Ärztliches Handeln zwischen Heilauftrag und Geschäft, zwischen Kostendruck und bürokratischem Zwang Ulrich H.J. Körtner Institut für Ethik und Recht in der Medizin Die Medizin als Teil des Gesundheitssystems Ärztliches Handeln findet innerhalb des Gesundheitssystems (Health Care System) statt. Das Gesundheitssystem umfasst neben der Medizin und dem ärztlichen Beruf noch weitere „Gesundheitsanbieter“ und Professionen. Das individuelle ärztliche Handeln und die individuelle Interaktion zwischen Arzt, Ärztin und Patient findet in einem systemischen bzw. organisationalen Rahmen statt, der das ArztPatienten-Verhältnis, die Kommunikation, Diagnostik und Therapieverlauf entscheidend beeinflusst. Begriff des Gesundheitswesens Gesundheitswesen (engl. health care system): Die Gesamtheit aller Institutionen, die Güter und Dienstleistungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit anbieten und erbringen, sowie jener Institutionen, die dazu beitragen, dass Menschen mit ihrer Krankheit oder Behinderung ein Leben mit bestmöglicher Lebensqualität führen können. (WHO 2002) Gesundheitspolitik Die auf das Gesundheitswesen oder Gesundheitssystem bezogene Gesundheitspolitik läßt sich unterteilen in: health polity (institutionelle rechtliche Ordnung) health policy (Ziele und Inhalte) health politics (politische Entscheidungsfindung) Ethik im Gesundheitswesen Ethik im Gesundheitswesen hat einen zweifachen Gegenstand (vgl. J. Wallner 2004): 1. das institutionelle Gefüge des Gesundheitswesens und seine unmittelbaren Interaktionspartner 2. das individuelle und das gemeinschaftliche Handeln innerhalb des Gesundheitswesens Grunddimensionen der Ethik Individualethik Personalethik Sozialethik Umweltethik Ethik im Gesundheitswesen erstreckt sich auf alle vier Grunddimensionen der Ethik. „Topische“ Ethik Bereichsethik ist topische Ethik Topos = griech. „Ort“, „Allgemeinplatz“ Orte der Ethik im Gesundheitswesen: Institutionen und Organisationen, z.B. Krankenhäuser, Pflegeheime, Hospize, extramurale Sozial- und Pflegestation, Beratungsstellen. Ethik des Gesundheitswesens ist auch Ethik der Organisationen und Institutionen. Systemtheoretische Betrachtungsweise der Medizin I: Grundbegriffe der funktionalen Systemtheorie Medizin ist ein Teilsystem des Gesundheitswesens, beide sind wiederum Teilsysteme der Gesellschaft. Soziale Systeme in Sinne der funktionalen Systemtheorie Niklas Luhmanns sind Formen menschlicher Kommunikation: „sinnhaft-kommunikative Operationen“. Systeme entstehen durch Übernahme einer Funktion Systeme sind selbstreferentiell. Ihre Kommunikation basiert auf einer binär codierten Leitdifferenz. Differenz von System und Umwelt: „Ein System ‚ist‘ die Differenz zwischen System und Umwelt“ (Luhmann). System und Beobachtung: Beobachter 1., 2. 3. Ordnung Komplexitätsreduktion Sinn als Medium sozialer Systeme Systemtheoretische Betrachtungsweise der Medizin II: Ebenen des Gesundheitssystems Vgl. Johannes Bircher und Karl-H. Wehkamp 2006 Systemtheoretische Betrachtungsweise der Medizin III: Wechselseitige Durchdringung der Systeme Soziale Systeme wie Medizin, Ökonomie, Politik und Wissenschaft durchdringen sich. Über das übliche Wechselspiel zwischen System und Umwelt, in welchem Systeme jeweils die Umwelt anderer Systeme bilden, kommt es zu Hybridbildungen. Beispiel: Medizin und Ökonomie „Patienten sind zu Kunden geworden und Ärzte zu Dienstleistern, die durch Manager nach Bedarf eingesetzt und ausgetauscht werden können. Auf diese Weise versucht das Wirtschaftssystem, die Medizin immer mehr zu vereinnahmen.“ (J. Bircher/K.