Impressum Erinnyen Zeitschrift für materialistische Ethik Herausgegeben vom Verein zur Förderung des dialektischen Denkens Erscheint in zwangloser Folge Frühjahr 2007 Nr. 18 Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion Teil III Die materiale Wertethik von Max Scheler Die „Erinnyen“ werden herausgegeben vom “Verein zur Förderung des dialektischen Denkens e.V.“ Verantwortlicher Redakteur im Sinne des Presserechtes und Inhaber der Zeitschrift ist Bodo Gaßmann. Die „Erinnyen“ erscheinen im Selbstverlag, u.z. in zwangloser Folge. Namentlich gekennzeichnete Beiträge entsprechen nicht unbedingt der Auffassung der Redaktion. Die Zeitschrift erscheint hauptsächlich im Internet und kann dort kostenlos heruntergeladen werden: www.erinn18.erinnyen.de ISSN 0179-163-18 Weiter Internetseiten: Für Philosophie und Ethik: www.zserinnyen.de Erinnyen Aktuell: www.erinnyen.de Unser Verein: www.vereindialektik.de Unsere englische Seite: www.erinyes.eu Internetkurse finden Sie unter: www.schuledialektik.de Die Titelgrafik ist von H. W. Grote, der sie uns freundlicherweise zur Verfügung stellte. Auch diese gedruckte Version kann bezogen werden gegen 4,50 € über unseren InternetBuchladen: www.buchdialektik.de oder per Post oder Telefon: Erinnyen Hertzstraße 39 D-30827 Tel. 05131 1623 E-Mail: [email protected] Privatkunden liefern wir im Inland ab einem Bestellwert von 5,- € portofrei. Buchhändlern gewähren wir 35 % Händlerrabatt, ab einem Betrag von 30.- € liefern wir portofrei. (Unsere AGB unter: www.buchdialektik.de) Spenden, Mitgliedsbeiträge für den Verein und Rechnungen über: Postgirokonto: 515055-302 / BLZ 25010030 (Han). (Gaßmann) Copyright Alle Rechte liegen bei der Zeitschrift "Erinnyen" oder bei den Autoren. Die Ausgabe der Erinnyen sind urheberrechtlich geschützt. Das Copyright namentlich gekennzeichneter Beiträge liegt bei dem jeweiligen Autor. Bei nicht namentlich gekennzeichneten Beiträgen liegen alle Rechte bei der Redaktion der "Erinnyen". Wir gestatten, wenn nicht anders vermerkt, den kostenlosen Nachdruck einzelner Beiträge oder deren Veröffentlichung im Internet unter der Bedingung, dass die Quelle und der Autor (falls bekannt) angegeben werden. Nicht gestattet ist die kostenlose Veröffentlichung der gesamten Ausgabe, die einzelner Beiträge zu kommerziellen Zwecken oder um die Inhalte verfälscht darzustellen. Auch nicht gestattet ist die kostenlose Veröffentlichung von Beiträgen, die als wissenschaftliche gekennzeichnet sind. Inhaltsverzeichnis Editorial 3 2. 8.5. Die tatsächlichen Kriegsgründe und Schelers Kriegsideologie 50 2. 9. Das Sollen und die materiale Wertethik 2. 9.1. Das Sollen in der bürgerlichen Philosophie bei Kant und Hegel 51 2. 9.2. Das Sollen in Schelers ontologischem Idealismus 51 2.10. Der Geist bei Scheler 54 2.11. Schelers Theologie 57 Aphorismen Revolution am Samstag Nachmittag? 5 Leibniz' beste aller Welten 5 Ein Tag im Mai. Über die Aktualität des Klassenkampfes 7 Wissenschaftlicher Beitrag zur Ethik Von Bodo Gaßmann: Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion 3. Teil III: Die materiale Wertethik von Max Scheler 1. Einleitung zur materialen Wertphilosophie 1. 1. 1. 3. Die phänomenologische Methode von Husserl als Voraussetzung von Schelers Begründung der Werte 12 Eine Vorbemerkung zu Schelers Kantkritik 16 Der Anspruch Max Schelers 17 2. Die Schelersche materiale Wertphilosophie 1. 2. Die materiale Wertphilosophie als Ideologie 3.1. Reaktionärer Fortschrittsbegriff, konservative Kapitalismuskritik und Legitimation der Ausbeutung 61 3.2. Die "Zerstörung der Vernunft" und Schelers Irrationalismus 65 3.3. Schlussbemerkung 68 Literatur 69 Rezensionen Wie steht es mit der Moral in der bürgerlichen Presse? Ethik im Redaktionsalltag. Hrsg.v. Dt. Presserat. 72 2. 1. Materiale Werte 2. 1.1. Zur Bestimmung materialer Werte 18 2. 1.2. Vorläufige Kritik der irrationalen Bestimmung materialer Werte 21 2. 2. Zur Ontologie 2. 2.1. Einleitung: Ontologie überhaupt 23 2. 2.2. Kritik an Schelers Ontologie 24 2. 3. Phänomenologische Anschauung / Wesensschau 25 2. 4. Begründung des 27 phänomenologischen Wertfühlens 2. 5. Kritik der Wertbegründung durch Wertfühlen 30 2. 6. Milieu und Anthropologie 34 2. 7. Der Ordo amoris 39 2. 8. Die materialen ethischen Werte im Konkreten 2. 8.1. Rangordnung der Werte 41 2. 8.2. Der Wert des Angenehmen 43 2. 8.3. Der sittliche Wert Gerechtigkeit 45 2. 