das Café Kranzler. Der Name der "Halte" spielt also leicht abfällig auf die Kuchenkrümel an, die da vom Tische fallen. Der Taxistand hatte keine "Säule" (keine Telefonsäule), konnte also nicht von Kunden direkt angerufen werden, sondern es gab hier nur das Verkehrszeichen, daß Halteverbot aufgrund des Taxistands sei, und die Halte wurde auch nicht in der Funkvermittlung angesprochen, war also ganz auf "Laufkundschaft" ausgelegt. 2 der Automatik. Mein Finger fährt über den Knopf des Mikrophons, ohne ihn zu drücken. Oh, ich habe einen Heidenrespekt vor dem Funkgerät, ich verstehe das Kauderwelsch kaum. Ich habe, offen gesagt, mich hier angestellt, weil ich hier völlig der Eventualität aus dem Weg gehe, überhaupt einen Funkauftrag zu bekommen, denn Krümelecke wird nicht angesprochen5, und es gibt auch keine Säule hier - also auch nicht die Aufregung, im Angesicht der hämisch hinter einem stehenden Kollegen womöglich nach vorne gehen zu müssen wie auf eine Showbühne, erstmals mit dem Schlüssel die Blechtür aufzuschließen (aufzukriegen) und quietschend beiseitezuschieben, nach dem idiotischer- und überraschenderweise gußeisernen 5 Ansprechen = bezeichnet das Prozedere der Funkauftragsvergabe durch die Zentrale, das, man kann sagen, allerstrengsten Regeln gehorchte, gegen die zu verstoßen ein absolutes Sakrileg war, das einem als Minimum den augenblicklichen Hohn des gesamten Funkkanals eintrug. Die Auftragsvergabe funktionierte folgendermaßen: Die Zentrale "sprach die Halte an", etwa so: "Steht jemand Fehrbelliner?" (Fehrbelliner Platz) oder nur "Jemand Fehrbelliner?" oder gar auch nur "Fehrbelliner?" Dann wurde von einem erwartet, daß man blitzschnell reagierte und sich mit der Konzessionsnummer der Taxe meldete, die man fuhr, also z.B. antwortete: "Taxe vierunddreißig-siebenundneunzig." Blitzschnell heißt: Mit dieser Antwort hatte man etwa eine Sekunde Zeit oder höchstens so lange, wie die Zentrale ihrerseits gebraucht hatte, die Halte anzusprechen. Das erforderte ein ziemliches Training, funktionierte aber später annähernd reflexhaft, der Rhythmus von Frage und Antwort hatte sich einem eingeprägt. Hatte man sich korrekt gemeldet, kriegte man den Auftrag, d.h. die Zentrale sprach einen mit der Nummer an und nannte die Adresse, hier also z.B. "Taxe vierunddreißig-siebenundneunzig: Emser 15, Logenhaus" oder nur "Emser 15". Das mußte man erstens auf Anhieb im Funkrauschen verstehen und man hatte es zu "bestätigen", indem man es im einfachsten Fall wörtlich wiederholte und "danke" oder "danke, Frollein" dazusetzte. Es galt aber unter alten Hasen als chick und lässig, die Bestätigung so zu variieren, daß man sie nicht wörtlich wiederholte, aber trotzdem indirekt zeigte, daß man richtig verstanden hatte. Wenn es irgend ging, konnte man dabei nebenher irgendwie seine großen Erfahrungen andeuten. In diesem Fall hätte das etwa insofern geklappt, daß man, wenn die Zentrale nur die "Emser 15" genannt hätte, man seinerseits bestätigt hätte mit "Logenhaus, danke" - das ganze in möglichst breitem, etwas aggressivem Berliner Tonfall (während die Zentrale immer extrem hochdeutsch sprach). Durch verschiedene Faktoren konnte dieses ganze Prozedere allerdings noch verschärft werden. Man war während der ganzen Zeit an der Halte mit den Ohren hochgradig aufmerksam. Es konnte nämlich sein, daß vor einem noch eine Taxe der gleichen Funkvermittlung stand, was man an ihrem Symbol erkannte (z.B. grünes Dreieck = Innung, rotumrandetes weißes Quadrat = Ackermann-Funk, orangenes Oval = Cityfunk, gelber Würfel an der Antenne = Würfelfunk, keinerlei Symbol, dann war dies ein "Stummer", d.h. eine Taxe ohne Funkgerät). Falls also eine weitere Taxe der gleichen "Sorte" in der Reihe der Taxen vor einem stand, konnte es trotzdem passieren, daß dieser Fahrer "schlief", d.h. sich nicht meldete, dann hatte man in der halben oder viertel Sekunde, in der man - beinahe instinktiv - merkte, daß er sich nicht melden würde, Zeit, sich seinerseits zu melden, "Taxe vierunddreißig-siebenundneunzig", und jetzt mit dem Zusatz "als zweiter". Die Zentrale bestätigte einen: "Taxe vierunddreißig-siebenundneunzig zweiter?" und machte eine weitere winzige Pause. Es konnte einem dann passieren, daß der erste sich doch noch mit "Taxe sowieso, erster" "nachmeldete" - dann hatte er den Hohn des gesamten Funks und eventuell den der Zentale auf dem Hals ("Guten Morgen, Taxe sowieso, Emser 15" - dies bevorzugterweise um zehn Uhr abends), oder er schwieg, um eben dem aus dem Weg zu gehen, dann kriegte man den Auftrag auch als zweiter. Die Hauptregel galt, daß grundsätzlich Taxen an den Halten den Auftrag bekamen. Ich hab es erlebt, daß unerfahrene Kollegen sich nachmeldeten, weil sie objektiv dichter dran waren, in diesem Fall z.B. mit "Taxe sowieso, Emser 14 in Fahrt." Dem Kollegen begegnete dann eine Zentrale, die geradezu pampig sagen konnte: "Erste Meldung ist erst wieder nächsten Mittwoch, Taxe sowieso!" Vom Spott und Hohn der anderen Kollegen auf dem gesamten Funk ganz abgesehen. 3 und deshalb im Winter mörderisch kalten Monstrum von Hörer zu greifen - bloß nicht ans Ohr damit!-, "Taxiruf" zu sagen und dann zu lauschen, was man Aufregendes zu hören bekommt. Aber an diesem meinem ersten Morgen befand ich das als eine Übung für Fortgeschrittene. Und wartete deshalb lieber, wie gesagt, Krümelecke, inzwischen übrigens herzklopfend als aller-allererster an diesem sonnigen Sonntagmorgen. Als erster in der Schlange von inzwischen acht oder neun Taxen. Die Straße belebte sich etwas. Was hatte ich hinter mir? Monate des Auswendiglernens von "grünen" Listen: "Hermannstraße: von Hasenheide bis Britzer Damm, Hermesweg: von Albrechtstraße bis Am Stadtpark, Hermsdorfer Damm: von (damals noch) Karolinenstraße bis Am Waldsee", solcherart insgesamt 3500 Straßen berlinweit mit ihren Anfangs- und Endpunkten, 700 Plätze mit mindestens je drei abführenden Straßen. Bei großen Plätzen wie dem Südstern oder dem Olivaer Platz mußte man alle Straßen wissen, ferner sämtliche Seitenstraßen des Kudamm rauf und runter, sämtliche Plätze des Hohenzollerndamms etc., ferner 800 Objekte (Friedhöfe, Theater, Schulen, Militärmissionen), schließlich 1500 sogenannte "Zielfahrten" quer durch die Stadt (TfH Wedding bis Lankwitz,Kirche, Borsig-Villa bis S-Bahnhof Grunewald). Wochenlanges Rumfahren auch am Wochenende mit dem alten Privat-VW-Käfer, 100te von Kilometern quer durch Berlin, nur Straßen und