Ich segne das Zeitliche und finde kein Ende

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Ich segne das Zeitliche und finde kein Ende.
Man kann es nicht Geschichte nennen, aber
merkwürdiges Flickwerk
1
„Na, alles klar?“
Die vier rotgebackenen Herren auf dem Rasen vor der Kantine für Menschen, die ihre Kantine
Mensa nennen, kamen Rosalie gänzlich unbekannt vor. Drei davon lagen geschlossenen Lides
mit gewölbtem Bauch flach auf dem Rücken, der Sprecher indes, den Rumpf mit zwei nach
hinten gestreckten Armen stützend, hatte sein Fachbuch beiseite gelegt und sah sie an, als ob
sie heute schon in seiner Unterhose aufgewacht wäre. Unmöglich. Soviel wusste sie noch. Ihr
Gang beschleunigte sich bereits ohne ihr Zutun. ‚Na, alles klar?’ war ohne Zweifel eine der
ohrfeigenwürdigsten Ansprachen, die das laufende Jahrzehnt hervorgebracht hatte. Die
Chance, den Tag gar nicht erst zu beginnen, war zwar schon vertan, aber sie konnte immer
noch das Beste daraus machen und ihn schleunigst beenden.
Zum Wohnheim noch um drei Ecken. Bis zu ihrem, dem obersten Stockwerk auf der
Außentreppe 36 Stufen. Von da bis zum Bett...
„Na, alles klar?“
Moers saß, vom Kühlschrank weitgehend verdeckt, fast unsichtbar in der Küchenecke. Seine
bis auf ein Paar schwarzgraue Socken unbekleideten Füße mit den dünnen Waden darauf
schienen aus dem Kühlschrank gewachsen zu sein. Er hatte den Bundeskanzler auf dem
Bildschirm. Einen Mann, der in der Realität stand und die Wirklichkeit nicht mehr imstande
war zu sehen. Derart naiv, dass er glaubte, in Scheiße gebadet nach Weihrauch zu riechen.
Moers und der Bundeskanzler - zwei Gründe mehr, keine weitere Zeit in Gesellschaft zu
verschwenden. Ihre Zimmertür schloss sich freiwillig hinter ihr.
„Sarkasmus ist eine Überlebensstrategie. Keine gute, man wird nicht sehr geliebt dafür, aber
immerhin. Bis man eine bessere findet... Liebe zum Beispiel. Liebe geben, Liebe nehmen und
so... Das wäre aber bitter für die Sarkasten. Damit hatten alle ja schon mindestens einmal
keinen Erfolg. Hehehe. Ach nein, ich nehme alles zurück. Besser so: Sarkasmus ist eine Form
der Seelenhygiene mit ätzenden Putzmitteln. Also quasi...“ Moers stockte.
„Du bist eh dran mit Badputzen.“, warf Maja vom Tischrand her ein. Sie hatte das Signalwort
gehört.
Moers saß noch immer als Fortsatz des Kühlschranks in der Ecke, nur dass er sich ein Paar
Slippers über die strammen Socken gezogen und den Bundeskanzler abgedreht hatte. Er war
in voller Fahrt. Ständig auf der Suche nach irgendetwas, das ihm die hochverdiente
Unsterblichkeit sichern würde, machten ihn Unterbrechungen nahezu rasend: „Putzen? Wer
redet vom Putzen? Es gibt Bedeutenderes... Shit, jetzt ist mir der Faden verloren gegangen.“
Das rechte Bein des Kühlschranks begann, nervös zu zucken.
„Es gibt nichts Bedeutenderes als Putzen.“, murmelte Maja.
Wenn man, wie Rosalie, durch den Zwischenschlaf nicht wirklich genesen, auf einem Sofa
liegt, weiß man zuweilen für einige Zeit nicht mehr, ob man aus sich heraus oder in sich
hinein schaut. Die Küche könnte ihr Hirn, die Spüle der Schlund, Maja eine Ausputzzelle und
Moers eine Autoimmunerkrankung sein. Was wären dann Willi und das Leidwesen, die
anderen zwei Mitbewohner und Rosalies direkte Nachbarn? Was die Zimmer, der Gang, der
Balkon? Es gab in der Wohnung definitiv nicht so viele Räume wie menschliche Organe.
Oder war etwa das ganze Haus an ihr beteiligt? Es wurde Zeit, den Blick zu wenden. Willi
schlich vorbei und direkt ins Bad.
Ein nervtötend bunt getupfter Teller des Leidwesens stand ausgekratzt unter ihrem
vorgespülten WMF-Töpfchen auf der Ablage. Die benutzte Gabel hatte sie mit der Wölbung
nach oben an den Rand des Tellers gehängt. Vermutlich hatte sie sehr darunter gelitten, nicht
sofort im Anschluss an ihr Mahl spülen zu können. Angesichts der seit dem Wochenende im
Waschbecken in ölige Essensreste eingelegten Gläser war das Spülen anderen Geschirrs
sichtlich erschwert. Des Leidwesens Türmchen sah Rosalie aufdringlich an. Es roch bitter.
Die fünf Bewohner des zweiten Stocks hatten sich nicht ausgesucht. Eine Instanz hatte es
entschieden. Der Repräsentant und Handlanger derselben bewohnte das Untergeschoss.
Namentlich der Hausmeister. Intern auch der Hasenmeister genannt, denn er züchtete neben
den Mülleimern Riesenhasen, die er so dressiert hatte, dass sie keine Angst mehr hatten. Sie
sahen jedem Müllsünder unverfroren in die dumpfen Augen und hatten mit dieser Methode
sogar schon einen Spanier umerzogen. Was ein beachtliches Kunststück war. Wenn jemand
dafür verantwortlich war, was hier passierte oder eben nicht passierte, dann der Hasenmeister.
Maja verließ die Küche mit einer offenen Dose Erbsen und einer Gabel. Moers schob seinen
gescheitelten Schildkrötenkopf hinter dem Kühlschrank hervor: „Und, was geht heute?“
Ohne große Lust auf weitergehende Verbalitäten antwortete Rosalie: „In den nächsten 15
Minuten wird nichts Wesentliches passieren. Dann läuft ‚Knastmusik’ mit Martin
Semmelrogge. Dann wird wieder eine Woche lang nichts Wesentliches passieren. Dann eine
neue Folge ‚Knastmusik’. Und so weiter. Bis die Serie ausläuft. Es wird jahrelang nichts
Wesentliches passieren. Bis die Serie wiederholt wird.“
Es ist nicht sehr ratsam, an eine Frau, die in fleischfarbenen Leggins auf einem
durchgewetzten Cordsofa herumhängt, seherische Anfragen zu stellen. Sie hatte wenig
Energie zu verschwenden, doch darauf nahm kaum jemand Rücksicht. Moers insbesondere
nicht. Erfreulicherweise schob in diesem Moment Karl IV. aus dem Erdgeschoss vor allem
anderen seinen monströsen Brustkörper durch die offene Wohnungstür:
„He, Bernd, na, alles klar?“
Wer Moers Bernd nennt, mit dem kann etwas nicht stimmen. Der Name für Moers war
Moers. Moers und Karl IV. passten in dieses Wohnheim wie Einbauschränke. Der eine
plemplem und der andere meschugge. Sie bewegten sich tiefatmend an das rechte Fenster und
versuchten umgehend mittels gewichtiger Mimik und nicht minder eindrucksvoller
Körperhaltung auf die schönen Spanierinnen in der Wohnung gegenüber Eindruck zu machen.
Allen Ernstes. Was sagt uns ein Nacken über den dazu gehörigen Menschen? Hoffentlich
nichts, denn sonst hätte es für die zwei wirklich nicht gut ausgesehen.
Kater Surr schmiegte sich wieder enger an Rosalie. Ein Tag, an dem man die Worte verlieren
sollte. Sollte.
2
Der Morgen ruhte noch gelassen über den Rändern der baumigen Hügel, derweil Rosalie ihre
betrunkenen Beine auf dem langen Weg in deren Ruhestätte zu koordinieren versuchte.
Sie war am Abend vorher nach zwei Minuten an der frischen Luft schlussendlich in der
Keller-Bar des Hauses gelandet. Vortreffliche Menschen waren ihr in den letzten
Nachtstunden begegnet. Alleine diese drei finnischen Designerinnen in ihren nahezu
identischen Glitzer-Tops. Wie die Hummeln waren sie in die Bar eingefallen, um den Wodka
zu plündern und um sie Stunden später mit jeweils einem haarigen Azubi wieder zu verlassen.
Trinken, Lachen, Singen und Verkehren. Finninnen verstehen etwas vom Leben.
Kein vernünftiger Mensch bleibt länger als ein Bier in dieser stinkigen Studenten-Bar. Bleibt
man länger als vier Bier, so hat man allen Grund, alle fünfe gerade sein zu lassen und bis zum
miefigen Ende zu bleiben. Man lernt so die sympathischsten Saufköpfe und
Vorlesungsschwänzer kennen und hat damit den erlesenen Kreis derer beisammen, der einen
über weite Monate oder gar Jahre persönlich begleiten wird. Mit dieser vortrefflichen
Vorgehensweise war es Rosalie im letzten Herbst problemlos gelungen, ihre hiesige Laufbahn
erfolgversprechend zu beginnen.
Das Schönste am alleinigen Einschlafen ist, dass man vorher Zeit hat, die Lichter
wiederzusehen, die durch das Fenster an die Decke geworfen werden. Ihre waren ruhig und
zogen sich in weiten milchigen Bögen über ein Drittel der Zimmerdecke bis zu dem Ende,
unter dem zwei komische, in ausgemergelte Socken gehüllte Krummfüße aneinander gelehnt
Harmonie demonstrierten. Es schienen ihre zu sein, denn sie ließen sich nun, da sie gelagert
waren, von ihr problemlos herum kommandieren. Schon wieder hatte sie ein Wort verloren.
Ungewollt verloren. Es war kein besonders wichtiges Wort, denn es bezeichnet nur diese
hohlkreuzigen Butterbauch-Blätterteigteilchen aus Frankreich, die man jederzeit kaufen kann,
ohne den französischen Namen zu nennen. Sie kannte dieses Wort schon ewig und wusste es
immer, doch nun war es weg. In ihrer jetzigen Lage brauchte sie es nicht und dennoch wollte
sie es nicht verlieren. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, es wieder zu finden, desto mehr
entglitt es ihr. Sogar die zweite Silbe, die sie eben noch halblaut ausgesprochen hatte, war
plötzlich weg. Als ob eine völlig durchgeknallte, nachtaktive Zelle ihr Gedächtnis mit einer
Zahnbürste blank schrubben würde. Langsam drängelte sich ein heimtückisch scharfrandiger
Strahl in einen dunklen Winkel des Zimmers und trug eine völlig andere Erinnerung herein.
Eine, die sie gar nicht wollte. Sie versuchte lieber angestrengt, ein anderes Wort zu finden,
das sie sicher kannte. Es war weg. Ein anderes. Weg.
3
„Hört ihr zu? Also:
Das französische Ventil
Geschaffen für das eine Ziel
Mich zu strafen
Für das Schaffen
Dieses braunen Schnauzbartaffen
Der Frankreich überfiel
Besessen von dem einen Ziel
Alle zu strafen
Weil er einen Schlaffen
Hatte“
Willi sah von seinem Heft auf.
