1 Das Gedächtnis: Ein Begriff - Viele Interpretationen Zur Anwendbarkeit des Konzepts des Arbeitsgedächtnisses auf das Dolmetschen Autorin: Katharina Suntrup Leistungsnachweis Dolmetschwissenschaft Französisch WS 2000/2001 Inhaltsverzeichnis Einleitung Das Gedächtnis 2.1. Das Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffrin 2.2. Das Modell des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley Einbeziehung des Gedächtnisses in verschiedene Dolmetschmodelle 3.1. Das "modèle d'efforts" - Daniel Gile 3.2. Dolmetschen und Verstehen - Danica Seleskovitch 3.3. Gedächtnisleistung und Verstehenstiefen - Wladimir Kutz Dolmetschen und kognitionspsychologische Forschung - Ingrid Kurz Abschließende Bemerkungen Literatur Thesen 1. Einleitung Es gibt kaum Abhandlungen über den Vorgang des Dolmetschens, sei es Konsekutiv- oder Simultandolmetschen, die nicht in irgendeiner Weise auf das Gedächtnis eingehen. Selbst dem Laien, für den der Dolmetscher eher ein mysteriöses Wesen ist, welches Worte in einer Sprache hört und sie dann gleichsam automatisch in einer anderen Sprache reproduziert, wird einleuchten, dass bei diesem Vorgang das Gedächtnis beteiligt sein muss. In dieser Arbeit soll es deshalb darum gehen, die vielfältigen Aufgaben des Gedächtnisses allgemein und beim Dolmetschen im Besonderen etwas näher zu beleuchten. Dabei wird zunächst kurz die Funktionsweise des Gedächtnisses erläutert, wobei ein Schwerpunkt auf den Aufgaben des Arbeitsgedächtnisses liegt, das für das Dolmetschen von großer Wichtigkeit ist. Es folgen eine kurze Darstellung der Einbeziehung des Faktors "Gedächtnis" in verschiedene Modelle zum Dolmetschen und der Beweis der Anwendbarkeit kognitionspsychologischer Forschungsergebnisse auf das Dolmetschen. Am Schluss steht eine Auswertung der dargestellten Beispiele und die Übertragung der Theorie auf die Praxis des Dolmetschens, vor allem auch im Hinblick auf die Ausbildung. 2. Das Gedächtnis 2.1. Das Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffrin Es ist schwierig zu sagen, was "das Gedächtnis" genau ist bzw. wie es arbeitet. Zu diesem Thema gibt es eine Vielzahl von Theorien und Modellen, die jedoch alle gemeinsam haben, dass sie sogenannte Multispeichermodelle sind. Grundlage dieser Theorien ist die Annahme, dass das Gedächtnis aus mehreren Komponenten besteht. Das gängige Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin (Moser-Mercer u.a., 141) geht von drei Speichern aus, die zueinander in Beziehung stehen. Diese Speicher sind das sensorische Gedächtnis (SG) oder auch Ultrakurzzeitgedächtnis (UKZG), das Kurzzeitgedächtnis (KZG) und das Langzeitgedächtnis (LZG). Im sensorischen Gedächtnis werden zunächst alle eingehenden Reize für sehr kurze Zeit, oft nur Bruchteile von Sekunden, gespeichert, um eine weitere Verarbeitung der Informationen zu 2 ermöglichen. Dadurch dass die Informationen länger erhalten bleiben, als sie physikalisch existieren, wird beispielsweise auch ermöglicht, dass unsere Wahrnehmung trotz ständiger Unterbrechungen, wie sie z.B. bei visuellen Informationen durch den Lidschlag hervorgerufen werden, kontinuierlich ist. In dieser kurzen Zeit werden die Informationen auf Wiedererkennungsmerkmale überprüft. Es findet also eine Selektion im Hinblick auf bereits vorhandenes Wissen statt. Im nächsten Schritt gelangen die so selektierten Informationen ins KZG. Dort werden die bewusst wahrgenommenen Informationen für einen begrenzten Zeitraum gespeichert, bevor sie ins LZG übernommen werden. Die Kapazität des KZG ist auf etwa sieben Informationseinheiten oder Chunks begrenzt, die jedoch