Straßenecken angucken und sich merken, damit man mit den blödsinnig auswendig gelernten Listen irgendeine optische Vorstellung verbinden und sie sich so leichter merken konnte ... Und ich hatte über all das eine schriftlich/mündliche Prüfung im Ordnungamt C an der Friedrichstraße hinter mir, gegenüber der das Abitur und die Zwischenprüfung an der Uni seinerzeit wirklich der reine Scheißdreck gewesen waren. Aber ich hatte jetzt den begehrten PSchein (Personenbeförderungsschein) in der Tasche und ich hatte auch die Funkprüfung hinter mir und ich kam hier raus und hatte den Eindruck, wirklich von nichts eine Ahnung zu haben. Und jetzt will ich Geld verdienen und stehe hier seit einer halben Stunde. Und eine Dreiviertelstunde später bin ich immer noch erster und heule fast. Stundelohn DM Null. Und die Angst, daß gleich einer der Taxikollegen hinter mir aussteigt, nach vorn kommt und mir aufs Maul haut, weil es ausgerechnet bei mir nicht mehr "rutscht". Und da - siehe da - es geht bereits auf neun und ich habe einen Moment nicht aufgepaßt - wird hinten die Tür aufgerissen und ein Mann und eine Frau plumpsen in die schwarzen Lederpolster. Er um die vierzig, sie viel jünger. Er hat sie abgeschleppt, sichtlich. Sie: Nutte vielleicht. Ich seh sie nur im Rückspiegel. "Morjen", sagt er freundlich. "Wir fahren in die Togostraße". Sie sagt nichts. Wie die hier rein sind! Absolut bescheuert: Ich werde es nie vergessen, die Verwunderung: Man kann doch nicht einfach so in ein wildfremdes Auto steigen. Wer steigt denn da ein? Aber ich bin ja eine Taxe, denke ich: Man kann. Es rattert oben im Kopf. Togo. Wedding. Von See bis Swakopmunder, von der See links ab, wenn ich von der Amrumer komme. Ich kalkuliere die Verbindungsstrecke. "Über Moabit?" frage ich den Rückspiegel, wo sich unsere Augen treffen. "Ja," sagt er fröhlich, fahren Se ma über Moabit. Sie kennen sich aus, wa?" "Klar", sage ich. Er und sie haben keine Ahnung, daß sie "meine ersten" sind. Liebesgemurmel auf der Rückbank, indezente Griffe und Geknutsche und eindeutige gegenseitige Angebote. Und hinterher, anstatt zur nächsten Halte zu fahren, zum Kutschi6 nämlich, rase ich statt dessen, weil ich doch sowieso gerade hier im Norden bin, erst mal nach Hause, um Bericht zu erstatten: über meine erste Tour. Die Taxi-Jungfräulichkeit, sie ist dahin. 6 Kutschi = Im Jargon die Taxihalte Kurt-Schumacher-Platz. Außerdem wurde der Kutschi auch "Schuster" genannt. Auch alle möglichen anderen Straßen und Plätze hatten auf dem Funk alberne Namen, selbst wenn es 4 Und das war der Anfang einer langen Reihe von Erlebnissen, von Erlebnissen, Erlebnissen, Erlebnissen, Erlebnissen, Erlebnissen. Ich erinnere mich an die Zeit, wo ich nach Hause kam und referieren konnte, "also ich hab Schloßplatz angefangen, und das war eine alte Dame, die wollte zur Kühnemannstraße, und ich hab gleich Anschluß gekriegt, am Schäfersee, das war ein Senatscoupon, das waren zwei Kinder, die vom Hort abgeholt und zur General-WoynaStraße gebracht werden mußten. Dann konnte ich auf der Scharnweber greifen7, und der Typ wollte zur Ackerstraße an der Bernauer. Da war erst nix und ich bin zum Gesundbrunnen gefahren, hab einen Säulenauftrag gekriegt, an der Hoch- Ecke Wiesenstraße, und das war geil, denn die wollte nach Zehlendorf, und dann bin ich im Grunde den ganzen Tag nicht mehr aus dem Süden rausgekommen." Und ich erinnere mich daran, daß ich einfach gefahren bin, Straßen, Straßen, Straßen, und im Grunde nicht mehr wußte, welches die vorvorletzte Tour gewesen war. 110.000 Personen. 70.000 Touren. In fünf Jahren 580.000 Kilometer, so viel wie vierzehneinhalbmal um die Welt. Taxifahren ist Lernen. Taxifahren ist Funken und Funk verstehen: "Äi, Kollege, mach doch mal die Fackel 8 aus, oder wird det ne Sozialfahrt?" "Zentrale mal für 1439 9?" "Zentrale hört?" "Frollein, det Engelchen10 Max Ecke Anton war´n Pflegefall." "Is in Ordnung, 1439." - "Steht jemand Titadort keine Halte gab. Der Jakob-Kaiser-Platz z.B., das andere Ende des Kurt-Schumacher-Damms, hieß auf dem Funk immer fröhlich "Kaiser Jakob". ("Wo bist'n grade?" "Na, ick fahr hier Kaiser Jakob rum ...") 7 Greifen = das Aufnehmen eines Fahrgastes außerhalb einer Halte, wenn man einfach fährt und darauf wartet, daß jemand am Rand winkt. Greifen ist die angenehmste Art, einen Fahrgast zu bekommen, weil man vorher nicht das Warten hat, aber dem Greifen sind dadurch Grenzen gesetzt, daß man nicht unendlich lange leer herumfahren darf. Man muß wissen, wo und wann es wahrscheinlich ist, daß man greifen kann. Es wäre z.B. sinnlos, in Frohnau oder am Senftenberger Ring herumzufahren und darauf zu warten, greifen zu können. 8 Fackel = Bezeichnung für die gelbe "Taxi"-Leuchte auf dem Dach. Ebenso beliebt wie der Begriff "Fackel" ist dafür übrigens auch "Hungerleuchte". Die Taxileuchte erlischt automatisch, wenn man die Taxiuhr einschaltet. Und man kann sie natürlich per Hand ausschalten. Sollte also ein Fahrgast in der Taxe sitzen und die Fackel brennt trotzdem, so zeigt das, daß der Kollege die Uhr nicht eingeschaltet hat (bzw. daß er vergessen hat, die Fackel manuell auszuschalten), mithin: daß er "schwarz" fährt. (Darauf bezieht sich die Lästerei mit der "Sozialfahrt" - die Tour ist billiger für den Fahrgast.) Gelegentlich fährt man schwarz, wenn jemand einsteigt: "Komm fährst ma ma na Spandau, 25 Eier." 25 Mark liegt zwar unter dem regulären Fahrpreis, aber deutlich oberhalb der Hälfte dessen, und nur die Hälfte verdient man ja als Fahrer (42 - 45%, um genau zu sein), so daß bei dieser Art der Übereinkunft sowohl Fahrer als auch Fahrgast (natürlich auf Kosten des Taxibesitzers) mehr Geld verdienen bzw. etwas sparen. Zu oft kann man das sowieso nicht machen, weil sonst sehr schnell das Limit für "Leerfahrten" (denn die Uhr zählt "Schwarz"touren ja als Leerfahrten) überschritten ist. 9 1439 = Mal ein Wort dazu, wie Konzessionsnummern gesprochen werden: Vierstellige Nummern werden gewöhnlich in zwei Zweiergruppen auseinandergenommen: 1439 ist also "Taxe vierzehn-neununddreißig", 2183 "einundzwanzig-dreiundachtzig". Dreistellige oder zweistellige Nummern dagegen sowie Nummern in Verbindung mit Null werden einzeln gesprochen: "Taxe fünf-drei-eins", "Taxe zwo-sechs", "Taxe achtundvierzig-null-zwei." Hübsch sind Nummern, in denen sich Ziffern wiederholen: "Taxe 5-doppel-zwei" (522), "Taxe einunddreißig-doppel-sieben" (3177), "Taxe doppel-eins-vier" (114 - nicht etwa "elf-vier", obwohl das kürzer wäre), auch: "Taxe drei-mal-die-vier" (444). "Taxe Doppel-drei-vier-null" (3340) ist ein Zweifelsfall und dürfte sich wohl auch "Taxe dreiunddreißig-vierzig" nennen. 