Maja und Rosalie nippten an ihren rotweingefüllten Senfgläsern.
„Hm!“, sagte Maja.
Rosalie nippte an ihrem Glas.
„Lass doch mal lesen, Willi, was du sonst so schreibst. Etwa über Frauen?“, lachte Maja.
Rosalie lachte mit.
Willi winkte ab: „Nein, viel zu gefährlich. Wenn man da anfängt, das ist das Ende. Man kann
nichts mehr löschen. Dann steht es. Für immer. Nein, nein, viel zu gefährlich.“ Willi lief, die
Beine steif in die Luft schleudernd, in der Küche auf und ab. Er redete KurpfälzerHochdeutsch.
Maja freute sich: „Dann hast du ja bestimmt Zeit, das Bad zu putzen.“
„Das Bad putzen, das ist nicht so einfach. Ich habe eine Stauballergie.“ Willi wendete sich
verstummend ab und setzte seine Bewegungsübungen fort.
Der Sommer war penetrant. Ein Päckchen, beklebt mit einer lachenden runden Postkartenfrau,
war gekommen. Majas Mutter hatte es geschickt. Badische Mütter machen so etwas. Sie
backen runde Kuchen mit Kirschen, schneiden drei Stücke davon ab, stellen sie in eine Dose
gepackt in ein Päckchen, das sie zuvor in einem alten Schrank gesucht und gefunden haben,
gehen danach zum Weinregal, wählen eine Flasche aus, wickeln diese in vier Zeitungsseiten,
tun sie in dasselbe Päckchen, überlegen alsdann, sehen in den Kühlschrank, entnehmen
Radieschen, Pasteten und Kapern, legen alles auf die Kuchendose und die Weinflasche,
schieben einen Schein dazwischen, schließen das Päckchen, kramen nach einer Postkarte,
schreiben etwas Liebes auf die Rückseite, kleben sie mit Tesastreifen obenauf, laufen zum
Postamt, schreiben aus dem Gedächtnis die Adresse ihrer Tochter in die passenden
Formularfelder und geben das Päckchen auf. Anschließend gehen sie wieder nach Hause.
Badische Mütter haben mehr Zeit.
Maja war großzügig und der Wein gut. Manchmal ging sie Rosalie mächtig auf die Zwiebel.
Aber was sie wirklich konnte, war laut sein. Sie konnte ganze Räume mit ihrer Stimme füllen.
Der Wein war leer und Willi wollte nicht mehr reden.
Maja und Rosalie gingen in Majas Zimmer, um „Knastmusik“ zu sehen.
Indessen schleuderte Willi die gestreckten Sozialpädagogenbeine zurück in sein Zimmer und
hörte Schrummelmusik. Er sammelte dort getragene Socken, die er zu sinnesstimulierenden
Bodenreliefs anordnete. Er selbst nannte das „Formeln“.
4
Der Treppenaufstieg war ermüdende Routine. Bis zwei kurze, blonde Beine in knielangen
Hosen Rosalies Blick fingen. Die Füße daran traten nur leicht auf, eher mit den Zehen als mit
den Fersen. Den Schritt kannte sie. Ein erfreulicher Anblick. Süleyman, von ausgefransten
hellbraunen Hinterkopflocken umrahmt, grinste ziellos und fast immer, obwohl er keine
besonders guten Zähne hatte und seine Wasseraugen dabei zu grotesken Schlitzen wurden.
Diesmal grinste er nicht. Er wackelte auch kaum. Möglicherweise war er nüchtern. Oder er
erinnerte sich daran, wie sie ihm vor drei Tagen unentgeltlich zwei Packungen Spaghetti
abgenommen hatte, um sie mit Willi und dessen Jünger Lukas weich zu kochen und dem
nachgepfefferten Inhalt einer delikaten Tomatenmarktube unterzumengen. Die einsachtzig,
die sie mit hatte, erschienen ihr etwas wenig für beide Packungen, aber zur Erleichterung
ihres Gewissens reichte es vorläufig, sie ihm zu übergeben. Schöne Finger hatte er. Weiter sah
man nichts, denn er trug Ärmel bis zu den Handknöcheln. Meist trug er Ärmel bis zu den
Handknöcheln. Eine seltsame Gewohnheit, die sie jedoch vermutlich nicht ändern konnte.
Ohnehin fürchtete sie, nicht allzu viel ändern zu können. Die Stellung ihrer Glieder und die
Bilder der Sterne, aber sehr viel mehr wohl nicht. Süleyman konnte den Gesichtsausdruck
ändern. Er blinzelte und zog die Mundwinkel nach oben.
Aus Majas Zimmer kam ein Mann mit verlegenen Haaren. Dahinter Maja. Sie grüßten
flüchtig. An der Wohnungstür sagte er halblaut: „624 480“, und deutete dabei mit dem
Zeigefinger auf Majas Brustbein.
„Jaja.“ Maja schloss die Tür hinter ihm.
5
„Achtung, Stufe!“
Ein selbstgeschriebenes Schild hing gewollt schief am Eingang. Berge aus halbleeren und
leeren Oettinger-Kisten türmten sich hinter der Tür. Der Bass drang durch Türen, Wände und
Fenster. Majas Freund Rolf war zum ersten Mal da und mit zu diesem Fest im ersten Stock
gekommen. Er fiel etwas auf, denn er trug eine Frisur, die Geld gekostet hatte und eine
cremefarbene Hose. Maja zog mit kleinem, rundem Gesäß durch die Räume und redete laut
mit Diesem und Jenem. Rolf kannte niemanden. So freute er sich, Riebel aus dem
Erdgeschoss vorgestellt zu werden:
„Ja, klar. Du bist Riebel. Maja hat mir schon von dir erzählt.“
Er legte freundschaftlich die Hand auf Riebels Schulter. Dieser, ebenfalls auffällig, schien es
nicht besonders zu schätzen, von fremden Männern unvermittelt angefasst zu werden. Oder es
wurmte ihn, dass einer in noch kostspieligerer Frisur und noch saubererer Hose dieses
Gammelfest zu beglänzen suchte. Er schüttelte die Hand ab und legte sein Gesicht in zornige
Falten:
„Kennen wir uns? Nicht, also. Dann fasse mich nicht an.“
„OK.“ Rolf sah sich nach unkomplizierteren Gesprächspartnern um.
Auf diesem Fest gab es nichts als Oettinger, einen Pilzsalat und was die Geladenen
mitgebracht hatten. Es gab also Oettinger, einen Pilzsalat und Rotwein, der nach
Kopfschmerzen roch. Allerhand Leute waren gekommen: Ferdi mit dem Cowboy-Hut, Karin
mit den Netzstrümpfen, Karins Mann Norbert mit dem Strickpulli, Jerome im Shirt mit „I
believe I can fly“- Aufdruck, Urs mit dem Zopf und und und.
Rolf, der nahe der Grenze zu Frankreich aufgewachsen und deswegen in der Lage war,
Frauen nüchtern Komplimente zu machen, lernte Ferdi kennen. Ferdi schwang seine
Oettinger-Flasche lässig aus dem Handgelenk gegen Rolfs Senfglas mit Rotweinfüllung,
rückte seine Brille zurecht und fachsimpelte:
„Aha, ein Frauentyp! Darauf stehen die Frauen. Groß und schlank und gepflegt. Oder, du bist
doch ein Frauentyp? So mit Locken und braunen Augen. Richtiger Frauentyp. Oder, darauf
stehen doch die Frauen?“
Er fragte Rosalie.
Sie nickte.
„Nicht, das gefällt doch den Frauen? So ein Frauentyp. So groß und mit braunen Augen?
Oder?“
Er fragte wieder Rosalie.
Sie nickte noch einmal deutlicher.
Man hörte Majas Stimme aus einem der Zimmer. Ihre Stimme hörte man immer, egal, wie
laut es sonst war. Es wurde Zeit für Rosalie, sich um bestimmte Dinge zu kümmern. Ferdi
unterhielt sich weiter mit Rolf, der eifrig nickte und mit ihm anstieß.
Der Hasenmeister hielt Rosalie auf:
„Wohin gehst?“
„Ich such was.“
„So sieht’s aus.“
Unheimlicherweise verstand sie ihn manchmal nicht. Er nuschelte, hatte Haare über dem
Mund und Untergewicht. Wie konnte sie da wissen, ob er etwas enorm Wichtiges erzählte
oder etwas kolossal Behämmertes.
„Man flieht ja nicht vor dem, was man fürchtet, man sucht es.“, murmelte er mit vorgelegtem
Kopf.
Oder war es: „Man fickt ja nicht vornehm. Was man bürstet, das tutet.“
Bei ihr war Flucht und Suche ohnehin eins.
"Ich weiß, was du gehört hast." höhnte er hinter ihr her.
"Du kannst dir nicht beides merken. Du nicht. Dein Gedächtnis ist deine Seele."
Das war nicht besonders undeutlich.
Einiges sprach dafür, dass dieses Fest anlässlich von Süleymans Geburtstag abgehalten
wurde. Zumindest ließ das ständige Schütteln und Klopfen der Hände und Schultern des
instabilen Gastgebers darauf schließen. Und die weitgefächerte Auswahl der Gäste. Rosalie
und Maja waren von Linde, die mit ihm zusammen hier wohnte, eingeladen worden.
Süleyman lud Karin eine Probierportion des Pilzsalates auf einen Teller und erklärte
detailliert die eigenhändige Herstellung desselben. Rosalie stellte sich daneben und hörte
nicht richtig zu. Ihr Gedächtnis war nur sehr begrenzt aufnahmefähig, da hatte der
Hasenmeister recht. Es war kein Platz darin für Rezepte.
Aber für die Geschichte über seine zwei Geburtstage:
„Mein genaues Geburtsdatum kennt niemand. Es war wohl Frühling, ungefähr wie jetzt. Wir
lebten in einem Dorf und keiner kam auf die Idee, ihn aufzuschreiben. In der Türkei ist das
nicht ungewöhnlich. Im Winter danach fuhren meine Eltern in die Stadt und meldeten mich
an. Im Winter habe ich also für meine Eltern Geburtstag. Mehr als ein halbes Jahr wurde mir
geschenkt. Oder gestohlen. Egal: Manchmal feiere ich zweimal Geburtstag.“ Er ging mit
Karin in sein Zimmer. Rosalie setzte sich in der Küche und hörte Stimmen, die auf gar nichts
antworten. Auf dem Sofa hüpfte Jerome in Boxershorts.
Die Zeit kann fliegen. Einen Helm trägt sie aus Prinzip nicht. Die Zeit scheint ohnehin vor
nichts Angst zu haben. Viele Leute waren schon weg: Urs mit dem Zopf, Karins Mann
Norbert mit dem Strickpulli und und und. Karin war noch da. Neugierige Menschen konnten
durch die offene Tür ihre bewegten Beine auf Süleymans riesigem Doppelbett beobachten.
Sein Zimmer war beinahe völlig ausgefüllt mit Bett. Es gab nur drei Möglichkeiten, sich darin
aufzuhalten: Stehend, sitzend vor dem Computer oder im Bett. Dieses Zimmer war die Mitte
des gesamten Wohnheims. Je Stockwerk gab es fünfzehn Zimmer auf drei Wohnungen
verteilt und er hatte das achte Zimmer im ersten, dem mittleren Stock.