unterschiedlich groß sein können. Ein solcher Chunk kann ein unbekanntes Wort sein, aber auch ein ganzes, bereits zu einem früheren Zeitpunkt auswendig gelerntes Gedicht. Nicht alle der ins KZG gelangten Informationen werden ins LZG übernommen, da einige durch zeitlichen Verfall oder Interferenzen verloren gehen. Im LZG können Informationen auf unbestimmte Zeit gespeichert werden, sind also theoretisch lebenslang verfügbar. Es enthält unser gesamtes Wissen über uns selbst und die Welt, das aus dem SG und dem KZG übernommen wurde. Die Informationen sind nicht mehr phonetisch gespeichert. Auch das LZG läßt sich wiederum in drei verschiedene Systeme einteilen, die jedoch miteinander in Verbindung stehen (142). Die Aufgaben dieser drei Systeme werden am besten deutlich, wenn man sie mit drei Fragen verknüpft. Das episodische Gedächtnis beantwortet die Frage "Wann bin ich zuletzt Fahrrad gefahren"? Die Information "Was ist ein Fahrrad"? ist im semantischen Gedächtnis gespeichert. Schließlich enthält das prozedurale Gedächtnis die Information "Wie fährt man Fahrrad"? Alle drei Bestandteile gehören zum LZG, dessen Kapazität unbegrenzt ist. 2.2. Das Modell des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley Das beschriebene Dreispeichermodell mag überzeugend für den Prozess der Wissensspeicherung sein. Es erklärt jedoch nur unzureichend, wie zwar oft alltägliche, aber dennoch komplexe kognitive Tätigkeiten wie Kopfrechnen oder Sprachverstehen ablaufen. Da das Konzept des KZG zu einfach für derartige Aufgaben schien, entwickelte Baddeley die Theorie des Arbeitsgedächtnisses oder Working Memory (Gathercole und Baddeley, 2). In diesem aktiven System zur kurzfristigen Speicherung und Verarbeitung von Informationen gibt es drei Subsysteme, die zentrale Exekutive (central executive), die artikulatorische Schleife (phonological loop; PL) und den räumlich - visuellen Notizblock (visuospatial sketchpad; VSSP). Sowohl die PL als auch der VSSP sind nur Hilfssysteme (4), die der zentralen Exekutive untergeordnet sind. Die PL ist auf die Speicherung verbaler Informationen spezialisiert. Da diese normalerweise nur für sehr kurze Zeit zur Verfügung stehen, findet in der PL eine ständige Wiederholung statt, um die weitere Verarbeitung der Informationen überhaupt zu ermöglichen. Eine weitere Aufgabe der PL ist es, nicht phonetisch geäußerte Informationen wie gelesene Texte oder Bilder in eine phonetische Form umzukodieren, sodass auch sie für die weitere Verarbeitung zur Verfügung stehen. Der VSSP sorgt für die Speicherung visueller und räumlicher Informationen. Er kann wiederum phonetische Informationen in visuelle umwandeln. Dieses Hilfssystem ist jedoch für die Sprachverarbeitung und damit für das Dolmetschen weniger von Bedeutung. Die zentrale Exekutive ist eine sehr komplexe Komponente des Arbeitsgedächtnisses (5). Ihre genauen Aufgaben sind noch nicht vollständig erforscht. Sicher ist jedoch, dass die zentrale Exekutive der wichtigste Bestandteil des Arbeitsgedächtnisses ist, da sie eine Kontrollfunktion übernimmt. Sie regelt den Austausch von Informationen sowohl innerhalb des Arbeitsgedächtnisses als auch mit anderen Teilen des Gedächtnisses, vor allem dem LZG. Weiterhin ist ihre Aufgabe auch das Verarbeiten und Speichern von Informationen. Da die Kapazitäten der zentralen Exekutive begrenzt sind, hängt ihre Leistung davon ab, wie viele Aufgaben gleichzeitig bearbeitet werden müssen. Dabei lassen sich zwei Arten von Aufgaben unterscheiden. Gut eingeübte oder automatisierte Handlungen werden nur noch von einem Schema kontrolliert, das durch bestimmte