10 Engelchen = Bis in die endsiebziger oder achtziger Jahre hinein gab es in Berlin neben "Schultheiß" und "Berliner Kindl" eine dritte große Brauerei, die Kneipen konzessionierte: "Engelhardt" (über diese Biersorte kursierten sowieso allerlei unanständige Reime). "Engelhardt"-Kneipen jedenfalls rangierten auf dem Funk als "Engelchen". Es soll hier nichts gegen diese verblichene Firma gesagt sein, aber es gab sonderbarerweise eine ganze Reihe Lokale, die eindeutig der untersten Kategorie zugehörig waren (was sich daran festmachte, daß man hier gewöhnlich nur sehr betrunkene Personen abholte), die alle ausgerechnet der "Engelhardt"-Kette 5 nia11? - Ottos Pinte mit rauchendem Hund?" "3115 Schloss in Fahrt." (Bestätigung der Zentrale:) "3115 Schloß in Fahrt." "2455 in der Jever." (Nachmeldung) Damit ist, sofern Titania keiner steht, 2455 mehr als 300 Meter besser und kriegt den Auftrag. "Taxe 458, du bist hintenlinks blind 12." "Danke." "Hat jemand Achim gehört?" "Ja, der war vorhin auf´m Dritten13." "Dritten, danke." "Aber doch nicht in die Vermittlung, Kollegen!" schimpft die Zentrale. Wenn es auf zehn geht und man gerade auf dem 3. fährt, kommt immer von irgendwem die Anfrage: "Frollein, ma den Speisezettel?" Dann verliest die Zentrale die Zeiten, zu denen die diversen Theater, die Oper, die Philharmonie gemeldet haben, daß sie mit ihren heutigen Vorstellungen zu Ende sind. Das merkt man sich. Und wenn es hieß: "Schiller 22 Uhr 30", und man kreuzt um die Zeit vielleicht gerad an der Leibnitz rum, dann fährt man eben kurz vorher hin, und so kommt es, daß die Leute, die frisch aus irgendeinem Theater treten, sich einer Flut von erwartungsvoll gelben Hungerleuchten gegenübersehen, die sie noch gar nicht bestellt haben. Manchmal auch die Stimme, der man anhört: Der Kollege ist seit 30 Jahren auf dem Bock. Er sagt: "Jemand hier, der mich mag?" (eine andere Stimme:) "Heinz, mein Schweinchen , komma in'n Keller14." Wenn man aus Interesse mitschaltet, hört man drüben auf dem anderen Kanal das Gespräch weitergehen: "Ernst, meine Sonne, wo biste denn?" "Na, ick fahr hier an da Gritzner rum, 2 Flaschen Pommery, Players Special und 4 Pizza Vulcano für die Mädels in angehörten. Die allzu Betrunkenen, d.h. die nicht mehr beförderungsfähigen Fahrgäste wurden auf dem Funk gewöhnlich als "Pflegefälle" oder "Frollein, det war wat für die Müllabfuhr" tituliert. 11 Titania = die Halte auf dem zweiten Kanal am Walter-Schreiber-Platz in Steglitz. Hier gab es, neben dem jetzigen Forum Steglitz, aus den 2oern bis in die 60er Jahre hinein den "Titania-Palast", eine große Theater- und Revue-Bühne, in der Funktion ähnlich dem "Theater des Westens" oder dem "Friedrichstadtpalast". Wurde dann abgerissen wie der Sportpalast. Die Bezeichnung auf dem Taxifunk für den Taxistandplatz beweist viel Anhänglichkeit an Altes, viel Traditionsbewußtsein, denn auch noch 20 Jahre nach dem Abriß hieß diese Halte "Titania". (Vgl. "Reimann") 12 Blind = Taxifahrer machen sich sehr sorgfältig, wirklich sehr kollegial und ernsthaft gegenseitig per Funk auf Gefahrensituationen aufmerksam (hinten links blind = Dein linkes Rücklicht ist ausgefallen), auch "Dein Fahrgast soll mal die Tür zumachen", wenn die Tür nicht ganz eingeklinkt ist, oder "Kollegen, Vorsicht an der Monumentenbrücke - völlig vereist", wie ja auch vor Blitzern gewarnt wird: "Der Rote in der See" oder vor Staus: "Tegler Weg ist dicht." Auf dem Funk oder im Gespräch an der Halte wird grundsätzlich geduzt (auch wenn man die Kollegen nicht kennt!); die Zentrale siezt selbst und wird gesiezt. 13 Auf dem Dritten = Auf dem Innungsfunk war das alte West-Berliner Stadtgebiet eingeteilt in vier Vermittlungskanäle und einen "Quatsch"-kanal (keine Ahnung, wie es heute ist); andere Funks handhabten es damals schon anders, Ackermann z.B. hatten nur zwei Vermittlungskanäle - auch die Regeln generell differierten, bei Ackermann war z.B. die Weitergabe von Blitzern absolut tabu. Der dritte Kanal auf dem Innungsfunk (grünes Dreieck) war der "City"-Kanal, mit straßengenau bekannter Grenze: mehr oder minder die Bezirke Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf, und es war dies in der Regel der "belebteste" Kanal, der Zweier war der ganze Norden (Moabit und nordwärts) und Westen (Westend, Spandau etc.), der Einser war der komplette Südwesten (Steglitz, Dahlem, Lichterfelde-West, Zehlendorf, Wannsee) und der Vierer war im großen und ganzen Tempelhof und Neukölln (incl. Buckow, Rudow, Mariendorf, Marienfelde, Lichtenrade, Lichterfelde-Ost und -Süd etc.). Wenn man durch Berlin fuhr, schaltete man bei Überfahren einer dieser "Grenzen" quasi gewohnheitsmäßig-automatisch das Funkgerät um - ich spüre gewissermaßen heute noch diesen Drehknopf mit der einzelnen Raste in den Fingern. 14 Keller = der fünfte Funk-Kanal, der Nicht-Auftrags-Vermittlungskanal, der "Quatsch"-kanal, auch einfach bezeichnet als "Komm 'ma rüber" oder "Schalt mal" oder "5", der Kanal, auf dem man sich mit Freunden unterhalten oder verabreden konnte, Fragen stellen konnte, Hinweise erhielt (es durften aber keine "doofen" oder Anfängerfragen sein!!!) oder wo man am Anfang der Schicht die Blitzer erfuhr. 6 der Diskett Bar, und wo bist Du?" "Du, ick wollte eigntlich zum RIAS, da jehn doch um achte die Coupons15 raus, aber Durlach16 standen se schon wieder hinten raus, und jetz bummel ick hier die Detmolder hoch." "Na, da biste doch in da Nähe, könnwa uns doch sehen." "Needu, ick kann gerad laden, da winkt eena. - Warte mal, ick sag Dir, wo´t hinjeht." Pause. Nach einer Weile: "Biste noch da?" "Na, ick lausche doch." "Spandau, Ohrenschmalz und Popel17." "Na, wer saachts denn. - Jut, du. Paß uff, Heinz: Hier am Bach18 is Null. Ick muß gerad ma schalten.19" "Klaro, bis denn..." Oder die Aufträge: "Ich brauche aber ein Rauchertaxi." "Ich brauche aber ein'n Mercedes." "Ich habe aber ne große Dogge dabei." "Zentrale, mein Gast hat sich gerade ausgekotzt, was soll ick machen?" "Zentrale Wieland Ecke Hedwig, VU20 mit Selbstbeteiligung, 2 Personen eingeklemmt." "Mal´n Kollege mit Etablissements rüber auf 5 21, bitte." Da sollte man sofort schalten. Vielleicht lernt man eine neue Adresse oder man kann sich und den anderen zeigen, wie gut man ist, wenn man helfen kann. "Also: Wat willst´n wissen Kollege?" "Ja, saachma, Nähe Brandenburgische, 'n Puff." Kann doch nur das 'Rasputin' sein, denke ich, Münstersche 11. "Fahr mal int 'Rasputin'", rät ein älterer Kollege, "Münstersche 11." Na, bitte, denke ich. Oder Saunen. "Wat willst'n für ne Sauna?" "Na, im Süden." "Na, und wat für eine?" Antwortstimme des unerfahreneren Kollegen: "Er sagt, er möchte in eine Herrensauna." "Also Schwule werden bei uns im ‚Apollo' immer vorzüglich bedient", sagt der ältere Kollege ziemlich deutlich. "Und wo ist das Apollo?" fragt der jüngere verzagt. "'Apollo', Nürnberger Kurfürsten!", sagen mindestens fünf Kollegen ziemlich ungehalten und sie sagen es gleichzeitig, und der Neue erfährt auf diese Art, daß er wieder etwas eigentlich schon längst hätte wissen müssen. 