Ritzen – mit einschneidenden Erfahrungen umgehen Maria meldet sich – und hat deutlich Kratzspuren an den Unterarmen. Gisela macht im Sport mit – ihre Schnittverletzungen an den Unterschenkeln sind nicht zu übersehen. Ein anonymer Zettel liegt im Klassenraum auf dem Boden – „Tut das Ritzen sehr weh?“ Bethül zieht auch an heißen Sommertagen langärmelige Shirts an. Dies sind nur ein paar wenige Beispiele, wie junge Menschen in der Schule auffallen, wenn sie sich selbst verletzen. Seit den 90er Jahren, als die britische Prinzessin Diana ihre Bulimie und ihr Schneiden öffentlich machte, ist Ritzen stärker in die Öffentlichkeit gerückt und hat jüngere Menschen erfasst. In der Fachsprache heißt dieses Ritzen „selbstverletzendes Verhalten“ und wird abgegrenzt zu selbstschädigendem Verhalten, wie beispielsweise „mit dem Kopf gegen die Wand schlagen“. Selbstverletzendes Verhalten bezeichnet das willentlich selbst zugefügte Schädigen der Haut mit Hilfe von scharfen Gegenständen – wie beispielsweise Rasierklingen, Zirkel, Glasscherben, Kronkorken oder auch Bleistiftspitzer-Klingen – ohne sich aber umbringen zu wollen. Es handelt sich dabei um eine Ausdrucksform für besondere Probleme, mit sich und anderen klar zu kommen. Meist sind es kleine Schnitte oder Kratzer an den Händen, Armen und Beinen, welche sich vor allem Mädchen zufügen. Diese Schnitte sind eher oberflächig und in queren Linien angeordnet. Solche „Ritzer“ können in hoher Zahl erfolgen (manchmal über 30!), eng nebeneinander liegend sein oder nur einzeln vorgenommen werden. In den überwiegenden Fällen sind sie quer angelegt und mehrere Zentimeter lang. Ebenso können auch Zeichen oder Buchstaben (beispielsweise von verehrten Musikgruppen oder Freunden/-innen) bewusst in die Haut geschnitten werden. Grundsätzlich kommen alle Körperpartien für das Schneiden in Betracht, neben den Händen und Armen (74 %) sowie Beinen (44 %) werden sich Schnitte zudem an Bauch (25 %), Brust (18 %), Hals und Gesicht (23 %) oder auch im Genitalbereich (8 %) zugefügt. Wozu machen Jugendliche das? Die Motive sind ganz unterschiedlich. Sie werden meist nicht sofort ersichtlich; vielmehr bedarf es oft intensiver, längerfristiger Beratungs- bzw. Therapiegespräche, um die Gründe für das Schneiden zu erkennen. Als Erklärung für das selbstverletzende Verhalten gelten psychische, hormonelle, neurologische und genetische Ursachen, die von verschiedenen Forschern und Medizinern unterschiedlich gewichtet werden. Auffällig ist, dass das selbstverletzende Verhalten gerade in der Lebensphase auftritt, wo ein ganzes Konglomerat an psychischen, hormonellen, körperlichen und familiären Veränderungen bewältigt sowie die Identität und persönliche Rolle in der Peergruppe bzw. in der Gesellschaft neu strukturiert werden müssen. Die Schülerinnen wissen häufig selber nicht, warum sie sich schneiden. Sie tun es in den überwiegenden Fällen aus zwei unmittelbaren Bedürfnissen heraus: Zum einen spüren sie eine unmittelbare Leere! Sie haben keinen Zugang zu sich und ihren Gefühlen und wollen sich in erster Linie wieder selbst wahrnehmen. Ein anderer Grund ist eine als überwältigend erlebte Spannung! Ein unheimlicher Druck, ein unerträgliches Chaos der Gefühle lastet auf den Jugendlichen. Erst das Schneiden bringt dann ein kurzfristiges „sich wieder spüren können“. „Das warme Blut fließt, ich lebe!“ oder „Jetzt bin ich erst mal die Spannung los!“ sind Gedanken, welche junge Menschen nach dem Schnitt haben. Unmittelbar danach kommen aber auch Gefühle wie Scham („Ich habe es wieder nicht geschafft“), Angst („Hoffentlich entdeckt mich niemand“) und Enttäuschung („Ich habe mich doch so angestrengt“) hoch. Wie kommt man als Mädchen darauf, sich selbst zu verletzen? Einige haben von ihren Freundinnen davon gehört, andere darüber in Zeitschriften oder im Internet gelesen und wieder andere meinen, sie seien selbst darauf gekommen. In vielen Fällen kann man insbesondere an Schulen von einem epidemieartigen Vorkommen sprechen. Wenige haben das Ritzen für sich „entdeckt“ und andere probieren