HISTORISCHER HINTERGRUND: "DIE WEISSE ROSE" "Die Hinrichtungen" 22. Februar 1943 : Sophie Scholl Hans Scholl Christoph Probst 13. Juli 1943: Alexander Schmorell Kurt Huber 12. Oktober 1943: Willi Graf "1 Jahr Gefängnis" Gisela Schertling Traute Lafrenz Freigesprochen Dr. Falk Harnack ***************************************************************** Am 30. Januar 1933 kam Adolf Hitler an die Macht Ulm: Hans Scholl ist 14 Jahre alt und seine Schwester, Sophie, ist 10 Jahre alt. "In den nächsten Wochen hörten sie viel von Vaterland, Kamaradschaft und Heimatliebe reden. [. . .] Auch waren Hans und Sophie begeistert von den marschierenden Kolonnen der Jugend. Sobald sie Gelegenheit hatten, traten sie in die Hitlerjugend ein. Da sie mit Leib und Seele dabei waren, konnten sie nicht verstehen, daß ihr Vater gar nicht glücklich war. Er war nicht stolz auf die uniformierte Tochter und den uniformierten Sohn. Es war ihnen unklar, wieso er Hitler mit dem Rattenfänger von Hameln vergleichen konnte. Es war ihnen unklar, was er meinte, als er von Naziverbrechern sprach. Die Worte des Vaters waren in den Wind gesprochen. In den nächsten Jahren fühlten sich die Kinder als Teile einer großen Bewegung. Dann und wann kamen allerdings Fragen auf. Eines Abends erklärten mehrere der Gruppe, es wäre ja alles sehr schön, nur die Sache mit den Juden wäre ihnen unverständlich. Ein Älterer antwortete: "Hitler weiß schon, was er tut. Um der großen Sache willen muß man manches Schwere und Unverständliche akzeptieren. Obgleich viele mit der Antwort nicht zufrieden waren, hatten die meisten die Sache am nächsten Tage wieder vergessen. Hans Scholl aber dachte weiter darüber nach. Auch kam dazu, daß er eine Erfahrung machte, die ihn sehr persönlich traf. Schon lange hatte er Volkslieder gesammelt, dänische und norwegische, englische und französische, die seine Freunde gern hörten, wenn er sie zur Gitarre sang. Als ein Hitlerjugendführer das Singen hörte, erklärte er: "Solche Lieder sind verboten. Es gibt genug deutsche Lieder." Hans Scholl legte die Gitarre weg, ging nach Hause, legte sich aufs Bett und konnte stundenlang nicht einschlafen. Im Jahre 1936 wurde Hans Scholl auserwählt, das Banner seiner Gruppe beim Parteitag in Nürnberg zu tragen. Seine Freunde und Bekannte gratulierten. Mit großer Begeisterung fuhr er nach Nürnberg. Die Geschwister warteten gespannt auf den Bericht über die großen Ereignisse. Als er zurückkam, war zunächst wenig aus ihm herauszubringen. Erst mit der Zeit erfuhr man, daß die Wirklichkeit ganz anders aussah als das Ideal. In Nürnberg hatten die Führer tagaus tagein von Treue geredet, aber zu sehen war nichts als Drill und Uniform. Einige Wochen später kam er mit einem neuen Verbot nach Hause. Ein höherer Nazi hatte ihm ein Buch von Stefan Zweig aus der Hand genommen mit der Erklärung, daß es verboten sei. Warum? Stefan Zweig war Jude. In derselben Zeit hörte er die Geschichte von einem jungen Lehrer, der plötzlich in ein Konzentrationslager verschwunden war. [. . .] Hans Scholl war schon jahrelang Mitglied einer Organisation für Vierzehn- bis Achtzehnjährige, die sich "Jungenschaft" nannte. Die "Jungenschaft" war unter Hitler halb verboten, aber es gab sie noch in manchen Städten Deutschlands. Die Jungen machten Wanderungen zusammen, übernachteten im Freien, saßen vor dem Feuer und sangen. Sie malten und photographierten, lasen und schrieben. Von Zeit zu Zeit erschienen ihre Fahrtenbücher und Zeitschriften. Plötzlich erklärten die Nazis im Jahre 1938, diese Jungen