-H. Wehkamp) N.B: Solche Entwicklungen gehen jedoch nicht allein vom System Wirtschaft aus, sondern sind politisch gewollt. Verrechtlichung der Medizin Bircher/Wehkamp: Die Medizin löst sich auf! „Aus Gründen der Tradition erscheint die Bezeichnung ‚Medizin‘ vielleicht noch als Teil des Gesundheitssystems, das aber nach politischen, wirtschaftlichen wissenschaftlichen, technischen und juristischen Prinzipien gemanagt wird und seinerseits im Wirtschaftssystem aufgeht.“ (J. Bircher/K.-H. Wehkamp) Der zweite Gesundheitsmarkt Zweiter Gesundheitsmarkt: sog. Individuelle Gesundheitsleistungen Nur wenige dieser Leitungen sind aus medizinischer Sicht sinnvoll oder gar notwendig. Für viele individuelle Gesundheitsleistungen liegt kein überzeugender Nachweis des Nutzens vor. Manche sind geprüft und als unwirksam oder als im Mittel nutzlos erwiesen worden. Placeboeffekte in der Alternativ- und Komplementärmedizin N.B: Es gibt aber auch Placeboeffekte in der sog. Schulmedizin und in der evidence based medicine! Therapie und Enhancement Enhancement: Verbesserung natürlicher Eigenschaften des Menschen unter Einsatz medizinischer oder pharmazeutischer Mittel und Verfahren, die medizinisch nicht indiziert ist und kein therapeutisches Ziel verfolgt. Beispiele: Ästhetische Chirurgie, Neuroenhancement Frage: Läßt sich überhaupt anhand von allgemeingültigen Kriterien die Grenzen zwischen Therapie und Enhancement festlegen? Wer zieht sie im Einzelfall? Beispiel: Ästhetische Chirurgie In welchen Fällen sind ästhetische Eingriffe medizinisch gerechtfertigt? Anhand welcher Kriterien wird dem subjektiven Leiden eines Menschen an seinem Äußeren ein Krankheitswert zugemessen? Wann ist ein chirurgischer Eingriff anstelle einer Psychotherapie das medizinische Mittel der Wahl? Auf welcher theoretischen Grundlage glaubt man, ein psychisches Leiden mittels eines ästhetischchirurgischen Eingriffs heilen zu können? Paradigmenwechsel zur Wunschmedizin Generell entwickelt sich das Gesundheitswesen zu einer Multioptionsgesellschaft. Wo liegen die sozialverträglichen Grenzen der Autonomie von Patienten? Gibt es neben dem Recht auf Heilung auch ein Recht auf Optimierung der eigenen Natur, z.B. der Gedächtnisleistung oder der Sehfähigkeit? Sind Reversibilität und Irreversibilität von medizinischen Eingriffen, die man unter der Bezeichnung „Enhancement“ diskutiert, ein ethisch relevantes Kriterium? Oder die Unterscheidung zwischen Eingriffen, die sich nur auf das betroffene Individuum auswirken, und solchen, die z.B. im Fall der genetischen Keimbahntherapie auch nachfolgende Generationen betreffen oder gar eine grundlegende Veränderung der menschlichen Gattung nach sich ziehen könnten? Probleme mit dem Begriff der medizinischen Indikation Die Grenzen zwischen Therapie und nichttherapeutischen Eingriffen werden fließend. Offen ist auch, wer sie im Einzelfall festlegt. Es wird immer schwieriger zu entscheiden zu auszuhandeln, welchen Zuständen und Befindlichkeiten ein Krankheitswert zugemessen wird und welchen nicht. Definitionsprobleme bereitet nicht nur der Begriff des Enhancement, sondern eben auch der Begriff der medizinischen Indikation. Krankheit und Gesundheit Will die Medizin als Teilsystem des Gesundheitswesens ihre Eigenständigkeit wahren oder zurückgewinnen, ist es notwendig, die das eigene Handeln leitenden Grundbegriffe zu überdenken, die eine systemische Steuerungsfunktion haben. „Gesundheit“: die teleologische Kategorie der Medizin „Krankheit“: die legitimatorische Kategorie der Medizin (Labisch/Paul 1998) Wiederherstellung oder Erhaltung der Gesundheit sind das Ziel medizinischen Handelns (teleologischer Aspekt), Krankheit der Anlaß für medizinisches Handeln (legitimatorischer Aspekt). Illness und Disease Illness: subjektives Krankheitserleben Disease: objektiver Krankheitsbegriff Aus Sicht der Medizin kann jemand eine Krankheit haben, ohne sich subjektiv krank zu fühlen. Die Sichtweise der Psychosomatik: Thema der Medizin und der Pflege sind nicht von der Person abgespaltene Krankheiten, sondern ist der kranke Mensch. Gesundheitsbegriff I Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht etwa nur als Freisein von Krankheit und Gebrechen. Utopischer Gesundheitsbegriff. Gefahr: vollständige Medikalisierung des Lebens und Medikalisierung von Befindlichkeitsstörungen. Pointiert gesagt: Ein überzogener Gesundheitsbegriff macht krank! Gesundheitsbegriff II „Gesundheit ist ein dynamischer Zustand von Wohlbefinden, bestehend aus einem biopsychosozialen Potential, das genügt, um die alters- und kulturspezifischen Ansprüche des Lebens in Eigenverantwortung zu befriedigen. Krankheit ist der Zustand, bei dem das Potential diesen Ansprüchen nicht genügt.“ (Johannes Bircher/Karl-H. Wehkamp) Dietrich Rössler: „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von somatischen oder psychischen Störungen, sondern die Fähigkeit, mit ihnen zu leben.“ (Dietrich Rössler) Relativität von Krankheit und Gesundheit Begriffliches Geviert: „gesund“ – „nicht gesund“ „krank“ – „nicht krank“ Es kann also gesunde Kranke und kranke Gesunde geben. „Nicht-Krankheiten“ Problem: Fortschreitende Medikalisierung und Pathologisierung von im Grunde natürlichen Vorgänge und Diversitäten Nicht-Krankheiten: „eine menschlicher Vorgang oder ein Problem, das von manchen als Erkrankung beurteilt wird, obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre“ (Richard Smith 2002) Beispiele für Nicht-Krankheiten: Tränensäcke, Haarausfall, das Altern und die Menopause Gesundheit als Gut Welcher Gerechtigkeitsbegriff in Medizin und Pflege leitend sein soll, hängt vor allem davon ab, in welcher Weise die Gesundheit als Gut verstanden wird. Unterscheidung zwischen ▷ privaten ▷ öffentlichen ▷ transzendentalen Gütern Privat sind Güter, für die der Einzelne zuständig ist. Öffentlich sind Güter, für die nur die Gemeinschaft verantwortlich sein kann. Transzendental sind Güter wie Leib und Leben, die als Voraussetzung öffentlicher und privater Güter gelten können. Traditionellerweise wird auch die Gesundheit zu den transzendentalen Gütern gerechnet. Nun läßt sich aber zeigen, daß Gesundheit eine variabel zu bestimmende Größe ist, die zudem keine Naturgegebenheit, sondern – zumindest teilweise – das Ergebnis arbeitsteiliger Interaktion und von Verteilungsgerechtigkeit ist. Es handelt sich um ein der Bildung oder der Sicherheit vergleichbares „Güterbündel“. Frage: Wie weit kann Gesundheit als transzendentales Gut, Gegenstand von Tauschgerechtigkeit werden? Die grundsätzlich unterstützenswerte Forderung nach Stärkung der Eigenverantwortung übersieht, daß vielen Menschen „die sachliche und monetäre Kompetenz fehlt, derart selbstverantwortlich entscheiden zu können, so daß der Staat um dieser Bürgerinnen und Bürger und des sozialen Friedens willen helfend und fördernd einzugreifen hat“ (P. Dabrock). Eine die Gesundheitspolitik einschließende Sozial- und Wohlfahrtspolitik muß die Zugangschancen, d.h. die kontextabhängige Befähigung zur Eigenverantwortung thematisieren, statt kontextlos und im Ergebnis möglicherweise zynisch auf ein abstraktes Autonomieprinzip zu setzen, das der konkreten Hilfsbedürftigkeit von Kranken und Pflegebedürftigen nicht gerecht wird. Das tabuisierte