Ferdi prostete Rosalie zu. Es war keine andere Frau mehr im Raum, die nicht schon umarmt
wurde. Theoretisch kann man sich in jeden verlieben. Ferdi einmal ausgenommen. Karl IV.
natürlich ebenfalls. Und Riebel. Die EZBler nicht zu vergessen. Bis auf ein paar weitere
Ausnahmen kann man sich auf diese Regel Zeit seines Lebens theoretisch verlassen.
Rosalie musste sich dringend um bestimmte Dinge kümmern. Die Treppe machte widerliche
Geräusche, wenn man mit dem Rücken an ihr Geländer schlug und seitlich daran abrutschte.
6
„Ja, und heute ruft diese Karin viermal an. Sie will sich von ihrem Mann scheiden lassen. Der
Süleyman hat doch schon mit sich genug zu tun. Und mit seiner Verantwortung. Neulich hätte
er beinahe die Küche abgebrannt. Wollte türkischen Kaffee auf dem Herd kochen, hat ihn
vergessen und sich schlafen gelegt. Alles eingekocht. Ich habe ihn geweckt, da stand er
wackelnd im Türrahmen und hatte keinen Schimmer, worum es geht.“ Linde unterbrach sich
kurz und ergänzte schließlich: „Man muss ihn in Ruhe lassen.“
„Meinst du?“, fragte Rosalie und sah dabei auf Lindes schnelle Hände mit den im Fleisch
versenkten Knöcheln hinter dem Küchentisch, die einen braunen Mantel häkelten.
„Ja, meine ich. Und wenn die noch mal anruft, huste ich der was.“
Rosalie nahm sich vor, wieder mehr zu fotografieren.
Am Abend besuchte sie Willi auf seinem Zimmer. Ohne Einladung. Auf dem Bett liegend sah
er sie aus seinen langen, stumpfblonden Haaren heraus stumm an. Ob er unter der Decke auch
nackt war? Er hatte nichts dagegen, dass sie seine Sockensammlung auf dem Boden
fotografierte.
„Was hat das mit den Formeln eigentlich auf sich?“, fragte sie.
„Pfff! Wie soll ich das erklären? ...Die Formeln brauche ich, um DIE Formel zu finden. Ich
habe noch lange nicht alle Formeln. Und wenn ich alle habe, weiß ich immer noch nicht, ob
ich nach einer Faser oder nach einer Form suchen muss. Verstehst du, was ich meine?“
Sie nickte ohne Überzeugung und ging wieder.
7
„Hallo!“, tönte es lasziv durch das Küchenfenster im Erdgeschoss, das zu Karls des IV. und
Riebels Wohnung gehörte. Es war Gloria Victoria Messberg, die wie Rosalie vorhatte, eine
Lehrerpersönlichkeit zu entwickeln. Nur etwas pompöser. Vollbusig hing sie im
Fensterrahmen.
„Ich bin hier eingezogen!“, strahlte sie. „Komm doch rein! Ich hab eine Quarkspeise
gemacht.“
Das war in der Tat ein attraktives Angebot. Rosalie hatte gerade ihren Fotoapparat mit und
noch nie die Gelegenheit gehabt, diese Wohnung zu betreten. Im Flur hing ein gerahmter
Miro gegenüber von impressionistischen Blumenwiesen. Auch gerahmt. Keine Poster. Die
stapelbaren Wohnheimküchenstühle aus Holz waren ausgetauscht worden gegen
Metallgestänge mit marineblauer Plastiksitzfläche. Ein Unding für jeden, der gerne sitzt. Eine
andere Wahl hatte man leider nicht. Es gab kein Sofa in dieser Wohnküche. Dafür eine
Obstschale mit frischen Äpfeln und Trauben auf dem Tisch. Auch ein Unding.
„Ich würde gern ein paar Ölbilder, die ich im Grundstudium gemalt habe, über der Spüle
aufhängen. Moment!“ Gloria eilte in ihr Zimmer und kam mit drei quadratischen Bildern
zurück. Eine pickelige Orange, eine barocke Paprika und etwas wie ein Brokkoli.
„Meinst du, das passt hierher?“, fragte sie.
„Ja, klar, das passt... Wer außer dir wohnt hier denn noch?“
„Also: Ich im ersten Zimmer, das hat am meisten Licht, weil es zwei Fenster hat. Neben mir
wohnt Riebel, das ist der mit den Zweihundertmarkschuhen und dem BMW mit der dazu
passenden Freundin. Jenny! Wohnt direkt daneben.“ Sie warf die Haare aus der Stirn und
ergänzte: „Die bügelt sich sogar den Nacken.“
„Den Riebel kenne ich.“
„Und dann das Beste: ein total attraktiver EZBler! Der kennt sich aus mit Frauen. Tür
aufhalten, Küss die Hand und so. Du weißt.“ Sie errötete übermäßig.
„Ah ja. Meinst du diesen Globetrottel? Und Karl IV.? Der wohnt doch auch hier?“
„Ja, rechts in der Ecke. Da wo der Stammbaum mit den klangvollen Namen an der Tür klebt.
Seltsamer Mensch! Er lässt keinen in sein Zimmer.“
Sie gingen in Glorias Zimmer und aßen überzuckerten Quark auf dem Bett, während Gloria
Victoria Messberg aus ihrer jüngsten WG-Vergangenheit erzählte:
„Und das Klo! Erst Sagrotan, dann Klo. Ohne Sagrotan konnte ich mich nicht mehr auf diese
Brille setzen. Und in die Dusche nur mit Badeschlappen. Ach, bin ich froh, jetzt hier zu sein.“
Sie sah sich angetan um, bis ihr Auge messerscharf eine Fliege erfasste. Geübt griff sie unter
ihr Kopfkissen und zog ein Buch hervor. „Angelique und der König“ töteten das Tier, ohne
mit der Wimper zu zucken. Ein Foto vom Blutfleck in Angeliques Ausschnitt rundete das
Treffen ab. Diese Wohnung, muss man sagen, war nicht dafür geschaffen, sich länger darin
aufzuhalten. Zur kompletten Verarbeitung einer Stunde Realität braucht ein gesunder Mensch
einen halben Tag „Fields of Gold“ und ein viertel Pfund Ritter Rum-Traube-Nuss.
Rosalie öffnete die zweite Tafel Schokolade. Ihr spukte noch etwas anderes durch den Kopf.
Süleyman hatte ihr gestern seine alte Bratpfanne geschenkt. Was hatte das zu bedeuten?
8
„Auch’n Oettinger?“, fragte Süleyman.
Rosalie war nach schräg unten zu Aida, Linde und Süleyman gekommen, um deren neue
Mitbewohner zu begutachten. Süleyman setzte sich wieder an den Küchentisch. Linde
häkelte, Aida war weg. Die Neuen am Tisch und in der Wohnung waren fast so merkwürdig
wie Süleyman: Ein mittelrheinischer Kotelettenträger und ein heimatvertriebener Bayer, beide
gehüllt in bleiche Jeansjacken. Sie waren angeblich alte Freunde von Süleyman, der breit und
lautlos grinsend zwischen ihnen hing wie eine Puddingbrezel, die mit einem Pumpernickel
und einem Pariserbrot in dieselbe Tüte gesteckt worden war. Jomer und Mores hießen sie.
Das rheinische Pariserbrot hieß Jomer, der Pumpernickel vom Tegernsee hieß Mores. Wie
sich herausstellte, konnte man ohne Reue ein wenig Lebenszeit mit ihnen verbringen. Sie
redeten über die Wahrheit oder was sie dafür hielten. Nur Süleyman redete über Frisuren, die
in den 80ern getragen wurden. In Wahrheit trug er selbst eine solche, wusste aber nichts
davon.
Nachdem sie mit der Wahrheit fertig waren, wechselten sie zu deren Oberthema. Es kamen
Krankheiten dran:
„Das Leben wäre um einiges schöner ohne die zunehmende Präsenz dieser EZBler.“, meinte
Jomer. „Das Verheerende an der Schlauheit ist, dass diejenigen, die sich ihr verschrieben
haben, die Geilheit vor das Glück stellen, ja zum Teil sogar das Glück der billigsten und
kurzsichtigsten Selbstbefriedigung vollständig opfern. Menschen, die man als klug
bezeichnen kann, handeln umgekehrt. Hat man die Wahl? Ja, natürlich hat man sie, und wer
etwas anderes behauptet, der betrügt sich. Man kann sich rechtzeitig entscheiden, bevor sich
die Schlauheit ins Hirn gefressen hat wie Syphilis und keinen klaren Gedanken mehr zulässt.“
Es war so. Immer mehr dieser kranken Eingebildeten belegten Zimmer hier. Moers war einer
davon. Ein EZBler. In jeder Wohnung gab es mindestens einen davon, außer in dieser. Hier
gab es keinen. Es hieß, der Hasenmeister hielte seine schützende Hand darüber.
„Zu Beginn ihres Studiums sind die EZBler des öfteren nicht einmal auffallend unangenehm
bis hin zu direkt erträglich, jedoch verändern sie sich schnell oder sie verlassen den
Studiengang fluchtartig. Ich kenne nur einen einzigen, der dabei geblieben ist und den
Eindruck macht, als könne er der Welt etwas geben: Jerome. Den kennt ihr vielleicht auch. Er
fliegt manchmal da vorne über die Wiese.“, fuhr Jomer fort. Er redete gut und gerne. An
diesem Abend und in dieser Nacht redete er gut und gerne sechs Stunden. Mores lachte dazu.
9
Moers hatte einen Auftrag bekommen. Er sollte ein neues Produkt entwickeln und marktfähig
machen. Aus diesem Grund hatte er sich für einige Wochen auf sein Zimmer zurückgezogen
und nachgedacht. Dann ging er Einkaufen. Eines Mittags, als schon die Laubbäume die
Hüllen ablegten, stürmte er aus dem Zimmer und stellte sich breitbeinig vor Maja. Er hielt ihr
ein eingeschweißtes, labberiges Etwas vor das Gesicht, während er triumphierte: „Ha, was
sagst du jetzt?“
„Was soll das sein?“
„Das ist ein Spiegelei, sieht man doch.“
„Und was willst du damit?“
„Ich werde es vermarkten, was sonst.“
„Du willst ein eingeschweißtes Spiegelei vermarkten? Wer soll das denn kaufen?“
„Natürlich werde ich es nicht Spiegelei nennen, sondern irgendwie französisch. Öff Marsälläs
oder so. Marketingtechnisch kommt das besser. Da frag ich noch einen Franzosen. Eine
Pappschachtel muss ich auch noch entwickeln, zum Schutz des Dotters. Vielleicht auch eine
Styroporform... Auf jeden Fall liege ich richtig damit. Ist mikrowellengeeignet. Heute kann
doch keiner mehr kochen. Und dann gibt es noch soundsoviele Grobmotoriker, denen es nicht
gelingt, das Eigelb beim Aufschlagen heil zu lassen. Schau dir das mal genauer an. Das ist
nicht irgendein Spiegelei, das ist ein Bild von einem Spiegelei.“
Er legte das Plastikpäckchen vor sie auf den Tisch: “Damit kann man seine Gäste mächtig
beeindrucken.“
„Mann o Mann!“, lachte Maja nun zügellos „Wenn du nichts am Dotter hast! Werde doch
Eiervertreter, das wäre sinnvoller. Du könntest die Rechte des ungelegten Eis vertreten.“
„Ääh, werde du doch Berufsberaterin.“ Moers rauchte ab.
