Wellendorf - Evangelische Akademie Tutzing

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Das Herz nur eine Pumpe?
Ich erinnere mich noch sehr genau an meine erste Begegnung mit einer HerzLungen-Transplantation. Ich arbeitete mit Mukoviszidosepatienten an der MHH
(Medizinischen Hochschule Hannover). Einem Patienten von mir, mit dem ich
schon einige Jahre gearbeitet hatte, war eine Herz-Lungen-Transplantation
angeboten worden. Er war im Endstadium seiner schweren Krankheit und er
hatte zugestimmt.
Als er zu mir kam, um mir mitzuteilen, daß er sich transplantieren lassen wolle,
brachte er ein Buch mit. Er legte es zwischen uns auf den Tisch. Auf dem
Buchdeckel war ein herausgeschnittenes Herz zu sehen. Ich erinnere mich an
den tiefen Schrecken, den dieses Bild und die vernünftigen Erklärungen von
Alexander - er war damals 19 Jahre alt - beim Durchblättern des Buches, das
das Procedere der Transplantation aufzeigte, in mir auslöste.
Ich bekam heftige Herzschmerzen, vermutlich induziert durch die tiefe
Ambivalenz zum einen zwischen Bewunderung, zu was die moderne HighTech-Medizin fähig ist, und meine Freude darüber, daß es für diesen jungen
Menschen, dessen Leben seit langem immer größeren Einschränkungen
unterworfen war, Hoffnung auf mehr und bessere Lebensmöglichkeiten gab und zum anderen dem Entsetzen darüber, daß man einen Menschen mit
zerstörten Organen, wie ein kaputtes Auto behandeln könne, den man einen
neuen Motor einbaut.
Das Herz, das ich auf dem Bild sah, wurde zu Alexanders Herz, das man
genauso herausschneiden und entsorgen würde, sein Herz, das ihm bis jetzt
Leben ermöglicht hatte.
Aber es wurde auch zum Herzen des anderen, des unbekannten Hirntoten, von
dem nur das gesunde Herz übrigbleiben würde und das, weil es noch brauchbar
war, an die Stelle von Alexanders kaputtem Herzen treten würde.
Ich wußte, daß jedes Herz seinen eigenen Rhythmus hat. Normalerweise wird er
uns nicht bewußt. Es fällt uns nur auf, wenn er sich verändert und das kann
dann große Angst auslösen. Man hat festgestellt, daß Frühgeborene sich
beruhigen, wenn man ihnen den Herzschlag der Mutter in den Brutkasten
einspielt.
Ich vermute, daß der eigene Herzschlag, auch wenn er nicht bewußt
wahrgenommen wird, unbewußt gespeichert ist und eine Art Grundrythmus für
das Leben angibt.
Heute erschrecke ich nicht mehr so wie damals, aber ich frage mich: ist es
vielleicht nur zu Anfang möglich, angemessene Gefühle zu haben und wichtige
Fragen zu stellen? Werden sie durch die Gewohnheiten der Machbarkeit
erstickt?
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Ende der 60-ger Jahre gab es in San Francisco ein Gerichtsverfahren gegen
einen Chirurgen, der einem „Hirntoten“ das Herz entfernt und es transplantiert
hatte. Der Arzt wurde zwar schließlich von dem Tötungsvorwurf
freigesprochen, doch war es damals noch keineswegs selbstverständlich wie
heute, daß ein Mensch, dessen Herz-Kreislaufsystem noch funktioniert, wenn
auch von Apparaten unterstützt, tot sein soll, wenn sein Hirn nicht mehr
arbeitet.
Als Christian Barnard 1967 zum ersten Mal einem Menschen das Herz eines
Hirntoten einpflanzte und dieser Überlebte, bis er an einer Abstoßung verstarb,
fragte man sich: was lebt da eigentlich, der Empfänger mit dem Spenderorgan?
Oder das Organ mit dem Empfänger?
Solche Fragen stellt sich heute niemand mehr, aber haben sie wirklich ihre
Bedeutung verloren?
