Heinrich Heine Universität Düsseldorf Institut für Sportwissenschaften WS 2001-2002 Praxis: Fitness III, Do. 9:15 – 10:45 Dozent: Dr. Theodor Stemper Referenten: Christian von der Heiden und Tobias Laxa Körperlot, Sitzen, Aufstehen, Stehen Unsere Wirbelsäule - Grundlagen und Aufbau Anatomie Die Halswirbelsäule Der 1. Halswirbel heißt "Atlas". Der Schädel ist direkt auf diesem Halswirbel gelagert. Wie aus der griechischen Antike bekannt, ruht die Erde auf den Schultern des Atlas und so lagert auch hier der Unterteil des Hauptes auf dem knöchernen Atlas. Der 2. Wirbel heißt "Axis (auf deutsch Achse). Im weiteren Verlauf der Halswirbelsäule schließen sich 5 Wirbel an. Die Wirbelkörper sind eher kleiner. Die Brustwirbelsäule Die Brustwirbelsäule besteht aus zwölf Wirbeln. In diesem Bereich sind die Wirbelkörper fast dreieckig geformt. Die Gelenkflächen sind steilgestellt und etwas nach innen gewinkelt. Aufgrund der Stellung der einzelnen Gelenkflächen ist es gut möglich, eine Rotation durchzuführen, d.h. eine Bewegung in der Horizontalen nach rechts und nach links. Das Vorneigen ist nicht so gut möglich, das Rückneigen ist nahezu unmöglich. Die Wirbelkörper haben noch zusätzlich kleine Gelenkflächen für den Kontakt mit den einzelnen Rippen. Der durch die Rippen gebildete Brustkorb ist somit gelenkig mit der Wirbelsäule verbunden. Er ermöglicht die Einatmung und die Ausatmung der Lunge. Die Lendenwirbelsäule Die Lendenwirbelsäule wird aus fünf Wirbelkörpern gebildet. Da hier die größte Kraftübertragung stattfindet, finden wir hier auch die grö8ten Wirbelkörper. Der Körper des Wirbels ist bogenförmig und die einzelnen Gelenkflächen der kleinen Wirbelgelenke stehen senkrecht zueinander. Aufgrund der Stellung der kleinen Wirbelgelenke ist somit eine gute Streck- und Beugungsbewegung möglich. Eine Rotationsbewegung ist im Lendenwirbelsäulenbereich kaum möglich. Kreuzbein und Steißbein An die Lendenwirbelsäule schließt sich das sogenannte Kreuzbein an, welches mit dem Steißbein zusammengewachsen ist. Das Kreuzbein hat keine Bewegungsmöglichkeiten. Die fünf Kreuzbeinwirbel sind fest zusammengewachsen und auch das Steißbein ist mit vier bis fünf Wirbeln relativ unbeweglich. Kreuzbein und Steißbein gehören zum Beckengürtel. 1 Die Wirbelsäule ist also ein kompliziertes und auch empfindliches Organ. In allen Bereichen kann es durch unterschiedliche Belastungen aber auch durch Ausstrahlungen (Bsp. Bandscheibengewebe drückt auf einen Nerv) zu Beschwerden kommen. Diese Tatsachen machen um so deutlicher, dass die richtige Lagerung der Wirbelsäule beim Sitzen im Büro oder Zuhause und beim Liegen wesentlich zur Verminderung von Rückenschmerzen beitragen kann. Dazu gehört selbstverständlich auch ein möglichst schonendes Verhalten bei Bücken, Heben oder Tragen. Die Wirbelsäule ist ein Organ, welches von Bewegung lebt. Deshalb ist es unabdingbar, dass Sie für Ihre Wirbelsäule auch die benötigte Bewegung schaffen. Bringen Sie Abwechslung in Ihren Arbeitsalltag (Bsp. Dynamisches Sitzen) und trainieren Sie Ihre Muskeln. Übungen zur Körperwahrnehmung Der Weg zum dynamischen Sitzen – die Sitzschule: Ziel: Wahrnehmung und kennen lernen der persönlichen Sitzhaltung und damit Verbesserung des Sitzverhaltens im Alltag Methode: - - auf einen Stuhl (Hocker) setzen und Augen schließen, Aufmerksamkeit nach innen lenken und sich selbst in Gedanken beobachten, Wie stehen die Füße