mit ihren Liedern und Büchern wären eine Gefahr fürs Vaterland. Alle Jugendlichen, die bemüht waren, die alten Jugendgruppen aufrecht zu erhalten, wurden gemaßregelt. Hiervon wurden 1937 Hans Scholl, seine Schwester Inge und sein Bruder Werner sowie andere Freunde betroffen, als sie wegen "bündischer Umtriebe" für kurze Zeit inhaftiert wurden. Ihr "Verbrechen" bestand darin, daß ein Teil ihrer ehemaligen Gruppe weiter wie früher Sonntag für Sonntag zelten gefahren war oder ausgedehnte Wanderungen unternommen hatte. Hierin sah das faschistische Terrorregime bereits eine staatsgefährdende Handlung." Alexander Schmorell war unter dem Druck der faschistischen Zwangsmaßnahmen ebenfalls Mitglied der HJ geworden. Er stand aber von Anfang an der "neuen Ordnung" skeptisch gegenüber. Wie große Teile der männlichen Jugend gingen sie nach dem Abitur "freiwillig" zum Reichsarbeitsdienst und anschließend zur faschistischen Wehrmacht." Im Jahre 1938 fährt Hans Scholl nach München, um Medizin zu studieren. Vier Jahre später an ihrem Geburtstag (9. Mai) fährt Sophie Scholl auch nach München, um an der Uni zu studieren. Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und Chef der Gestapo: "Wenn jemand dem Führer oder dem Reich nicht treu ist, und sei es nur in Gedanken, so habt ihr dafür zu sorgen, daß dieser Mensch unsere Reihen verläßt. Wir werden dafür sorgen, daß er diese Welt verläßt." Juli-November, 1942: Die Freunde -- Hans Scholl, Alex Schmorell und Willi Graf -- verbringen fünf Monate an der Front in Rußland. Ende Dezember 1942: Die Studenten erzählen Professor Huber, daß sie die Flugblätter herstellen und verbreiten. Januar 1943: Die Studenten erhalten die Adresse von Dr. Falk Harnack. Am 3., 8. und 15. Februar findet man antifaschistische Sprüche an den Mauern der Uni. Am 18. Februar werden Hans und Sophie Scholl an der Uni verhaftet und zum Wittelsbacher Palais, dem Gestapo-Gefängnis, gebracht. Zwischen dem 18. und 22. Februar gibt es fast ständig Verhöre, die die Geschwister erdulden müssen. Am 19. Februar erfahren die Eltern, was ihren Kindern passiert ist. Sie reisen am 22. Februar nach München und erreichen den Gerichtsaal, als das Todesurteil ausgesprochen wird. Einen Augenblick vor der Hinrichtung führen einige Gefangenenwärter die drei noch einmal zusammen, obgleich es verboten ist. "Wir wollten", so schrieb einer der Wärter später, "daß sie noch eine Zigarette miteinander rauchten. Es waren nur ein paar Minuten, aber ich glaube, es hat viel für sie bedeutet." ***************************************************************** Aus den Prozeßunterlagen wissen wir, daß das letzte Flugblatt nicht so erschienen ist, wie es von Professor Huber ausgearbeitet worden war, sondern daß Hans Scholl einen wesentlichen Abschnitt gestrichen hatte, der sowohl Ausdruck antikommunistischer Auffassungen Hubers war, als auch gleichzeitig seines Unvermögens, die Funktion der faschistischen Wehrmacht als eines eminenten Bestandteils des nationalsozialistischen Regimes zu verstehen. Dieser Abschnitt lautete: "Studenten, Studentinnen. Ihr habt Euch der deutschen Wehrmacht an der Front und in der Etappe, vor dem Feind, in der Verwundetenhilfe, aber auch im Laboratorium und am Arbeitsplatz restlos zur Verfügung gestellt. Es kann für uns alle kein anderes Ziel geben, als die Vernichtung der russischen Bolschewismus in jeder Form. Stellt Euch weiterhin geschlossen in die Reihen unserer herrlichen Wehrmacht." "Gedanken aus Briefen von Sophie Scholl" 5. September 1939: Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für's Vaterland. 