Was ist mit der Identität eines Herztransplantierten Menschen?
Wenn das Herz nichts weiter ist als eine Pumpe, wie der Motor eines Autos,
dann könnte man höchstens von einem Wertzuwachs sprechen. Ein Auto, das
einen neuen Motor bekommen hat, verändert weder seine Form noch seine
Marke. Ist das bei einem Menschen genauso?
Steckt hinter dem Satz: „Ich bin immer noch die- oder derselbe,“ den ich oft
nach einer Transplantation gehört habe, nicht vielleicht die Frage: stimmt das?
oder: wer bin ich nun eigentlich? Was bedeutet es, einen Teil eines mir fremden
Menschen in mir zu tragen? Was lebt da in mir weiter?
„Kann es sein, daß es, wie man im Märchen sagt, so etwas wie ein kaltes oder
hartes Herz gibt?“ fragte mich eine junge transplantierte Frau bekümmert, weil
sich nach der Transplantation ihre Gefühle so verändert hatten. Obwohl
schwerkrank und in ihren Möglichkeiten äußerst eingeschränkt, hatten ihre
Augen fast immer gestrahlt und sie hing in liebevoller Dankbarkeit an ihrem
Mann, der eine zärtlich sorgende Beziehung zu ihr hatte. Nach der
Transplantation fühlte sie sich kalt und abweisend ihm, aber auch anderen
Menschen gegenüber. Jetzt, wo sie so viel mehr Möglichkeiten hatte, schien ihr
alles öde und leer.
Ich konnte sie fast nicht wiedererkennen. Äußerlich war sie sich gleich
geblieben, aber die starke Ausstrahlung, die diese junge Frau allen so
liebenswert hatte erscheinen lassen, war verschwunden. Ihr Mann, der 5 Jahre
lang all die Einschränkungen, die ihre Krankheit beiden auferlegt hatte,
geduldig und liebevoll mitgetragen hatte, trennte sich nach 1 ½ Jahren von ihr,
weil er ihre „Herzenskälte“ nicht ertrug.
Die Frage taucht auf: könnte das große Gebilde, das ein Herz ist, in dessen
Zellen Erfahrungen gespeichert sind und die vom genetischen Code des
Spenders bestimmt werden, nicht vielleicht Einfluß nehmen auf das einmalige
Biotop Mensch, dem es einverleibt wurde?
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Als vor einiger Zeit einem Menschen erfolgreich ein Affenherz implantiert
wurde - er überlebte 31 Tage damit, während zuvor ähnlich Versuche sehr
schnell endeten - stellte man fest, daß sich sein Äußeres affenähnlich verändert
hatte und bei seiner Obduktion fand man Zellen des Affenherzen in seinem
ganzen Körper, auch im Gehirn. Im Grunde genommen ist das nicht
verwunderlich. Man weiß aus anderen Zusammenhängen, daß Eingriffe in ein
Ökosystem z.B. tiefgreifende Veränderungen hervorrufen können, bis zur
völligen Zerstörung des Systems.
Hierzu ein Beispiel:
In Amerika züchtete man eine gentechnisch veränderte Kartoffel, die resistent
gegenüber bestimmten Schädlingen ist. Zunächst scheint das nur positiv zu
sein; aber wie man feststellte, hatte es tiefgreifende ökologische Folgen. Die
Insekten, die die Kartoffel zuvor geschädigt hatten, gingen zwar ein, aber mit
ihrem Aussterben, in Ermangelung von Nahrung, starb eine Vogelart aus, die
von diesen Insekten in ihrer Nahrungsaufnahme angewiesen war. Mit dem
Aussterben der Vögel verschwand eine gewisse Baumart, weil der Kot dieser
Vögel die Nager abhielt, ihre Wurzeln anzufressen.