8.4. Die Apologie des „echten“ Krieges und Gerechtigkeit 47 "der nächste Amoklauf kommt bestimmt" Freerk Huisken: Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw. 77 „Nach dem bewaffneten Kampf“ Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit... 81 Glossar Stichwort: Phänomenologie 2 85 von langfristigen Interessen ständig umzuschlagen droht in das Handeln für seine unmittelbaren Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft. Der Weg der linken Akteure durch die Institutionen, den einige 68er propagiert hatten, endete bekanntlich mit dem Sieg der kurzfristigen Interessen an der Karriere. Editorial Sollen auch die „Erinnyen“ zu Protesten gegen den G8-Gipfel aufrufen, obwohl sie mehr ein theoretisches Medium sind? Geschichtsphilosophisch geht diese Zeitschrift von der Erkenntnis aus, dass niemand sich aufseiten der Geschichte wähnen kann, weder die Politiker der „freien“ Marktwirtschaft noch deren Gegner. Die Geschichte, die Produktivkräfte, die bürgerliche Gesellschaft, die Klassen und Schichten machen nichts, erkämpfen nichts, bewegen nichts, kurz: Sie sind keine Subjekte der Entwicklung, sondern Subjekte können immer nur konkrete Individuen sein, auch wenn sie von vorgefundenen Bedingungen der Gesellschaft außer sich und einer sozial geprägten Triebstruktur in sich ausgehen müssen, auch wenn sie unkontrollierbare Mechanismen bedienen müssen, um ihr tägliches Brot zu ergattern. Ob die Bedingungen auf alle Handlungen durchschlagen oder die vernünftige Tat siegt, entscheidet immer noch der freie Wille. Wenn dem aber so ist, dann kommt für diejenigen, die eine Veränderung des Bestehenden anstreben, der moralische Aspekt ihrer Aktionen eine höhere Bedeutung zu, als bisher in der Linken angenommen wurde. Moral in der kapitalistischen Gesellschaft Interessen haben keine Prinzipien in sich, die über die bestehende Gesellschaft hinausweisen. Eine Orientierung an Interessen verfällt der gleichen Kritik wie die an dem bürgerlichen Utilitarismus eines Bentham oder Mill. Eine angestrebte alternative Gesellschaft, die allein auf Interessen beruhen würde, zerfiele zwangsläufig wieder in unterschiedliche Sozialgruppen mit gegensätzlichen Interessen, wie die Geschichte der Sowjetunion gezeigt hat. Nur eine Moral, die vor der avancierten Vernunft bestehen kann, enthält zumindest theoretisch genug Widerstandspotenzial, um den amoralischen Verlockungen der heutigen Gesellschaft trotzen zu können. Diese moralische Seite einer zukünftigen Bewegung theoretisch zu fundieren, dient der wissenschaftliche Beitrag: Die Kritik an der materialen Wertethik. Moral ist in der kapitalistischen Gesellschaft sowohl eine ideelle Existenzbedingung der Klassenherrschaft als auch ein propagandistisches Mittel, diese abzusichern. Beide Funktionen erfüllt auch die Wertethik von Max Scheler, die als reaktionärer Konservativismus offen gelegt wird, der heute wieder unter den Ideologen propagiert wird. Dagegen setzen wir eine sozialistische Moral, die gegenwärtig nur eine des Widerstandes sein kann. Langfristige und kurzfristige Interessen Gewöhnlich wird der Einwand vorgebracht, es liege im langfristigen Interesse, die kapitalistische Katastrophenökonomie abzuschaffen, sodass man keine moralischen Gründe brauche und Moral bei den Handlungen nebensächlich sei. Dies ist jedoch falsch. Denn die Rede von den langfristigen Interessen übersieht den Zeitrahmen, diese zu verwirklichen. Wenn ich meine langfristigen Interessen in meinem Leben niemals erreichen werde, und so sieht es zurzeit aus, dann besteht zunächst für den Einzelnen kein offensichtlicher Unterschied zwischen moralischen Gründen für eine Veränderung der Gesellschaft und den langfristigen Interessen daran. Wohl aber besteht ein praktischer Unterschied: Das Eintreten für eine bessere Gesellschaftsordnung ist im eminenten Sinne moralisch, während die Rede Zur gegenwärtigen Situation Das, was heute unter den Stichworten „neoliberale Wirtschaftspolitik“ und „Globalisierung“ auftritt, ist seiner Substanz nach eine „aggressive Wirtschaftsordnung, die - national wie global – alles dem Interesse einer kleinen Minderheit von Menschen 3 unterordnet“ (P. Bürger in Telepolis). Die Bereicherung der Aktienbesitzer auf Kosten der Lohnabhängigen ist ebenso Klassenkampf von oben (vgl. unseren Aphorismus „Ein Tag im Mai“) wie die Aussaugung von Ressourcen und Menschen in den Entwicklungsländern. Wer dagegen allein seine kurzfristigen Interessen an gesicherten Arbeitsplätzen und mehr Wohlstand geltend macht, so berechtigt diese Forderungen auch sind, bleibt den Mechanismen der kapitalistischen Klassengesellschaft verhaftet. Wahrer Protest gegen diese ist deshalb im Wesentlichen selbstlos, also moralisch motiviert. Er entzündet sich am Leid der anderen. ideologischen Beeinflussung und die Verblödungsweisen der Bewusstseinsindustrie zu verlassen, um in der bürgerlichen Demokratie die Massenbasis für die wenigen Profiteure zu sichern. Kein Wunder, dass die permanente Selbstermächtigung der Exekutive zur vorherrschenden Tendenz in der westlichen Welt geworden ist. Was soll man von einer Exekutive halten, deren Führer sich in Deutschland vor dem Volk durch einen neuen Grenzzaun absichern müssen. Die Berliner Mauer und Wandlitz lassen grüßen. Der Point of no Return zur offenen Diktatur