Verantwortung und Verantwortungsdiskurs

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Verantwortung und Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen
K. Wehkamp
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Verantwortung und Verantwortungsdiskurs
im Gesundheitswesen
Wer ist verantwortlich
für wen
und wofür ?
K. Wehkamp
und Studierende der
Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg,
Studiengang Gesundheit/ Public Health :
Petra Bödeker, Dörte Heinsohn,
Martina Schlappner
April 2004
Nina Egger, Birte Nevermann,
Verantwortung und Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen
K. Wehkamp
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1. Gesundheit und Verantwortung : ein öffentlicher Diskurs über
Werte und Verpflichtungen als
Beitrag zur Veränderung
gesellschaftlicher Entwicklungen. Moralische Diskurse sind von
entscheidender Bedeutung für sozialen Wandel. Politik und Recht
basieren auf ihnen.
Ein solcher Diskurs kann nur als ethischer und politischer Diskurs geführt werden. Eine
ernste Behinderung dieses Diskurses ( Grund für die Verspätung?) ist die Unkenntnis der
Ethik unter deutschen Führungskräften. Der Versuch, „Gesundheit“ politisch und
gesellschaftlich zu gestalten, rekurriert bei uns vorwiegend auf analytische oder
beschreibende Wissenschaften , z.B. die Gesundheitsökonomie, die Soziologie, „Public
Health“. Ohne Zweifel sind deren Beiträge notwendig. Aber die Bestimmung des Kurses
kann von dorther nicht kommen. Weder gibt es „theoretisch“ einen Weg von der
Beschreibung des „Seins“ zum Sollen, noch läßt sich von dorther eine Motivation der
Menschen aufbauen.
Vision: eine Gesellschaft mündiger Bürger, deren Menschlichkeit
und Solidarität bezogen auf Leid, Krankheit, Verletzung und
Behinderung ein Konzept der Sorge um die Gesundheit gestaltet,
das genau diese Werte verkörpert. Gesundheitssystem,
Gesundheitspolitik und Heilkunde auf hohem wissenschaftlichen
und wirtschaftlichen Niveau, deshalb auch von hoher ethischer
Sensibilität und Qualifikation.
2. Der moralische ( und der politische) Diskurs über Gesundheit muß
um praktisch zu werden (mindestens) drei Aspekte integrieren:
Werte ( Qualitäten), Strukturen ( z.B. von Institutionen u.a.) und
Finanzierungen.
Die Crux in Gesundheitspolitik und Management liegt darin, daß überwiegend nur zwei
Aspekte des Dreiecks berücksichtigt werden. In der Folge entsteht der die aktuelle
Situatiuon in Deutschland kennzeichnende „Riß zwischen zwei Kulturen“, ( Gallmeier,
Wehkamp), nämlich der Wertewelt der Heilberufe und der Wertewelt des Ökonomischen.
Dieser Riß behindert konstruktive Veränderungen und demoralisiert die Menschen in den
Gesundheitsberufen. Er nagt an der moralischen und motivationalen Substanz der
Medizin. Es gibt zwei Wege, dieses Defizit zu beseitigen: Erweiterung von Bewußtsein
und Qualifikation der Entscheidenden sowie Änderungen der „Ordnung des Diskurses“ (
Foucault). Letzere beinhaltet: die Erfahrungswelt der tagtäglichen Medizin zur Sprache
bringen, die moralischen Dilemmata aus der Welt der Arzt- Patient- Beziehungen
analysieren und ernst nehmen, die Ärzte in den Praxen, die Assistenzärzte und Oberärzte,
die Pflegenden, die Pscychotherapeuten ebenso hören wie die leitenden Ärzte. Ärztlichen
Sachverstand in Politik und Wirtschaft einbringen heißt, die Wertewelt der Medizin samt
ihrer Verletzungen zum Thema machen, ( das Wissen um die technische Behandlung einer
Erkrankung ist hier nicht entscheidend).