Das Leben besteht aus solchen Beziehungszyklen, sei es im Universum oder in
einer Zelle. Wer diese Ordnungen stört, oder unachtsam in sie eingreift,
bekommt die Folgen zu spüren. Unser Dilemma ist, daß wir zu immer mehr Tun
imstande sind, daß wir aber immer weniger die Folgen unseres Handelns
antizipieren können. Dazu müßten wir innehalten und auf die Zusammenhänge
schauen.
Wieso könnte es nicht ähnliche Wirkungen auch bei der Transplantation geben?
Es geht mir nicht darum anzugreifen oder die größten Erfolge der High-TechMedizin zu schmälern, es geht mir darum, auf die Komplexität des Geschehens
hinzuweisen.
Ich glaube, daß es gefährlich und falsch ist zu behaupten, daß ein Herz nichts
weiter ist, als eine Pumpe, denn wenn diese dank des Know-how der HighTech-Medizin funktioniert, wo lassen die Patienten dann ihre Ängste und
Sorgen, die Persönlichkeitsveränderungen in ihnen auslösen? Sind sie dann
einfach selber schuld?
Ich glaube, daß viele von ihnen Unterstützung brauchen für die seelischen
Prozesse, die die Integration eines neuen Organs, besonders eines so zentralen,
wie des Herzens, es erfordert.
Eine Herztransplantation steht dann zur Debatte, wenn das eigene Herz erkrankt
ist und dadurch, daß es seine Arbeit nicht mehr zuverlässig leisten kann, den
Menschen, dem es gehört, in Todesgefahr bringt.
Man kann unterschiedlich mit so einer Erkrankung umgehen: man könnte davon
ausgehen, daß die Organe zu funktionieren haben oder schon funktionieren
werden, so denken wohl viele von uns, und sind ärgerlich, wenn sie sagen:
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„Mein Herz spinnt mal wieder!“ - oder sie machen sich Sorgen, fragen sich, wo
sie ihrem Herzen zu viel zugemutet haben und tun alles, was ihnen möglich ist
zu seiner Genesung. Das sind zwei unterschiedliche Einstellungen.
Als ich Alexander, nachdem er mir mitgeteilt hatte, er werde sich
transplantieren lassen, fragte, was er über sein Herz denke, sagte er spontan:
„Das ist Schrott und muß raus!“
Ich ließ ihn sein Herz malen. Er kritzelte die Umrisse eines Herzens und
überschmierte es mit brauner Farbe. So schob er es mir herüber. Während ich es
betrachtete, wurde er plötzlich nachdenklich, zog das Blatt zu sich und sagte
betroffen: „Aber es ist ja mein Herz, wenn auch ein armseliges!“ und leise fügte
er hinzu: „Es hat die ganzen Jahre für mich geschlagen, auch unter so
erschwerten Bedingungen, die es nun so groß und ausgeleiert gemacht haben.“
Er fühlte auf einmal eine tiefe Dankbarkeit diesem Herzen gegenüber. Es war,
als hätte er es zum ersten mal als einen großen Verbündeten begriffen, der ihm
Leben ermöglicht hatte. Er hatte etwas von sich schätzen gelernt in seiner
Erschöpfung und fühlte Trauer bei der Vorstellung, daß er diesen Verbündeten
loslassen müsse, um Leben zu können. Es war nicht mehr der kränkende
Schrott, der herausmußte, um etwas Besserem zu weichen.
Mit Alexander ist mir klargeworden, wie wichtig es ist, auch einen seelischen
Raum zu schaffen, damit das neue Herz Platz findet. Daß das kranke Herz erst
entfernt werden muß, damit ein neues hineinkann, ist selbstverständlich. Um
einen seelischen Raum zu schaffen, bedarf es eines Prozesses des Loslassens,
der durch Dankbarkeit und Trauer geprägt ist.
Die Patientinnen, die vor der Transplantation nicht die Möglichkeit hatten,
diesen wichtigen Prozeß zu durchlaufen, müssen ihn in irgendeiner Weise
später nachholen, was nicht selten mit großen Schwierigkeiten verbunden ist!