Umweltreize ausgelöst wird. Steigt man z.B. ins Auto ein, wird das "Fahrschema" ausgelöst, das Aktivitäten wie Lenken, Bremsen und Schalten beinhaltet. Da alle diese Vorgänge stark automatisiert sind, nehmen sie kaum Kapazitäten der zentralen Exekutive in Anspruch. Diese Erkenntnis kann auch für das Dolmetschen von großer Bedeutung sein. Werden beispielsweise bestimmte Standardelemente, die in jeder Rede vorkommen, wie Begrüßung, überleitende Passagen oder Schlussfloskeln, durch häufiges Üben stark automatisiert, belasten sie die zentrale Exekutive kaum. Deren Kapazitäten können dann für unbekannte Informationen, wie unbekannte Lexik oder inhaltlich komplizierte Sachverhalte genutzt werden. 3 Treffen nämlich unbekannte Reize ein oder wird ein eigentlich bekanntes Schema durch unerwartete Ereignisse unterbrochen, setzt ein übergeordnetes Überwachungssystem (Supervisory Attentional System; SAS) ein, welches dann die Aktivitäten steuert und auch bestimmte Schemata auslösen oder unterdrücken kann (6). Dieses sehr viel komplexere Verfahren beansprucht einen Großteil der Kapazitäten der zentralen Exekutive. Durch die Kombination beider Systeme ist jedoch eine effiziente Informationsverarbeitung und damit auch Steuerung der menschlichen Handlungen gewährleistet. 3. Einbeziehung des Gedächtnisses in verschiedene Dolmetschmodelle Wie können wir uns nun diese Erkenntnisse für das Dolmetschen zu Nutze machen? Oder genauer gefragt, wie können sie uns einerseits helfen, die komplexen Vorgänge, die beim Dolmetschen ablaufen, besser zu verstehen, und andererseits, unser Gedächtnis beim Dolmetschen optimal einzusetzen und entsprechend zu trainieren? Bei einem Blick in die Literatur zeigen sich die sehr heterogenen Definitionen des Gedächtnisses und der Aufgaben, die ihm im Dolmetschprozess zugemessen werden. 3.1. Das "modèle d'efforts" - Daniel Gile Daniel Gile etwa gliedert in seinem "modèle d'efforts" zum Simultandolmetschen den Dolmetschvorgang in drei Phasen: den ersten Schritt des Zuhörens und der Analyse, dann die Redeproduktion und schließlich die Gedächtnisspeicherung. In der ersten Phase geht es darum, den Redetext wahrzunehmen und zu verstehen. Im zweiten Schritt gibt der Dolmetscher dann der wahrgenommenen und verstandenen Idee eine neue linguistische Form in der Zielsprache. Das Gedächtnis wird immer dann eingeschaltet, wenn eine Information nicht direkt nach der Aufnahme wiedergegeben, sondern vorerst zurückgehalten wird. Dies kann geschehen, weil sich der Dolmetscher weitere Informationen zum besseren Verständnis erhofft oder auch aufgrund von schlichten grammatischen Unterschieden zwischen der Ausgangssprache und der Zielsprache, etwa weil das Verb im deutschen Satz im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachen erst am Ende des Satzes steht (vgl. Gile, 44). Erfolgreiches Dolmetschen ist nach Gile nur möglich, wenn ein Gleichgewicht zwischen diesen Teilprozessen besteht (45). Dies entspricht den Feststellungen Baddeleys, vor allem in Bezug auf die zentrale Exekutive, auch wenn Gilenicht explizit den Begriff "Arbeitsgedächtnis" verwendet. Jedem Dolmetscher steht nur eine bestimmte Menge von Energie zur Verfügung, die er auf die verschiedenen Prozesse aufteilen muss. Muss ein Simultandolmetscher beispielsweise eine Information lange im Gedächtnis behalten, verwendet er viel Energie auf die Gedächtnisspeicherung und hört möglicherweise die Worte, die der Redner in der Zwischenzeit spricht, nicht oder nur zum Teil, sodass die Dolmetschleistung darunter leidet. Natürlich hängt die Dolmetschleistung auch von äußeren Faktoren wie der Redegeschwindigkeit des Sprechers, eventuell störenden Umgebungsgeräuschen oder der Tageszeit ab, die jedoch ihrerseits auch als kapazitätsraubende Elemente aufgefasst werden könnten. 