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3. Verantwortung und Selbstverantwortung sind moralische
Kategorien, die sich – so unsere Annahme- zur elementaren
Orientierung im Themenfeld Gesundheit eignen. Sie betreffen das
Verhältnis von Fürsorge und Autonomie , Grundentscheidungen
zur Finanzierung von Gesundheitsdiensten und –produkten sowie
zur Gestaltung von Gesundheitssystem und Gesundheitsbranche.
Wir vermuten, daß Veränderungen im Verhältnis von Verantwortung und
Selbstverantwortung EMPIRISCH im „Themenfeld Gesundheit“ sowie darüber hinaus (
z.B. in der Sozialpolitik ) erkennbar sind und daß solche Veränderungen auch sinnvoll, ja
notwendig und sogar moralisch geboten sind. Wir müssen uns dazu in die Lage versetzen,
unseren Ausgangspunkt zu beschreiben: wie sind Verantwortung und Selbstverantwortung
real ausbalanciert und wie sind sie im soziologisch zu beschreiben? Zu dieser Frage
wurde in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten kaum öffentlich debattiert, obwohl
das „Deutsche Modell“ medizinischer Versorgung und Verantwortung einst weltweit
vorbildlich war. Es wurde von Abraham Flexner vor ca. 100 Jahren im Auftrag der
Carnegie- Stiftung beschrieben und vor kurzer Zeit von George Khushf ( Univ. of South
Carolina) unter dem Stichwort „Organisational Ethics“ auch in Deutschland vorgestellt.1
4.
Nach Abraham Flexner 2 zeichnet sich das deutsche Strukturmodell der Medizin aus
durch Ansiedlung der Behandlungsverantwortung auf der Ebene der Arzt- PatientBeziehung. Der Arzt entscheidet in Verantwortung für den Patienten auf der Basis des
Standes medizinischer Wissenschaft. Dabei ist die medizinische Indikation Ausschlag
gebend. Wirtschaftliche Überlegungen spielen auf dieser Ebene keine Rolle. Die
Verantwortung für die finanzielle Sicherstellung ist hingegen auf der Makroebene
angesiedelt: Gesellschaft und Staat gewährleisten die Handlungsfähigkeit der Mikroebene.
Die der „Mesoebene“ zugeordneten Einrichtungen der Krankenkassen, Verwaltungen,
Institutionen und Strukturen spielen eine Vermittlungsrolle, sind aber keine aktiven
„Player“ und damit auch weder in der ( in aktueller Terminologie formuliert) Qualitätsnoch in der Kostenverantwortung.
Medizin und Verantwortung: Deutschland 1900
( Flexner, Khushf, USA)
Makroebene:
Gesellschaft übernimmt Verantwortung für Finanzierung
1
George Khushf, Professor an der Univ. of South Carolina, auf Vorträgen in der Ev. Akademie Arnoldshain (
2002) und im LBK- Hamburg im Januar 2004
2
zitiert nach G.Khushf 2004
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Mesoebene:
Unterstützung der Mikroebene im Rahmen der Vorgaben der
Makroebene
Mikroebene: Medizinische Verantwortung für Patienten auf Basis
der medizinischen Wissenschaft ohne Berücksichtigung der Kosten
bei Therapieentscheidungen
5.
Dem herkömmlichen Modell medizinischer Versorgung in Deutschland entspricht ein
quasi hoheitliches Versorgungskonzept , dem auf der „Mikroebene“ ein ausgeprägter
Paternalismus entspricht. Im „Bismarckian System“
gibt der Staat die
Organisationsverantwortung an Kammern und Kassen. Gesundheitspolitik konzentriert
sich auf Finanzierungspolitik des Gesundheitswesens. Ärzte „versorgen“ Patienten nach
dem Stand der Medizin. Das Rechtssystem unterstützt dieses Konzept. Patienten sind
„Patienten“,
„Anspruchsberechtigte“, „Versorgungsempfänger“, „Laien“ , „Behandlungsobjekte“ . Versuche zur Einführung des „Subjekts“ in die Medizin bleiben
beschränkt auf Nebenströmungen in der Medizin, z.B. die anthropologische Medizin V.
v. Weizsäckers, die theoretisch sehr anspruchsvoll, in der Praxis jedoch kaum einflußreich
wird.