Das Bedürfnis, einem Menschen das Leben retten zu können, indem man den
gesunden Körperteil eines Verstorbenen überträgt, ist alt. Dazu gibt es ein Bild,
das eine Nonne zeigt, der das Bein eines Schwarzen angenäht worden war. Sie
dürfte es nicht allzu lange überlebt haben.
Neben allen Vorteilen so gravierender Entdeckungen, wie der Organtransplantation, steht die Verdinglichung des Menschen. Uns fehlen noch immer die
Maßstäbe, um diese neuen Entwicklungen einordnen und bewerten zu können.
Eilige ethische Bewertungen anzustellen, ist unter Umständen unethisch, aber
gerade darum bemühen sich ethisch-juristive Regelwerke.
Der Ethik Konvention geht es darum, „eine Balance zwischen
Forschungsfreiheit und Menschenwürde herzustellen“ (Art.166). Sie geht davon
aus, daß beides gleichwertige Rechtsgüter sind, während bisher die
Menschenwürde an oberster Stelle stand.
Die Bioethik setzt an die Stelle der „Person“ den „Bioträger“ oder die „belebte
Materie“. Das, was für uns bisher mit dem Begriff der Person verbunden war,
was sie in ihrer einmaligen Unverwechselbarkeit ausmachte, spielt keine Rolle
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mehr. Daß der Mensch gerade durch Krankheitserfahrungen oder dem
Bewußtsein seiner Endlichkeit zu neuen Entwicklungsschritten aufgerufen und
befähigt werden kann, wird weitgehend aus dem Auge verloren.
Ich erinnere mich an eine Situation mit einer schwer herzkranken Patientin. Von
außen gesehen war ihr Leben eingeschränkt. Sie brauchte Sauerstoff und konnte
sich kaum mehr bewegen. Ihre Leidenschaft war die Beschäftigung mit
Philosophie und Physik. Immer dachte sie nach und sprach täglich über das
Gelesene mit ihrer Mutter, ihrem Lehrer und mir. Wir fühlten uns durch ihre
Gedanken, ihr Wissen und ihren Lebensmut beschenkt. Eines Tages, als wir
miteinander sprachen, kam ein junger Chirurg zu ihr und führte die
Notwendigkeit einer Transplantation, wenn sie weiterleben wollte, mit den
Worten ein: „Da ihr Leben ja so wie es ist keine Qualität mehr hat und ihr Herz
in einem äußerst miesen Zustand ist, sozusagen keinen Pfifferling wert, sollten
sie sich auf die Liste setzen lassen. Wir nehmen den alten Klumpatsch raus und
montieren ein schönes neues Herz rein, o.k.?“ Er sagte das mit einer
jungenhaften Fröhlichkeit. Es war ihm wohl etwas peinlich, aber er hatte es gut
gemeint. Was er nicht gemerkt hatte war, daß er ein Urteil über ihr Leben gefällt
hatte, das sie trotz Einschränkungen vielleicht kostbarer fand als viele Gesunde.
Sie hatte sich kein falsches Bild über ihren Zustand gemacht, sie wußte, wie
schlecht es ihr ging und wie bedroht sie war. Sie lebte dankbar im Augenblick
und zog Kraft aus den erfüllten Stunden des Tages für die Dunkelheit und die
einsamen Nöte der Nacht.
Sie fühlte sich durch den braungebrannten jungen Mann, der nichts fragte,
sondern über ihren Zustand und die Qualität ihres Lebens befand, zutiefst
betroffen.
Erst auf diesem Hintergrund reifte der Entschluß, ihr Leben mit ihrem kranken
Herzen zu beenden. Würde es aufhören zu schlagen, sollte das ihr Tod sein. Es
hatte sie die Kostbarkeit und Einmaligkeit jeder Lebensstunde gelehrt. Es war
ihr bewußt, wie viele Stunden sie früher, als es ihr noch „besser“ ging, vertan
hatte, in der Annahme, es würden unendlich viele aufeinander folgen. Seit ihr
bewußt war, daß ihre Stunden gezählt waren, ging sie achtsam mit ihnen um.