15 Coupons = Verschiedene "Großkunden" bezahlten bargeldlos mit Coupons, die rechnete man mit der Taxifirma nach Schichtende ab. Es gab Senatscoupons, da holte man behinderte Kinder von Schulen oder Kitas ab, Firmen wie Siemens oder AEG arbeiteten teilweise mit Coupons und eben auch der RIAS (Radiosender im amerikanischen Sektor) in Schöneberg. Couponfahrten waren unaufregend, es gab selten Trinkgeld - aber andererseits konnte man sicher sein, daß man keine Probleme haben würde mit Besoffenen, zahlungsunwilligen Fahrgästen oder gar Überfällen. 16 Durlach = Der Taxistandplatz Bundesalle Ecke Durlacher Straße, der u.a. für den RIAS zuständig war. Abends gegen acht, zur Zeit des Schichtwechsels im RIAS, war Durlach eine phantastische Halte ... "Standen se schon wieder hinten raus..." heißt, daß so fürchterlich viele Taxen sich angestellt hatten, daß sie nicht einmal mehr auf die Halte paßten. 17 Ohrenschmalz und Popel = Im Taxijargon die seinerzeit wirklich bedeutende Firma "Ohrenstein&Koppel" am Brunsbütteler Damm in Spandau, die Busse bauten ... lange abgewickelt ... 18 Bach = Taxihalte Breitenbachplatz - ein "gute" Halte, weil von hier eine ganze Reihe Lokale angesprochen wurde, nicht zuletzt die "Eierschale", damals - über Jahrzehnte - das Jazz- und Studentenlokal überhaupt. "... ist Null" heißt: die Taxihalte war leer, kein Taxi da. So etwas hatte man gerne: Wenn man hier anlegte, war man - Funkauftrag, Säule oder Laufkundschaft - eins, zwei, drei wieder weg und mit einem Auftrag unterwegs. Wenn eine Halte "Null" war, hieß es, daß sie offensichtlich gerade sehr gut "lief" ... 19 "schalten" = hier gemeint: zurückschalten auf den Vermittlungskanal, in dem Fall den Einser, um zu hören, ob der "Bach" "angesprochen" wird. 20 VU = (Vau-U = Verkehrsunfall). Eine VU-Meldung mit Personenschaden ging absolut vor und unterbrach jede Auftragsvermittlung, man konnte der Zentrale ins Wort fallen: die einzige Gelegenheit. Drei Dinge waren bei der Meldung eines Verkehrsunfalls über Funk wesentlich, und zwar in dieser Reihenfolge: Die Adresse natürlich, ferner ob man selbst darin verwickelt war, drittens, ob es Verletzte gab. Häufig wurde dieser formelhafte Meldungsablauf sogar verkürzt: "Frollein, VU Berliner-Blisse ohne-mit ..." (ohne Selbstbeteiligung, mit Verletzten) oder dementsprechend "... mit-ohne" (mit Selbstbeteiligung, aber ohne Verletzte ...) 21 Rüber auf 5 = siehe FN14 "Keller" 7 Ich fahr lieber in den "CC-Club", Lietze 96, da gibt es "Handgeld" für jeden Fahrgast, den man abliefert: 50 Mark auf die Hand, wenn der Gast das erste Bier bestellt hat. So lange muß man warten, zwischen Spiegel, Plüsch und sehr freundlichen, zutraulichen und tiefstdécolletierten Damen, die einem dabei echten Hennessy servieren. "Schlepperdienste" nennt es das Strafgesetzbuch, ist verboten, aber in einer guten Nacht kann man zwei Blaue auf diese Weise machen. Taxifahren, das ist der Mythos von der schnellen Mark. Manchmal, sehr selten, stimmt es sogar, meistens nicht. Ich werde Reimann22 erster angesprochen und kriege die "Irish Harp". Motor an, Automatik rein, Gas voll durch, Taxis sind nämlich ziemlich lahme Kisten (300er Diesel Automatik, früher war Diesel sogar noch mit Vorglühen, jetzt nicht mehr)."Die ‚Harfe', danke." Das Mikrofon reinknallen in die Halterung, rücksichtslos links runter von der Mittelinsel - man lernt die kleinen Lücken im Gegenverkehr abschätzen, notfalls muß eben mal gebremst werden. - Also 20 Meter zurück, rein in die Giesebrecht: Einbahnstraße: Autos beidseitig eng geparkt, vor bis zur Ecke Sybel, zwanzig Sekunden seit dem Auftrag. Automatik auf P, Tür auf und zu, rein ins Lokal, alles Reflexbewegungen. "Tach, die Taxe ist da." "Na und?" sagt der Wirt und poliert Gläser. Ich stehe da wie ein Idiot, ich habe heute Pech. "Von hier hat keiner angerufen", setzt er hinzu. Glaube ich ihm glatt, der Laden ist ziemlich leer. "Und wer zahlt mir die Anfahrt?" - Das fragt man als Nicht-Anfänger natürlich nicht mehr, man würde nur Schulterzucken ernten. Also raus aus dem Lokal, Wut im Bauch, rein in den Wagen, die Uhr abstellen, 2 Mark 80, weiß: muß trotzdem meinen Teil davon im Büro abgeben, so als ob ich sie wirklich verdient hätte. Die 3. Fehlfahrt23 heute, Scheiße, und eine dreiviertel Stunde an der Halte verplempert, also wieder hinten anstellen, oder lieber woanders, erstmal die Wut rausfahren aus dem Bauch, vielleicht mal rüber, gucken fahren, wie viele am Stutti24 stehen. Bloß nicht zurück zum Reimann, wenn sie dich da angesegelt kommen sehen ... Zwei Minuten später am Stutti, naja, war ja klar um die Zeit, steht der letzte hochkant 25. Mikrophon: "Frage mal Savigny?26 " "Bleib bloß weg", sagt eine sehr saure Stimme. "Na 22 Reimann = die Taxihalte Kurfürstendamm Ecke Leibnitzstraße, auf dem Mittelstreifen des Kurfürstendamm. Es soll in den 50er-Jahren auf der Ecke (auf dem Block zwischen Leibnitz- und Giesebrechtstraße mal ein Café namens "Reimann" gewesen sein, lange, lange vor meiner Zeit. Ähnlich wie bei "Titania" zeigte sich hier bei der Haltenbezeichnung ein ungeheurer Konservativismus ... 23 Fehlfahrt = Sammelbegriff für jene Touren, die beendet waren, eh sie recht begonnen hatten: Man wurde irgendwo hinbestellt - und dann war niemand da. Entweder hatte der Fahrgast vorher eine andere Taxe gekriegt, was kaum möglich war, sofern man schnell war, oftmals waren es aber auch einfach nur pure Streiche irgendwelcher Idioten. Ich habe es erlebt, daß nachts um zwei zwanzig Taxen zur Titiseestraße in der Rollbergesiedlung bestellt wurden – in so einem Fall nimmt man als Taxifahrer an, daß dort irgendeine größere Feier zuende geht. Und dann fuhr man hin, stand mit 20 Kollegen herum, und niemand kam aus den Hochhäusern herunter, und dann sah man plötzlich oben im achten Stock zwei, drei Leute hinter dem Vorhang feixen ... Ich bin auch zur Lynarstraße 22 in Spandau bestellt worden - die Adresse entpuppte sich als leeres Ruinengrundstück ... 