Am ersten Märzwochenende musste Walter O. Frey sein Programm wieder mal umstellen. Der Sportmediziner und Leiter des Swiss Olympic Medical Center balgrist move›med in Zürich war mit dem alpinen Schweizer Frauenteam beim Weltcup in Ofterschwang. Doch anstatt bis zum Slalom am Sonntag zu bleiben, fuhr Frey nach Zürich zu Denise Feierabend. Die Technikspezialistin hatte sich am Donnerstag im Training das Kreuzband gerissen. Die Operation war erst einen Tag vergangen, in dieser Phase ist Beistand jeder Art besonders wichtig. Jetzt sitzt Frey in seinem Praxiszimmer am Balgrist. Eben hat er ein junges Kadermitglied aus dem Berner Oberland verabschiedet, das Mädchen war an Krücken aus dem Raum gehumpelt. Diagnose: Kreuzbandriss. Wie die Weltcupathletinnen Fabienne Suter, Denise Feierabend, Celina Hangl, dazu die schweren Knieverletzungen von Dominique Gisin und Marianne Kaufmann-Abderhalden. Immer wieder diese Momente grosser Verzweiflung bei den Fahrerinnen - verlieren Sie manchmal nicht die Lust, das immer wieder mitzumachen, Herr Frey? Frey überlegt einen Moment, dann kommt eine überraschende Antwort: „Kennen Sie das Buch von Rolf Dobelli: <Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen>?“ Worauf Frey hinaus will: Es hilft enorm, sich und anderen die richtigen, die entscheidenden Fragen zu stellen. Hier merkt man rasch, dass es keinen speziellen Grund gibt, dass sich diesen Winter überdurchschnittlich viele Schweizerinnen verletzt haben. Also kein falsches Training, keine schlechte physische Grundausbildung. „Es sind die physikalischen Grundgesetze“, sagt Frey. Beim Skifahren wirken extreme Kräfte auf den menschlichen Körper, und je härter die Unterlage ist, desto stärker ist der Widerstand, ergo die Wirkung der Kräfte. Solang die Fis den Forderungen der Fahrerinnen nachkommt, wegen Chancengleichheit möglichst harte Piste zu präparieren, sind gewisse Kräfte deshalb nicht zu vermeiden, was unweigerlich zu Unfällen führen kann, egal in welcher Nation. Natürlich: Frey wäre ein schlechter Arzt, wenn er nur die Folgen bekämpfen würde. Mittlerweile hat sich der 54-jährige Zürcher endgültig in Schwung geredet. Der zentrale Begriff: „Kernstabilität“. Frey nennt dies einen „Quantensprung in der Trainingslehre der letzten zehn Jahre“, vergleichbar mit dem Siegeszug des Stretchings in den 80er Jahren. Es geht um die Rückbesinnung auf den Körperschwerpunkts im Beckenbereich. Nur wer hier stabil sei, könne höchste Leistungen erbringen. Das gilt auch für Hobbysportler. Frey dringt nun in seiner Analyse immer weiter in die Tiefe, spricht von den „kleinen stabilisierenden Muskeln“, ohne sie können die grossen Muskeln nicht die optimale Leistung erbringen. Ein Experiment. Setzen Sie sich auf einen Stuhl, und zwar so, dass sich die linke Handfläche unter dem linken Oberschenkel befindet, die rechte unter dem rechten. Nun spannen Sie die rechte Gesässmuskulatur an, dann die linke. Sie dürfen an der Handfläche keine Bewegung spüren. Falls doch, bewegt sich die Oberschenkelmuskulatur mit und das ist nicht gut, wenn man einzelne Muskelgruppen ganz gezielt trainieren will. „Das Gehirn muss die einzelnen Muskeln finden“, sagt Frey. Das ist die grosse Aufgabe. Gewiefte Trainer würden dies bereits ins tägliche Training einbeziehen, ansonsten gehöre dies ins Wirkungsfeld der Physiotherapeuten. Mike von