ist zwar noch lange nicht erreicht, aber eine Diktatur ist auch nicht nötig, wenn die gelenkte Demokratie, die man bei Putin kritisiert, um von sich abzulenken, in Westeuropa funktioniert. Nach Ansicht der „Süddeutschen Zeitung“ identifizieren sich immer weniger Bürger mit dem Staat – trotz des wir-sind-alle-der-StaatFußballweltmeisterschaft-Rummels. Auch das abhängige Kleinbürgertum hat Angst vor sozialem Abstieg angesichts einer Regierungspolitik, die vorrangig für das Großkapital wirkt. Die abnehmende Zustimmung zu den sogenannten Volksparteien zeugt davon. Der sittliche Verfall der Justiz setzt sich fort, wie die willkürlichen und ungesetzlichen Maßnahmen gegen die G8-Kritiker zeigen. Einige Vertreter der herrschenden Klasse vergessen alle rechtsstaatlichen Grundsätze, wenn sie sich durch Andersdenkende bedroht fühlen. Schäuble als Innenminister, der eigentlich das Recht schützen müsste, unterhöhlt die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger – und schert sich einen Dreck um entgegenstehende Urteile des Verfassungsgerichts. Moral und Widerstand Wenn in den nächsten Tagen gegen den G8Gipfel in Heiligendamm protestiert wird, dann äußert sich vehement ein moralischer Impuls gegen diese Trends. Was ist es anderes als Moral, wenn man dagegen protestiert, dass die Wirtschaftsordnung 30 Millionen Menschen auf der Erde jährlich an Hunger sterben lässt, dass die reichen Industriestaaten das größte Waffenarsenal aller Zeiten unterhalten und dass ihr „militärischer Humanismus“ nichts anderes ist als die Sicherung von Rohstoffquellen und Ausbeutungsstrukturen. Was anders ist es, wenn nicht nur politische, sondern auch soziale Menschenrechte eingeklagt werden, wenn gegen künstlich erzeugte Umweltkatastrophen, fehlende Trinkwasserversorgung und für erschwingliche Medikamente protestiert wird. Was soll Moral sonst sein, wenn nicht der persönliche Einsatz für eine lebenswerte natürliche und gesellschaftliche Umwelt, in der das Kapital nicht mehr die alles bestimmende Macht ist. Wer sich derart verhält, nützt seinen kurzfristigen Interessen kaum, er kann aber in Selbstachtung leben, für sich partiell Würde reklamieren, die er als Lohnabhängiger nicht hat. Er kann seine Freiheit für sich betätigen, statt sie umsonst in Profit materialisiert den Shareholdern oder einem Staat abzuliefern, der ihn bespitzelt, seine Demonstrationsfreiheit einschränkt und über seine unmittelbaren und langfristigen Interessen hinweg Politik betreibt. Also selbstverständlich auf die Der Trend, die Exekutive über alle anderen Verfassungsorgane zu stellen, ist weltweit zu beobachten. So hat der amerikanische Präsident mehr „Signing Statements“ produziert als alle seine Vorgänger zusammen, d. h., er hat mehr Gesetze der Legislative abgeschmettert als je einer, obwohl die Volkssouveränität von der Legislative ausgeübt wird. Mit diesen Statements deutet er Gesetze um und schafft neue Amtsbefugnisse, die nicht der Kontrolle durch die Legislative unterliegen, weil jedes Einschreiten des Kongresses durch ein neues Statement abgeschmettert wird. Hinter dieser Tendenz steht das Bestreben der Kapitalpolitiker, sich nicht mehr allein auf die Raffinesse ihrer 4 Läufe: Nach Rostock oder Heiligendamm! Die Masse ist unsere Stärke. Aber nicht als Bittsteller gegenüber den Staatschefs, sondern als antikapitalistische Kritiker, nur negativ. Menschen sind als Monaden in „prästabilierter Harmonie“ miteinander verbunden. „Endlich wird es unter dieser vollkommenen Regierung (Gottes im Reich des Geistes) keine gute Tat ohne Vergeltung, keine schlechte ohne Züchtigung geben. Alles muss zum Wohle der Guten ausschlagen, d. h. derer, die in diesem großen Staat nicht zu den Missvergnügten gehören, die sich der Vorsehung anvertrauen, nachdem sie ihre Pflicht getan haben, die den Urheber alles Guten nach Gebühr lieben und nachahmen, indem sie sich an der Betrachtung seiner Vollkommenheit freuen. (…) Solches bewirkt, dass die Weisen und Tugendhaften an alledem arbeiten, was mit dem mutmaßlichen oder vorhergehenden göttlichen Willen übereinzustimmen scheint – und gleichwohl mit dem zufrieden sind, was Gott vermöge seines geheimen, nachfolgenden oder entscheidenden Willens wirklich eintreten lässt. Sie anerkennen nämlich, dass wir, wenn wir die Weltordnung hinreichend zu verstehen imstande wären, finden würden, wie sie alle Wünsche der Weisesten übertrifft, und wie es unmöglich ist, sie besser zu machen, als sie ist. Und zwar nicht bloß für das Ganze im Allgemeinen, sondern auch für uns selbst im Besonderen, wenn wir nämlich dem Urheber des Ganzen nach Gebühr ergeben sind: sowohl als dem Baumeister und der bewirkenden Ursache unseres Seins, wie auch als unserem Herrn und Endzweck, der das ganze Ziel unseres Willens ausmachen muss und allein unser Glück bewirken kann.