Formeller Auslöser einer medizinischen Maßnahme und zugleich Zeichen für die
Kostenübernahme durch die Einrichtungen der Solidargemeinschaft ist die „medizinische
Indikation“. Der Arzt entscheidet aufgrund biologischer Daten( ggf. unter
Berücksichtigung psycho- sozialer Aspekte und vorhandener Ressourcen) was zu tun und
was zu lassen ist. Das Kollektiv der wissenschaftlichen Medizin schafft die wissensmäßige
Grundlage. Der Patient sollte einverstanden sein, später wird seine schriftliche
Einverständnis verlangt. Patientenrechte werden formuliert. Patientenpflichten finden sich
im Ethik- Code der American Medical Association, nicht aber in der Welt der deutschen
Medizin.
Der deutsche Patient ist ein Mensch, der aufgrund von Krankheit,
Verletzung oder Gesundheitsgefahren vom Arzt definiert wird: Im
Angesicht der Medizin wird der Mensch zum Patienten. Er sucht
den Arzt auf. Dieser entscheidet und handelt. Die Krankenkasse
zahlt. Der Staat sorgt dafür, daß die Kasse zahlungsfähig ist.
Der Patient sollte den Anweisungen des Arztes folgen. Compliance heißt das moderne
Zauberwort. Aktive Verantwortung für den Gesundungsprozeß oder gar für die
Vermeidung von Krankheit trägt er nicht.
Prävention spielt eine marginale Rolle in deutschen Gesundheitswesen. Ökonomische
Anreize zur Gesunderhaltung gibt es kaum. Das Recht zur Schädigung der eigenen
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Gesundheit gilt als unantastbares Privatrecht. Umgekehrt gilt ein uneingeschränkter
Anspruch auf Kostenübernahme durch die Gemeinschaft. Die Vorstellung, daß ein
Comatrinker die Kosten für seine lebensrettende Behandlung selber tragen müßte, wäre
revolutionär.
Hoheitliche Medizin in Deutschland :
- Patient als Anspruchsberechtigter und
Versorgungsempfänger
- Medizinische Indikation als Schlüssel
- Arzt als Entscheider
- Paternalismus
- Patientenrechte- keine Patientenpflichten
- Risikoverhalten Privatsache
- Folgenbewältigung: Gemeinschaftssache
- Marginale Prävention
6. Der autoritäre Paternalismus entmündigt nicht nur den ( von ihm
geschaffenen) ‚Patienten‘, er ist auch eine wichtige Ursache für das
Kostenproblem des öffentlichen Gesundheitssystems.
Der Paternalismus läßt sich in der Medizin nicht mehr finanzieren.
Er ist das eigentliche Kostenproblem!
Der Paternalismus der Ärzte ,Therapeuten und Pflegenden sagt: meine Verantwortung für
dich zwingt mich zur weitest gehenden Minimierung von Risiken für dich. Ich muss
diagnostisch ausschließen, was ich technisch ausschließen kann. Ich muss therapeutisch
versuchen, was immer ich versuchen kann. Das Recht zwingt mich obendrein dazu. ( wir
nennen das „defensive Medizin“).
Der paternalistische Typus von Verantwortung
Anstieg von ineffektiver Medizin.
führt zu einem
Das ist für die Leistungserbringer durchaus lukrativ. Aber Ärzte haben bislang auch gute
medizinische und moralische Gründe für sich. Wer will schon gerne etwas übersehen? Wer
will die Verantwortung übernehmen für einen unterlassenen Behandlungsversuch? (Ärzte
würden sich selbst und ihre angehörigen „schlechter“ behandeln als ihre Patienten, da sie
bei Entscheidungen für sich selbst eine realistischere Abwägung zwischen Aufwand und
Nutzen vornehmen.)
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Da das Angebot des medizinisch Machbaren mit dem ungebremsten wissenschaftlichen
Fortschritt kontinuierlich steigt, muss ein Weg gefunden werden, eine sinnvolle Auswahl
der Möglichkeiten zu treffen. Diese Auswahl kann nicht mehr paternalistisch erfolgen.