19. September 1939: Der Hoffnung, daß der Krieg bald beendet sein könnte, geben wir uns nicht hin, obwohl man hier der kindlichen Meinung ist, Deutschland würde England durch Blockade zum Ende zwingen. Wir werden ja alles noch sehen. 9. April 1940: Manchmanl graut mir vor dem Krieg, und alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft will mir vergehen. Ich mag gar nicht dran denken, aber es gibt ja bald nichts anderes mehr als Politik, und solange sie so verworren ist und böse, ist es feige, sich von ihr abzuwenden. Ich glaube, ich wäre sehr viel froher, wenn ich nicht immer unter dem Druck stünde, ich könnte mit viel besserem Gewissen anderem nachgehen. So aber kommt alles andere erst in zweiter Linie. [. . .} 16. Mai 1940: An Pfingsten jedoch war es ganz herrlich, und es ist wunderbar, daß nichts die Natur aus ihrem Gange bringt. Wie wir so im Grase lagen, über uns die so lichtgrünen Buchenzweige vor dem mit weißen Spinnweben überzogenen Himmel, da konnte Krieg und Sorge kaum mehr Platz finden neben dieser Schönheit. Am Bach war die Wiese ganz rot durchdrungen von Lichtnelken, und es gab herrlich große und saftige Dotterblumen. Aber auch sonst noch hunderterlei Blüten und Kräuter wuchsen in Wiese und Wald. . . . Hast Du in Holland schon schöne Blumen gesehen, denn es ist doch das Gartenland. Hoffentlich sind die Unschuldigen nicht alle zerstört worden. . . . Ich wünsche Dir sehr, daß Du diesen Krieg und diese Zeit überstehst, ohne ihr Geschöpf zu werden. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind. Brief an Fritz Hartnagel: (22.Juni 1940) Ich glaube es zu gerne, daß Du mir, wenn wir auf weltanschauliche, und davon schlecht zu trennen, politische Gespräche kommen, nur aus Opposition widersprichst. Ich kenne dies, man tut es sehr gerne. Aber ich habe nie aus Opposition gesprochen, wie Du vielleicht auch heimlich glaubst, im Gegenteil, ich nahm unbewußt immer noch etwas Rücksicht auf Deinen Beruf, in dem Du gebunden bist, der es vielleicht auch letzten Endes ausmacht, daß Du diese Dinge vorsichtiger wägst, vielleicht auch Zugeständnisse machst, hierhin und dorthin. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß man etwa zusammen leben kann, wenn man in solchen Fragen verschiedener Ansicht oder doch zumindest verschiedenen Wirkens ist. Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind, deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung trifft man aber immer und überall. Weil wir hineingestellt sind in diese zwiespältige Welt, deshalb müssen wir ihr gehorchen. Und seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche Anschauung gerade bei den sogenannten Christen. Wie könnte man da von einem Schicksal erwarten, daß es einer gerechten Sache den Sieg gebe, da sich kaum einer findet, der sich ungeteilt einer gerechten Sache opfert. Ich muß hier an eine Geschichte des Alten Testamentes denken, wo Mose Tag und Nacht, zu jeder Stunde, seine Arme zum Gebet erhob, um von Gott den Sieg zu erbitten. Und sobald er einmal seine Arme senkte, wandte sich die Gunst von seinem kämpfenden Volke ab. Ob es wohl auch heute noch Menschen gibt, die nicht müde werden, ihr ganzes Denken und Wollen auf eines ungeteilt zu richten? Ich möchte mich damit jedoch nicht auf die Seite stellen, die einfältigen Sinnes ist in der wahren Bedeutung des Wortes. Ich kenne kaum eine Stunde, in der nicht einer meiner Gedanken abschweift. Und nur in einem winzigen Bruchteil meiner Handlung tue ich, was ich