auf dem Boden und wo spürt man den Druck auf den Fußsohlen? Wie stehen Ober- und Unterschenkel zueinander? Wie liegt das Gesäß auf der Sitzfläche? Wie ist der Rücken im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS), wie im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) und wie im Halswirbelbereich geformt? Wahrnehmung des Körpers im Ganzen: sind irgendwo stärkere Spannungen zu spüren, als anderswo? Erarbeiten des richtigen Sitzens mit Hilfe des Zahnradmodells: Grundhaltung: o auf der Sitzfläche weiter nach vorn setzen, so dass Platz zwischen Rückenlehne und Rücken ist, o Füße fest auf den Boden stellen, o Knie etwas breiter als das Becken, o Fußspitzen sind etwas nach außen gerichtet. o Zwischen Ober- und Unterschenkel = 90° Winkel o Die Kniegelenke sollten immer etwas tiefer stehen, als die Hüftgelenke (richtige Sitzhöhe wählen)! Beim Zahnradmodell nach Brügger, werden die Körperabschnitte Becken – Brustkorb – Kopf mit 3 Zahnrädern verglichen, die ineinander greifen und in ihren Bewegungen voneinander abhängen. Wenn man das Becken nach hinten abdreht merkt man, dass der Brustkorb zwangsläufig nach 2 vorn absinkt, die BWS wird rund. Um den Blick weiterhin geradeaus richten zu können, muss man die HWS sehr weit nach hinten durchbiegen. Auf längere Sicht, wird diese Haltung mit Sicherheit Kopfschmerzen eintragen. Wenn man allerdings das Becken nach vorne schiebt, lässt sich feststellen, dass die LWS gemäß ihrer natürlichen Krümmung lordosiert. Nun hebt sich automatisch das Brustbein an und die BWS streckt sich. Die HWS kann ohne Probleme gerade gerichtet werden, sodass der Kopf sich in alle Richtungen frei bewegen kann. Dies stellt unsere angestrebte Sitzhaltung dar! Bewegungen der einzelnen WS-Abschnitte: Becken: - Das Becken vor- und zurückkippen, dabei die Veränderung in der LWS spüren. - Nun eine Hand hinten an die LWS und eine unterhalb des Bauchnabels anlegen. Dabei soll die Abstandsveränderung zwischen Bauchnabel und Symphyse wahrgenommen werden. Thorax: Eine Hand vorne auf das Brustbein legen, die andere unterhalb des Bauchnabels. Wenn man das Becken nach vorn kippt, entfernen sich die Hände voneinander. Sobald man das Becken nach hinten dreht, nähern sie sich einander an. HWS und Kopf: - Den Daumen in das Grübchen zwischen den Schlüsselbeinen legen und die Zeigefingerspitze von unten an das Kinn. Jetzt das Kinn wie auf einem Lineal vor und zurück schieben und auf die Veränderungen, die mit der HWS und dem Kopf passieren, achten. - Als nächstes einen Stab von hinten an den Rücken anlegen. Diesen oben und unten festhalten und den Hinterkopf anlegen. Jetzt mit dem Hinterkopf am Stab entlang nach oben und unten rutschen. Spüren wie sich die HWS abwechselnd nach vorn durchbiegt und wieder streckt. Üben der erlernten Bewegungsabläufe (mit Sitzball): - Nun soll das ganze von unten zusammengebaut werden. Das Becken dreht sich nach vorne, der Brustkorb hebt sich an und die HWS streckt sich. Dann wieder in die Gegenrichtung bewegen und wieder von vorne anfangen. - Anschließend wird in aufrechter Sitzhaltung angehalten und die Stellung der WS wird beibehalten. - Die Augen schließen und den Oberkörper langsam, wie einen Baum im Wind, vor- und zurückpendeln. Die Bewegung erfolgt ausschließlich aus den Hüftgelenken! - Nun eine Hand vorne auf den Bauch und die andere auf die LWS legen. Die Anspannung der Bauchmuskulatur beim