dies dann aus. Das selbstverletzende Verhalten tritt meist im Alter ab zwölf, dreizehn Jahren auf. Bei 8 von 10 Fällen sind es Mädchen, die sich ritzen. Verschiedene Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 2 % der 15 bis 30 jährigen Personen sich selbst verletzen. Oftmals wird das Ritzen mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht. Abgesehen davon, dass sich eine Borderline-Störung erst im Erwachsenalter manifestiert, hilft das „krank machen“ den Jugendlichen auch nicht. Es macht sie eher noch unsicherer und verringert die Chancen, dass sie beraterische oder therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Gleichwohl gibt es auffällige Parallelen bei den betroffenen Jugendlichen mit den sogenannten „Borderlinern“. Essstörungen („Ich bin zu dick!“), Körperbildstörungen („Ich bin hässlich!“), Perfektionismus („Ich darf mir keine Fehler erlauben!“), Impulsivität (von außen nicht nachvollziehbare Wutausbrüche) und rasch wechselnde oder einnehmende Beziehungen („Ich hasse dich, verlass mich nicht!“) gehören zu den häufigen „Begleiterscheinungen“ von sich selbst verletzenden Menschen. Hinzu kommen oftmals auch depressive Grundstimmungen, Suchterkrankungen oder Verlassenheitsängste. Die jungen Menschen haben in ihrem bisherigen Leben vielfach Vernachlässigung und Traumata (wie Missbrauch, plötzliche Tode, Scheidung, Unfälle) erfahren. Dies heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass alle, welche ein Trauma erlebt haben, sich selbst verletzen. Das Ritzen kann eine kurze Episode im Leben sein oder auch über Jahre oder Jahrzehnte andauern. Die zeitlichen Abstände zwischen dem Schneiden reichen von mehrmals täglich bis zu monatlichen „Ausrutschern“. Meist erfolgt das Schneiden in einsamen Situationen, häufig abends und nachts. Sobald Jugendliche sich schon häufiger selbst verletzt haben, sinkt die Hemmschwelle hierzu, das Schneiden wiederholt als Bewältigungsstrategie zu nutzen. Auslöser sind neben dem Gefühl des Alleinsein für Außenstehende vielfach nicht erkennbare Gründe: eine Szene in einem Spielfilm, eine SMS, ein Foto, ein Geräusch oder Geruch oder auch ein „falsch“ interpretiertes Verhalten von Mitmenschen. Die Vielfalt der Ursachen und Auslöser für das selbstverletzende Verhalten macht klar: Alleine kann man hier kaum helfen. Ein Unterbinden des Ritzens ist ebenso unmöglich wie man auch kaum alle möglichen in Frage kommenden Gegenstände, die zum Ritzen geeignet sind, entfernen kann. Daher bedarf es eines sorgsamen Umgangs mit dem Phänomen, das einerseits von Vertrauen, andererseits aber auch von klaren Grenzziehungen geprägt sein muss. Das selbstverletzende Verhalten ist nicht als suizidale Handlung zu verstehen; vielmehr zeigen der oder die Jugendliche einen besonderen Lebenswillen. Die Nähe bzw. Abgrenzung zum Suizid ist aber äußerst schwierig abzuschätzen, so dass man an der Schule und im Elternhaus fundierte, fachliche Unterstützung benötigt. Was können Sie an Ihrer Schule tun, um den jungen Menschen zu helfen? Nehmen Sie die Anzeichen wahr und ernst! Reagieren Sie besonnen und klagen Sie nicht an! Setzen Sie die jungen Menschen nicht unter Druck! Nehmen Sie sich ausreichend Zeit für Gespräche (keine zwischen Tür- und Angel-Beratung)! Halten sie engen Kontakt zu den Eltern, Ärzten und Beratungsstellen! Teilen Sie die Verantwortung mit den zuständigen Personen in der Schule! Sorgen sie gut für sich selber, denn selbstverletzendes Verhalten kann einen emotional schnell an eigene Grenzen bringen! Nehmen Sie kein Versprechen zum Verheimlichen an! Versorgen Sie die Wunde, bzw. lassen Sie diese versorgen! Stimmen Sie ihr Verhalten im Kollegium ab! Seien Sie sorgfältig in der Wortwahl! Sätze wie „Du bist krank! Das macht man doch nicht! Du musst in Therapie! Du gehörst in die Psychiatrie!