Nach einer schönen Weile wurde Maja wieder ernst:
„Das ist eine Idee!“
10
„Spaß beiseite! Der Mann, der mich seit über einem Jahrzehnt ohne meine Zustimmung
regieren will, hat etwas festgestellt. Schon früher hat er gerne mal etwas festgestellt. Zum
Beispiel die Parallele zwischen Gorbatschow und Goebbels. Er klang mehr als zufrieden
dabei. Gorbatschow und Goebbels haben, weiß der Mann, die Gemeinsamkeit, das Denken
der Menschen beeinflussen zu wollen. Uiuiui! Ergo war Lennon wie Nero, weil sie beide
Träume hatten und Gandhi wie Stalin, weil sie beide Beine hatten. Unbestreitbar ist
demzufolge auch die enge Verwandtschaft zwischen einer Feder und einem Klumpen Teig,
denen man bekanntlich beiden nicht den Vorwurf machen kann, sich das Gehirn zu
zermartern.
Und nun hat er festgestellt: In seinen Reihen gibt es ‚Linksabweichler’. Linksabweichler!
Haha! Genau betrachtet meint er damit Parteimitglieder, die es wagen, das Gedankengut eines
gewissen Jesus in die Christenunion einzubringen. Die mag der Mann freilich nicht. Er mag
lieber Menschen, die es sich leisten können und wollen, den Gürtel noch weiter zu schnallen.
Ein Glück, dass sie ihn auch zu mögen scheinen. Sie fühlen sich wohl in seiner Partei. Einer
Partei, in der man sich nicht schämen muss, wenn man aus einem guten Namen ein billiges
Maskottchen macht.“ Endlich atmete Jomer aus. Danach musste er seiner ausgedörrten Kehle
einen großen Gefallen tun.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis Rosalie die Gitarre in seiner Zimmerecke ablichten durfte,
auf der er nun in der Küche spielte, um sich zu beruhigen.
Ganz anders als seine aufgeregten Reden war sein Spiel. Es war zart wie das Lächeln einer
badischen Mutter auf dem Heimweg von der Post.
In dieser nassen Novembernacht wurde Rosalie von einer behaarten Hand in Süleymans
Zimmer geschoben. Sie konnte dort ob ihres wirren Zustandes nicht gut stehen bleiben. Sich
vor den Computer zu setzen wäre unpassend gewesen.
In älteren Geschichten geziemt es sich offenbar nicht, den Alkohol als Impulsgeber für die
Annäherung zweier sich zugeneigter Personen beim Namen zu nennen. Stattdessen wird er
ummantelt mit dem niedlichen Wort „Liebestrank“. Tristan und Isolde beispielsweise hatten
nach dem ausgiebigen Genuss eines solchen – vermutlich Sherry – auf einem schaukelnden
Schiff derartig einen in der Zwiebel, dass sie den Zweck ihrer Reise völlig und sich selbst
ganz vergaßen. So entstehen Tragödien. Auch Komödien. Alles kann daraus entstehen. Auch
gar nichts Wichtiges.
Dies ist eine ältere Geschichte. Süleyman und Rosalie nahmen also auf dem Doppelbett einen
russischen Liebestrank, der sich mit einem deutschen Saft aus rotgelben, runden
Sündenfrüchten zu einem mächtigen Betäubungsmittel verbunden hatte, ein. Er hatte
kugelige Ellbogen. Sie blieb bis zum Morgen.
Am Nachmittag des nächsten Tages klingelte er ohne Ärmel und erzählte, er gehe mit Aida
ins Kino. Jack Nicholson lief.
„Willst du mit?“
„Ich hab gerade kein Geld.“
„Ach so.“ Er ging wieder.
Es ist gar nicht leicht, jemanden in Ruhe zu lassen, der wackelt, leise redet und seine 80erJahre-Frisur umgewandelt hat in eine Kurzhaarfrisur, die Wirbel in alle Richtungen wirft.
11
Die EZBler lagen Gloria Victoria Messberg sehr am Herzen. Sie hatte für sie gekocht. Ein
viergängiges Menu mit allem Pipapo. Der geladene Kreis um ihren Mitbewohner, den
Globetrottel, hatte dazu nichts Materielles beigesteuert. Dafür brachten sie jede Menge Witz
und Esprit mit, wie ein kurzer Ausschnitt aus dem Gespräch beweist, das während des
Desserts bei Gloria Victoria Messberg geführt wurde:
„Ich habe mit meiner Freundin Schluss gemacht.“
„Wieso?“
„Es musste sein. Die bekommt langsam Cellulitis.“
„Hohohorkorkhoho“
Vor dem Espresso lehnten sie sich genüsslich zurück, streichelten ihre Rückenhaare und
setzten die gehobene Unterhaltung fort, derweil Gloria Victoria Messberg im nachtblauen
Schlauchkleid souverän den Abwasch machte und parallel dazu den Espresso bereitete. Sie
war ganz zufrieden mit dem Verlauf des Abends, hatte ihren Freund Herbert ganz
ausgeblendet und malte sich beim Polieren der Gläser ein späteres Gespräch ihrer vier Gäste
in ihrer Abwesenheit aus, in dessen Verlauf anfänglich von ihrem hauswirtschaftlichen
Geschick, ihrem feinen Gespür für Kompositionen aller Art, ihrer geistreich-spritzigen
Konversation, dann von ihrer sinnlichen Ausstrahlung und schlussendlich noch von ihrer
Treue, ihrer Güte und überhaupt die Rede sein würde und das letztendlich zum felsenfesten
Entschluss des Globetrottels, dem eigentlichen Adressaten ihrer Aktivitäten, führen würde,
fortan mit allen nur erdenklichen Mitteln um sie zu werben, wenn nötig gar die ganze
Lebensenergie zu investieren, sie zu gewinnen.
Tatsächlich fand kurz nach dem Dinner ein Treffen zwischen ihren Gästen und Moers in
dessen Zimmer statt, bei dem die Konsistenz ihres Hinterns Inhalt eines fahlen Witzes war
und ansonsten ein lustiges Computerspiel eingeführt wurde, das die Dozenten ihnen
empfohlen hatten. Gespielt wurde in drei Fünfergruppen über mehrere Wochen. Jede dieser
Gruppen musste versuchen, als Team die Interessen eines Konzerns zu vertreten. Die
Interessen waren die gleichen wie seit Urzeiten: Zuschlagen, Zerschlagen, Besetzen, Besitzen.
Aber es war kein primitives Spiel. Neinnein, da war strategisches Denken gefragt, taktisches
Geschick, Risikofreude, Führungskraft und Kompetenz. Vor allem Kompetenz. Das Spiel war
zeitgemäß, denn es war ohne Fleisch und Blut. Das EZB-Studium ist eigentlich ein riesiger
Schweinemastbetrieb mit höchsten hygienischen Ansprüchen. Wer sich einen Platz erkämpft
hat, sich als zäh erwiesen hat, wird fettgefüttert und darf sich als Sieger wähnen, um letztlich
aufgefressen zu werden.
12
An Majas Tür hing ein Messingschild: „Berufungsberatung“.
Ihr aktueller Kunde war Willi. Die Beratung dauerte mehrere Stunden. Rauchschwaden
quollen aus dem Schlitz unter der Tür. Moers und Rosalie saßen rauchend, Kaffee trinkend
und auf das Ergebnis wartend in der Küche. Sie verstanden sich merkwürdigerweise recht gut.
Moers redete meist, Rosalie hörte meist zu: „Das Ei des Kolumbus! Dass ich nicht lache! Eine
saublöde Aktion war das, sonst nichts. Ein Ei braucht kein oben und unten, es steht, wenn es
liegt, es ist perfekt, wenn es eiert. Der Mann, der sich Kolumbus nannte, ist mir bislang nur
als gehöriger Idiot bekannt. Allein das Bedürfnis, ein Ei aufzustellen, ist schon Beweis genug
dafür. Es zu zerdeppern und sich dafür feiern lassen, ist erbärmlich. Einem, der nichts von
Eiern versteht, sollte man keine Schiffe in die Hände geben. Erst recht keine Kontinente.“
„Was macht denn euer Spiel? Seid ihr auf der Siegerstraße?“
„Was? Ach so. Ich bin ausgestiegen. Keine Zeit für so was!“
„Und dein Spiegeleiervermarktungsprojekt?“
„Erinnere mich nicht daran! Jerome hat mir die Augen geöffnet... Woher weißt du das alles
überhaupt?“
Da öffnete sich die Tür und Willi erschien in einer Rauchwolke.
„Und? Was ist die Empfehlung?“
Willi sah die beiden etwas glasig an: „Badreiniger.“
„Ha! Genau richtig!“, lachte Moers „Weißt du, was die Maja Jerome mitgegeben hat?“
Willi schüttelte den Kopf.
„Nein, woher auch.“, sagte Moers „Losverkäufer. Das hat sie gesagt. Und Jerome ist gleich
darauf abgefahren. Weißt du, was er neulich gemacht hat?“
Willi schüttelte den Kopf.
„Ja, woher auch“ sagte Moers „Also, Jerome kam mit einem Joghurtbecher zu mir. Karl IV.
war auch gerade da. Und jetzt rate mal, was in dem Joghurtbecher war!“
Willi zog die Augenbrauen zusammen: „Joghurt?“ Dann riss er sie plötzlich hoch: „Ach, nein
nein, ich weiß! Lose!“
„Woher weißt du das? Egal. Richtig. Es waren Lose. Er wollte für eins zwanzig Mark. Die
sind das wert, hat er gesagt. Karl hat ihn auf fünf Mark herunter gehandelt. Hat prompt eine
Niete gezogen. Hehe!...Das Skrupellos hat er gezogen. Schöne Scheiße, oder? Das
Skrupellos! Lebenslänglich Skrupel! Sogar, wenn man nichts verbrochen hat. Einfach so. Ich
hab mir das lange überlegt, ob ich überhaupt auch eins kaufen soll. Und ob ich handeln soll.
Hätte ja sein können, dass ich das Gewissenlos ziehe. Oder das Hemmungslos. Oh Gott! Oder
das Zweifellos. Hehehe! Habe ich aber nicht. Ich hab auch den vollen Preis bezahlt. Zwanzig
Mark. Muss ein Badreiniger lange für schrubben.“
Willi setzte sich und schenkte sich einen Kaffee in ein Glas, das gerade da stand.
„Oh, Mann. Wieso musst du jetzt meinen Sauerkrautsaftglas nehmen? Ich muss doch noch ein
Glas trinken. Für die Verdauung. Da kann ich doch keinen Sauerkrautsaft mehr draus trinken.
Ist ja eklig.“, regte sich Moers verhalten auf.
„Was hast du denn jetzt gezogen?“, fragte Rosalie.