Distributive Verteilung muss schrittweise ersetzt werden durch selbst verantwortete
Wahlentscheidung.
Es ist letztendlich gar nicht „die Ökonomie“, die den neuen Verantwortungstypus
erzwingt, sondern die Vielfalt der bio-medizinischen Optionen. Letztlich ist es eher
Überfluss ( an Möglichkeiten) als Mangel an Ressourcen. Die „Ökonomie“ ist teils
Medium, teils Motor des Entwicklungsprozesses. Die über traditionelle Systeme
eingesammelten Beiträge der GKV kommen dieser Dynamik nicht nach. ( plus
Demografie, plus Massenarbeitslosigkeit und Einnahmeausfall usw.) so entsteht der
Eindruck des chronischen mangels oder gar der „Kostenexplosion“.
7. Der Diskurs um Verantwortung und Selbstverantwortung ist aus
Gründen des Erwachsenwerdens und als Korrektur eines Wegs zur
Infantilisierung dringend geboten. Es bedurfte erst der
Finanzierungsnot des öffentlichen Gesundheitswesens, um den
Diskurs voranzubringen.
Der selbst verantwortliche Bürger und Patient ist „erwachsen“. Er
entscheidet, was bei ihm gemacht wird. Er übernimmt
Teilverantwortung für Massnahmen und Unterlassungen. Das
könnte den Effektivitätsgrad der Medizin erhöhen und die
Motivation für Prävention sowie Gesundheitsförderung erhöhen.
Damit diese Strategie greift, müssen bei diesen Entscheidungen wirtschaftliche
Überlegungen eine Rolle spielen. Deshalb wird der selbst- Verantwortliche auch zum
Selbst-zahler ( zumindest partiell).
Der selbst verantwortliche Patient entscheidet selbst, wieviel Geld er für seine Gesundheit
ausgeben will. Deshalb entscheidet er über seinen Versicherungsstatus und über das Mass
selbst finanzierter eingekaufter Leistungen.
Der selbst verantwortliche Patient sieht sich gegenüber der Solidargemeinschaft moralisch
verpflichtet. Er wägt Eigeninteressen und Gemeinschaftsinteressen gegen einander ab.
Der selbst- verantwortliche Patient verwandelt sich zum Health Care Consumer.
Er investiert Teile seines Einkommens in die Förderung und den Schutz seiner Gesundheit
( sofern er über die wirtschaftlichen Voraussetzungen verfügt).
8. Selbstverantwortung
in
Sachen
Gesundheit
ist
eine
Idealvorstellung, die weit von der Realität entfernt ist. Noch fehlen
die Voraussetzungen, auf Seiten von Patienten , Medizin ,
Management, Gesellschaft und Politik. Die Sparmaßnahmen im
Gesundheitswesen laufen dem Ziel zuwider. Auch die einseitige
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Betonung von Patientenrechten führt eher zur Verstärkung der
Unmündigkeit .
Allen anderslautenden Wünschen zum Trotz: in der allergrößten Mehrheit der Fälle
können Patienten ihre Entscheidungen nicht selbst treffen. „Informed consent“ ist nur sehr
begrenzt möglich.
In den allermeisten Fällen fehlt es an Wissen und Erfahrung auf Seiten der Patienten und
an Gesprächsqualifikation und Gesprächszeit auf Seiten der Ärzte. Für Gespräche steht
kaum noch Zeit zur Verfügung.
Einseitige Förderung von Patientenrechten ( unter Ausblendung von Pflichten und
Verantwortlichkeiten) sind Ausdruck des Infantilisierungstrends in unserer Gesellschaft.
Sie entsprechen einem „sozialpädagogischen“ Paternalismus.
Die alten Hierarchien in Medizin und Pflege sind ungebrochen . Sie setzen sich fort in
Hierarchien gegenüber Patienten.
Quasi militärische Verantwortungs- und Leitungsstrukturen
mit Elementen
mittelalterlicher Leibeigenschaften im medizinischen und pflegerischen Personalsystem
sind noch am Modell der Ver-sorg-ung orientiert. Sie sind Medizin-orientiert, nicht
Patienten orientiert.