für richtig halte. Oft graut mir vor diesen Handlungen, die über mir zusammenwachsen wie dunkle Berge, so daß ich mir nichts anderes wünsche als Nicht-Sein, oder als nur eine Ackerkrume zu sein, oder ein Stückchen einer Baumrinde. Aber schon dieser oft überwältigende Wunsch ist wieder schlecht, denn er entspringt ja nur der Müdigkeit. Die Müdigkeit, sie ist das größte, was ich besitze. Ihretwegen schweige ich, da ich reden sollte, da ich Dir bekennen sollte, was uns beide angeht. Ich verschiebe es auf später. Ach, ich wünschte, eine Zeitlang auf einer Insel zu leben, wo ich tun und sagen darf, was ich möchte und nicht immer Geduld haben muß, unabsehbar lange. 28. Juni 1940: Die Einstellung der meisten Leute hier ist so: Wie der Krieg ausgeht, ist egal, wenn nur mein Sohn oder Mann bald wieder gesund heimkommt. Es hat den Anschein, als ob es den Franzosen auch nur um ihre gut bürgerliche Ruhe gegangen wäre. Es hätte mir mehr imponiert, sie hätten Paris verteidigt bis zum letzten Schuß, ohne Rücksicht auf die vielen wertvollen Kunstschäze, die es birgt, selbst wenn es -- wie sicher war -- keinen Nutzen gehabt hätte, wenigstens keinen unmittelbaren. Aber Nutzen ist heute alles, Sinn gibt es nicht mehr. Ehre gibt es wohl auch nicht mehr. Die Hauptsache, daß man mit dem Leben davonkommt. Wenn ich nicht wüßte, daß ich wahrscheinlich viele ältere Leute überlebe, dann könnte mir manchmal grauen vor dem Geist, der heute die Geschichte bestimmt. Nun, wo der große Löwe geschlagen ist, wagen sich die Schakale und Hyänen hervor, um auf ihre Rechnung zu kommen. Du findest es sicher unweiblich, wie ich Dir schreibe. Es wirkt lächerlich an einem Mädchen, wenn es sich um Politik kümmert. Sie soll ihre weiblichen Gefühle bestimmen lassen über ihr Denken, vor allem das Mitleid. Ich aber finde, daß zuerst das Denken kommt, und daß Gefühle oft irreleiten, weil man über dem Kleinen, das einen vielleicht unmittelbar betrifft, vielleicht am eigenen Leib, das Große kaum mehr sieht. Man kann auch einem Kind nicht sogleich alles zur Linderung bringen, wenn es weint. Denn oft ist es besser für das Werden des Kindes, wenn man nicht seinem ersten Gefühl nachgibt. . . . Ich arbeite eher zu wenig als zu viel. Noch lange leiste ich nicht das, was ich könnte. Und eines habe ich mir abgewöhnt: das Träumen von Dingen, die mir angenehm sind. Das lähmt. Brief an Fritz (23.September 1940) Die Stellung eines Soldaten dem Volk gegenüber ist für mich ungefähr die eines Sohnes, der seinem Vater und seiner Familie schwört, in jeder Situation zu ihm oder zu ihr zu halten. Kommt es vor, daß der Vater einer anderen Familie Unrecht tut und dadurch Unannehmlichkeiten bekommt, dann muß der Sohn trotz allem zum Vater halten. So viel Verständnis für Sippe bringe ich nicht auf. Ich finde, daß immer Gerechtigkeit höher steht als jede andere, oft sentimentale Anhänglichkeit. Und es wäre doch schöner, die Menschen könnten sich bei einem Kampfe auf die Seite stellen, die sie für die gerechtfertigte halten. Ich hielt es immer für falsch, wenn ein Vater ganz auf seiten seines Kindes stand, etwa wenn der Lehrer das Kind gestraft hatte, selbst wenn er es noch so liebte, oder gerade deshalb. Ebenso unrichtig finde ich es, wenn ein Deutscher oder Franzose sein Volk stur verteidigt, nur weil es sein Volk ist. Gefühle leiten oft irre. Wenn ich auf der Straße Soldaten sehe, womöglich noch mit Musik, dann bin ich auch gerührt, früher mußte ich mich bei Märschen gegen Tränen wehren. Aber das sind Sentimente für alte Weiber. Es