“ (§ 90.) Bodo Gaßmann Aphorismus Revolution am Samstag Nachmittag? Ein Vater, ein alter 68er, saß neben seiner sechzehnjährigen Tochter. Die hörte mit einem Kopfhörer Radio. Plötzlich schrie sie laut auf: „Die Revolution ist ausgebrochen.“ Der Vater antwortete ihr spontan: „In der Waschmaschinenwerbung oder bei Dieter Bohlen?“ Doch klammheimlich überlegte er einen Moment, ob an ihren Worten etwas dran sein könnte. Es war Samstag Nachmittag und er entschied überzeugt: Unmöglich; am Samstag hockt der Gesamtarbeiter im Fußballstadion oder glotzt die Spiele im Privatfernsehen. (Nach „Monadologie“ (Reclam), 1975 - in neuer Rechtschreibung) Wie Voltaire auf diesen Idealismus reagierte, hat er in einem satirischen Roman deutlich gemacht. Seine Titelfigur läuft durch die „beste aller Welten“ und die sieht unter anderem so aus: „Derweil dann die beiden Könige das Te Deum singen ließen, jeder in seinem Lager, beschloss er (Candide), anderweitig Wirkungen und Ursachen zu durchdenken. Er stieg über Haufen von Toten und Sterbenden und erreichte zuerst ein Nachbardorf; es lag in Schutt und Asche. Es war ein Abarendorf, das die Bulgaren nach den Bestimmungen des allgemeinen Völkerrechts gebrandschatzt hatten. Hier sahen Greise von Schüssen durchsiebt ihre hingeschlachteten Weiber sterben, die Kinder an die blutigen Brüste gepresst, dort taten Mädchen mit aufgeschlitzten Leibern den letzten Atemzug und hatten noch die Leibniz’ beste aller Welten Zweck aller idealistischen Philosophie war es stets, die Menschen mit ihrem je gegenwärtigen Schicksal in Gedanken zu versöhnen. Der Mensch soll seine Pflicht tun, sich mit dem bescheiden, was er hat oder – heute – was karrieremäßig möglich ist. Er soll die Gebote der Sittlichkeit halten, dann wird er von einem höheren Prinzip, meist dem Gott, belohnt. Am schönsten hat diese Bejahung der gesellschaftlichen Ungleichheit, wie sie in der Geschichte geworden ist, Leibniz ausformuliert. Gott hat nach Leibniz die „beste aller möglichen Welten geschaffen“; alle Teile des Kosmos, Natur und Geist, Leib und Seele der 5 natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt; andere, halbverbrannt, schrien, dass man ein Ende mit ihnen mache. Hirn bedeckte den Boden nebst abgehauenen Armen und Beinen.“ (dtv, S. 15; 2003 - in neuer Rechtschreibung; die etwa unseren Rosengarten, wenn wir ihn uns leisten können. Lassen wir andererseits die Kinder in Afrika verhungern, seien wir froh, dass es bei uns noch nicht ganz so schlimm ist. Lassen wir die US-Amerikaner in Afghanistan auf Hochzeitsgesellschaften schießen und den iranischen „Widerstand“ seine Gefangenen und Geiseln abknallen. Genießen wir den melancholischen Kaffee, der von Indios für einen Hungerlohn gepflückt wurde, und den Whisky, dessen Inhalt, der sommerreife Weizen von Illegalen vergoren und gebrannt wird. Es gibt kein Gottesreich, keine Belohnung guter Taten, keine prästabilierte Harmonie, weder in der Welt noch zwischen Seele und Körper. Allein das Heute zählt, der unmittelbare Genuss, das vereinzelte, sich selbst genießende Ich. Opportunismus, Egoismus und Laster sind moralische Anklagen ohne gültige Moral, Kaugummibegriffe zur Erbauung der Einfältigen. Assoziation von „Bulgaren“ und „Abaren“ mit Barbaren ist gewollt.) Wir haben in Europa zur Zeit Frieden? Dann sind die Barbarismen nur anders: Und er wachte auf und hatte Krebs, im Postkasten lag sein Entlassungsbrief, sein Haus wurde versteigert, seine Frau ließ sich scheiden und er musste unter den Brücken schlafen. Die beste aller denkbaren Welten hatte ihn zerstört, er machte die schmerzlichen Erfahrungen eines Candide, ohne dass ein allwissender Erzähler sein Schicksal zur Belehrung und satirischen Belustigung der Nachwelt aufschrieb. Die Armut förderte seine Krankheit – und als er starb, da war keine „vollkommene Regierung“ im Himmel, da war nicht einmal ein Himmel, es war auch nicht einfach wüst und leer, auch nicht schwarz, wie man sich einen traumlosen Schlaf vorstellt – es war Nichts. Lediglich seine zerstreuten Moleküle und Atome schwirrten durch das Weltall, ohne sich jemals wieder zur Monade organisieren zu können. Derart ist der gegenwärtige Zustand. Nichts soll durch Pfaffenrhetorik rationalisiert werden. Dennoch wäre zu fragen, ob nicht in dem Gedanken, wir leben in der besten aller Welten, ein Fünkchen Wahrheit glimmt. Das Allgemeine, das die Philosophen schon vor Leibniz als Produkt der Menschen enttarnt hatten, wird von dieser idealistischen Philosophie vergöttlicht, obwohl es doch der Erfahrung so krass widerspricht. Es ist nicht erst aus der Perspektive von Auschwitz falsches Bewusstsein. Wenn das ideale Allgemeine Bluff ist, Ruhigstellung und Trost für die, welche damals im Schweiße ihres Angesichts hinter dem Pflug hergehen mussten und heute im Kreislauf von Produktion und Konsumtion abgenutzt werden - die amerikanische Gesellschaftskritik nennt