„Ach ja! Es war fast der Hauptgewinn. Das Mutlos. Das war’s. Klasse, oder?“
Moers strahlte über beide Backen und sah Rosalie und Willi erwartungsvoll an.
„Am Anfang war das Tonlos!“, rief Willi schließlich für seine Verhältnisse euphorisch und
bewegte die Arme und Augen nach oben wie Bon Scott im Priestergewand.
„Oder das Leblos?“, fragte er ohne Bewegung in die Runde.
„Das Arbeitslos!“, grinste Moers.
Rosalie wollte wissen: „Sag mal, glaubst du, Jerome hat auch ein Zeitlos in seinem
Joghurtbecher? Das hätte ich ja gerne.“
Moers verzog den Mund: „Woher soll ich das wissen?“
„Ja, das kannst du natürlich nicht wissen, Woher auch. Die Frage ist dann ja noch, wie ich es
schaffe, das Zeitlos zu ziehen...Ach, ich weiß nicht, ob ich mir eins kaufe.“
Moers zündete sich eine neue Zigarette an: „Brauchst du gar nicht unbedingt. Du hast ja
schon das Chancenlos. Wenn dir das reicht...“
Rosalie und Moers sahen sich an und zogen gleichzeitig an ihren Zigaretten, während Willi
vom Gottlos träumte.
13
„Nenne mich bitte nicht mehr Süleyman. Du kannst meinen Namen doch nicht richtig
aussprechen. Die meisten Deutschen tun sich sogar schwer damit, ‚ey’ auszusprechen. Sie
können nur ‚ai’.“
„Sülaiman.“, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf: „Nein, Süleyman.“
„Süleiman.“
„Süleyman!“
„Mmh... wie soll ich dich dann nennen? Börreck?“
Er schüttelte den Kopf und drehte sich um.
Es war das vierte Mal, dass Rosalie ob ihres wirren Zustandes in Süleymans Zimmer nicht gut
stehen bleiben konnte. Niemand hatte sie zuvor hinein geschoben. Vielmehr hatte sie gegen
zwei Uhr nachts mehrfach geklingelt und er hatte im Halbschlaf geöffnet.
Jetzt schnarchte er.
Am nächsten Morgen saß er bekleidet vor ihr, als sie erwachte.
„Komm, ich muss dir etwas zeigen!“
Er ging voraus zum Schrank und öffnete mit leuchtenden Augen die linke Tür. Darin eine
Sensation: Das Ergebnis eines Energieschubs am Frühmorgen. Eine handvoll T-Shirts lagen
exakt gefaltet und gestapelt im obersten Fach, darunter auf zwei Fächer verteilt in gleicher
Weise zusammengelegte Pullover, noch weiter unten nach der Form geordnete Unterhosen
und korrekt einander zugeordnete Sockenpaare. Das große untere Fach hatte er nicht
geschafft. Dort bereitete sich eine Lawine auf ihren Einsatz vor. Es war, als ob er ihr seine
halbe Welt offenbarte.
„Was ist denn in der anderen Hälfte?“, fragte sie unberechtigt.
„Ach, das...“ Er winkte ab.
Sie standen noch eine Weile vor dem Schrank und freuten sich, dann wurde die Zubereitung
eines Kaffees geplant.
In der Küche saß Linde um eine Kaffeetasse gewickelt und sah irritiert auf das, was da hinter
Süleyman aus der Tür kam. Ihr Abschiedsfrühstück hatte sie schon weitgehend vorbereitet.
Es wurde ein Riesenfrühstück. Aida kam dazu und Rosalie holte Willi. Jeder außer Willi
brachte irgendetwas und so gab es allerhand.
„Willi ist auf der Suche nach der Formel.“, sagte Rosalie in der Absicht, Aidas Interesse auf
ihren Nachbarn zu lenken. Aida war eine halbe Polin mit riesigen, dunklen Mandelaugen. Mit
diesen blickte von ihrem Knödelteller auf und sah Willi an: „Meinst du DIE Formel?:
(S+L):2=M. Die Quasilogische Formel. Aber es nutzt nicht viel, wenn man sie nur kennt.“
Einige Sekunden Stille. Es kann gut sein, dass die Polen etwas weiter sind. Immerhin haben
sie in letzter Zeit zwei Fremdherrschaftsversuche von größenwahnsinnigen Nachbarländern
überstanden, ohne einen nennenswerten Hass zurückzubehalten. Rosalie sah hilfesuchend
Süleyman an. Er blinzelte.
Endlich Linde, die zuletzt etwas abwesend gewesen war: „Warum stehen hier eigentlich alle
auf Magnum-Eis?“ Es lief wieder. Nur Willi blieb für den Rest des Beisammenseins stumm.
Er schwieg auch, als Maja dazustieß und von angeblich in großer Anzahl aus ihrem
Wäschekorb verschwundenen Socken berichtete.
„Und ich werde da einziehen!“, schrie, ohne dass sie es hörten, draußen ein hochgeschossener
Aktenkofferträger, als er hochrot aus der Tür des Hasenmeisters stürmte.
„Du has nich das Zeug dazu, Junge.“, nuschelte der Hasenmeister in seinem Sessel und lehnte
sich entspannt zurück.
Er hatte dem EZBler zwei Zimmer angeboten. Eins ganz vorne im Erdgeschoss und eins
neben dem Waschraum im zweiten Stock. Der aber hatte gehört, dass im ersten Stock das
Zimmer von Linde freigeworden war. Er bestand darauf.
„Is schon resevitt, tumileid.“
„Was läuft denn hier? Wie reserviert? Ich reserviere das jetzt auch und dann werden die
Eignungsdaten verglichen. So!“
„Gänne. Schreib allsuff. Schau mis an.“
„Ach so! SIE schauen sich das an. Verstehe. Wissen Sie was: Ich werde mich über sie
beschweren. Mit mir nicht! Ich bin kein Würstchen!“ Mit zunehmender Lautstärke verließ er
den Raum.
In Lindes Zimmer zog zehn Tage später eine Freundin von Aida namens Birke.
14
Der Auszug von Mores und Süleyman nahte. Zwei Monate noch. Die beiden wollten
zusammen eine Wohnung in der Stadt beziehen, aus der sie kamen. Zirka einhundertfünfzig
Kilometer weit weg. Süleyman hatte dort eine Aufgabe. Er musste sich um seine Familie
kümmern. Von einer deutschen Freundin durfte die Familie nichts wissen. Er wollte sie nicht
enttäuschen. Immerhin hatte er seiner Mutter bereits erzählt, dass er gerne kocht. Das hatte sie
beunruhigt.
„Ich bin ein Feigling.“, versuchte er, Rosalie aufzuklären. Aber er hatte kein Glück. Schon in
der Woche davor hatte er mit „Ich bin Alkoholiker“ kein Glück gehabt. Sie kannte seinen
Plan. Er wollte sitzen gelassen werden. Nicht unbedingt sofort, denn er musste ihr noch die
Haare schneiden. Ihre Haare waren schnittlauchglatt und wirkten unkompliziert. In nassem
Zustand jedoch zeigten sie ihre Hinterhältigkeit. Sie hatte ihn gewarnt, aber er machte sie
dennoch nass. Damit waren sie zu einem Filzbüschel geworden und nahezu unkämmbar. Er
fluchte, warf die Bürste auf den Tisch und holte sich noch ein Glas übel riechenden Whisky,
bevor er die Schere ansetzte. Ein paar Zentimeter sollten weg.
Dumme Sprüche beschäftigten sie beide. Ihm gefiel „Wer A sagt, muss auch B sagen.“
überhaupt nicht: „Wieso muss man B sagen? Niemand muss B sagen. Man kann hundertmal
A sagen, ohne auch nur einmal B sagen zu müssen. Man kann auch A-H sagen oder A-D oder
sonst was.“
„Es gibt Schlimmere. Eindeutig schlimmere. Eindeutig schlimmer ist ‚Der Zweck heiligt die
Mittel.’ Wer hat das gesagt? Egal. Entweder war es ein mächtiger Trottel oder die Nachwelt
hat diesen Satz aus dem Zusammenhang gerissen und missbraucht. Die Nachwelt macht das
oft. Es ist zum Brechen, was sie aus den wunderbarsten Ideen machen kann. Aber nein, dass
‚Der Zweck heiligt die Mittel.’ jemals ein guter Gedanke war, ist nicht möglich. Es ist
heilloser Schwachsinn. Nichts anderes. Sätze wie dieser gehören in Beton gegossen und
ersäuft. Der Zweck kann nicht die Mittel heiligen, die falschen Mittel können den Zweck
entheiligen. Ja, so ist es: Die falschen Mittel entheiligen den Zweck.“
„Meinetwegen“, stimmte er zu, „hast du eben recht.“.
So entstand Einigkeit.
„Aber die schlimmsten sind immer noch die großen. ‚Die Wahrheit wird euch frei machen.’
Wie viel Selbstbetrug und Verzweiflung hat der ausgelöst.“
Er nickte.
So entstand Stille.
Dann sie wieder: „Der Mensch ist lächerlich wie eine Sekunde, die zwei sein will.“
„Auch Schwachsinn.“
„Das ist von mir.“
„Ach so.“
Zwei Gläser lang schnitt er und war schon beinahe in der Mitte ihrer Frisur angekommen.
„Ich kann nicht mehr. Machen wir morgen weiter.“
„Was soll denn das jetzt? Es ist doch nicht mehr viel.“
„Aber ich sehe nicht mehr so gut. Es wird schief.“
Aus Majas Zimmer trat in einen dichten Nebel gekleidet Jenny. Sie stöckelte
gedankenversunken aus der Wohnung.
Süleyman musste pinkeln. Ein Kreisel, von ungeschickter Hand in Bewegung gesetzt, kann
sich nicht ruhig drehen. Um so bewundernswerter: Er umging den Wäscheständer, wich dem
Schrank aus und streifte nicht einmal den Türrahmen. Die Klotür fiel ins Schloss.
An diesem Tag war er nicht sehr belastbar. Er hatte seine EC-Kartennummer vergessen und
war, da seine Versuche an verschiedenen Geldautomaten erfolglos geblieben waren, nun
nahezu bargeldlos. Seit Stunden zerbrach er sich den Kopf über diese Zahlenkombination. Sie
war einfach weg.
Sie würden also am nächsten Tag das Gespräch und die Frisur fortsetzen. Ein halber
Haarschnitt ist besser als gar keiner.
Zur selben Zeit saß Moers in seinem Zimmer vor einem Karton, den er mit Zeitungspapier
gepolstert hatte. Auf dem Bett lagen in einer Decke vierundzwanzig braune und weiße Eier,
die seine Spiegeleiereinschweißphase überlebt hatten, und zwölf Paar Socken in Größe
sechsunddreißig. Er nahm das erste Ei, strich zärtlich seufzend darüber, legte es in einen der
Socken und vorsichtig in die Kiste.
Zwei Tage später schickte sich Rosalie mit halber Frisur an, bei Moers, den sie, da er in ihren
Augen kein kleines Arschloch mehr darstellte, inzwischen Bernd nannte, zu klopfen. Die Tür
war nur angelehnt. Rosalie ging hinein und sah sich konsterniert um. Das Zimmer war leer bis
auf das Eiereinschweißgerät, das auf dem Sims stand. Langsam ging sie auf ihr Zimmer, um
ihren Fotoapparat zu holen.