Zurückpendeln und die der Rückenmuskulatur bei der Vorwärtsbewegung spüren. - Anschließend den Körper auspendeln lassen und den Punkt finden, an dem die Spannung ausgeglichen ist. Der Körper befindet sich nun im Lot. 3 Richtiges Sitzen In den 60`er und 70`er Jahren wurden erstmals in vivo (am lebenden Objekt) Messungen an freiwilligen Probanden durchgeführt, um die unterschiedlichen Drücke, die auf die Bandscheiben bei unterschiedlichen Körperhaltungen (Stehen, Sitzen, Liegen, „Lümmeln“, Heben) lasten, zu untersuchen. Bei diesen Messungen von NACHEMSON wurden Messsensoren in den Bandscheibenkern (L3-4 oder L4-5) eingebracht, um den intradiscalen Druck zu messen. Dabei wurde der Druck beim stehenden Probanden auf 100% normiert. Beim Nachvornbeugen stieg der Druck deutlich, um 50%, an. Mit einem zusätzlichen Gewicht in der Hand, sogar noch mal um 70% auf insgesamt 220%. Besonders interessant war, dass der Druck im Sitzen ca. 40% höher war als im Stehen. Ebenso gab es Unterschiede zwischen der Rückenlage und der Seitlage. In Rückenlage wurde der Druck im Vergleich zum Stehen auf 25% reduziert. In der Seitlage, wurden 75% gemessen, also das Dreifache der Rückenlage. Diese Ergebnisse wurden in letzter Zeit zunehmend kritischer gesehen, da sie von den Biomechanikern zum Teil nicht plausibel erklärt werden können. So gab es bei verschiedenen Untersuchungen abweichende Ergebnisse. Z. B. wurde bei einer Studie, bei der die Präzisionshöhenmessung zur Messung der Höhenzuoder abnahme eines bestimmten WS-Abschnitts angewandt wurde, nachgewiesen, dass bei Probanden nach dem Hinsetzen in jeder Lage immer noch ein Höhenzuwachs von bis zu 4mm auftrat. Dies ist ein Hinweis auf eine Entlastung der WS beim Sitzen und widerspricht NACHEMSONS Ergebnissen. Die daraus resultierenden Diskussionen waren Anlass, mit modernerer Messtechnik die Untersuchungen NACHEMSONS zu wiederholen. Es wurde einem Freiwilligen für 24 Stunden ein Drucksensor in den Kern seiner Bandscheibe L4-5 eingesetzt und es wurden verschiedene Übungen aufgezeichnet. U. a. verschiedene Liegepositionen, Sitzpositionen auf einem normalen Stuhl, einem Armlehnstuhl, einem Pezziball, Niesen, Lachen, Gehen, Treppensteigen, Gewichtheben, usw. Über Nacht wurde die Druckveränderung aufgrund der Hydratation beim Liegen über einen Zeitraum von 7 Stunden aufgezeichnet. Ergebnisse: In vielen Fällen wurden bei den neuen Messungen Übereinstimmungen zu den Messungen NACHEMSONS gefunden. Z. B. beim Druckvergleich zwischen der Rückenlage und dem Stehen. Ebenso wurde ein erhöhter Druckanstieg beim Nachvornbeugen nachgewiesen. Ferner konnte bestätigt werden, dass das rückenschulgerechte Heben von Lasten, welches auf NACHEMSONS Untersuchungen zurückgeht, richtig ist. Mit gebeugten Beinen und geradem Rücken, der Last möglichst nah am Körper und einer leichten Lordosestellung ist der Druck am geringsten. Unterschiedliche Ergebnisse gab es beim Vergleich von Stehen und Sitzen oder verschiedenen Liegenpositionen. Es konnte nicht gezeigt werden, dass der Druck in der bequemen Sitzposition 40% höher ist, sondern nach den neuen Messungen war er sogar um 10% reduziert, was mit den Ergebnissen der Präzisionshöhenmessung übereinstimmt. Ferner konnte nicht gezeigt werden, dass der Druck in der Seitlage dreimal so hoch ist wie in Rückenlage. Bei den neuen Messungen war er nur leicht erhöht. 