das Rattenrennen (rat race) -, wenn das ideale Allgemeine also Ideologie ist, dann liegt der Verdacht nahe, dass jedes Allgemeine in dieser besten aller Welten falsch ist. Dass Staat und Gesellschaft, Institutionen und Behörden, Technik und Kultur nichts weiter sind als Mittel, die Pflichterfüller, Arbeitenden und Organisierenden, zu manipulieren, bei der Stange zu halten und zu verblöden. Zunächst einmal: Wir können nicht aus dieser Welt hinausspringen, es ist unsere, wir haben keine andere. Die Mörder sind unsere Brüder im Menschsein, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Jedes Ausschweifen der Seele in Traumwelten, Fantasiegebilde und Utopien ist selbst noch ein Teil des Schlechten. Wir sind nicht nur Geist, sondern auch Köper, Leib, und schwingt sich die Seele auch in die Höhe, juchhe, der Körper bleibt auf dem Kanapee. Dort wird er getroffen von allen Maßnahmen, die sich das Führungspersonal der herrschenden Verhältnisse einfallen lässt. Jeder Eskapismus – zum Prinzip erhoben – ist selbst ein Allgemeines. Man kann den gesellschaftlichen Zumutungen nicht mehr entfliehen wie einst Epikur in seinen Garten. Man muss sich wehren, vor allem wenn einem nicht der glückliche Zufall zu Hilfe kommt. Aber wer hat schon sechs Richtige im Lotto. Also Widerstand oder Brücke! Was ist die Konsequenz aus dieser Einsicht? Vielleicht diese: Genießen wir „Gottes Schöpfung“, also das, was noch übrig bleibt, Leibniz’ Philosophie hat deshalb ein Moment von Wahrheit, wir leben in der besten aller Welten, aber nicht weil ein allgütiger Gott sie nach seiner unbegreiflichen Weisheit als beste 6 unter möglichen schlechteren Alternativen eingerichtet hat, sondern weil wir keine andere haben, weil wir auf das, was zur Zeit ist, angewiesen sind. Wenn der Gott bei Leibniz Alternativen hatte und einen freien Willen, zwischen ihnen zu wählen, dann denkt das ein Menschenhirn, also ist das Wahlvermögen eine menschliche Fähigkeit – nur ins Ideal-Absurde gesteigert. Wir haben die Wahl, uns die beste aller möglichen Gesellschaftsordnungen in dieser Welt zu erzeugen. Gott ist nichts anderes als die überhöhte Fähigkeit des Menschen. Und wenn der Reichtum auf der Welt ständig wächst, warum sollten wir ihn nicht so verteilen, dass alle ihren gerechten Anteil daran haben, dass der Hunger verschwindet, dass der Kampf um Sondervorteile befriedet, die menschverachtende Produktion um der Produktion willen gestoppt wird … Ein Tag im Mai Über die Aktualität des Klassenkampfes Eine Collage aus der Gegenöffentlichkeit Es gäbe keine Klassen mehr, ist heute vorherrschende Meinung. Der Arbeitsminister hat sich jüngst schon über den Begriff Unterschicht aufgeregt, selbst Einkommensschichten solle es nicht geben. Man braucht sich bloß einmal vorstellen, es existierten keine Kapitaleigner, die von ihrem Reichtum lebten, und es arbeiteten keine Lohnabhängigen mehr, die, wie der Name schon sagt, abhäng von den Kapitalbesitzern sind, die ihnen Arbeitsplätze „geben“ – dann hätten wir völlig andere Zustände als heute, die Produktionsmittel gehörten allen, der Gewinn würde an alle gerecht verteilt … Da es aber nicht so ist, müssen wir den süßen Gedanken fallen lassen und uns der Wirklichkeit zuwenden. Dort existiert die klassenlose Gesellschaft nur in der Fantasie der Ideologen. Die These, es gäbe keine Klassen, ist die geistige Absicherung, dass die Klassen weiter existieren können, also selbst Klassenkampf, und zwar von oben. Nutzen wir also unsere Fähigkeiten. Als Leibniz die Feudalgesellschaft verteidigte – sie sei ohne Alternative -, war sie bereits in der Defensive, sodass selbst sein Rationalismus (ungewollt) zu ihrem Untergang beitrug. Ohne Leibniz kein Kant und Hegel, ohne Kant und Hegel kein Marx, ohne Marx keine rationale sozialistische Alternative in dieser Welt. Ersetzen wir das bestehende schlechte Allgemeine durch das vernünftige Allgemeine, das sich mit dem Besonderen versöhnen kann. Bringen wir die reflektierte Einbildungskraft an die Macht. Was fehlt, ist nur noch der letzte zureichende Grund: die Menschen, die sich aufrappeln. Die Überwindung der irrationalen Feudalgesellschaft hat 500 Jahre gedauert, wie lange dauert die Überwindung der gegenwärtigen längst überflüssigen Herrschaft? Wie lange lassen wir uns noch die Zumutungen dieses anonymen und entfremdeten Mechanismus und seiner Nutznießer gefallen? Tun wir unsere Pflicht in der besten aller Welten, erkämpfen wir das real Mögliche. Öffnen wir den Kleinmütigen ihre fensterlose Monade - wie hoffnungslos der Erfolg zur Zeit auch erscheint. Doch Vorurteile, lange genug verbreitet und mit bunter Kleidung für alle kaschiert, sind zählebig, sie sperren sich bei den Vorurteilsbeladenen jeder rationalen Aufklärung. Der Medienpöbel, der sich seine Weltanschauung allabendlich in den Massenmedien bestätigen lässt, fühlt sich eins mit der