Allokationsproblem (I) Allokation = Zuteilung von (knappen) Ressourcen an potentielle Nutzer Grundlegende Kategorien der Ökonomie, die auch für die Medizin relevant ist: Knappheit und Mangel Hinter der ethischen Frage der optimalen Versorgung stehen letztlich Allokationsfragen, die in unserem Gesundheitssystem noch immer tabuisiert werden. Das führt dazu, daß die Probleme der Ressourcenverteilung auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden, weil man nicht auf höherer Ebene über Allokationskriterien entscheiden will. Allokation und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen (I) Unterschiedliche Gerechtigkeitsbegriffe: Verteilungsgerechtigkeit Tauschgerechtigkeit Gemeinwohlgerechtigkeit Fairneß (John Rawls) Teilhabegerechtigkeit Befähigungsgerechtigkeit Allokation und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen (II) 4 Ebenen der Allokation: ►Mikroallokation a) untere Ebene b) obere Ebene ► Makroallokation a) untere Ebene b) obere Ebene Welcher Begriff von Gerechtigkeit dient als Maßstab der Allokation? Allokation und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen (III) Eine Form der Allokation: dieTriage Zu kritisieren sind beobachtbare Tendenzen, dieses Paradigma der Nutzenmaximierung in den medizinischen Alltag zu übertragen. Veralltäglichung der Triage steht im Widerspruch zu bisherigen Gerechtigkeitsvorstellungen in Health Care (Jürgen Wallner). Priorisierung in der Medizin Das Konzept der Priorisierung unterscheidet ähnlich wie die Triage unterschiedliche Stufen der Behandlungsdringlichkeit. Im Unterschied zur Triage wird aber davon ausgegangen, daß alle Patienten innerhalb einer bestimmten Zeit behandelt werden. Es gibt Priorisierungsverfahren in der Notaufnahme, die zwar auch als Triage bezeichnet werden – Beispiel: das ManchesterTriage-System – doch werden auch hier alle eintreffenden Patienten in einem bestimmten Zeitraum behandelt. Es gibt also im Unterschied zur Katastrophenmedizin keine Gruppe von Sterbenden, die von der Versorgung ausgeschlossen werden. Während der Begriff Triage im angloamerikanischen Sprachraum auch für Verfahren der Behandlungspriorisierung benutzt wird, unterscheidet man im Deutschen zwischen Triage und Priorisierung. Grundsätze von evidence based medicine aus ethischer Sicht (I) Effektivität und Effizienz müssen patientenzentriert bestimmt werden. Ökonomische Kriterien der Gewinnmaximierung oder der Defizitminimierung sind keine hinreichenden Kriterien. Grundsätze von evidence based medicine aus ethischer Sicht (II) Medizinische oder andere Leistungen sind als ineffizient zu bewerten, wenn sie generell oder indikationenspezifisch keine nachgewiesene Wirksamkeit besitzen, eine geringere Wirksamkeit als alternative Maßnahmen aufweisen, die gleich hohe Kosten verursachen, oder eine kostengünstigere Alternative nicht an Wirksamkeit übertreffen. Ethische Maßstäbe für Effektivität und Effizienz (I) Effektivität und Effizienz dürfen nicht einseitig nach ökonomischen Kriterien der Gewinnmaximierung oder der Defizitminimierung, sondern müssen patientenzentriert bestimmt werden. Beispiel: orphan diseases (weniger als 5 Fälle je 10.000 Einwohner) ► orphan drugs Ethische Maßstäbe für Effektivität und Effizienz (II) Das ethische Problem medizinischer Rationalisiserungsmaßnahmen: „Da auch der kleinste positive Grenzertrag einer medizinischen Maßnahme noch die Gesundheit fördert, sind Forderungen von Medizinern und der weiteren Öffentlichkeit nicht selten, die auch den Einsatz von im Vergleich weniger effizienten Therapieformen fordern.“ (J.M. v. der Schulenburg u. W. Greiner).