Grünigen, Riesenslalom-Weltmeister von 2001, reist deshalb mit seinen Kaderathleten aus dem Berner Oberland regelmässig zu balgrist move›med nach Zürich. „70 bis 80 Prozent der Probleme bei Hobbysportlern liegen in der fehlenden Kernstabilität“, sagt Frey. Der legendäre „six pack“ hat nicht ausgedient, aber er allein bringt niemanden an die Spitze. Frey drückt das mit einem Lächeln etwas überspitzt aus: „Der six pack hilft beim Tragen einer schweren Einkaufstüte, aber er hilft nicht, wenn man eine Belastung am Rücken aushalten muss.“ Untersuchungen bei Kreuzbandrissen haben klar ergeben, dass sie je weniger auftreten, desto mehr der Athlet mit dem Körperschwerpunkt über dem Knie steht. „Verliert er diesen Schwerpunkt“, sagt Frey, „dann beherrscht der Ski das Knie.“ Walter O. Frey sammelte Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre selbst als Skifahrer FisPunkte, fuhr im Studenten-Nationalteam. Lachend erzählt er, wie er im Zürcher Kader mit Coach Karl Frehsner und Teamkollege Peter Müller durch den Wald rannte. „Ich weiss also schon, wie Athleten und Athletinnen funktionieren, was sie brauchen“, sagt er, dank seiner medizinischen Ausbildung verfüge er über „einen doppelten Rucksack“. Er war Teamarzt beim HC Davos, kennt Anekdoten von Bergbauern, die täglich im Stall gearbeitet haben, obwohl ihre Knie auf Röntgenbildern eigentlich nicht mehr zum anschauen waren, hat mit Langläufern gearbeitet. Am Tag unseresTreffens im balgrist move›med instruierte er gerade eine Mitarbeiterin, die mit Rodlern unterwegs ist. Zwei Tage später reiste Frey nach Ruhpolding zur Biathlon-WM. Ist ein Kreuzbandriss wie bei Denise Feierabend da nicht längst Routine? Frey unterbricht. „Ich habe keine Elefantenhaut“, sagt er ernst, „so etwas wird nie zur Routine.“ Die Blicke der Fahrerinnen, wenn sie auf seine Diagnose warten, die er nach der ersten Untersuchung oft schon vermutet, die das MRI bestätigt. „Ihre Augen sagen: Gell, es ist nicht das, was ich befürchte?“ Frey kennt die Schwere der Operation, er weiss, welch mühsame Rehabilitation folgt, die Schmerzen. Er kann mit Gesprächen helfen, mit Tipps. „Denise macht schon Rumpftraining“, sagt er, zwei Tage nach der Operation, an der Kernstabilität könne man bereits im Krankenbett arbeiten. Walter O. Frey kann Perspektiven schaffen. ENDE Kasten Achtung, fertig, aus! Nur wenn die Rehabilitation für verletzte Spitzensportler so kurz wie möglich ausfällt, kann die Rückkehr in den Beruf gelingen. Besonders wer sich im Jugendalter schwer verletzt, hat nur bei optimaler Betreuung überhaupt eine Chance. Bloss: Wer bezahlt diese aufwendige Rehabilitation? Die Krankenkassen halten sich an die üblichen Rahmenkosten, doch was für „normale“ Menschen ausreicht, ist für Spitzensportler viel zu wenig, „dann sind die Mittel nach einem Kreuzbandriss schon nach drei Wochen aufgebraucht“, sagt Walter O. Frey. Deshalb wurde vom medizinischen Zentrum move›med in Zürich eine Stiftung gegründet, die diese finanzielle Lücke schliessen soll. Stiftungsräte sind unter anderem Mike von Grünigen und Tanja Frieden, die Anwälte Stephan Netzle und Urs Brunner, die Wirtschaftsvertreter Hans Lerch (ehemals CEO Kuoni Reisen), Gerhart Isler (ehemals Verleger „Finanz und Wirtschaft“) und Steve Schennach (Ochsner Sport). Die Stiftung ist auf Gönner und Spenden angewiesen. www.movemed.ch/pages/stiftung