Volksgemeinschaft. Er merkt gar nicht, dass diese Suggestion von Gemeinschaft selbst eine Form von Klassenkampf ist. Wer gegen Argumente immun ist, wird auch nicht die folgende Collage von Nachrichten als einen Beweis ansehen, dass Klassenkampf notwendig zum kapitalistischen System gehört, in welcher Form er auch immer stattfinden mag. Eine tiefe Spaltung geht durch das Land, ein permanenter Kampf der Klassen, der durch schöne Bilder, Harmonie der Unterhaltung und scheinhaften Streit der Meinungen in den Talkshows verkleistert werden soll. Was sich 7 tatsächlich tut, darüber kann man sich in der Gegenöffentlichkeit informieren, wie sie sich z. B. im Internet etwa bei LabourNet äußert. Man muss sich nur an den richtigen Quellen orientieren. Das ist heute dank Suchmaschinen, Newsletter und RSS-Feed kein Problem mehr. Amt mehr benötigt (…) Gestreikt wurde deshalb in den Call Centern. Klassenkampf von oben Telekom-Chef lässt die Muskeln spielen „Angesichts des Streiks bei der Telekom hat Konzern-Chef René Obermann mit Verkäufen von Service-Sparten gedroht, sollte es zu keiner friedlichen Lösung mit der Gewerkschaft Verdi kommen. In diesem Fall könne das Unternehmen zu Verkäufen gezwungen sein, um die Kosten in den Griff zu kriegen, sagte Obermann der "Bild am Sonntag". Die folgenden Nachrichten spiegeln den Klassenkampf eines Tages wider – und dennoch ist es nur eine Auswahl der Auswahl: Was bei LabourNet erscheint, ist selbst bereits ausgewählt aus der unendlichen Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Kämpfe, und was wir aus den LabourNet-Nachrichten in diese Collage aufgenommen haben, ist reduziert auf Deutschland, auf die Headlines, auf die ersten Sätze der Artikel. Wer sich für einzelne Beiträge interessiert, kann den Newsletter bei LabourNet nachlesen und auch dessen Quellen verfolgen. Klassenkampf von unten Temporarily not available Die Beschäftigten der Telekom wehren sich gegen die Zumutungen des Vorstands. Ein Streik in der Festnetzsparte T-Com steht bevor. Quelle der Quellen: http://www.labournet.de/news/index.html (Die Zwischenüberschriften sind von uns, Kürzungen und Auslassungen sind nicht gekennzeichnet.) Klassenkampf von oben Liebe KollegInnen, Bluten für die Aktionäre? Trotz Milliardengewinne: Die Festnetzsparte soll zerschlagen werden neu im LabourNet Germany am Montag, 14. Mai 2007: „…"Zeitgemäß" und "marktgerecht" sind für die Telekom-Vorstände Jahresgehälter für sich selber von deutlich über einer Million Euro, dagegen Hungerlöhne von 5,11 Euro pro Stunde für Beschäftigte aus Call-Centern, wie sie jenen drohen, die kürzlich an die WalterTelemedien-Gruppe verkauft wurden. Bei den Tarifverhandlungen am 22./23.März legte das Telekom-Management erst mal seine Forderungen auf den Tisch: Mindestens vier Stunden länger arbeiten, zum gleichen Lohn versteht sich, arbeiten rund um die Uhr von Montag bis einschließlich Samstag mit mehrfachem täglichen Arbeitsantritt, und Einführung einer zweiten Lohnebene — das sind nur einige der Unverschämtheiten…“ Der Streik bei Telekom Klassenkampf von unten Streiken sie schon - oder ist das noch "Service"? Der erste Streiktag bei der Telekom verlief ohne große Unterschiede zum Normalbetrieb… „…Insgesamt sind bei der Telekom 160.000 Mitarbeiter beschäftigt, davon 80.000 in der vom Streik betroffenen Festnetzsparte. Rund zwei Drittel von ihnen sind Mitglied der Gewerkschaft ver.di und bekommen Streiktage bezahlt. Dass man im normalen Telefonbetrieb nichts von dem Streik merkte, lag wahrscheinlich weniger an der von ver.di angekündigten Politik, Privatkunden zu "schonen", sondern daran, dass das Telefonnetz schon lange kein Fräulein vom Verschiedenes Klassenkampf von unten ERA-Protest: 150 Kollegen bei BetriebsratsSprechstunde im Daimler-Werk Marienfelde 8 Am 9. Mai 2007 kam es erneut zu Protesten im DaimlerChrysler-Werk Marienfelde gegen die Einführung neuer Entgelte im Rahmen des ERA-Tarifvertrags (Entgelt-RahmenAbkommen der IG Metall mit den MetallArbeitgebern). 150 Kollegen nutzten die Betriebsratssprechstunde, um ihren Unmut zu äußern. „Klinikum Wahrendorff: Beschäftigte erklagen Tarifgehalt, zwei Betriebsratsmitglieder wenden Kündigungen ab und sieben außerordentliche Kündigungen gegen ein Betriebsratmitglied werden kassiert. Bereits am 18. April war vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) unter Vorsitz der Richterin Knaußt regelrecht „Wahrendorff-Tag“: Gegen 9.20 Uhr schob Geschäftsleiter Alfred Jeske zusammen mit der Anwältin der GmbH, Frau Mysegades, einen riesigen Einkaufwagen voller Akten in den Sitzungssaal. Die Akten türmte die Anwältin zeitweise zu einer Art symbolischen Schutzwall um sich und Herrn Jeske auf. Aber alles Taktieren und Drohen sollte den Vertretern der Firma Klinikum Wahrendorff GmbH an diesem Tage wenig helfen…“ Klassenkampf von oben Bundestag speist Putzkräfte mit Dumpinglöhnen ab Eine Hotline der IG BAU soll Fälle von Dumpinglöhnen in der Gebäudereinigung offen legen. Was dabei herauskam, machte die Gewerkschafter baff: Selbst der Bundestag zahlt Putzkräften nur Dumpinglöhne. Die liegen sogar unter dem im Entsendegesetz festgelegten Mindestlohn von 7,87 Euro. Bankkaufleute psychisch am Ende - Die Sparkassen in NRW stehen vor Privatisierung. 