Als sie mitteilte, daß sie sich nicht transplantieren lassen würde, gab es dafür
keinerlei Verständnis. Sie galt eher als eine komplizierte Spielverderberin: „Ich
glaube, daß jeder Mensch mit einer bestimmten Ausstattung geboren wird, egal
ob gut oder schlecht, es kommt lediglich darauf an, was man daraus macht,“
sagte sie zu mir. Sie starb vollkommen mit sich im Einklang.
Die Entwicklung von Medikamenten, die das Immunsystem unterdrücken, war
eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Transplantations-Medizin.
Ich fragte mich aber, was es bedeutet, wenn ein Organ, wie das Immunsystem,
vielleicht das differenzierteste und intelligenteste im menschlichen Körper,
durch Medikamente blind gemacht wird? Ein an und für sich lebenswichtiger
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Bereich: die Früherkennung und Bekämpfung von Bakterien, Viren, Tumoren,
Pilzen etc., die in den Körper eindringen und ihn zu zerstören drohen, wird
vollkommen ausgeschaltet, als würde man einem Land die Polizei nehmen und
müsse bei Gefahr aus anderen Ländern Hilfstruppen holen, die sich dann erst
mal orientieren müssen und immer mit Verzögerung und oft zu spät einträfen.
Die Antibiotika spielen eine solche Rolle. Ihre Hilfe muß mit Nebenwirkungen
bezahlt werden.
Was mich wundert ist die Tatsache, daß trotz Immunsuppressiva immer wieder
Abstoßungsreaktionen das neue Organ bedrohen.
Ich habe beobachtet, daß diese Reaktionen besonders häufig bei
Transplantierten auftauchen, die in ihrer Haltung dem neuen Herzen gegenüber
bewußt oder unbewußt ambivalent sind, sodaß man eine psychosomatische
Reaktion vermuten muß.
Bei einer 21-jährigen jungen Frau konnte man besonders heftige Abstoßungsreaktionen beobachten. Sie wollte sich eigentlich nicht transplantieren lassen,
tat es aber ihren Eltern zuliebe.
Nach der Transplantation litt sie unter schlimmen Albträumen. So träumte ihr,
sie stürze sich mit spitzen Zähnen auf den nackten Brustkorb eines Menschen
und fresse ihm das Herz heraus. Als sie aufwachte, war sie von Entsetzen,
Angst und Scham erfüllt. In unseren Gesprächen danach, sie hatte den Traum
gezeichnet, erinnerte sie sich daran, mit welch drängendem Wunsch sie bei
Glatteis und Nebel gewartet hatte, es müsse endlich ein Spender kommen, der
sie aus ihrer Todesnot erlöste. Als sie angerufen wurde, weil ein Spender da
war, war sie tief erschrocken: „Mein erster Gedanke war, du hast ihn mit
deinem Wunsch umgebracht,“ sagte sie.
Daß die Möglichkeit, das Organ eines anderen zu bekommen, die
Begehrlichkeit schürt, habe ich oft erlebt. Dabei droht der Geschenkcharakter
der Organspende verloren zu gehen. Wer auf der Liste ist, scheint ein Anrecht
erworben zu haben, das er auch einfordert und wer schließlich ein Organ
bekommt, hat nur bekommen, was ihm zusteht.
„Heute müßte niemand mehr an Organversagen sterben, wenn wir genug
Spender hätten!“ las ich in einem Werbeblatt für Transplantation.
Ein Geschenk. Das wissen wir alle, ist nicht in erster Linie von seiner
Materialität bestimmt, sondern viel mehr von der Haltung und Motivation aus
der es gegeben, aber auch genommen wurde
Wenn Eltern ihre Sprößlinge mit Spielzeug überschütten aus dem schlechten
Gewissen heraus, daß sie zu wenig Zeit für sie haben, oder damit sie still sind,
werden die Puppen, Computer, Handies.....keine wirkliche Bedeutung
bekommen. Wenn aber ein junger Mann seiner Geliebten eine Rose schenkt, so
wird sie sie vielleicht nehmen können als kostbaren Ausdruck seiner Liebe.