Das geht bis in die Arbeitsteilung der Medizin und ihre Disziplinenbildung.
Versäumnisse der Demokratisierung der Medizin rächen sich.
Unabhängige Information ist schwer zu bekommen- weder für Bürger und Patienten noch
für Ärzte: Bsp Womens health initiative –
Dem Defizit an Eigenverantwortung entspricht eine Dominanz kurativer Medizin und ein
Kümmerdasein der Prävention und Gesundheitsförderung.
9. Eigenverantwortung ist kein Gegenpol zur Verantwortung. Beides
ist wichtig. Die Medizin sollte in der Verantwortung gegenüber
Bürgern und Patienten bleiben. Das wird aktuell durch
Management , Politik und Wirtschaft erschwert.
Empirisch vollzieht sich eine schrittweise Konzentration der Verantwortung auf die
„Mesoebene“. Fehlentwicklungen führen dazu, daß die Agenten der Mikroebene, z.B . die
behandelnden Ärzte und Therapeuten, zwar rechtlich und moralisch in der Verantwortung
stehen, aber durch Ressourcen- und Strukturentscheidungen von Institutionen und
Management diese Verantwortung nicht ausreichend geübt werden kann.
Das Ethos der Heilkunde müßte deshalb auch Maßstab für Handeln und Entscheidungen
der übergeordneten Ebenen sein. Hier muß das Zusammenspiel ethischer und
ökonomischer Überlegungen einen festen Ort haben. Deshalb ist eine „Ethik der
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Organisationen und Institutionen“ ( „Organisational Ethics“) eine ENTSCHEIDENDE ,
keineswegs eine beliebige Voraussetzung der notwendigen Veränderungen.
Die institutionellen, finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Medizin
bleiben dieser nicht äußerlich. Sie nehmen starken Einfluß auf die Indikationsstellungen
und die Qualität der Maßnahmen. DRG’s, DMP’s , Management- und
Finanzierungskonzepte dürfen deshalb nicht ausschließlich an ökonomisch-politischen
Tischen entworfen werden. Sie bedürfen einer fortlaufenden, empirisch orientierten
ethischen Reflexion, um nicht nach Verursachung von Fehlentwicklungen und
Katastrophen letztendlich zu scheitern.
Die Medizin erstickt geradezu an unsinnigen bürokratischen Anforderungen. Viele
Verfahren zur Qualitätssicherung, Zertifizierung, Pflegedokumentation usw. lassen keinen
Sinn erkennen. Die Klagen darüber werden weitgehend ignoriert. Disease- ManagementProgramme sind so stark bürokratisiert, daß Ärzte es ablehnen, an ihnen teilzunehmen.
Junge Ärzte erleben im Berufsalltag die Kliniken als rechtsfreien Raum. Gerichtliche
Urteile geben weder Schutz noch Vertrauen. Überstunden werden nicht bezahlt, aber
Anwesenheit erzwungen. Immer mehr junge Ärzte gehen der Medizin verloren oder
verlassen Deutschland. Die herrschende Politik bringt weder Verständnis noch Schutz zu
Stande, wirkt tendenziell feindselig gegen Ärzte und Medizin. Eine Forschung über die
Auswirkung dieser Rahmenbedingungen ist kaum vorhanden, wird eher blockiert als
gefördert.
-
-
Bsp. DRG’s :
innovative Verfahren werden ausgebremst, da es Jahre dauert, bis sie von den
Abrechnungskategorien erfaßt und bewertet werden. Bis dahin gibt es kein Geld dafür.
DRG’s greifen Großkliniken mit hohem Leistungsniveau an, da die Orientierung an
Durchschnittswerten die Klinik begünstigt, die am wenigsten mit einem Patienten anstellt
( vorgerechnet vom Klinikum Nürnberg).
DRG’s führen bei geriatrischen Patienten zu Fehlversorgung mit High-Tech- Diagnostik
und Therapie zu Lasten elementarer Pflege und Betreuung, da nur so eine hinreichende
Finanzierung möglich erscheint.
