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Selbstverletzendes Verhalten:
Wenn Jugendliche sich ins eigene Fleisch schneiden - Ritzen lässt rote Tränen fließen
Von Reiner Andreas Neuschäfer
Wer mit jungen Menschen zu tun hat, entdeckt sie häufig: Kratzspuren an den Unterarmen,
Schnittverletzungen an den Unterschenkeln.
Ein anonymer Zettel auf dem Boden des Klassenzimmers, den ich zufällig aufhob, machte mich stutzig:
»Hi Silke, tut das Ritzen sehr weh?« Es war nicht das erste Mal, dass ich mit »selbstverletzendem
Verhalten« in Berührung kam. Doch das erste Mal an dieser Schule. Als ich im Lehrerzimmer zwei
Kolleginnen ansprach, meinte eine lapidar: »Das gibt sich wieder. In der Pubertät muss jeder mal
spinnen!« Und die andere sagte: »So was macht man doch nicht. Wer so was macht, gehört in die Klapse
...« Solche Sätze entlasteten mehr sie als Silke, deren Namen ich zum Glück noch nicht genannt hatte.
Dieses Beispiel malt vor Augen, wie schnell man in punkto »Ritzen« gefordert ist und sich zugleich
überfordert fühlen kann. Wer mit jungen Menschen zu tun hat, entdeckt sie jedenfalls immer häufiger:
Kratzspuren an den Unterarmen und Schnittverletzungen an den Unterschenkeln. Es ist »in«, sich zu
»ritzen«. Wer die Wunden wahrnimmt, kann schnell auf den Gedanken kommen: Da will sich jemand
umbringen. Doch die Spuren von »selbstverletzendem Verhalten« haben nichts mit Selbstmord oder
Todessehnsucht zu tun. Wer ritzt, will sich nicht umbringen, sondern etwas zum Ausdruck bringen. Zum
Beispiel: sich selbst spüren nach dem Motto »Ich blute, also bin ich!« Oder sie empfindet beim Fließen
des Blutes eine Art Entspannung, wenn ihr das Leben mit seinen vielen Anforderungen zu viel geworden
ist. Ritzen lässt quasi rote Tränen fließen ...
Dabei kann man jedes Ritzen nicht über einen Kamm scheren. Es gibt ganz unterschiedliche Anlässe,
Motive und Formen. Zwar sind es zumeist Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren, aber auch
Erwachsene können »Ritzerinnen« sein, wie das Beispiel von Lady Di zeigte. Manche ritzen mehrmals
täglich, andere ab und zu und andere über Jahrzehnte. Meistens, wenn sie alleine und/oder einsam sind.
Viele ritzen »nur«, bei anderen zeigen sich auch andere Probleme wie Essstörungen, Perfektionismus,
Impulsivität, Depressionen oder problematische Selbstwahrnehmung. Wer einmal mit dem Ritzen
begonnen hat, wird dies viel leichter als eine Möglichkeit ansehen, Probleme zu bewältigen.
Überwältigend sind die infrage kommenden Gegenstände, die zum Ritzen gebraucht werden (von der
Rasierklinge über Kronkorken bis hin zu Bleistiftspitzer-Klingen!). Daher ist es sinnlos, jemandem damit
helfen zu wollen, alle möglichen »Ritzgegenstände« zu entfernen. Auch ein Appell »Hör auf damit!«, setzt
Betroffene nur unter Druck und muss verhallen, da die Probleme tiefer sitzen als bloß das Ritzen.
Experten haben hormonelle, psychische, neurologische und genetische Ursachen als mögliche Gründe
für selbstverletzendes Verhalten ausgemacht. Also muss man sich von vornherein von vorschnellen und
schnellen Lösungen verabschieden. Und ohne fachlichen Rat sollte man auch lieber die Finger davon
lassen. Allerdings: Wer ritzt, ist auch nicht nur »krank« und auf »einschneidende Erlebnisse« zu fixieren.
Er besteht nicht nur als ein ritzender Mensch! Deswegen ist die erste Hilfe, den anderen Menschen als
Mitmenschen anzusehen: als Mensch mit Verletzungen, Herausforderungen und Problemen, aber eben
auch mit Potenzialen, Gefühlen, Gaben, Chancen, Grenzen und einem Glauben.
Die Frage ist also auch: Wie sehe ich mich als Mensch? Wie schätze ich mich ein? Was schätze ich an
mir? Wie gehe ich mit Fehlern und Schwächen um? Was mache ich, wenn ich schuldig werde? Der
christliche Glaube hält hier einen großen Schatz bereit, der geduldig zu heben ist – auch wenn damit
allein noch nicht alles »geritzt« sein muss. Ein erster Schritt ist, gerade im Jugendalter die krisenhaften
Momente als etwas vor Augen zu malen, das zum Leben dazugehört. Ein konfliktfreies Leben ist weder
wünschenswert noch zu erwarten, da der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde und das
Schlaraffenland noch immer nicht gefunden wurde. Der Umgang mit Stress, Spannungen, Reizen und
Enttäuschungen kann daher nicht früh genug eingeübt werden.
Wer ritzt, fühlt sich zwar, fühlt sich aber nachher meistens nicht besser, sondern schlechter und schuldig.
Viele vertuschen es und verzeihen sich selbst nicht, »es« wieder gemacht zu haben, was sie dann immer
tiefer in den Strudel des Ritzens reißt. Dieses Problem fasste Nadine (sie gibt bei Beruf immer »Opfer«
an) vor Kurzem in diese Worte: »Man sieht nur noch das Schlechte im Leben und das Lachen fällt einem
schwer. Es belastet einen nur. Klar, der Grund, warum man es macht, macht einen natürlich auch traurig.
Aber Ritzen bringt einen noch weiter runter!« Oder: wie es die Bibel formuliert: ... der schneidet sich ins
eigene Fleisch! (Sprüche 11,17) www.rotetraenen.de www.selbstverletzung.com www.telefonseelsorge.de
Hilfreiche Literatur und Links:
Dunker, Kristina: Schmerzverliebt. (Arbeitsheft zum gleichnamigen Buch für die Klasse 7-9, erarbeitet von
Stefanie Stankewitz), Beltz & Gehlberg 2005, ISBN 3-407-99113-4, 4,90 Euro Neuschäfer, Reiner
Andreas: Das brennt mir auf der Seele. Anregungen für eine seelsorgliche Schulkultur, Vandenhoeck &
Ruprecht 2007, ISBN 3-525-61596-5, 12,90 Euro Schäfer, Ulrike/Rüther, Eckart: Heile Seelen. Was macht
die Psyche gesund, was macht sie krank, Vandenhoeck & Ruprecht 2006, ISBN 3-525-46254-9, 19,90
Euro
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