Vielleicht wird sie sie trocknen und in einem Kästchen bewahren und auch
wenn sie das vertrocknete Wesen nach 50 Jahren anschaut, wird die Liebe aus
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der sie gegeben und genommen wurde, wieder aufsteigen, wie ein wunderbarer
Zauber, weil sie fest in der Geschichte der Beschenkten integriert ist.
Mit einem Herzen ist es nicht anders. Der Philosoph Jonas weist in seinem
Buch: „Technik, Medizin und Ethik“ darauf hin, daß eine Organgabe von
keinem Menschen erwartet werden darf und daß die Bereitschaft, im Zustand
des Hirntodes ein solches zu spenden, jenseits jeglicher Pflicht sein muß.
Da niemand wissen kann, was ein hirntoter Mensch noch wahrnehmen kann zur wirklich freien Entscheidung gehört auch diese Unsicherheit - ist die
Spende des Herzens weit mehr als nur eine Gabe, die man ohnedies nicht mehr
braucht, sondern auch die Bereitschaft, seine letzten Atemzüge nicht im Bett, in
Anwesenheit vertrauter, geliebter Menschen zu tun, aber auch auf die
Unversehrtheit seines Körpers zu verzichten, was nicht selbstverständlich ist.
Wenn ein Mensch angesichts solcher Umstände bereit ist, sein Herz zu spenden,
damit es einem anderen Menschen Leben ermöglicht, so ist das eine große,
kostbare Gabe, die entsprechende Dankbarkeit verdient.
Da, wo die Organspende zur Bringeschuld verkommt, verliert sie ihren Wert
und es besteht die Gefahr, daß sich auf der Empfängerseite jene Begehrlichkeit
einschleicht, die aus der Haltung gespeist wird: weil ich bedürftig bin, habe ich
auch etwas zu bekommen. Das entwertet beide Seiten.
Als ich das vor zwei Jahren bei einem Vortrag sagte, stand eine junge Frau auf
und schrie: „Hören sie auf, sie wollen uns Transplantierten ja nur Schuldgefühle
einreden! Ich war krank, war an der Dialyse, das ist kein Leben. Da hat mein
Mann mir eine Niere gespendet, das ist ja wohl selbstverständlich, wenn man
sich liebt. Wenn ich sie höre, bekomme ich das Gefühl, ich müßte mich ständig
wie ein Wurm im Staub vor meinem Mann in Dankbarkeit wälzen. Das kann
doch wohl nicht wahr sein!!“
Für sie war Dankbarkeit offenbar verbunden mit dem Gefühl von:
Abhängigkeit, Minderwertigkeit und Schuld.
Ich sagte ihr, ich hätte ein anderes Bild. Ich sähe zwei junge Menschen, die an
den Händen gefaßt, gemeinsam und froh in die Welt gehen, voller Hoffnung
und in dem Bewußtsein, ich habe meiner Frau, die ich liebe, zu einem besseren
Stück Leben verhelfen können und auf seiten der Frau: ich trage von meinem
Mann, den ich liebe, einen Teil in mir, wie ein Unterpfand seiner Liebe. Das ist
ein fruchtbarer Boden für unser Glück.
Das aber geht nur, wenn Geben und Nehmen gleich hoch gewertet werden.
Damit aber beides gleichwertig sein kann, gehört die Liebe auf beiden Seiten
dazu, sie beläßt den anderen in seiner Freiheit.
Sie wissen vielleicht aus eigener Erfahrung, daß es keineswegs leichter ist zu
nehmen, weil die Rolle des Beschenkten oft verbunden ist mit der des
Bedürftigen und Abhängigen. Der Schenkende wird eher mit Unabhängigkeit
und Potenz gleichgesetzt. Deshalb fühlen sich die meisten Menschen wohler mit
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einer Art Tauschhandel: du gibst mir etwas und ich geben dir etwas vom Wert
her entsprechendes, dann sind wir quitt.