3.2. Dolmetschen und Verstehen - Danica Seleskovitch Seleskovitch bringt das Gedächtnis bereits mit dem Verstehensvorgang in Verbindung, was vor allem beim Konsekutivdolmetschen eine Rolle spielt. So können wir uns nur das merken, was wir zuvor verstanden haben (Seleskovitch, 37). Dabei wird der Sinn einer Äußerung sofort vom konkreten Wortlaut getrennt, der nicht gespeichert werden muss, weil er bei der Übertragung in die Zielsprache nur hemmend wirken würde. Seleskovitch geht davon aus, dass bei vollständigem Verstehen die Informationen kurzfristig automatisch wieder abrufbar sind, wenn sie auch nicht auf Dauer zur Verfügung stehen. Konsekutivdolmetscher brauchen also nicht, wie gemeinhin angenommen wird, ein phänomenales Gedächtnis oder die Fähigkeit, das Gesagte möglichst wörtlich mituzschreiben, sondern sie müssen vor allem in der Lage sein, den Sinn der gemachten Aussage zu erfassen. Beim Thema Simultandolmetschen geht Seleskovitch zwar nicht explizit auf die Rolle des Gedächtnisses ein, unterstützt aber indirekt Baddeleys Hypothesen zu den Aufgaben des Arbeitsgedächtnisses. Für Seleskovitch unterscheidet sich der Vorgang des Simultandolmetschens nämlich nicht wesentlich von der normalen Kommunikation, wo wir auch sprechen und gleichzeitig im Geiste bereits unseren nächsten Gedanken formulieren. Liefe dieser Prozess nicht so ab, wären wir nicht in der Lage, längere, zusammenhängende Redebeiträge abzuliefern. Der einzige Unterschied zwischen gewöhnlicher Kommunikation und dem Dolmetschen besteht darin, dass die Gedanken, die 4 der Simultandolmetscher ausspricht, von außen an ihn herangetragen werden. Da er das Gehörte aber nicht wörtlich, sondern erstens in einer anderen Sprache und zweitens sinngemäß wiedergibt, wird klar, dass in der Zwischenzeit ein Verarbeitungsprozess stattgefunden haben muss. Für diesen Prozess kommt sicher vor allem das Arbeitsgedächtnis und hier speziell die phonologische Schleife in Betracht. 3.3 Gedächtnisleistung und Verstehenstiefen - Wladimir Kutz Auf den Zusammenhang zwischen der Gedächtnisleistung und dem Verstehen verweist auch Kutz in seinen Ausführungen zu Gedächtnistechniken beim Konsekutivdolmetschen. Er übernimmt den Begriff des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley, interpretiert ihn jedoch nicht streng im kognitionspsychologischen Sinne, sondern eher als ein auf die Dauer des Dolmetschprozesses ausgedehntes Kurzzeitgedächtnis. Sein Schwerpunkt liegt weniger auf der Funktionsweise des Gedächtnisses als vielmehr auf der Bedeutung des Verstehens für die Wiedergabe beim Konsekutivdolmetschen. Als Grundlage sieht er das Bewusstsein über die kommunikative Dolmetschsituation, was Faktoren wie den Ort und das Forum der Veranstaltung, Herkunft und Absicht des Sprechers, Zusammensetzung des Publikums und Ähnliches beinhaltet. Ausgehend von diesen Informationen sind sechs Verstehenstiefen möglich, die von fragmentarischen Verstehen einzelner Floskeln und Textbruchstücke bis zum Aufdecken des nicht versprachlichten Motivs des Sprechers reichen. Hat man einmal die Absicht des Sprechers und auch die Mittel verstanden, die er einsetzt, um sein Ziel zu erreichen, so ist es einleuchtend, dass die Reproduktion aus dem Gedächtnis oder mit Hilfe von Notizen durch diese Erkenntnisse sehr viel einfacher wird. 4. Dolmetschen und kognitionspsychologische Forschung - Ingrid Kurz Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass drei verschiedene Autoren in ihren Theorien den Begriff Gedächtnis oder Arbeitsgedächtnis unterschiedlich auffassen. Eine konkrete Anwendung der Forschungsergebnisse der kognitiven Psychologie auf das Simultandolmetschen nimmt dagegen Ingrid Kurz vor. Sie übernimmt dabei auch das komplexere Gedächtnismodell Baddeleys und geht nicht vom Gedächtnis als Instrument zum bloßen "Lagern" von Wissen aus. Zunächst identifiziert Kurz drei grundlegende Komponenten des menschlichen Informationsverarbeitungssystems, nämlich die Wissensbasis, die Mustererkennung und das aktivierte Gedächtnis (Kurz, 72). Die Wissensbasis enthält auf der einen Seite Faktenwissen oder deklaratives Wissen, also Dinge und Fakten, bei denen sich mit Worten beschreiben lässt, was sie sind. Auf der anderen Seite enthält die Wissensbasis Verarbeitungswissen oder prozedurales Wissen, das sich auf die Ausführung einer bestimmten Tätigkeit bezieht und nicht so leicht mit Worten zu beschreiben ist. Da eine solche Wissensbasis aber keineswegs angeboren ist, gehört zu ihr auch zwangsläufig das Erlernen von Fertigkeiten. Zu den komplexen Tätigkeiten, die ein großes Maß an Sachkenntnis oder Expertenwissen erfordern, gehört auch das Dolmetschen. Beim Erlernen von Fertigkeiten gibt es drei Phasen (73). In der sogenannten kognitiven Phase wird deklaratives Wissen erworben, d.h. Fakten und Dinge, die für die Fertigkeit relevant sind. Diese werden dann beim Ausführen der Tätigkeit nacheinander abgerufen. Man denke hier beispielsweise an einen Studenten, der gerade mit dem Simultandolmetschen begonnen hat. Er wird sich die einzelnen Handlungen, die später wie selbstverständlich ineinandergreifen, noch genau bewusst machen müssen. So muss er lernen, mit der Anlage umzugehen, gleichzeitig zu hören und zu sprechen, Mikrofondisziplin zu bewahren, die richtige Sprechgeschwindigkeit zu finden und vieles mehr, bevor er sich überhaupt auf den Inhalt der Rede konzentrieren kann. In der assoziativen Phase wird dieses deklarative in prozedurales Wissen umgewandelt. Die einzelnen Schritte der Tätigkeit werden nicht mehr nacheinander abgerufen, sondern laufen nach längerer Übung routinierter ab. Der Student wird sich nun hauptsächlich seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich der Übertragung der Rede von einer Sprache in die andere, widmen können, wenn er dazu auch viel Konzentration aufbringen muss. In der autonomen Phase schließlich sind die Tätigkeiten noch weiter automatisiert und laufen mit großer Schnelligkeit und Präzision ab. Der Student wird nun also auch inhaltlich komplexe oder von unprofessionellen Sprechern vorgetragene Reden dolmetschen können und sich auch nicht so leicht 5 von äußeren Einflüssen aus der Ruhe bringen lassen. Dabei kann er unter Umständen die einzelnen Elemente der Tätigkeit nicht mehr beschreiben, weil sie ihm so selbstverständlich erscheinen. An dieser Stelle wird schon deutlich, wie wichtig Übung unter geeigneten Bedingungen für den Erwerb von Fertigkeiten ist, wovon in einem späteren Zusammenhang noch zu sprechen sein wird. Das prozedurale Wissen zerfällt wiederum in zwei Kategorien (77). Algorithmen sind Reihen von Handlungen, die bei richtiger Durchführung zum richtigen Ergebnis führen. Ein Beispiel aus dem Alltagsleben wäre das Binden von Schnürsenkeln, ein sehr stark standardisierter Handlungsablauf. Beim Dolmetschen könnten z.B. Begrüßungs- oder Schlussfloskeln solche Algorithmen darstellen. Heuristiken sind allgemeine Richtlinien oder Regeln, die mit großer Wahrscheinlichkeit zur Lösung eines Problems führen und angewendet werden, wenn kein