15
Es war schaurig. Auf seinem Abschiedskonzert in der Küche imitierte Mores auf seinem Horn
die Schreie und Fluchtversuche eines Stiers, dem in einer ummauerten Arena alle paar
Minuten eine Eisenspitze in den Rücken gerammt wird. Begleitend dazu entlockte Jomer
seiner Gitarre Töne, die an eine friedlich weidende Kuh erinnerten.
Der zweite Gastgeber neben Mores, Süleyman, ansonsten der beste Koch des Hauses und
sogar in der Lage, selbstgesammelte Pilze mannigfaltig zuzubereiten, hatte anlässlich dieses
Festes Scheiblettenkäse auf Aldibrotscheiben gelegt und in die Ecke gestellt. Vor dem Fest
hatte er Rosalie noch die Familie vorgestellt, in deren Gewalt er sich befand. Sie bestand aus
einem Mann, einer Frau und zwei Töchtern. Eine blondiert und eine betucht. Geredet hatten
sie nicht mit ihr. Fotos reden nicht. Dafür sprechen sie Bände. Auf dem Foto von seinem
Beschneidungsfest, das er ihr anschließend zeigte, versuchte ein Kind mit einer
perlenbestickten Mütze, sie mit verweintem Blick zu einer Entführung zu überreden. Rosalie
verstand es nicht.
„Süß!“, sagte sie und zeigte auf die Mütze.
In einer Spielpause erzählte Jomer Mores: „Ich war bei Maja zur Beratung. Stundenlang. Mir
raucht jetzt noch der Kopf. Vater soll ich werden, sagt sie. Von Zwillingstöchtern. Seltsam,
daran habe ich in letzter Zeit oft gedacht.“
Mores lachte ohne Freude. Dann blies er wieder zum Rückzug.
Später schoss Rosalie einige Fotos vor allem von Menschen in entgleisten Gesichtszügen. Auf
Mores Zimmer gab es nicht viel zu fotografieren. Vor seinem Bett hatte er eine spanische
Wand aufgestellt, der Rest war unverändert wie die Möbelfirma ihn aufgebaut hatte. Neben
dem Fenster stand ein thronartiger, gepolsterter Stuhl, der ein Erbstück zu sein schien. Auf
diesen hatte sich jetzt das tropfende Horn gebettet, um sich von den erlittenen Qualen zu
erholen. Davon machte sie ein Bild.
Draußen klirrte es. Der Hasenmeister stand über das Geländer gelehnt und schrie die Fenster
gegenüber an: „Kinner des Scherzes: Beweinet euch!“ Er sank zurück und kam lachend auf
dem Beton zum Liegen. Maja lachte ebenfalls: „Hat der einen Schuss!“
Nachdem er eine Zeit so gelegen hatte, ging Süleyman hinaus, um ihm aufzuhelfen. Sie
wankten zusammen die Treppen hinunter.
Als Süleyman sein Zimmer wieder betrat, schlief Rosalie schon. Am Bettrand sitzend zog er
die Ärmel seines Pullovers über die Hände und sah lange auf die Schrankwand.
16
„Hast du den gesehen?“ Kain Dunst, Abel Dampf und Massa Nebel, drei EZBler der ersten
Generation, hängten sich brüllend an die Theke der Wohnheim-Bar. Dann äfften sie einen
wackeligen Gang nach. „...und fällt auch noch in die Hecke. So ein Depp!“
Zwei Beine taumelten die Treppe zur Bar herunter, gefolgt von einem schwankenden Rumpf
und dem Wackelkopf von Süleyman. Das Georke des Backpfeifentrios erreichte seinen
Höhepunkt.
„Das sind Arschlöcher!“, raunte Süleyman Rosalie zu. Endlich sprach er es aus. Sie legte eine
Hand auf seine gepolsterte Hüfte und küsste ihn. Er war zu Besuch da. Alle paar Wochen kam
er aus der Stadt, in der er jetzt mit Mores und seiner angeblichen Familie lebte. Rosalie hatte
vor, ihn dort zu besuchen.
Elende Bar. Die Herren EZBler hatten sie für sich eingenommen. Inzwischen waren es
mindestens zwanzig. Sie standen mit Riebel in einer Wolke aus Hohngelächter und hielten
Ausschau nach Frauen mit gesunden Gebissen.
Willi, das Leidwesen, Maja, Jomer, Aida, Gloria Victoria Messberg und Karl IV. wohnten
noch mit Rosalie im Wohnheim. Aber es war nicht mehr dasselbe. In die Mitte war ein
hochgeschossener EZBler mit seiner Aktentasche eingezogen. Und nicht nur da. Es gab schon
Wohnungen, da waren ganze „Teams“. Der Hasenmeister hatte einen Unfall gehabt und war
nun in Reha. Voraussichtlich war er berufsunfähig. Sein Vertreter und angeblicher Nachfolger
war nicht in der Lage, die Instanz zu achten und die Flut aufzuhalten. Der Realismus
schwappte über die Ufer und war dabei, die ganze Anlage zu einzunehmen.
„Immer, wenn ich Sehnsucht nach Wärme habe, denke ich an dich.“, sagte Süleyman.
Und Sekunden später:
„Aber sonst eigentlich nicht.“
„Sonst kannst du von mir aus denken, an wen du willst.“
Vor der Bar stand Jenny mit vier Jacketts auf den Schultern. Sie war nach einer
ausgezeichneten Beratung Kleiderständer geworden und Riebel hatte sie zum Auslüften vor
die Tür geschafft. Es machte sie glücklich, nützlich zu sein.
17
„Hoffnungslos! Kein Schwein kommt mehr in die Beratung. Diese EZBler schon gar nicht.
Die haben Angst. Und was ist mit dir? Du warst auch noch nicht da.“ Maja war angenervt.
„Ich?... Ach,... ich kenne doch meine Aufgabe.“ Rosalie blickte von ihrer Linsensuppe auf.
„Welche denn? Ach ja, Torhüter. Na ja, wenn du meinst. Ich jedenfalls muss mir eine neue
Herangehensweise überlegen. Vielleicht sollte ich Hausbesuche machen? Zimmerbesuche
meine ich natürlich...Ich glaube, das mache ich. In zwei Monaten bin ich zwar hier fertig, aber
bis dahin möchte ich noch etwas erreichen.“
Rosalie lachte zustimmend und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Sie wollte gerne von
Süleyman lernen. Demnächst hatte sie vor, ihn zu besuchen. Er war kein Tor, auch wenn fast
alle das dachten. Neulich meinte er, sie wäre sarkastisch. Nicht ausgeschlossen, dass er Recht
hatte. Es war nur so schwer zu ändern. „Scharfe Zunge führt sich leicht.“ kann man bei
Donald Duck lesen. Von ihm kann man - je nachdem, aus welcher Feder die Geschichte
stammt - ebenfalls viel lernen. Besonders wichtig ist es, ab und zu aus der Hängematte zu
fallen, um von jeher hochgradig verwirrte Onkels therapeutisch zu begleiten oder um ewig
klugscheißende Neffen mit dem Teppichklopfer zu jagen oder um unverdient geliebte Wesen,
die dazu neigen, ihre dicken Hintern jahrein jahraus in die Beifahrerpolster affiger Cabriolets
zu breiten, um neben gewellten Gänsen Spritztouren zu unternehmen, in einem kugeligen
Schrottwagen zu verfolgen. Die falschen Väter von Donald sind zum Glück oft leicht zu
erkennen. Sie machen ihn gern zu Phantomias.
Ein Brief von Süleyman, der auf ihrem Schreibtisch lag, kündigte Rosalie ein Geschenk an.
Zwei gebrauchte Pullis, die nicht mehr in seinen Schrank passten. Er hatte den Brief in einer
Kneipe geschrieben, während er auf seine betuchte Schwester wartete, die er zuvor zu einem
Termin gefahren hatte. Sie hatte sich offenbar reichlich Zeit gelassen, denn der Brief war
mehrere Halbe lang. An manchen Stellen klang er beinahe wie ein Liebesbrief.
Sie setzte sich, nahm einen Stift und einen blauen Bogen Papier und wollte beginnen. Gleich,
wenn die Wollmäuse vertrieben waren, wollte sie beginnen. In Deutschland haben sie den
kältesten Dialekt zur Hochsprache gemacht. Man kann sich nach Kräften mühen, kann
versuchen, seine Seele auszuwinden und auf Papier zu tropfen, sie ist in der Regel schon
Trockeneis, bevor sie ankommt. Man kann sicher in allen Sprachen der Welt mit warmem
Blut schreiben, aber nicht auf hochdeutsch. Sie begann, über ihre Einrichtung nachzudenken.
Möbel dürfen niemals länger als zwei Monate an derselben Stelle stehen, sonst werden sie
träge und übertragen diese Trägheit auf ihre Umgebung. Nachdem die Möbel umgestellt
waren, setzte sie sich an den neuen Schreibplatz. Auf hochdeutsch ist es unglaublich schwer.
In Italien ist es gar keine Kunst. In keinem Land der Welt ist ein einfacher Liebesbrief eine
Kunst. Nur hier. Und nur hier braten unsensible Mitbewohner Nudeln in Zwiebeln und Käse
an, wenn man sich gerade anschickt, einen zu schreiben, nur hier würzen sie, begleitet von
Polyesterliedern, während man beinahe dabei ist, die alles entscheidende Anrede zu finden,
nur hier klopfen sie hemmungslos an die Tür, um dreist zum Essen einzuladen, obschon
einem wohl bereits im allernächsten Moment die schönsten Zeilen voll großartigster Poesie
zugeflogen wären wie die reifen Früchte dem Munde des dicken Faulenzers unter dem
Kirschbaum im Schlaraffenland und man fast sicher den Brief seines Lebens begonnen hat
und nur, nur hier, wirklich nirgendwo anders fragen sie einen zu allem übrigen Übel auch
noch, wenn man sich dazu herablässt, an ihrem Käsespätzleessen teilzunehmen: „Na, alles
klar?“
Man kann aus seiner Haut schlüpfen, klar. Wäre es nicht möglich, gäbe es nur haltloses, hinter
einer Zellwand wachsendes Unglück. Was sonst ist Glück? Vielleicht nur kurz, beispielsweise
beim Lachen, aus der Haut zu schlüpfen, draußen herumzuirren, anderen Hautfreien zu
begegnen und schließlich wieder zurück zu kehren in seine eigene, gute alte Haut. Man kann
nicht nur aus seiner Haut schlüpfen, man muss es sogar. Man muss es, wie man aus dem Haus
muss, um zu ihm zurückkehren zu können, wie man aus dem Land muss, um zu fühlen, aus
welchem Land man kommt, wie man den Kontinent verlassen muss, um zu ihm zu gehören
und wie man seinen Planeten aus der Entfernung sehen muss, um sagen zu können: „Das ist
sie, meine Erde! Scheiße, hat die Hautkrebs?“
So einfach es ist, aus seiner Haut zu schlüpfen, so schwierig ist es, über seinen Schatten zu
springen. Das verlangt qualvolle Handlungen. Beispielsweise die Dokumentation von
Gefühlen. Sie hatte in ihrem Leben noch keinen erkennbaren Liebesbrief geschrieben. Um
nicht zu übertreiben. Dafür würde sie Süleyman demnächst besuchen.
