3.2.5 Emil A. Herzig, Die seelische Dynamik des Reifeprozesses

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EFL-Kurs
2004 – 2008
Materialien
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Emil A. Herzig, Die seelische Dynamik des Reifeprozesses
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Die Einsichten von Elisabeth Kübler-Ross wurden oft missverstanden, als würden diese „Phasen“ gesetzmäßig
in immer der gleichen Reihenfolge ablaufen. Emil A. Herzig hat gezeigt, dass seelische Prozesse wesentlich
komplexer sind, und hat versucht, ihre Dynamik zu erfassen:
Die seelische Dynamik des Reifeprozesses
Der innere Weg des Patienten vom Nein zum Ja verläuft nicht gradlinig, sondern in Serpentinen: vorwärts und
immer wieder neu beginnend.
Dieser innere Prozess kann bei jeder neuen Verschärfung der Krankheit wieder von vorne beginnen.
Der Stimmungswechsel des inneren Reifeprozesses spielt sich zur Hauptsache im Unbewussten ab, äußert sich
aber sprachlich in so genannten „verschlüsselten“ Botschaften. Die Begleiter sterbender Menschen müssen daher
solche sprachlichen Signale erkennen und verstehen lernen, um einigermaßen Anhaltspunkte zu erhalten, wie
weit der Kranke auf seinem inneren Weg zur Reife ist.
Grob schematisch dargestellt, spielt sich Folgendes ab:
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Der Kranke hat also nicht nur in seinem Bewusstsein einen Weg vom Nein zum Ja (im Schema von A bis X) zu
vollziehen: in seiner Innenwelt besteht bereits unbewusst die Spannung von Nein und Ja (im Schema 1 bis 12).
Viele Patienten sterben zwar so, dass für ihre Umwelt nur das Nein hörbar ist. Die Ja-Anteile sind noch nicht ins
Bewusstsein aufgetaucht: der Patient selber konnte vielleicht noch nicht mit Bewusstheit Ja sagen zu seinem
Sterben.
Im Verlauf der Krankheit, wenn der körperliche Zustand immer deutlicher Zeichen der Schwäche und des
Zerfalls anzeigt, kommt es im Patienten zu der schwierigen Situation, dass sich – für ihn noch unbewusst – Nein
und Ja fast die Waage halten (im Schema bei G). Nach außen drückt sich diese Situation durch eine Flut von
negativen Gefühlen aus: das ist die Zeit, wo wir den Patienten als „schwierig“, „unzufrieden“, „nörgelnd“ usw.
erleben. Es ist die Zeit der Katharsis. (Der Fachausdruck Katharsis meint: seelisch-geistige Läuterung durch
Bewusst-Machen und Abreagieren innerer Spannungen.)
Für das innere Reifen des Patienten ist es eminent wichtig, dass seine Umwelt dieses Stadium der Katharsis
richtig versteht und sich auch helfend verhalten kann. Hören Angehörige und Pflegepersonal nur das Schimpfen
und nicht auch, dass sich dahinter ein Reifeprozess abspielt, reagieren sie meist falsch: Sie beschwichtigen oder
wollen durch Zureden eine bessere Einsicht fördern. Manchmal nehmen sie die Beschuldigungen persönlich und
verteidigen sich. Dies führt dann dazu, dass die Patienten ihre Auflehnung in sich hineinschlucken und in
stummer Depression verharren. Depression ist aber sehr oft ein Zustand ungeäußerter Auflehnung oder
ungeweinter Tränen.
Um die innere Entwicklung des Patienten in diesem Stadium nicht zu blockieren, bedarf es geübter Begleiter, die
dem Patienten geduldig helfen, seine negativen Gefühle angstfrei auszusprechen. Sie müssen in der Lage sein,
die unausgesprochene Auflehnung des Patienten echt anzunehmen und ihn zu begleiten, ohne dass sie selber
Angst haben vor den seelischen Abgründen, die sich da auftun.
Zusammenfassung:
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o
Die innere Bereitschaft zum Sterben (das Ja zum Tod) ist grundsätzlich in jedem Menschen
unbewusst vorhanden; in unserem Kulturbereich allerdings bei den meisten stark verdrängt.
o
Jeder auf den Tod kranke Mensch hat die Möglichkeit, zu einer bewussten Annahme seines
Todes zu reifen.
o
Dieser Reifeprozess ist nicht als eine gradlinige Entwicklung auf der Bewusstseinsebene zu
verstehen, sondern er spielt sich hauptsächlich im Unbewussten ab.
o
Dabei sind bei den meisten Patienten bestimmte Stadien der Entwicklung zu beobachten, die
entsprechende Einstellungsveränderungen kennzeichnen.
o
Das Verhalten der Begleiter beeinflusst diesen unbewussten Reifeprozess wesentlich.
o
Dem sterbenden Patienten selber ist selten klar bewusst, was innerlich in ihm vorgeht; sein
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innerer Zustand äußert sich in „verschlüsselten“ Botschaften (Signalen).
o
Die Begleiter müssen in der Lage sein, diese Signale zu erkennen, zu verstehen und in ihr
Verhalten einzubeziehen.
o
Die Kenntnis des inneren Reifeprozesses ist Voraussetzung für ein helfendes Verhalten der
Begleiter.1
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Aus: Emil A. Herzig (Hg.): Betreuung Sterbender. Beiträge zur Begleitung Sterbender im Krankenhaus, Basel
1981 (3. Aufl.), Seite 19-23.
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