1400 Arbeitsplätze gefährdet Discount-Dozenten „Nach kritischen Medienberichten schafft die Uni Hamburg ihre Ein-Euro-Jobs ab, um den Imageschaden, der längst entstanden ist, zu begrenzen. Doch billige Lehre gibt es an allen Hochschulen: Lehrbeauftragte unterrichten für Minilöhne oder sogar umsonst…“ „Die beabsichtigte Änderung des Sparkassengesetzes in Nordrhein-Westfalen (NRW) stößt bei Bankkaufleuten auf entschiedenen Widerstand. Rund 300 Beschäftigte der kommunalen Geldinstitute des Landes protestierten am Mittwoch beim Sparkassentag 2007 in Bochum unter anderem dagegen, daß durch diese »Reform« zahlreiche Arbeitsplätze aufs Spiel gesetzt werden. Nach dem Willen der schwarzgelben Landesregierung sollen die Sparkassen in NRW teilprivatisiert und profitabel geführt werden…“ Billige Ersatzlehrer Quereinsteiger werden an den Schulen dringend gebraucht. Doch mit neuen Tarifverträgen schrecken die Bundesländer Interessenten ab. Es gibt bis zu 1300 Euro weniger im Monat. G8 Klassenkampf von unten Klassenkampf von oben Protest gegen Bremer Klinik-Pläne Krankenhausbeschäftigte warnen vor schleichender Privatisierung »Es gibt nicht den Hauch eines Beweises« „»Egal wer in Bremen nach den Landtagswahlen am Sonntag regiert, unsere Interessen müssen wir selber in die Hand nehmen.« So lautet die Devise der Unabhängigen Betriebsgruppe »Uns reicht's Bremen!«…“ Es hat selten ein 129a-Verfahren mit so schlechter Begründung gegeben. G-8-Gegner unbeirrt. Ein Interview von Wera Richter mit Sven Lindemann, Anwalt in Berlin und Betroffener der Polizeirazzien gegen G-8Gegner am Mittwoch in der jungen Welt vom 11.05.2007… Ausgebremst: Geschäftsleitung der Klinikum Wahrendorff GmbH erlebt schwere Niederlage Polizei kopierte Daten von so36.net - G 8Razzia: Berliner Internetdienst betroffen 9 „Bei der großangelegten Razzia gegen linke Projekte ist am Mittwoch auch der Berliner Internetanbieter so36.net ins Visier der Ermittler geraten. Dank einer Anwältin konnte eine Beschlagnahme zwar verhindert werden. Bei der Durchsuchung konnte die Polizei indes eine Reihe von Daten kopieren…“ Klassenkampf von oben Schäuble sperrt weg „Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt: Jeder hat das Recht, gegen den G-8Gipfel im Juni in Heiligendamm zu protestieren. Wer wann wo wie demonstrieren darf, die einschränkenden Details regelt ihr Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Im Boulevardblatt Bild drohte er am Freitag, »gewaltbereite Chaoten« präventiv zwei Wochen wegzusperren. »Die Polizeigesetze der Länder sehen den sogenannten Unterbindungsgewahrsam vor«, betonte Schäuble, wohl wissend, daß »Chaot« kein Rechtsbegriff und »gewaltbereit« nicht gleichbedeutend mit »gewalttätig« ist. Die Älteren in Deutschland kennen die willkürliche Inhaftierung politisch Unliebsamer noch unter dem euphemistischen Nazibegriff »Schutzhaft«…“ Klassenkampf von unten Jetzt erst recht! „Hinter der Kriminalisierung der Proteste gegen die G8 verbirgt sich der Unwille der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, sich mit unseren Argumenten auseinanderzusetzen. An die Stelle des Dialogs mit aktiven Teilen der interessierten Bevölkerung tritt die Inszenierung pauschaler Verdächtigungen und die Abstemplung von Straßenprotest als terroristisch. Damit wird dann vor der Öffentlichkeit begründet, weshalb mit der Straße nicht geredet, sondern im Bedarfsfall lieber geprügelt wird. Das ist völlig unakzeptabel. Die Europäischen Märsche 2007 gegen Armut und Existenzunsicherheit schließen sich deshalb dem Protest gegen die Polizeirazzien im Vorfeld des G8-Gipfels an. Zusammen mit allen anderen Anti-G8-Protestlern werden wir dafür sorgen, dass unsere Mobilisierung jetzt erst recht breit wird und auch all diejenigen erreicht, die bislang zu Hause bleiben wollten.