18
Als Rosalie die Augen aufschlug, sah sie sich selbst. Der goldgerahmte Spiegel neben dem
Bett zeigte sie auf der Seite liegend. Ihre linke Backe hing träge herunter. Wo war sie? Sie
erinnerte sich. Am Vorabend hatte sie die Wohnung betreten, in der Süleyman vorübergehend
wohnte. Es war die Wohnung seiner Schwester. Der Schwester ohne Kopftuch, der er helfen
musste, sich beruflich selbstständig zu machen. Sie war gerade für drei Tage auf einer
Fortbildung.
Das Telefon klingelte. Wo war das Telefon? Rosalie fand es auf einer weißen Kommode und
nahm ab.
„Bei Süleyman“, meldete sie sich.
„Wer ist da?“, fragte eine harsche Frauenstimme.
„Hier ist Rosalie“
„Wer? Was machen Sie bei meinem Bruder?“
„Ich besuche ihn. Soll ich etwas ausrichten?“
„Sind Sie allein in der Wohnung? Woher kennen Sie meinen Bruder?“
„Aus dem Wohnheim. Was soll ich ausrichten?“
„Er soll mir sofort anrufen, wenn er da ist.“
Rosalie legte sich wieder hin. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, Teil eines geheimen
Lebens zu sein. Man sollte mal darüber reden. Doch es gab wenig, was ihr mehr zuwider war,
als Beziehungsgespräche.
Maja war nicht da, als Rosalie zurück kam. Sie war so gut wie gar nicht mehr da, denn sie war
nahezu fertig mit dem Studium. Nachdem der angeblich neue Hausmeister ihr Messingschild
abmontiert und ihr jede weitere Beratertätigkeit im Wohnheim untersagt hatte, war sie
kurzerhand für die letzten zwei Wochen in ihren Fiesta gezogen, um in ihm eine mobile
Hilfestelle für Härtefälle zu gründen. Es wurde behauptet, dass das, was darin auf dem
Parkplatz vor dem Heim über vier Tage einen unsäglich dunklen Qualm verursacht hatte, des
Globetrottels Herz und Seele gewesen seien. Jemand hatte ihn jedenfalls einsteigen gesehen.
Niemand hatte ihn wieder aussteigen gesehen. Niemand hatte ihn überhaupt wieder gesehen.
Daneben gab es allerdings auch noch das Gerücht, er habe das Gottlos gezogen, wäre auf der
Stelle durchgeknallt und habe sich auf der Bundesstraße einem fahrenden LKW
entgegengestellt. Wie auch immer: Seine Siebensachen holte später die Spurensicherung ab,
weil sie ansonsten keine Spuren fand. Beide Versionen interessierten Rosalie nur kurzzeitig.
Nur anständige Verbrechen im Familienumfeld beschäftigten sie langfristig. Hätte eine Spur
beispielsweise zu seiner Mutter geführt und ergeben, dass diese ihren missratenen Sohn mit
einer Kuchengabel erledigt und in Kohlrouladen eingearbeitet hat, bevor er ihr als
Jungmanager weitere Schande bereiten konnte, wäre die Geschichte sicher eindrucksvoller
gewesen.
Rosalie setzte sich auf das Sofa und dachte darüber nach, wieso sie einfach „Ich gehe jetzt.“
gesagt hatte, als Süleyman am Nachmittag zurück in die Wohnung seiner Schwester
gekommen war. Er hatte mit gesenktem Kopf „O.K.“ geflüstert und war in einem der Zimmer
verschwunden. Auf dem Gang war es auf einmal genau so leer gewesen wie später in ihrem
Auto.
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„Ich küsse nicht gern.“, sagte Jerome und zog sein geringeltes T-Shirt über den Kopf. Das traf
sich gut, denn zu derart intimen Begegnungen war Rosalie derzeit auch nicht bereit. Sie hatte
nichts mehr von Süleyman gehört. Fünfzehn Tage lang. Schweigende Telefone sind
manchmal sogar quälender als nicht schweigende und treiben einen dazu, sich mit
gutaussehenden Franzosen auf den Weg zu deren Zimmer zu machen, um sie dort nicht zu
küssen.
„Hast du noch Lose?“, fragte Rosalie neben ihm auf dem Bett sitzend.
„Ja, wieso, willst du eins?“
„Ich glaube ja.“
Jerome drehte seinen fettfreien Oberkörper zum Wandregal hinter dem Bett und griff nach
einem kleinen, weißen Eimer.
„Da!“, sagte er und gab ihr den Eimer.
„Was willst du denn dafür?“
„Ach, gar nichts.“ Er strich mit zwei Fingern über ihren Oberarm.
„Du Flittchen!“, lachte sie und hinderte ihn nicht daran.
Die Lose waren verschiedenfarbig und unterschiedlich gefaltet. Nachdem sie ein blaues,
flaches Los schon in der Hand gehabt hatte, ließ sie es wieder fallen und griff blind in den
Eimer. Sie zog ein gelbes Papier, das wie ein Bonbon gewickelt war.
„Oje!“, sagte sie und entwickelte es langsam.
„Ach nein, ich will es gar nicht wissen.“ Sie zerknüllte das gelbe Papier wieder und warf es
gegen das Fenster.
„Ist eh Humbug!“ Jerome grinste und legte seine Hand auf ihren Bauch. Sie stellte den Eimer
zurück in das Regal und rutschte etwas nach unten.
20
„Komm, wir fahren nach Berlin!“, sagte Süleyman urplötzlich zu Mores. Sie waren wieder da.
Plötzlich waren sie wieder aufgetaucht und mit zum Grillfest auf der Weide gegangen.
Süleyman wackelte als Schattenriss im Türrahmen der Grillhütte. Mores nickte.
20 Minuten später saß er am Steuer. Es klopfte. Rosalie stand, auf die Hintertür deutend,
draußen.
„Hm“, murmelte Mores und blickte fragend zu Süleyman.
„Was zum Teufel heißt das: ‚Ich habe mit Jerome ein bisschen Humbug gemacht.’ Das ist
doch...“ Süleyman schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn.
„Hm“, murmelte Mores und zog den Türknopf hoch.
„Wohin fahren wir?“, fragte Rosalie, als er den Motor startete.
„Berlin.“
„Oh, nein!“
Sie legte sich in den Müll auf der Rückbank und schlief ein, bevor der alte, schwarze
Mercedes den Ortsausgang erreicht hatte.
In der Hauptstadt hatten sich viele tausend Menschen auf und um offene Wummerwägen
versammelt, um unter sengend heißer Sonne als Plastikkarawane über den Kudamm zu
zappeln. Wenn sie dabei aneinander stießen, machte es dumpf „Flopp“, „Flopp“, „Flopp“. Es
war ein einsames Fest. Sie nannten es „Love Parade“ und wenn man einmal dabei gewesen
ist, hat man es einmal gesehen. Mores und Süleyman beeilten sich, Rosalie abzuhängen.
Schließlich blieb sie stehen, bis sie die beiden nicht mehr sah.
Wenn es regnen würde, dann wäre die Erde hier draußen jetzt nicht trocken, sondern nass.
In allem, was er noch sagte, als sie ihn wieder fand tauchte dieses Wort auf, das so unnötig ist
wie kaum ein anderes, das jeden Satz zu Matsch macht und das doch beliebter ist als
Bauchspeck beim Grillen: Das beschissene Wort „Irgendwie“. Schaut man im Regen
senkrecht nach oben, so kommen alle Tropfen aus einer einzigen, mächtigen Quelle und
verteilen sich erst dann in verschiedene Richtungen. Dort oben sammeln sie sich wohl
aufgeregt, stimmen Freudenlieder an und schunkeln, bevor sie sich wie die Kinder fallen
lassen, um in einer Wiese oder in einem Wald weich und willkommen zu landen. Würde es
regnen, könnte man auch beobachten, wie einige von ihnen auf die geteerte Straße klatschen.
Am nächsten Tag tranken sie Berliner Weiße in der glühenden Nachmittagssonne. Vor die
Biergartenkneipe wurden Kisten mit Feigen gestapelt. Ohrfeigen. Süleyman lächelte.
„Wer fährt?“, fragte Mores, als sie das vierte Bier erhielten.
Nachts auf der Autobahn-Rückfahrt überfuhr Rosalie ein Schwein bei Hoyerswerda. Sie hatte
es nicht gesehen. Es tat ihr leid. War nicht alt. War dunkel. Tot.
Sie kamen an und Mores stieg aus, um Jomer zu besuchen.
Süleyman und Rosalie saßen derweil auf Rosalies Bett.
„Nein, ich kann nicht Koch werden. Meine Familie... Sie dürfen es nicht wissen... Die Ehre...
Mein Vater, es würde ihm das Herz brechen ‚Mein Sohn kocht und hat eine Deutsche’... Ich
muss jetzt um meine Ehre kämpfen.“ Süleyman lief aus Rosalies Zimmer und wieder zurück.
Sie wurde bissig: „Dann lüge halt weiter. Will das deine Familie? Welche Ehre! Balsam für
das Vaterherz. ‚Unser Süleyman! Wie aufrecht er steht.’ Er steht für nichts! Zwei halbe Leben
sind noch lange kein Ganzes. Und erst recht kein Doppelleben.“
Das Schweigen führt ein eigenes Leben. Es kann golden sein oder eben schwarz. Es kann sich
verbreiten und so lange in der Luft liegen, bis es diejenigen gefunden hat, die es
hinunterschlucken. Einmal geschluckt verbreitet es sich nach Art der Viren.
Zwei Minuten später schlich Süleyman als tausendfüßiger Pudding durch die Tür und davon.
In ihrer runderneuerten Pfauenfedermusterbettdecke auf dem angestrahlten Bett thronend sah
Rosalie auf das nächtliche Fenster. „Hol die Hände aus den Ärmeln, du Depp!“, sagte sie zu
der jämmerlichen Person, die dort mit eingezogenen Armen auf ihrem mickrigen Ruhelager
versuchte, durch ihre überstreckte Kopfhaltung einen falschen Eindruck zu vermitteln. Die
Person gehorchte ihr nicht. Genauso wenig deren Arme. Aus einem beleuchteten Zimmer
reglos auf ein nächtliches Fenster zu starren schadet eher. Man müsste schon das Licht
ausmachen, um weiter zu sehen.
Durch die Türritzen erklang zum Geklapper der Küchengeräte ein vertrautes Volkslied. Das
Leidwesen servierte sich draußen ein aufgewärmtes Süppchen, das wie immer schmeckte.
Etwas mehlig, aber so war es eben immer.
Rosalie schluckte.