Algorithmus zur Verfügung steht. Hat man beispielsweise beim Dolmetschen einer Rede die ersten Sätze nicht verstanden, so kann man aus Erfahrung mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Redner zunächst die Teilnehmer begrüßen und sich für die Einladung bedanken wird. Nun müssen die eintreffenden Reize zunächst identifiziert und klassifiziert werden, bevor sie auf die eine oder andere Weise verarbeitet werden können. In der kurzen Zeit, die die Reize im sensorischen Gedächtnis zur Verfügung stehen, müssen sie eine Bedeutung erhalten. Dies erfolgt durch Mustererkennung (77). Bei der Mustererkennung gibt es sowohl die Möglichkeit des Schablonenvergleichs, bei der geprüft wird, ob ein gleicher oder sehr ähnlicher Reiz bereits zu einer früheren Zeit registriert worden ist. Außerdem erfolgt eine Merkmalsanalyse, bei der einzelne Komponenten eines Reizes als Bestandteile eines übergeordneten Musters identifiziert werden. Neben der gerade beschriebenen aufwärtsgerichteten (bottom-up) Verarbeitung, die auf den eingehenden sensorischen Informationen beruht, spielt die abwärtsgerichtete (top-down) Verarbeitung eine zentrale Rolle. Dabei werden der Kontext der Situation und das Weltwissen des Einzelnen zur Mustererkennung herangezogen. Die Erkennung beruht auf der subjektiven Erwartung, welches Muster jetzt sinnvollerweise auftreten könnte. Diesen Vorgang bezeichnet man als konzeptgeleitete Analyse. Was bedeutet nun die Mustererkennung für die Sprachverarbeitung? Wörter können als komplexe Reize aufgefasst werden. Sie sind redundant, das heißt, sie bestehen aus viel mehr Merkmalen, als für ihr Erkennen eigentlich erforderlich wäre. Darüber hinaus kann der Kontext dazu führen, dass wir auch etwas wahrnehmen, was gar nicht explizit gesagt worden ist. Er erleichtert also die Wahrnehmung des Dargebotenen, doch ist gerade beim Dolmetschen bei der Verbalisierung von Ungesagtem äußerste Vorsicht angebracht. Schließlich geht Kurz auch auf die Rolle des Gedächtnisses ein (83), wobei sie von der schon oben beschriebenen Struktur ausgeht. Sie weist vor allem auf die Rolle des aktivierten Gedächtnisses hin, das heißt, dass von der fast unbegrenzten Menge an Informationen, die der Mensch speichern kann, immer nur eine begrenzte Menge zur Verfügung steht. Dies sind die ebenfalls bereits erwähnten 5-7 funktionalen Verarbeitungseinheiten oder Chunks, die im LZG aktiviert werden, wenn ein neu eintreffender Reiz Ähnlichkeiten mit ihnen aufweist. Um die Menge an aktivierten Informationen möglichst zu optimieren, gibt es zum einen die Technik der Rekodierung, sodass ein Chunk mehrere Informationen enthält. Dabei geht es vor allem darum, Verbindungen zwischen einzelnen Informationen herzustellen. Ein Student des Instituts für angewandte Linguistik und Translatologie beispielsweise wird die Buchstaben LTAI als vier Informationseinheiten speichern. Stellt er sie jedoch um und macht daraus IALT, so erhalten die Buchstaben einen Sinnzusammenhang und nehmen daher nur noch eine Informationseinheit in Anspruch. Eine andere Möglichkeit, das aktivierte Gedächtnis zu optimieren, ist die Verbesserung der Kodierungsstärke. Das bedeutet, dass Informationen elaboriert werden, z.B. durch Visualisierung oder Merkmale des Kontextes, indem die Information aufgetreten ist. So wird es auch möglich, dass später zusätzliche Abrufwege für die Information zur Verfügung stehen. 