24 Stutti = Taxihalte Stuttgarter Platz, vor dem S-Bhf Charlottenburg. Hier kriegte man eine Menge üble, halbseidene Lokale und Puffs anzufahren ... 25 ... steht der letzte hochkant = Funkformulierung, hübsches Bild dafür, daß kein Platz mehr auf der Halte ist, weil schon so viele Taxen anstehen. Es lohnt sich also nicht hinzufahren. Ähnlich beliebt wie "viereckig" oder "Hier steht man sich die Reifen viereckig". Das konnte man phantasievoll variieren, z.B. mit " allet voll Spinnweben hier ..." Bilder langen Warten-Müssens eben ... 26 Frage mal Savigny = "Savigny" ist natürlich die Halte Savignyplatz. Die Floskel "Frage mal", im Berliner Tonfall zu einer Art "Fraama Poldi" (Leopoldplatz) verkürzt, war die offizielle Anfrageformel dafür, daß man wissen wollte, wieviele Taxen an einer bestimmten Halte anstanden, 8 dann fraick domma die Oper." Ein breites, müdes: "5." "Am BB27 kommt'n Dampfer rein", schreit eine aufgeregte Stimme. "Mann, mach do‘ ni‘ sone Reklame, wir sind do‘ schon alle da", sagt ein Kollege. Also rase ich wie ein Blöder im Nach-Theater-Verkehr die Neue Kantstraße hoch, um am Busbahnhof auch noch was abzukriegen. Vielleicht bin ich in einer Viertelstunde in Spandau (in Klammern 22 bis 25 Mark) oder sogar in Buckow (35 Mark). Vielleicht aber auch bloß wieder in der City: für 6,80, mit viel Schwein. Du fährst und hörst dir von den Fahrgästen 1000 Sprüche an, abgelatschte, gefährliche und irre Meinungen. Gleichzeitig mußt Du auf den Funk aufpassen, ständig genau hinhören, Bescheid wissen und von einer Sekunde zur anderen und in der besten Form Deinen Standort verkaufen. Falls Du noch einen Fahrgast drin hast und erste Meldung läuft28, mußt Du überlegen, wieviel Minuten Du zu Deinem jetzigen Fahrziel und dann von da zu dem ausgerufenen Auftrag noch brauchst. Gleichzeitig tastest Du nach dem Mikrofon, reißt es aus der Halterung und drückst in der richtigen 100stel Sekunde die Sprechtaste, damit Du als erster "oben ankommst". Du bist stets überfordert mit dem Auto, dem Funk, dem Verkehr und dem Fahrgast gleichzeitig. Später bekam ich eine Taxe, (3497), mit deren Funkgerät konnte ich alle anderen vom Kanal drücken, das war gut. Nach einem halben Jahr fahre ich nur noch nachts. Nachts wächst der Anteil an großen Partien. Der Verkehr ist nachts flüssiger, schneller, es wächst das Gefühl, lange Strecken schneller zurückzulegen, es wächst das Gefühl für das Auto. Nachts fahren andere Leute als tagsüber. Es gibt nächtliche Subkulturen. Es fehlen die Familien, die älteren Leute. Die Nacht erfordert besondere Anstrengungen der Sinne. Sie hüllt nebensächliche Wahrnehmungen ins Dunkel. Häuser verschwinden ganz aus dem Blick, die Scheinwerfer schneiden Tunnel. Das Sehen konzentriert sich auf eine kaleidoskopartige, ständig neu zu interpretierende Struktur aus bunten Blinkern und Rücklichtern geradeaus vor Dir oder in den Außenspiegeln. Das Schweifen des Blickes geschieht nur noch sicherheitshalber, ob die Straße wirklich die erwartete ist, in die man gerade einbiegt, selbst das Lesen des Straßenschildes ist kein eigentliches Lesen mehr, nur noch ein Vergleichen eines optischen Erscheinungsbildes mit dem, was man erwartet, falls es überhaupt gelesen werden muß. Nichts lenkt den Taxifahrer in der Nacht ab, er beobachtet nur noch ein begrenztes Feld. Lichter, Umrisse von dunklen Fahrzeugen, Ampeln, die weit voraus gesehen werden, deren Phasen man kennt und deren Ort sowieso bekannt ist. Einen Fahrgast, der links oder rechts am Rand steht, übersieht der Fahrer nie. Seine Bewegung erwartet er. Nachts ist jeder Passant ein möglicher Fahrgast, den das herannahende Taxi manchmal erst zu dem Entschluß veranlaßt, es zu benutzen. Das muß ich im voraus bedenken. Darum wandert der Blick des Fahrers unablässig und auf große Entfernung über die Reihen damit man sich eventuell die Zeit sparen konnte, hinzufahren. Dann meldete sich dort ein Kollege mit der Zahl "drei" oder "acht" - je nachdem, und man selbst dankte dann: "Danke." Es kam auch vor, daß man die Auskunft bekam: "Vier im Vorbeifahren." Das hieß, daß ein gerade vorbeifahrender Kollege geantwortet hatte, weil momentan offenbar keiner von der eigenen Sorte da stand, so daß man, wenn man hinfuhr, mit ein bißchen Glück bald einen Funkauftrag bekam. Bei all dem mußte man bedenken, daß der gesamte Funk Anfrage und Antwort hörte. Wenn also eine günstige Auskunft kam, hatte man u.U. schlafende Hunde geweckt, und wenn man hinfuhr, standen inzwischen ver vor einem. Aus dem Grund war es z.B. unfein zu antworten: "Null im Vorbeifahren." Sondern dann schwieg man einfach, sofern man sah, daß die Halte null war. 27 BB = die Halte vor dem Busbahnhof am Funkturm. Busse waren übrigens immer "Dampfer" - keine Ahnung, warum - besonders lustig ist es ja auch nicht ... Am BB hatte man eine gute Chance auf lange Touren, weil es statistisch unwahrscheinlich war, daß die Leute, die mit dem Bus ankamren, ausgerechnet in der unmittelbaren Umgebung desselben wohnen sollten ... 28 Erste Meldung = wird weiter unten im regulären Text erklärt ... 9 der geparkten Autos und die Gehwege. Jemand, der sich auch nur kurz umsieht, veranlaßt den Fahrer bereits zum Aufmerken. Ein Mensch, der nachts geradlinig aus der Kneipe geschossen kommt, will fast immer ein Taxi. Das alles auf sehr große Entfernung wahrgenommen. Auf 300 m veranlaßt das leiseste Zögern eines nur schemenhaft sichtbaren Menschen, der die Fahrbahn überschreitet, schon zur Konzentration, ich sehe bei sich verringernder Entfernung das Gesicht des Fußgängers sich im Zuwenden als etwas helleren Punkt. Dann das Winken. Längst schon damit gerechnet. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich über mir die ewigen Lampenketten dahinziehen, Sonnenallee, Hermannstraße, Lichtenrader Damm, Mariendorf, See, Osloer, Buttmann, Wedding. Erfahrung nutzt: Ich stehe um halb drei nachts am Schloßplatz, Tegel, fast zu Haus, hab gegessen, es ist Herbst, es ist kalt, AFN ist an, das Pflaster draußen beschlagen, feucht, nicht naß, so daß sich drüben die Reklame vom Brillenladen und von Eisen-Staschke hinter der Bushaltestelle nicht spiegeln können. Ich bin dritter, aber erster von uns, vor mir ein Stummer und ein Ackermann. Über Funk kommt der Schloßplatz, ich bin längst bereit. "Taxe 3497", sage ich in meiner dunklen Kabine. "Taxe 3497", sagt das Fräulein, das heute nacht auf dem 2er-Kanal ein Mann ist (offizielle Anrede trotzdem "Fräulein", worüber ich mich zu Anfang glatt hätte wegschmeißen können), "Taxe 3497", sagt er, "Wilke 7, Dauer zu 40." "Das Kotelett", sage ich, "schönen Dank." Deshalb stehe ich ja da, denke ich, wieder mal geklappt. Im Klartext: Wilkestraße 7, unten am Wasser, um 20 vor 3, fährt jeden Morgen ein Mann zum Fruchthof Beusselstraße und gibt reichlich Schmalz - wir kennen uns schon - und der Auftrag geht eben, das weiß man, 10 Minuten vorher raus. Aber häufig habe ich nicht das Glück. Ich habe es zwar extra so abgestimmt, bin vorher extra nach Hause gefahren, noch etwas essen, Pause machen und stehe rechtzeitig am Schloßplatz. Aber andere kennen den Dauerauftrag natürlich auch, und als er kommt, bin ich noch zweiter oder dritter, oder ich war erster, aber zwei Minuten vorher ist einer bei mir eingestiegen und will nach Konradshöhe. Und dort, zwischen Wald und Wasser, bin ich dann am Arsch der Welt und habe eine lange Leerfahrt zurück, während ich am Fruchthof, in relativer Citynähe, bald Anschluß gehabt hatte. Überhaupt die Daueraufträge. Manche sind natürlich auch mau: Kurztouren. D.h., man muß sie schon kennen. Dazu muß man sie mindestens einmal gefahren sein und sie sich verläßlich merken. Ich hatte zum Schluß ein Repertoire von 10, 15 Daueraufträgen, über das ganze Stadtgebiet verteilt, welche zu jedem denkbaren Zeitpunkt der Schicht. Wenn man dann gerade in der Nähe war ... Ging's auf vier und ich war Nähe Gropiusstadt, stellte ich mich Wutzky hin (wenn die Halte einigermaßen leer war), weil hier um vier der Dauer nach Tegel (Flughafen) rausging. In Spandau Halte Cautius gab's um zwei immer eine sehr schöne Tour nach Wannsee, allerdings war das Wegkommen von da unten um die Zeit immer ein Problem. Außerdem, siehe oben, brauchte es Glück, Daueraufträge abzustauben, weil man nie der einzige Anwärter war. Tegel, Schloßplatz, in der Stunde nach Mitternacht: eine ganz andere Klientel. Da wird einer privat aus 'nem Auto raus abgesetzt, das wendet und zurückfährt, er rast runter zur U-Bahn, dann kommt er wieder hoch, noch ganz außer Atem. Ich hätte ihm vorher sagen können, daß der letzte Zug um 41 gefahren ist. Dann steigt er bei uns ein und will meinetwegen zum Wedding. Der Wedding, ein heißes Pflaster, nachts. Meinetwegen das vorerwähnte Engelchen, Max Ecke Anton. Ein böses Lokal, habe ich zum Schluß nicht mehr angefahren, obwohl sie gute und permanente Kunden sind, weil sie da wirklich nur Pflegefälle raustragen. "Frollein mal für die 3497." "3497, ich höre Sie", sagt er. "War für die Müllabfuhr, hab abjelehnt", sage 10 ich und schalte die Uhr aus. "Ach, Sie Armer", sagt die Zentrale. Man sagt es für die Kollegen, falls der Auftrag wiederholt wird. Meist nimmt aber doch irgendwer den Auftrag an, er braucht nur gerad ahnungslos vom anderen Kanal gekommen sein. Und ich, ich fahre dann die Schul, die Luxemburger, Putlitz, Strom, Bach, 17. Juni runter zum 3. Kanal, da ist mehr los als hier oben auf dem 2er. Meistens, wenn man Schloßplatz steht, kriegt man "Buschtouren": Heiligensee, Tegelort; am schlimmsten ist Frohnau, da ist der Rückweg am längsten, und die Säule Zabel-Krüger gibt es noch nicht so lange. Zabel-Krüger kann man sich gut hinstellen, auch nachts. Wenn man Glück hat, ist Senfte null, wenn ein Auftrag kommt: Finsterwalder oder Wentowsteig, und da rutscht man dann schnell mal rüber. Ohrenstein und Koppel, vorerwähnt, am Brunsbütteler Damm, die bauen Busse, Dauerkunden bei der Innung, und der Nachtpförtner fährt jeden Morgen nach dem Dienst nach Neukölln, Weisestraße 11, und dann, danach, komme ich runter zum Herrmann, und wenn man mal in Neukölln ist, kommt man nicht wieder raus. Das lehrt die Erfahrung. Wenn es Dich irgendwann in Deiner Schicht nach Neukölln verschlägt, bleibt es auch für den Rest der Schicht Neukölln, das ist klar. Du kommst einfach nicht raus. 1000 Mal bin ich die Hasenheide, Südstern, Gneisenau, York, Yorkbrücken Richtung City langgefahren - spätestens an der Urania in der Kleist winkt wer und will zurück zum Michael-Bohnen-Ring oder anderen solchen Plätzen, wo die Vopos ins Schlafzimmer gucken - nie vorwärts, nie nach Westen, Süden oder in den Norden - immer zurück. Du kommst nicht raus aus Neukölln. Zurück statt dessen: Aaronstraße, Dieselstraße, Kiehlufer. Zum Fürchten die Gegend bei Nacht. Zu einer Stoßzeit, z.B. wenn die Theater schließen, wenn es gleichzeitig regnet, werden die Taxen knapp. Wenn dann deswegen womöglich "erste Meldung" ist, in den späteren Jahren zunehmend weniger - aber ich habe es noch erlebt: Dann liegt das Geld buchstäblich auf der Straße. Dann geht es eine Viertelstuinde oder 20 Minuten lang zu wie auf einer Rinderversteigerung in Chicago. Die Zentrale peitscht die Aufträge im Viererpack oder im halben Dutzend raus, fast schneller als ein normaler Mensch sprechen kann: "Herder 16, Grolmann 23, Ludwigkirch 8, Nikolsburger 24, Blisse 62, Bleibtreu 45, Mommsen 12?" - dann dieser Sekundenbruchteil Stille, in den rein die Meldungen bzw. das Rauschen knallt - hier unten in der Taxe kein einziges Wort zu verstehen, das furchtbare Geräusch kommt daher, daß 30 oder 40 Kollegen gleichzeitig nach einem der Aufträge hopsen - ich selber melde mich mit meinem Brutalo-Funkgerät und einer winzigen, kalkulierten Verzögerung, so daß ich oben als letzter (und hör- und sichtbarster) ankomme, für die Grolmann, weil ich in einer Minute am Savigny entladen kann und zufällig genau weiß, auf welcher Seite des Platzes und in welcher Höhe die Nummer liegt. Obendrein vermute ich, daß es das "Florian" ist, denn das "Florian" ist in der Grolmann 23. "14-doppel-6 für die Mommsen", höre ich, als ich den Finger vom Knopf nehme, gerade noch die Zentrale bestätigen, und "3497: Grolmann 23, 'Florian'", "'Florian', danke," sage ich, kaum Zeit für die Bestätigung, bevor 6 neue Adressen rausgehauen werden, in Teilkombination mit den alten, nicht verkauften oder, wenn die Auftragsfolge zu schnell kommt, 6 neue Adressen, dann werden die alten in 30 Sekunden neu zusammengefaßt wiederholt. Dann rast man von einem Auftrag zum anderen, hofft, nicht aus der City rausgetragen zu werden und meldet sich für die nächste Tour bereits, kaum daß man den vorigen Gast geladen hat und weiß, wohin es geht. Und man hofft natürlich, daß "erste Meldung" möglichst lange anhält. Oh, wie ich ihn liebte, den nervös schlechtgelaunten Spruch der Zentrale, plötzlich, in die normale, flotte Vermittlung rein, wenn die Zettel oben auf dem Schreibtisch nämlich schneller eintrafen, als sie abgearbeitet werden konnten: "Also Kollegen, wir machen jetzt mal erste Meldung." Manch fröhliches "Schade, Frollein", war dann auf dem Kanal zu hören. 