4 Die lässige Sitzposition („Lümmeln“), die im Allgemeinen als schädlich gilt, führte zu einer deutlichen Druckreduzierung auf ca. 50%. Diese Sitzposition wird von vielen als besonders bequem angesehen, was wohl auch auf die Entlastung zurückzuführen ist, die während des Tages schon eine Hydratation der Bandscheibe ermöglicht. Allerdings sollte beachtet werden, dass nicht nur der Druck auf die Bandscheibe für eine gesunde oder schädliche Körperhaltung verantwortlich ist, sondern auch die Stellung der Wirbelgelenke oder Dehnung der Bänder usw. berücksichtigt werden muss. Eine aufrechtere Sitzhaltung kann also vorteilhafter sein, da die Rückenmuskulatur, um diese Position einhalten zu können, aktiviert werden muss und somit trainiert wird. Schlussfolgerungen: Sitzen muss nicht schlechter sein als Stehen. Durch das lässige Sitzen kann die Bandscheibe sogar deutlich entlastet werden, wodurch sie auch tagsüber schon Nährstoffe aufnehmen kann. Je nach Sitzhaltung werden andere Strukturen, wie Bänder, die kleinen Wirbelgelenke oder die HWS stärker belastet. Es ist also wichtig dynamisch zu sitzen und zwischen Stehen und Sitzen zu wechseln. Beim rückenschulmäßigen Sitzen steigt der Druck auf die BS durch die zunehmende Muskelaktivität zwar an, es ist allerdings aufgrund des Trainingseffektes der Muskulatur und der daraus resultierenden Stabilisierung der WS auf jeden Fall zu empfehlen. Die BS ist von natur aus darauf ausgelegt belastet und bewegt zu werden. Höherer druck muss deshalb nicht zwangsweise schädlich sein. Mobilisation Grundspannung Sitzen: o physiologische Sitzposition einnehmen (beurteilen wie anstrengend das Beibehalten dieser Position ist) o sich vorstellen, die Füße seinen am Boden festgeklebt und sie ohne sie zu bewegen zu sich heran ziehen o gleichzeitig die Hände vor dem Brustbein ineinander haken und versuchen diese auseinander zu ziehen o einige Sekunden Spannung halten, dabei ruhig weiter atmen o Spannung reduzieren und spüren, ob die Haltung leichter einzunehmen ist als vorher 5 Seitneigung des Oberkörpers (der HWS): o die Hände überkreuzt auf die Schultern legen. o Aus dem aufrechten Sitz nun den Oberkörper (BWS und LWS) abwechselnd nach links und rechts neigen, ohne das Gesäß dabei anzuheben oder den Oberkörper zu verdrehen. o Anschließend die Seitneigung mehr in den HWS Bereich verlagern, dabei den Kopf nach links und rechts neigen und dabei nach vorne schauen Drehung des Oberkörpers (der HWS): o aus dem aufrechten Sitz den gesamten Oberkörper (BWS und LWS) behutsam nach links und rechts drehen, ohne dabei das Becken zu verdrehen o als nächstes die HWS mobilisieren, indem man den Kopf behutsam über die linke und rechte Schulter zur Seite dreht. WS aufrollen: o Ausgangstellung wieder aufrechter Sitz, Schultern nach hinten gezogen o den aufrechten Oberkörper nun leicht nach vorn neigen o jetzt den Oberkörper nach vorn beugen (sich hängen lassen!) o und ihn dann bewusst von unten nach oben, bis zu Streckung, aufrollen Dehnung der Schulterblattmuskulatur: o Aufrecht sitzen o Beide Hände vor dem Körper fassen o Die Handflächen nach außen drehen o Arme weit nach vorn strecken und dabei einen Rundrücken machen o Spannung ca. 10 – 30 sek. halten Quellenangabe: - Wilke, H.-J. (1999): Methoden zur Bestimmung der Belastung an der Wirbelsäule. In: die Säule 4, 34-38. - Kempf, H.-D. (1995): Die Rückenschule - „Aktion Gesunder Rücken" 16/98 Web: http://www.personal-training.de 6