Karl Jaspers sprach von dem Wunsch von Kranken und Patienten, vertrauen zu können.
Mündige Patienten werden weiterhin Vertrauen suchen, bei Ärzten , Therapeuten und
Pflegenden, bei Kliniken und Gesundheitsunternehmen aller Art. Auf dem Weg zu einer
besseren , effizienteren und gerechten Heilkunde kommt es auch auf Ärzte an, die
fürsorglich helfen, Patienten entscheidungsfähig zu machen. Die ärztliche Verantwortung
wird nicht geringer, im Gegenteil. Ein empathischer Paternalismus
folgt einer
Verantwortung für den Anderen im besten Sinne. Er speist sich aus einem heilkundlichen
Ethos, der keineswegs grundsätzlich ökonomischen Werten entgegensteht. Ohne solche
Menschen kann eine Neuordnung der gesundheitsbezogenen Dienste nicht gelingen.
10. Verantwortung der Politik
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Politik steht in Verantwortung für die Gesundheit der Bürger. Das
sollte sich auch durch wachsende Selbstverantwortung nicht
ändern. Sie steht auch in Verantwortung für die Heilkunde.
Die Politik wird dieser Verantwortung nicht hinreichend gerecht.
Dies ist nicht nur in Deutschland der Fall. Und die
Herausforderungen sind außerordentlich komplex.
Wir haben es zu tun mit gesellschaftlichen und kulturellen
Defiziten,
strukturellen
Defiziten
im
Aufbau
von
Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik, mit mangelnder
gedanklicher Durchdringung der Problematik und mit Schwächen
diskursethischer Qualifikation.
Diese Schwächen bedrohen die Gesundheit unserer Bevölkerung,
(ganz besonders von Kindern , Jugendlichen sowie alten und
behinderten Menschen) sowie Ethos und Motivation in den
Heilberufen.
Nicht nur in der Welt der Kliniken und Praxen geht es um eine neue Veranwortlichkeit.
Die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung macht andere Beobachtungsposten und
Handlungsträger erforderlich. Familien, Schulen, Industrie, Dienstleistungsanbieter und
Medien üben z.T. einen verheerenden direkten oder indirekten Einfluß auf die Gesundheit
von Menschen aus ( Vernachlässigung, Alkohol, Drogen, Rauchen, Verhaltensstörungen
und Hörschädigungen bei Kindern und Jugendlichen, Ernährungsstörungen,
Bewegungsmangel , Gewalt- und Unfallfolgen, Suicide usw. usf.). Manche industrielle
Produkte oder durch Medien vermittelte Leitbilder haben starke die Gesundheit
schädigende Potentiale. Während die Pharma- Industrie diese Entwicklungen nüchtern
analysiert um künftige Produktentwicklungen darauf einzustellen, sind wir politisch noch
weitgehend machtlos, diesen Entwicklungen wirksam zu begegnen.
Wir haben im Grunde keine Strukturen einer Gesundheitspolitik, keine planende,
korrigierende Subjekthoheit zu Fragen der Gesundheit.
Die immer wieder zitierten „hochkarätigen Gesundheitsexperten“ sind überwiegend
Experten für Fragen der Finanzierung von Krankheiten ohne Kontakt zur Realität der
Versorgung.
Das heilkundliche Ethos als Kulturerbe der Menschheit ist in
Gefahr, mehr noch, es ist z.T. schwer korrumpiert. Die empirische
Erfahrungswelt der Medizin muß deshalb dringend mit den Ebenen
der Betriebswirtschaft und Politik verwoben werden. Man muß
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hinschauen
was geschieht, muß den Mut haben, das
Wahrgenommene auszusprechen , muß jene zu Wort kommen
lassen, die noch sensibel genug sind, in einer durch Bürokratie ,
Sonderinteressen und Routinen fast erstickten Medizin das
Kernanliegen wahrzunehmen.
Prof. Dr. rer.pol. Dr. med. Karl-Heinz Wehkamp
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Lohbrügger Kirchstr. 65
D- 21033 Hamburg
e-mail: [email protected]
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