ist lächerlich, wenn man sich von ihnen beherrschen läßt. ******************* In der Schule wurde uns gesagt, die Einstellung eines Deutschen sei eine bewußt subjektive. Solange sie dabei nicht auch noch objektiv ist, kann ich dies nicht anerkennen. Aber diese subjektive Haltung hat vielen Leuten eingeleuchtet, und manche, die nach einer Form für ihre sich widerstreitenden Gefühle suchten, haben sich aufatmend zu ihr bekannt. •Gespräch mit Fritz Hartnagel (Richter in Stuttgart) 1980 Was die Politik anging, so war von uns beiden Sophie die Tonangebende. Wir haben oft diskutiert und waren zunächst keineswegs in allen Fragen einer Meinung. Nur zögernd und widerwillig fand ich mich bereit, ihren Gedanken zu folgen. Es bedeutete einen gewaltigen Sprung für mich, mitten im Krieg zu sagen: "Ich bin gegen diesen Krieg." Oder: "Deutschland muß diesen Krieg verlieren." Aber nicht nur Sophie, auch ich hatte im Laufe der Jahre eine Menge gesehen, was mich nachdenklich stimmte: Nach 1933 die Schutzhaft für die Gegner des NS-Regimes, später die Judenverfolgung, die man im Haus Scholl unmittelbar miterlebte. Robert Scholl hatte als Steuerberater häufig Kontakt mit Juden, von denen einige ihr Geschäft aufgeben mußten oder die eines Tages ganz verschwanden. Zur Familie Scholl kam oft die Witwe eines jüdischen Arztes zu Besuch. Ihr Mann hatte als Offizier im Ersten Weltkrieg hohe Auszeichnungen bekommen. Zum Geburtstag erhielt er regelmäßig handschriftliche Briefe des Ulmer Bürgermeisters. Die Familie gehörte also zur Prominenz der Stadt. Die Frau hat überhaupt nicht begriffen, daß sie unter den neuen Machthabern nichts mehr war, daß sie auf die Verdienste von gestern nicht mehr bauen konnte. Eines Tages gab sie bei den Scholls das Familienalbum mit den Bildern ihres verstorbenen Mannes ab. Mir überreichte sie eine Pistole mit der Bemerkung, ich als Offizier könne sie noch am ehesten aufbewahren. Einige Tage später wurde sie abgeführt und in ein Konzentrationslager gebracht. Die Judenverfolgung, die in der Reichskristallnacht am 9. November 1938 zu einer Explosion von Gewalt mit organisierten Übergriffen auf Juden und jüdische Geschäfte und Synagogen eskalierte, hat mich besonders erschüttert. Während der Militärzeit habe ich zwar unmittelbar keine Mordkommandos erlebt, aber ich wurde während einer Zugfahrt in Rußland Zeuge einer Unterhaltung von Offizieren. Sie sprachen über Massenerschießungen und taten dies so, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, Juden zu erschießen. Ich war zutiefst erschrocken, als ich plötzlich auf diese Weise Augenzeuge der Wirklichkeit wurde. Vorher hatte ich zwar gelegentlich im sogenannten Feindsender von Greueltaten und Massenerschießungen gehört, aber ich war skeptisch geblieben und wußte nicht, ob es sich um Propaganda oder um die Wirklichkeit handelte. Insofern wurde mir allmählich klar, daß das ein Verbrecherregime war, dem ich als Soldat diente. Aber der Schritt, als Offizier innerlich auf die andere Seite überzuwechseln, forderte seine Zeit. Der ließ sich nicht von heute auf morgen vollziehen. Für Sophie, die kein kalt berechnender Mensch war, sondern sehr gefühlvoll sein konnte, war bezeichnend, mit welch scharfem Verstand und mit welch logischer Konsequenz sie die Dinge zu Ende dachte. Dafür ein Beispiel: Im Winter 1941/42 wurde die Bevölkerung in Deutschland in einer großangelegten Propagandaaktion aufgefordert, Wollsachen und warme Kleidungsstücke für die Wehrmacht zu spenden. Die deutschen Soldaten standen vor Leningrad und