Beim anderen Geben und Nehmen ist es eher wie mit einem Samenkorn, das in
einen guten, offenen Boden gesenkt wird. Freude und Dankbarkeit sind wie
Sonne und Regen, die zum Glück beider etwas wachsen lassen, was sie nährt
und verbindet. Sie sind nicht quitt, denn das, was da wächst, braucht Zeit und
Pflege und wird genährt durch die Hoffnung, daß es Blüten und Früchte trägt
und das immer wieder neu.
Als ich nach meinem Vortrag mit dem Paar sprach, wurde mir klar, daß
Dankbarkeit auch ein Geschenk ist. Die junge Frau war ohne Eltern in einem
Heim großgeworden. Sie hatte es gelernt sich durchzuboxen, ja nicht von
jemandem abhängig zu werden und sie hatte gelernt zu fordern: „Weil man
sonst sowieso nichts bekommt,“ sagte sie. Der junge Mann gehörte offenbar zu
denen, die man immer ausgebeutet hatte, der aber sein Selbstwertgefühl
einigermaßen in Balance hielt mit der vagen Überzeugung, ein „guter Mensch“
zu sein. Sein Gesicht war naß von Tränen, als seine Frau mit so harter Stimme
sprach. „Wenn sie doch einmal „danke“ gesagt hätte,“ sagte er traurig. Seine
Frau schrie zurück: „Das könnte dir so passen, dann hättest du mich in der
Hand!“ Aber dann nahm sie ein Taschentuch und wischte ihm erst ein bißchen
ruppig, dann fast zärtlich über sein Gesicht und schließlich lächelten beide
etwas unsicher. Als sie gingen, hörte ich ihn sagen: „Ich bin ein Idiot“ - das war
wohl die andere Seite des „guten Menschen“ - und sie sagte: „Nein, bist du
nicht.“
Ich habe diesen beiden jungen Menschen gewünscht, daß solche Augenblicke
plötzlichen Verstehens immer wieder möglich werden in ihrem gemeinsamen
Leben und ich habe Angst gehabt um sie, weil die Situation vielleicht zu
schwer, zu komplex war, als daß sie sie auf ihren jeweiligen Hintergrund hätten
bewältigen können.
Die Wertschätzung der Gabe, aber auch die Wertschätzung des Spenders
spielen eine große Rolle für die Integration des Organs. In dem eben
geschilderten Fall handelte es sich um eine Lebendspende. Das ist ein ganz
eigenes Thema, da bis jetzt nur nächste Angehörige als Spender infrage kamen.
Es läßt sich vielleicht erahnen, was es wohl bedeutet, wenn ein Vater seinem
Sohn eine Niere spendet, die dieser wieder abstößt.
Oder wenn eine Mutter verblutet, als ihr ein Stück Leber zur Transplantation für
ihre Tochter entnommen wird.
Bei der Transplantation eines Herzens ist der Spender in jedem Fall tot und der
Empfänger weiß nichts von ihm.
Das scheint zunächst eine Erleichterung zu sein, aber auch die Anonymität hat
ihre Probleme. Wenn es einem Patienten so schlecht geht, daß er sich für ein
neues Herz auf eine Liste setzen läßt, geht es ihm um sein Überleben und die
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Frage, aus welcher Haltung heraus der Spender sein Herz zur Verfügung stellt,
spielt kaum eine Rolle.
Aber nach der Transplantation kann das durchaus eine Rolle spielen.
Die junge Frau, die den Traum hatte, sie habe ihrem Spender das Herz aus der
Brust gefressen, hatte Schuldgefühle, weil sie ihre Wünsche mit seinem Tod
zusammenbrachte. Auf der rationalen Ebene ist das vielleicht absurd, aber es
gibt eine andere, die wir auch kennen, in der Wunsch und Wunscherfüllung
miteinander zusammenhängen. Wenn wir z.B. einem Menschen Böses
wünschen und diesem etwas Schlimmes zustößt, spüren wir unser schlechtes
Gewissen.