5. Abschließende Bemerkungen Bei allen Analysen der Informationsverarbeitung ist jedoch entscheidend, dass unsere Aufmerksamkeit in ihrer Kapazität begrenzt ist. Diese Tatsache ergibt sich aus Baddeleys Modell des Arbeitsgedächtnisses. Wir können nicht verschiedene komplexe Aufgaben gleichzeitig bewältigen, es sei denn, diese Aufgaben sind in hohem Maße standardisiert. Außerdem können die Aufmerksamkeitsgrenzen durch Übung erweitert werden. 6 Damit kommen wir zum abschließenden Punkt dieser Arbeit, in dem es darum gehen soll, aus den bis jetzt vorgestellten Erkenntnissen Schlussfolgerungen für die Ausbildung von Dolmetschern zu ziehen bzw. Möglichkeiten aufzuzeigen, sein Gedächtnis optimal einzusetzen. Es ist klar ersichtlich, dass für das Dolmetschen das alte Prinzip "Übung macht den Meister" voll zutrifft. Sicher hat das Dolmetschen auch etwas mit Begabung zu tun, aber es beruht doch zu einem großen Teil auf der Automatisierung von verschiedenen Prozessen. Dazu gehört, dass bestimmte, immer wiederkehrende Elemente von Reden, wie Begrüßungs- oder Schlussfloskeln, Höflichkeitsformulierungen oder überleitende Passagen zwischen zwei Redeteilen so weit geübt werden können, dass sie kaum noch die Aufmerksamkeit des Dolmetschers erfordern. Auch die Notation, die ja als Unterstützung für die Gedächtnisleistung des Dolmetschers gedacht ist (vergl. Matyssek, 22), sollte in großem Maße automatisiert sein, um nicht im Gegenteil sogar hinderlich zu wirken. Wenn sich der Dolmetscher neben dem Verstehensvorgang noch Gedanken über einzelne Zeichen oder die Anordnung der Notizen auf dem Block machen muss, bedeutet dies, dass er zwei komplexe Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen hat, was nach Baddeley nicht erfolgreich möglich ist. Aus der begrenzten Aufmerksamkeit des Dolmetschers lässt sich auch ableiten, dass unerwünschte Nebenaspekte, die beim Dolmetschen auftreten können, nicht zu unterschätzen sind. Ein ständiges Rauschen im Kopfhörer oder Unruhe im Saal können nicht einfach "ausgeblendet" werden, sondern nehmen zumindest einen bestimmten Teil der Aufmerksamkeit des Dolmetschers in Anspruch, weil auch diese Informationen zunächst vom Gedächtnis verarbeitet und als unwichtig erkannt werden müssen. Aus den Erkenntnissen zur Funktionsweise des Gedächtnisses und vor allem zu den aktivierbaren 5-7 Chunks wird die Bedeutung eines möglichst umfangreichen Weltwissens oder zumindest einer effektiven Vorbereitung deutlich. Hat man bereits ein großes Wissen über die in einer Rede dargestellten Zusammnhänge, so werden die einzelnen Informationen nicht isoliert wahrgenommen, womit die 5-7 Chunks schnell erreicht wären, sondern als ein zusammenhängendes Konzept und somit auch nur als eine Informationseinheit, wodurch noch weitere Kapazitäten zur Verfügung stehen. Darüber hinaus macht ein solches umfangreiches Wissen auch die Anwendung von heuristischen Verfahrensweisen möglich. Der Dolmetscher kann auch in unvorhergesehenen Situationen angemessen reagieren, weil er eventuell fehlende Informationen aus dem Kontext schließen oder logisch inferieren kann. Abgesehen davon ist eine gute Vorbereitung schon rein aus psychologischen Gesichtspunkten empfehlenswert, weil sie den Dolmetscher insgesamt gelassener macht. Nervosität könnte im Gegensatz hierzu wiederum als ein Element betrachtet werden, dass die Aufmerksamkeit des Dolmetschers beansprucht, indem er über sich selbst und seine Leistung reflektiert, statt sich auch Inhalte zu konzentrieren. Insgesamt sollte in dieser Arbeit deutlich geworden sein, dass sich aus einem genauen Verständnis der Funktionsweise des Gedächtnisses und vor allem des Arbeitsgedächtnisses wichtige Schlüsse für die Arbeit und Ausbildung von Dolmetschern ziehen lassen. Hier sind jedoch nur einige allgemeine Hinweise gegeben worden. Für