Moskau und befanden sich in einem Winterkrieg, auf den sie nicht vorbereitet waren. Mäntel, Decken und Skier sollten abgeliefert werden. Sophie vertrat jedoch den Standpunkt: "Wir geben nichts." Ich kam damals direkt von der Front aus Rußland. Ich sollte in Weimar eine neue Kompanie aufstellen. Als ich von Sophies harter Reaktion erfuhr, habe ich ihr vor Augen geführt, was eine solche Haltung für die Soldaten draußen bedeutete, die keine Handschuhe, keine Pullover und keine warmen Socken besaßen. Sie blieb jedoch bei ihrer unnachgiebigen Haltung und begründete sie mit den Worten: "Ob jetzt deutsche Soldaten erfrieren oder russische, das bleibt sich gleich und ist gleichermaßen schlimm. Aber wir müssen den Krieg verlieren. Wenn wir jetzt Wollsachen spenden, tragen wir dazu bei, den Krieg zu verlängern." Auf mich wirkte dieser Standpunkt schockierend. Wir diskutierten heftig. Mehr und mehr mußte ich jedoch einsehen, daß ihre Haltung nur konsequent war. Man konnte nur entweder für Hitler oder gegen ihn sein. War man gegen Hitler, dann durfte er diesen Krieg nicht gewinnen, denn nur eine militärische Niederlage konnte ihn beseitigen. Das hieß weiter: Alles, was dem sogenannten Feind nützte und uns Deutschen schadete, das allein konnte uns die Freiheit wiederbringen. ”Tagebuchnotizen von Hans Scholl• 31. Juli 1942: Über der Ebene hängen graue Wolken. Der Horizont ist wie ein silbergraues Band, das Himmel und Erde trennt. Auf der Erde aber leuchten die Farben durch den leichten Regen nicht minder in allen Tönen des Braun, Gelb und Grün. Wenn weit in der Ferne ein Lichtstrahl durch die Wolkendecke fällt, erstrahlt eine Fläche Landes gleich einem Spiegel, dann lacht die Erde wie ein Kind, aus dessen Augen durch Tränen hindurch ein Lächeln bricht. Und welche Pracht der Blumen blüht an diesem Bahndamm: Als ob sie sich hier alle zusammengefunden hätten, auf daß keine Farben fehlen, so blühen sie hier mit sanfter Gewalt•überall, neben verfallenen Häusern, ausgebrannten Güterwagen, verstörten Menschengesichtern. Blumen blühen und Kinder spielen ahnungslos zwischen den Trümmern. O Gott der Liebe, hilf mir über meine Zweifel hinweg. Ja, ich sehe die Schöpfung, die Dein Werk ist, die gut ist. Aber ich sehe auch das Werk der Menschen, das grausam ist und Zerstörung und Verzweiflung heißt und das die Unschuldigen immer heimsucht. Erbarme Dich dieser Kinder! Ist das Maß der Leiden noch nicht bald voll? Wann fegt ein Sturm endlich all diese Gottlosen hinweg, die Dein Ebenbild beflecken, die einem Dämon das Blut von Tausenden von Unschuldigen zum Opfer darbringen? 18. August 1942: Gestern hat mir Mutter geschrieben, Vater ist verhaftet worden wegen jener berühmten Worte, Hitler sei eine Gottesgeißel für Europa. 4 Monate muß er nun im Gefängnis verbringen. Mutter hat dem Brief die Abschrift eines Gnadengesuches beigelegt. Sie bittet mich und Werner, ebenfalls ein Gnadengesuch zu schreiben. Sie erwartet von diesem an der Front geschriebenen eine größere Wirkung als von dem ihrigen. Ich werde dies unter keinen Umständen tun. Ich werde nicht um Gnade bitten. Ich kenne den falschen, aber auch den wahren Stolz. Heute noch will ich mit Werner darüber reden. 22. Februar 1942: . . . Ein Volk, das Friedrich II. einen Großen nennt, wie klein muß es sein? Dieses Volk hat gegen Napoleon um seine Freiheit gekämpft und hat dafür die preußische Sklaverei gewählt. Ich weiß, wie beschränkt die menschliche Freiheit ist. Aber der Mensch ist im wesentlichen frei und seine Freiheit macht ihn zum Menschen.