11 Oder das Gegenteil: Nachts irgendwo einsam, Stille im Funk. In der Nacht, warm im Auto. Leise Musik, völlig allein. Eine Stimme: "3497 da?" Griff zum Mikro. "Ja", sage ich, "komm ma rüber", oder: "Schalt ma." Dann gehen wir auf den 5ten und: "Haste schon gegessen?" "Nee, noch nich." "Wie lange bleibsten draußen?" "6, halb 7, und Du?" "Au, ick muß länger machen, det lief nich. - Kommste nachher in'n 'Holzwurm?' Gegen vier. Marita is auch da." "Is gut", sage ich. Er: "Du kriegst noch 20 Mark von mir." Taxifahren ist Schizophrenie, besonders zu der Zeit, als ich schon in der Schule war. Morgens Lessing und Goethe, Drittsemester, Grundkurs. Nachts irgendeinen verklemmten Perversen aus Bremen im Fond, der mich fragt: "Sagen Sie mal, Sie kennen doch Adressen?" Klar, sicher kenne ich Adressen, wie er sie meint, alle Preislagen, alle Konditionen. Solche Typen sind immer höflich, und dann stellt sich heraus, er hat was vom 'Babystrich' gehört, und "Wo ist denn das?" - und da will er hin. Und dann wird aus dem Auto heraus verhandelt, häufig vom Beifahrersitz aus. Es ist, als ob die Typen sich vorne beim Fahrer sicherer fühlten. Sie haben alle Angst. Meistens wird es ja sowieso nichts, aber manchmal klettern sie nach hinten und laden das Mädchen ein. Dann fährt man ein bißchen in der Gegend rum, meistens wollen die Mädchen nicht ins Hotel, und dann ist es ja auch schon vorbei, es lohnt ja kaum, und erst setzt man das Mädchen wieder da ab, wo sie eingestiegen ist, und ein paar hundert Meter später oder direkt in der City ihn, wo er schnell zwischen den Leuten untertaucht. Vorher: Prüfender Blick bei Licht nach hinten, ob es extra kostet, wenn er aussteigt. "Every night I have to clean up the back seat", sagt Robert de Niro in "Taxi Driver". Ist mir nur einmal passiert, und da waren es eine, schien mir, gar nicht mal so schlimm besoffene Frau im Pelzmantel und ihr Gatte im Smoking, die ich aus dem "Avec" in der Mommsenstraße abholte - das ist eines von den besseren Lokalen - und nach Dahlem brachte. Er erzählte mir noch, daß es der soundsovielte glückliche Hochzeitstag sei, und kaum hatte er ausgesprochen, kotzte sie direkt hinter mir gründlich das Auto voll, das kam heraus wie bei einem Wasserfall. Dann heulte sie nur noch. Ich schmiß sie beide raus. Er entschuldigte sich ungefähr 2000 mal, gab mir 100 Mark extra, was viel zu wenig war, denn den Rest der Nacht erledigte ich an der Shell-Tankstelle Konstanzer Ecke Hohenzollerdamm die Ekelarbeit, stinkende Erbrochenreste aus den Noppen der Ledersitze zu pulen und das Leder immer wieder zu waschen. Gegen den Geruch ist sowieso erst mal kein Kraut gewachsen. Man kann natürlich diese kleinen Tannen hinhängen, aber Wunder wirken die auch nicht. Sonderbar, mit den Besoffenen: Die echten, die richtigen Trinker, die kaum noch lallen können, wenn sie einsteigen, die mit der Zigarettenhand schwanken, daß sie kaum noch den Mund finden, die als Fahrtziel erst mal 5 Minuten lang angeben: "Na na Hause, Junge" oder " Zu meim Freund Paul, kennste Paule nich?" die beherrschen das wenigstens elegant mit dem Suff - so einer kotzt einem nie das Auto voll. Schizophrenie und Rotlichtmilieu. "Lady Nina, Lietze 54, einmal klingeln", bestätigt man der Zentrale, fährt hin, klingelt, meist passiert erst mal gar nichts, woran man gewöhnt sein muß, dann kommt aber eine junge Frau runter, meist eine Thailänderin, des Deutschen nicht mächtig, und zeigt einen Zettel vor mit der Adresse von dem Typ, der sie hinbestellt hat. Oder: Wenn man Wald-Turm angesprochen wird, kommt zwanzigmal am Tag "Neues Ufer 12, bei Familie Schwarz klingeln". Ich weiß noch: Zuerst, die ersten Tage, dachte ich: Die bestellen aber viele Taxen, Einsegnung, Hochzeit, Beerdigung, müssen wohl ein größeres Familienfest feiern. Aber das hörte nicht auf. Bis irgendwann der Groschen bei mir fiel, bis ich dahinterkam, was lief. Einmal stieg nachts, sehr spät, in der Halenseegegend, eine Bülowschülerin ein, reichlich abgefüllt, und sagte mir ihre Adresse, eine Seitenstraße der Scharnweber. Ich sagte nichts, 12 fragte mich, ob sie mich erkannt hatte, während sie da hinten rechts bewegungslos und still im Dunkeln saß, nicht rauchte, nicht redete und ich auf die Stadtautobahn einbog. 24 Mark, eine schöne Tour, sie wohnte, wie gesagt, in der Nähe der Schule. Also: Ich hatte nicht bei ihr Unterricht, ich kannte sie nur vom Sehen vom Gang, außerdem habe ich beim Taxifahren andere Klamotten an, sie sieht mich nur im Anschnitt und nur von hinten und außerdem ist sie besoffen und sie dürfte mich hier nicht erwarten. Also bin ich einigermaßen sicher, daß sie mich nicht erkannt hat. Eine Viertelstunde später setze ich sie vor ihrer Haustrür ab, sie bezahlt, auch Trinkgeld - eine perverse Situation - sie sagt: "Sagen Sie mal, kennen wir uns nicht irgendwie?" "Ja", lüge ich, "das frage ich mich auch die ganze Zeit." "Von der Schule, oder?" sagt sie, grinst und lehnt sich zwischen den Sitzen nach vorne. Also, ich habe nicht den Lehrer rausgekehrt, kein Wort von Vorwurf, ich habe mich noch ein paar Minuten sehr, sehr nett und intensiv mit ihr unterhalten. Man kann nicht 25 Em kassieren, sich bedanken und sagen: "Sagen Sie mal, finden Sie das in Ordnung, jetzt besoffen zu sein, wo in fünf Stunden wahrscheinlich gerade Leistungskurs Bio anfängt?" Das geht einfach nicht. Nein: Das geht nicht. Taxifahren ist Angst. Ich will nicht das eine Mal beschreiben, wo ich von vier Arabern einen Gürtel um den Hals gekriegt habe und außer einer kleineren Verbrennung von der eigenen Zigarette totales Glück hatte. Tabor- Ecke Wrangelstraße, gegenüber der Kirche, werde ich nie vergessen, nachts um kurz nach drei, 200 Meter vom Schlesischen Tor. Scheißgegend. Auch nicht, wo ich mitgeholfen habe, den Typen auf's Maul zu hauen, der einem Kollegen in der Abbéstraße die Sehnen beider Hände durchtrennte und ihm zwei Finger abschnitt. Eine halbstündige Autotreibjagd