Die Angst vor Strafe drückte sich bei der jungen Frau z.B. darin aus, daß sie
träumte, sie säße vor dem Spiegel ihrer Frisierkomode, aber ihr Bild erscheine
nicht in ihm. Sie war sozusagen in ihrer Existenz ausgelöscht.
Auf einem anderen Bild sah man sie als ein zartes, fast durchscheinendes
Wesen in einem blutverschmierten Hemd, das die Verletzung ihres Körpers für
alle sichtbar erscheinen ließ, wie ein Makel oder Stigma.
In dieser Zeit bedrohten sie heftige Abstoßungsreaktionen, die allen große
Sorgen machten.
Wieder war es ein Traum, der diesmal das Ruder im letzten Augenblick
herumriß. Sie sah sich im Garten unter einem Baum, mit dem Rücken an seinen
Stamm gelehnt, als sie plötzlich ein tiefes, warmes Glücksgefühl durchfloß. Sie
schaute, da es von oben zu kommen schien, in das Geäst des Baumes und sah
dort jemanden sitzen, von dem sie wußte, daß es der Spender sei. Er kam ihr vor
wie ein Zwillingsbruder und sie wußte auf einmal, daß er lebte, weil sein Herz
in ihr schlug und daß sie lebte durch ihn. Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und
Zugehörigkeit durchströmte sie. Sie hatte sich mit ihrer schweren Krankheit oft
allein und einsam gefühlt. Das Gefühl, einen Zwillingsbruder zu haben, der ihr
Leben ermöglichte, dem aber auch sie ein Stück Leben geben konnte, machte
sie glücklich. „Wir leben mit aus einem Herzen,“ sagte sie manchmal lächelnd.
Die Abstoßungen hörten auf. Sie hatten das transplantierte Herz zwar
geschädigt, so daß sie nach 3 ½ Jahren an Herzversagen starb, aber die
geschenkte Zeit beglückte sie.
Als ihr eine Reimplantation angeboten wurde, lehnte sie ab, weil das neue Herz
so sehr den Spender, ihren Zwillingsbruder repräsentierte, daß sie mit ihm
zusammen auch sterben wollte.
Etwa 20% der Patienten sterben im ersten Jahr nach der Transplantation,
50% überleben die 5-Jahresgrenze.
Jeder Transplantierte, der überlebt, steht auf der Erfolgsliste der
Transplantation-Medizin, solange er lebt, auch wenn er ein oder mehrere male
retransplantiert wird. Insofern war meine Patientin, die eine Retransplantation
ablehnte, eine Spielverderberin. Wenn ein Herz nur eine Pumpe ist, waren ihre
Motive absurd.
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Aber wir müssen uns ernsthaft fragen, ob unsere Patienten nicht längst zu einer
Nummer in der Erfolgsstatistik geworden sind.
Wenn man den Erfolg zu einseitig nach den Maßstäben des Funktionierens
bemißt, droht der Mensch zum Apparat zu werden, sind menschliche Gefühle
und Einsichten, sowie Erfahrungen nicht mehr von Bedeutung. Wenn ein Teil
der Person, ihre seelisch-geistige Realität, abgespalten wird, entsteht ein Gefühl
der Leere und Sinnlosigkeit und die Würde des Menschen wird verletzt.
Wo sind dann die Werte geblieben, von denen der Philosoph Jonas spricht: die
Gerechtigkeit, das Mitleid, die Tugend, die Verantwortung, die Liebe?
Ich glaube, daß sie nur wieder Einkehr halten können, wenn die Unsicherheit,
die Ohnmacht, die Trauer, der Schmerz und die Angst leben dürfen, im Haus
der Machbarkeit und wenn es Raum gibt für den Austausch von Erfahrungen
und Fragen!
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