konkrete Techniken zum Gedächtnistraining und zur Anwendbarkeit von verschiedenen Gedächtnistechniken sei an dieser Stelle noch auf die sehr umfangreiche Arbeit von Cornelia Schicke verwiesen, die an unserem Institut verfasst worden ist. Weiterhin ist das Arbeitsgedächtnis auch Gegenstand eines Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Leipzig. Die Forschergruppe setzt sich aus Wissenschaftlern des Instituts für Allgemeine Psychologie der Universität Leipzig, der Abteilung Psycholinguistik des Instituts für Sprach- und Übersetzungswissenschaft der Universität Leipzig, der Klinik für kognitive Neurologie der Universität Leipzig und dem Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung zusammen. Da es sich hier um ein sehr komplexes Forschungsgebiet handelt, werden sicher in der nächsten Zeit noch neue, auch für das Dolmetschen bedeutsame Erkenntnisse zu vermelden sein. Literatur Baddeley, Alan D.: Human Menory. Theory and Practice. Hove, U.K, 1997 DGF-Forschergruppe zum Thema Arbeitsgedächtnis, nähere Informationen unter: http://www.unileipzig.de/~zhs/drittmittel/arbged.htm Gathercole, Susan E. und Baddeley, Alan D.: Working Memory and Language. Hove, U.K., 1993, S. 123 Gile, Daniel: Le modèle d'efforts et l'équilibre d'interprétation en interprétation simultanée in: Meta, XXX, 1, S. 44-48 7 Kalina, Sylvia: Strategische Prozesse beim Dolmetschen: theoretische Grundlagen, empirische Fallstudien, didaktische Konsequenzen. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998 Kurz, Ingrid: Simultandolmetschen als Gegenstand der interdisziplinären Forschung. Wien: WUVUniversitätsverlag, 1996, S. 72-99 Kutz, Wladimir: "Warum zum Teufel sagt er das?" - Gedächtnistechniken beim Konsekutivdolmetschen. Text 3 zur Vorlesung 8 WS 2000/01, Ordner 98, Mediathek Matyssek, Heinz: Handbuch der Notizentechnik für Dolmetscher. Ein Weg zur sprachunabhängigen Notation. Heidelberg: Groos, 1989 Moser-Mercer, Barbara u.a.: Skill Components in Simultaneous Interpreting in: Gambier, Yves u.a. (Hrsg.): Conference interpreting: Current trends in research: Proceedings of the International Conference on Interpreting - What Do We Know and How (1994: Turku, Finland). Amsterdam: John Benjamins, 1997, S. 133 - 147 Schicke, Cornelia: Zur Rolle von Gedächtnis und Notation beim Dolmetschen (Leistungsnachweis Dolmetschwissenschaft). Vortrag (ca. 40 min.) als Videomitschnitt auf der Kassette SSD-D-4 in der Mediathek; Handout im Ordner 20 Seleskovitch, Danica: Der Konferenzdolmetscher: Sprache und Kommunikation. Heidelberg: Groos, 1988, S. 32-42 Setton, Robin: Simultaneous Interpreting: A cognitive-pragmatic analysis. Amsterdam: John Benjamins, 1999 Thesen Sowohl die Definitionen für den Begriff des Arbeitsgedächtnis als auch seine Anwendungen in verschiedenen Dolmetschmodellen sind sehr heterogen. Die verschiedenen Theorien stimmen darin überein, dass die Verarbeitungskapazität des Arbeitsgedächtnisses begrenzt ist. Unbekannte Informationen oder Handlungsabläufe nehmen sehr viel mehr Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses in Anspruch als bekannte. Beim Dolmetschen ist es daher sinnvoll, Handlungsabläufe und Standardvokabular möglichst stark zu automatisieren, um Kapazitäten für neue Informationen freizuhalten. Ein umfangreiches Weltwissen oder situatives Wissen erleichtert die Arbeit des Dolmetschers. Kapazitätsraubende Elemente, die oft gar nicht bewusst als solche wahrgenommen werden (z.B. Nebengeräusche), sollten minimiert werden. Die Wissensbasis, die Mustererkennung und das aktivierte Gedächtnis sind die Grundlagen der Informationsverarbeitung.