durch die Stadt war das, mit fast hundert beteiligten Taxen - wir stellten ihn in der Mommsenstraße, als er aus der Bleibtreu um die Ecke gerannt kam ... Auch nicht von dem einzigen schweren Autounfall, der überdies ausschließlich meine Schuld war, Laubacher Ecke Südwestkorso, der Fahrgast hatte mich abgelenkt, ich war mit 70 voll bei Rot gefahren. Gottseidank kein Personenschaden, aber der gegnerische Fiesta, 5 Tage nach der Erstzulassung, war ein Totalschaden. Ich war noch nicht ausgestiegen, da schrien mindestens vier Passanten auf dem Fußweg: "Der Taxifahrer hat schuld!" Auch nicht im einzelnen die Angst, wenn ein Kollege nicht glücklich war: das Gelände nachts zwischen Senatskohlenhalden, Brücken und S-Bahn-Gelände, an der Crellestraße. Die leere Taxe mit offenen Türen, bei der das Licht noch brennt und die von innen blutbespritzten Scheiben. Blaulicht und Taxen, Taxen, Taxen, der ganze Kohlenplatz ist gelb von den Fackeln auf den Dächern, die aufgebrachten und die stillen Kollegen, alle mit der gleichen Angst in den Augen. Es war - Gott sei Dank - der einzige "Taximord", den ich aus nächster Nähe mitbekam, ich hatte den Kollegen auf Funk noch um Hilfe schreien gehört, wir alle hatten ihn gehört, und ich denke an unser Geschrei: "Dein Standport, Kollege, Dein Standort!?" und wie die Zentrale sich Ruhe auf dem Kanal verschafft hatte. Aber da war nichts mehr, nur noch Stille, der Kollege hatte den Mikrophonknopf schon losgelassen, es war alles sehr schnell gegangen, und bis einer die Taxe auf dem Kohlenplatz entdeckt hatte, war er längst verblutet. Ich erinnere mich nicht an den Rest der Nacht, ich glaube, ich bin in irgendeine Kneipe gefahren und hab geheult. Wieviele Male war nichts, obwohl man dachte: "Jetzt ist es soweit", und der Revolver liegt unangenehm schweißnaß in der links am Sitz herunterhängenden Hand. Man fährt mit rechts, das geht, ist ja eine Automatik mit Servolenkung, und der Typ auf dem Rücksitz dirigiert einen noch ein Stück weiter in die nächtlich verlassene Laubenkolonie - und dann links raus, auf freies Feld, auf eine Buschgruppe zu. Der Revolver ist nur Schreckschuß, aber mit ordentlich durchbohrtem Lauf, dadurch kommt vorn eine Flamme raus, damit ist einiges zu erreichen, besonders bei direktem Aufsetzen. Dann fährt man im Leeren über das Feld und 13 fragt sich, ob das das Letzte ist, was man zu sehen kriegen wird. "Halten Sie mal an", sagt er von der dunklen Rückbank, tonlos. "Wo, hier?" frage ich, und es ist mir scheißegal, ob er meine Angst in der Stimme hört. "Ja, (ungeduldig) ich sag doch: halten!" Dann halte ich und hab den schiefgestellten Rückspiegel im Auge. Totenstille im Auto, während er da hinten sitzt und dann schließlich kramt und dann bezahlt. Sagt nicht "Wiedersehen", steigt aus und geht. Beim Zurückfahren, beim Wenden sehe ich im herumschwenkenden Scheinwerfer, daß hinter der Buschgruppe tatsächlich noch eine Laube steht, und er fingert schon nach den Schlüsseln. Na gut, man kann in so einer Situation "Ozelot" geben29 , aber wer wagt das schon, wenn es sich nachher als blinder Alarm herausstellt. "Ozelot" heißt Funkstille auf dem gesamten Kanal, de facto im gesamten Stadtgebiet, die Vermittlung ruht, und man gibt verschlüsselt seinen Standort durch, und auf einem anderen Kanal werden die Kollegen geschickt, und eh der Typ sich's versieht, biegt man rechts ab, und dreißig, vierzig Taxen sperren die Straße, die Kollegen bereits draußen, mit Knüppeln und Pistolen in der Hand. Ich hab nie "Ozelot" gegeben, nur dabei mitgemacht. Aber das Normale ist das Gott sei Dank nicht. Taxifahren ist Autofahren. Man schließt das Auto nach 100.000 Kilometern ins Herz wie eine lebende Person. Man ist nachts verwachsen mit ihm, Bremse, Gas und Lenker sind Verlängerungen der Arme und Beine, der Wagen gehört mir, versteht mich, ist mir treu, bringt mir Geld, gehorcht auf das Zucken eines Fingers. Draußen vorne in der Nacht ahne ich die Frau auf dem Bürgersteig, die mit mir fahren will, bevor ich sie eigentlich sehe, ich weiß, daß sie winken wird, bevor sie noch mich sieht und zwischen den parkenden Autos vorkommt und den Arm hebt. Meine Scheinwerfer über ihre Beine, ich bremse und halte zentimetergenau mit dem hinteren Türgriff so vor ihr, daß sie nur noch die Hand zu senken braucht. "Guten Abend" oder "Guten Morgen", je nachdem, wie wach sie noch ist, Adresse, ich brause los, ich kenne jede Ampelphase, die Straßen sind leer, ich weiß, wo die Minis30 stehen. Ich rase die nächtlichen Straßenzüge hinunter, der kürzeste Weg ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, ich weiß aus ihrer Adresse, daß sie in diesen Neubauten wohnt, wo gleich daneben das Schwimmbad ist. Sie ist ungefähr die 20. Tour heute nacht, 10 muß ich auf alle Fälle noch machen. Ob ich noch mit hochkomme, einen Kaffee trinken. "Nein, junge Frau", und ich sage ihr das mit den zehn Touren, die ich noch machen muß. "Och, wollen Sie nicht?" Dann kann man schwach werden, muß aber nicht. Und man sollte sich auf alle Fälle bei der Zentrale abmelden "Tirschenreuther Ring 14, Frollein", und sagen, wann man wieder unten ist, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß einen oben nur vier kräftige Herren erwarten, die an der Kasse interessiert sind. Man wird mißtrauisch bei dem Job. Alles mögliche wird einem angeboten, jedes sonderbare Abenteuer, auch schon mal ein roter Afghane. Aber eigentlich, was braucht man das?! Taxifahren ist selber Sex, ist selber Pot und Rausch, ist booze, Geschwindigkeit und Gewalt. Die Tachonadel erleuchtet, im Dunkeln vor mir, nachts, zwischen 80 und 90. Über mir ... die ziehenden Lampenketten. Was also soll ich schreiben? 29 Ozelot = "Ozelot" ist ein Codewort, mit dem ich um Hilfe rufe. Ich kann mich mit meiner Taxe 3497 z.B. mit ruhiger Stimme melden: "Ozelot 3497 Osloer Süd in Fahrt." Das klingt für den Fahrgast nicht nach Notruf. Oder ich kann sagen: "Den Kollegen hab ich vorm Ozelot-Kino in der Osloer gesehen." Was dasselbe heißt. "Ich kann auch sagen: "Tach Ozelot". Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. PS.: Es versteht sich übrigens von selbst, daß "Ozelot" nicht das wirkliche Notruf-Codewort des Berliner Taxifunks ist. Das würde ich, wie man verstehen kann, kaum im Internet verraten, oder, ich denke, ich finge mir unendlichen Ärger ein. 30 "Minis" = Blitzer, gelegentlich auch genannt die "Bunten", "Ölflecke", "Baustelle" oder "Wegelagerer". 14 smi 15