“ dienen lediglich zur eigenen Entlastung und helfen der betroffenen Schülerin kein bisschen weiter. Darüber hinaus ist es von besonderer Bedeutung, dass Sie bei aller Betroffenheit den ganzen Menschen im Blick behalten! Die Schülerinnen und der Schüler bestehen nicht nur aus dem „Ritzen“. Wichtig ist hier, dass Sie den Blick öffnen für die Kräfte und positiven Aspekte des jungen Menschen! Denn diejenige, welche sich selbst verletzt, hat zurzeit keine andere Möglichkeit gesehen, mit der Spannung oder Leere umzugehen. Helfen Sie dabei, sich selbst wieder zu verzeihen! Genauso wie die Entwicklung hin zum Ritzen einige Zeit in Anspruch genommen hat, braucht es auch eines eng begleiteten Prozesses, um diese Aggressionsauslebung zu überwinden. Darüber hinaus können Sie schon in vielen Punkten präventiv vorgehen. Maßnahmen, welche die Persönlichkeit des einzelnen stärken, seine Geschlechtsrollenidentität unterstützen, die Mitbestimmung fördern und den Umgang mit Gewalt, Gefühlen und Stress erleichtern, helfen auch den jungen Menschen, die sich selbst verletzen. Zudem ermöglichen erlebnispädagogische und geschlechtsspezifische Projekte (bspw. www.mfm-projekt.de) sowie Angebote zur intensiveren Körperwahrnehmung und zur Prävention von Sucht eine breitere Entwicklung des Selbstwertgefühls! Eine große Hilfe für die betroffenen jungen Menschen sind Notfallkoffer, in denen sich beispielsweise Ablenkungsmaterial (bspw. Gummiringe), hilfreiche Musik, Notfallzettel, Telefonnummern, Anti-Stress-Bälle oder passende Fotos befinden. Die individuelle Zusammenstellung der Alternativen bei selbstverletzendem Verhalten sollte mit den betroffenen Jugendlichen gemeinsam erarbeitet werden. Die Aussichten, von dem selbstverletzenden Verhalten wieder loszukommen, hängen von vielen Faktoren ab. Bei einzelnen Personen helfen wenige Beratungsgespräche, andere brauchen eine zeitlang Unterstützung, beispielsweise in Form einer Jugendhilfemaßnahme. Eine Psychotherapie oder gar psychiatrische Unterbringung wird in manchen Fällen eine zeitlang unerlässlich sein. Als Lehrerin und Lehrer können sie ihren persönlichen Beitrag dazu leisten, dass die jungen Menschen ihr Leben selbstbestimmter und unverletzter in die Hand nehmen. Weiterführende Literatur: Kasten, Erich: Body- Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen. Ernst Reinhardt Verlag, München , 2006 Levenkron, Steven: Der Schmerz sitzt tiefer, Selbstverletzung verstehen und überwinden, Kösel-Verlag, München 2001 Rüsch, Detlef: Das Ritzen zwischen grenzenlosem Glück und unglücklichen Grenzen. Informationen und Impulse für einen Umgang mit Grenzerfahrungen im Jugendalter. Sozialmagazin, 29. Jg., Heft 7-8, Juli-August 2004 Sachsse, Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik – Psychotherapie. Das Trauma , die Dissoziation und ihre Behandlung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, 6. Aufl. Schäfer, Ulrike/ Rüther, Eckart/ Sachsse, Ulrich: Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma. Ein Ratgeber für seelisch schwer belastete Menschen und ihre Angehörigen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006 Teuber, Kristin: Ich blute, also bin ich, Selbstverletzung der Haut von Mädchen und jungen Frauen, Centaurus-Verlag, München 2000 Jugendliteratur zum Thema: Dunker, Kristina: Schmerzverliebt. Beltz-Verlag Weinheim, 2003 Dunker, Kristina: Schmerzverliebt. (Arbeitsheft zum Buch für die Klasse 7 – 9, erarbeitet von Stankewitz, Stefanie) Beltz-Verlag Weinheim, 2005 McCormick: Cut, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2004 Andere Medien: „Wenn das Leben zur Qual wird“, Fernsehbeitrag in ARTE, 16.03.2002 (2042/446019) „dreizehn“, auf DVD erhältlicher Film, 2004 Medienprojekt Wuppertal e.V.: Diagnose Borderline. Berichte von Betroffenen. Eine Videodokumentation. 2003 ( www.medienprojekt-wuppertal.de ) Weiterführende Internetseiten: www.bayern.jugendschutz.de www.rotetraenen.de www.selbstverletzung.com www.selbstverletzung.de www.telefonsselsorge.de/beratung/index.html www.versteckte-scham.get-2.com Autoreninformation: Detlef Rüsch (geb. 1967), Dipl.Soz.päd. und systemischer Familientherapeut Berufserfahrung in der Arbeit mit Menschen mit sehr schweren Behinderungen und als Jugendsozialarbeiter an einer Grund- und Hauptschule im Landkreis Freising