„Was soll denn die Theatralik? Das war doch sowieso nie was Richtiges.“ Gloria Victoria
Messberg hatte in der Zwischenzeit im weiß umwallten Korsett geheiratet und hieß jetzt
Gloria Victoria Messberg-Mostle. Sie verstand zweifelsohne etwas von der Sache, denn auf
den Antrag von Herbert, der sie seit Jahren liebte, hatte sie mit „Ja“ geantwortet und unhörbar
‚... besser als gar nichts.’ hinzugefügt. Gedankenverloren streifte ihr Blick die Tür zum
ehemaligen Zimmer des Globetrottels, durch die ein unangenehmer Geruch drang. Dafür
interessierte sich Rosalie herzlich wenig. Sie ging zum hinteren Zimmer und klopfte an. Über
dem Stammbaum stand in prächtigen Lettern „Das Geschlecht der Nickel“. Karl IV. öffnete
nicht. Noch einmal. Wieder nicht. Bis auf das Foto von seinem Türschmuck war nichts zu
machen.
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Das beste Mittel gegen eine Stauballergie ist Putzen. Beim Badputzen dachte Willi über
allerlei nach. Vor allem darüber, wie er Aidas Herz gewinnen könnte. Danach ging er in sein
Zimmer und kam mit einem übervollen Korb muffeliger Socken wieder heraus. Sie mussten
gewaschen werden. Letztlich setzte er sich an seinen Schreibtisch.
Einige Zeit nach Ausbruch der Sonnenstrahlen fand Aida einen holzig parfümierten Brief
unter ihrer Tür, der mit einem KSC-Aufkleber verschlossen war. Ihr Name stand darauf, aber
kein Absender. Sie löste behutsam den Aufkleber und las das Gedicht, das aus den drei am
schwersten aneinander zu reihenden Wörtern der deutschen Sprache bestand.
Statt einer Unterschrift: „Weil du mir die Formel gegeben hast.“.
Sie verstand. Und beschloss, den Durchbruch bei der Suche nach der Formel zur Ermittlung
der objektiven menschlichen Größe als zweitrangig zu betrachten, obwohl sie nur noch die
unterschiedlichen Einheiten daran hinderten, die Höhe des selbstgeschreinerten Podestes von
der Summe der gültigen Achtungserfolge zu subtrahieren.
Während sie sich im Bad ein bisschen die Augen intensivierte, summte sie eine alte polnische
Melodie. Es dauerte nicht lange, da lief sie mit zwei Flaschen Oettinger die Treppen hoch.
Es dauerte auch nicht lange, da bezog sie mit Willi eine Wohnung irgendwo im Osten.
Damit war Rosalie allein mit Karl IV, Gloria Victoria Messberg-Mostle und den EZBlern. Im
vernachlässigten Erdgeschoss breitete sich derweil der Schimmel aus.
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Dumme Dinge passierten. Die Wut ist eine dunkle Zerrbrille und stolpern ist keine Gangart,
die sich für längere Strecken eignet. Schließlich ging Rosalie auf die 35 zu. Sie bewohnte eine
Mietwohnung in der Stadt und war den Bundeskanzler los geworden.
Alleine einschlafen war für sie Mitte Januar in einem Jahr kurz nach der Jahrtausendwende
vorgeblich das Allergrößte. Unzählige lose Gedankenfetzen konnten ihr durch den Kopf
schießen und kein Grunzen, kein Knirschen, kein Atmen und keine Berührung lenkten sie ab.
Zuletzt konnte sie sogar die Arme ausbreiten und stieß auf kein einziges Hindernis. Draußen
war die Luft gut. Unter den Autos vor dem Haus stand ein von Gebüsch zerkratzter, rostiger
und verquollener Wagen, der einmal ein Frosch gewesen war. Nun sah er eher aus wie eine
Agakröte. Drinnen war die Luft besser. Man kann ja lüften.
Zwanzig Stunden später saß Rosalie wartend auf einem Barhocker vor ihrem Radler und
beobachtete die warmgewordenen Croissants unter der Glashaube bei ihrem Liebesspiel. Sie
war in einem sehr merkwürdigen Film gewesen. Er hieß „Troja“. Es ging um Stolz und Ehre.
Das Doppelpack schlägt sich und verträgt sich seit Urzeiten. Und produziert Unglück, das
gerne Ruhm genannt wird. Für eine handvoll Bekloppte und ganze Völker, die mitziehen
müssen. Wenn das der Weg ist, um in die Geschichte einzugehen, dann sind alle die Helden,
die in keinem Geschichtsbuch stehen. Und wenn Achilles so war, wie in diesem Streifen
dargestellt, dann war er ein Feigling. Zu feige, um das zu tun, was er als richtig erkannt hat.
Nämlich dem saudummen Krieg fern zu bleiben. Die alten Deppen Stolz und Ehre kann man
getrost den Hasen geben. Auch über die Liebe wussten sie in diesem Streifen wenig. Helena
ist freiwillig mit Paris gegangen. Sie wollten zusammen sein. Und nahmen dafür den Tod
unzähliger Menschen in Kauf. Im Film geben sie sich alle Mühe, das unselige Paar schön zu
waschen. Eine Blutlache war noch nie das Meer.
So gesehen ein eher unerfreulicher Film, wären da nicht diese völlig neuen Erkenntnisse über
den Way of Life der klassischen Helden gewesen. Wer hätte geahnt, dass die alten Griechen
sich zur Vorbereitung von Kriegen gerne von Fitnesstrainern bilden und die Nasen
verkleinern ließen, ihre Körper der heißen Sonne Floridas aussetzten und ihre blondierten
Schnittlauchhaare so gekonnt mit Schaumfestiger vorstylten, dass diese selbst in den
wildesten Schlachten makellos die Form behielten? Wohingegen die Trojaner sich im Vorfeld
von Gemetzeln bevorzugt in Bastel- und Modeschmuckläden aufhielten, um nette Variationen
von Metallplättchen für ihre Polyacrylschutzhemden und niedliche goldene Haarklemmen zur
Dekoration ihrer glanzgespülten Wildundluftigmähnen zu erwerben? Potz Blitz!
Ihr fiel eine Stadtzeitung in die Hand. Sie blätterte und las mit halber Gehirnaktivität, bis sie
auf etwas stieß. Unter einem Foto von zwei Männern, deren geschälte Häupter im Blitzlicht
glänzten, las sie: „Auf ihrer Vortragsreise besuchen Dr. Bernd Becher und Dr. Jerome
Oval,...“ Sie stieß einen leisen Schrei aus. „...die voreinst ersten Vertreter der Eierphilosophie,
die Stadt. Am Samstag sind sie mit ihrem Diavortrag ‚Die Erde ist ein Ei“ im Bürgersaal zu
hören. Einlass ab 19.00 Uhr, Beginn 20.00 Uhr.“ Samstag! Welch schöne Aussicht. Was
vergeht, darf man bedenkenlos Vergangenheit nennen. Das andere kommt wieder.
Mit Jomer, einem Ehemann und Vater, der sein Glück noch nicht richtig fassen konnte, war,
nachdem er endlich eingetroffen war und sich neben ihr niedergelassen hatte, wieder mal gut
unnüchtern sein. Sie redeten mal wieder über die Wahrheit oder was sie dafür hielten.
Wahrheit, die richtiger Sehnsucht heißen muss. Man kann alles manipulieren, alles
therapieren, aber nicht die Sehnsucht. Nicht den Jomer. Er, der ansonsten gerne sein Gesicht
in Falten warf, nickte abschließend und schenkte seinen überarbeiteten Gesichtsmuskeln eine
kleine Pause.
Nicht sehr lange, denn ihm war schleierhaft, wie eine Mehrheit Interesse daran haben konnte,
von einer Frau regiert zu werden, die nichts Besseres zu tun hat, als eigens nach Washington
zu reisen, um einer aufgeblasenen Bomberjacke ihre Zustimmung für einen verlogenen,
öligen Krieg hinterher zu tragen und dabei noch so kopfhoch einher zu schreiten, als habe sie
soeben aller Welt bewiesen, was Mut bedeutet.
„Haben wir sie über den Teich geschickt, um dem Überforderten auszurichten, dass ‚nicht alle
Deutschen’ diesen Krieg ablehnen?... Klar doch,...“, zeterte er aus seiner zornigen Faltenburg
„...nicht alle Deutschen lehnen diesen Krieg ab, es sind ja nur fast alle. Das sind nicht alle ...
So wie nicht alle schimmeligen Käse, vergiftetes Wasser und heuchelnde Politiker ablehnen.
Da krieg’ ich die Krätze!“
„Brauchst du nicht. Die Schlauen sind eh die Dummen. Haben verloren und merken es nicht
einmal.“
Er nahm einen riesigen Schluck aus dem Hofbräuglas und lief zur Höchstform auf: „Eine
Möglichkeit, zu verhindern, dass jede Wurst in die Politik gehen kann, um dort ihre
Persönlichkeitsprobleme zur Geschichte werden zu lassen, gibt es ja immer noch nicht ... Die
nennen das ‚Freiheit’ ...und ich nenne es die Bankrotterklärung der Berufsberatung ... Die
Geschichtsschreiber sollten sich dafür die Freiheit nehmen, die Namen dieser Leute durch
Nummern zu ersetzen, denn die Nachwelt muss sich das Gedächtnis mit solchen Namen
wirklich nicht unnötig belasten.“
„Genau, ganz genau...Orks haben keine Namen... never!“
„Genau...genau so wie Troll-Azubis!“
„Troll-Azubis...hohork...Scheiße...hork...Was man sagt, das ist man selbst. Komm, Prost!
Reden wir Schöneres. Über Menschen, die Kriege beenden. Wie Sting, der den kalten Krieg
mit diesem wunderbaren Lied über die russischen Kinder beendet hat.“
„Ach was, Sting! Was redest du? Udo hat den kalten Krieg beendet. Du solltest dich mehr mit
Geschichte befassen.“ Es entstand eine sehr vernünftige Diskussion, die mit dem wohligen
Gefühl beider endete, im Recht zu sein.
Das Wichtigste erzählte er erst zum Schluss: Süleyman hatte heiratet. Eine Deutsche.
Rosalie schwamm in einer rissigen Mauer hoch zur Toilette und hinunter zurück an den Tisch.
Vielleicht war es, wie Gogol schon lange vor uns fast so schrieb: ...Und bis zu einem so
großen, herrlichen, schönen Benehmen hatte ein Mensch hinaufsteigen können? Hatte er sich
so ändern können? Und ist so etwas wahrscheinlich? Alles ist wahrscheinlich; alles kann mit
einem Menschen geschehen...
War es so?
Als sie in ihre Zweizimmerwohnung kam, fiel ihr Blick automatisch auf die Wand im Flur, an
der die Fotos hingen. Sie waren wie die Zimmer angeordnet:
Links oben Willis Socken, rechts oben Bernds Eiereinschweißgerät, in der Mitte links die
Gitarre von Jomer, in der Mitte rechts das Horn von Mores, links unten die befleckte
Angelique und rechts unten der Stammbaum von Karl IV. In der Mitte nichts. War es eine
Formel? War sie komplett? Sie verstand immer noch nicht. Vielleicht war das alles einfach
nichts.
Für den guten Schlaf machte sie sich noch schnell eine Packung Kartoffelpüree. Den Topf
stellte sie vorgespült neben die Spüle. Nachdem sie gegessen hatte, bedeckte sie ihn mit dem
ausgekratzten Teller, an den sie abschließend, mit der Wölbung nach oben, den Löffel hängte.
Im Becken lagen zu ihrem Leidwesen eingeweichte, ölige Olivenverpackungen, die sie daran
hinderten, sofort zu spülen.
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