“ Klassenkampf von unten »Die Polizei hat Gesprächsversuche abgeblockt«. Anwälte wollen Protestierern gegen den G-8-Gipfel bei der Wahrung ihrer Rechte helfen. "Nicht die Schutzrechte der Menschen, sondern die staatlichen Abwehrrechte gegen die Bürger stehen im Vordergrund" Martin Dolzer, Sprecher des vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein eingerichteten anwaltlichen Notdienstes, zu den Razzien und den Sicherheitsmaßnahmen für den G8-Gipfel. Wider staatliche Repression – für das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit „Die Kriminalisierung der KritikerInnen der von den G8-Repräsentanten und wenigen Repräsentantinnen betriebenen Globalisierung hat schon früh begonnen - und hat System. Deshalb warnen sowohl die OrganisatorInnen des Protestes rund um Heiligendamm als auch weitere bürgerrechtlich engagierte Organisationen schon seit Wochen und Monaten vor der staatlichen Kriminalisierung des Protestes und einer inszenierten Gewaltdebatte…“ Klassenkampf von oben Für Schäuble ist die Gefährdungslage ernst „Anstatt im Vorfeld des G8-Gipfels auf Deeskalation zu setzen, macht der Bundesinnenminister das Gegenteil, vermischt Terrorismus und Protest, droht mit Vorbeugehaft und bringt erneut die Bundeswehr ins Spiel…“ 10 Der RAV kritisiert das unkooperative Verhalten der Polizei im Vorfeld des G8Gipfels „Die Besondere Aufbau Organisation der Polizei (BAO) „Kavala“ verweigert die weitere Kooperation mit dem anwaltlichen Notdienst der Vereinigung der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger Mecklenburg Vorpommern (VdSMV) und dem RAV…“ werden. Wir kritisieren die politische Perspektive und die Inhalte des Positionspapiers. Denn es kündigt einen Konsens auf, der bis dato in der Mobilisierung nach Heiligendamm von einem breiten Bündnis getragen wurde: die G8 zu delegitimieren anstatt Forderungen – von A wie Afrika bis Z wie Zollpolitik – an sie zu stellen..." Eine Replik der BUKO auf das "NGO-G8 Positionspapier"… Weiter G8 Überwachungsstaat Klassenkampf von unten Klassenkampf von oben Kriege beenden statt Kriege vorbereiten. Schluss mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr Die tausend Augen des Staates „Heimliche Durchsuchungen von Privatcomputern, der polizeiliche Zugriff auf Passfotos von jedermann und der Abgleich mit Aufnahmen von Überwachungskameras wie sich Schäubles Kontroll-Vorhaben auf den Rechtsstaat auswirken. Immer mehr unbescholtene Bürger geraten in das Visier der Fahnder…“ Aufruf aus der Friedensbewegung zur Demonstration am 2. Juni 2007 gegen den G 8 Gipfel in Heiligendamm beim Friedenspolitischen Ratschlag… Globalisierung und G 8-Gipfel: Die Gewerkschaften im Norden rufen ihre Mitglieder auf, sich aktiv in der Globalisierungsbewegung zu engagieren Klassenkampf von unten Sicherheitskatalog: Juristen werfen Schäuble Abkehr vom Rechtsstaat vor Der DGB Bezirksvorstand NORD einschließlich IG BAU, TRANSNET, GdP, GEW, IG BCE, NGG, IG Metall und ver.di rufen zur DEMO am 2. Juni und ins G8 Gute Nacht Camp südlich von Rostock nach Bützow auf. „Selten haben sich Juristen so deutlich in die Tagespolitik eingemischt. Deutsche Anwaltsverbände fordern die Große Koalition auf, den geplanten Sicherheitskatalog von Innenminister Schäuble zu stoppen. Sie sehen Deutschland auf dem Weg zum Präventivstaat…“ G8-Proteste zeigen erste Erfolge: Gipfel gekürzt Pressemitteilung der Campinski Pressegruppe vom 11. Mai 2007… Internationale Liga für Menschenrechte fordert „sofortige Beendigung des Grundrechte-Ausverkaufs und eine Generalrevision der Antiterrorgesetze“. Internationale Liga für Menschenrechte sieht im „Kampf gegen den Terror“ die Bürgerrechte bedroht… Klassenkampf von oben Glaubwürdigkeit von NGOs auf dem Prüfstand Antifaschismus "Im März 2007 haben über 40 Nichtregierungsorganisationen ein „Positionspapier“ zum G8-Gipfel in Heiligendamm verabschiedet, in dem in verschiedenen Bereichen wie der Klima- und Rohstoffpolitik, Welthandel oder Entwicklungspolitik gegenüber Afrika Forderungen an die G8-Regierungen gestellt Klassenkampf von unten Onlinearchiv: Antifaschistischer Widerstand Das European Resistance Archive (ERA) ist online! ERA ist ein online-Archiv des 11 Widerstands gegen Faschismus und Besatzung während des zweiten Weltkrieges in Europa. Kern des Webportals sind momentan 20 Videointerviews mit Frauen und Männern, die am antifaschistischen Widerstand in verschiedenen europäischen Ländern teilgenommen haben. ERA bietet historisches Wissen, Kartenmaterial, Textsammlung und Partizipationsmöglichkeiten. Berufsinformationszentrum (BIZ) der Arbeitsagentur in der Luxemburger Straße in Köln junge Erwerbslose fürs Militär und seine Auslandseinsätze zu werben. GegnerInnen treffen sich um 11:30 Uhr vor der Arbeitsagentur Luxemburger Str. … Klassenkampf von oben und unten GEW Hamburg beendet Debatte um Rothenbaumchaussee: "Normaler Kauf?" Wissenschaftlicher Beitrag zur Ethik von Bodo Gaßmann Darf eine Gewerkschaft arisiertes Eigentum behalten? Kritik der Wertphilosophie III Ein offener Brief von Bernhard Nette und Stefan Romey ( Mitglieder der AG Ro 19 der GEW Hamburg) an die Gedenkveranstaltung „Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten 1933“ am 2. Mai 2007 im Gewerkschaftshaus Hamburg. Die materiale Wertethik von Max Scheler Imperialismus und Krieg Klassenkampf von unten Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion Bundeswehrwerbeoffizier in Wuppertal getortet „Am Donnerstag, den 10.05.07 sollte im BIZ (Berufsinformationszentrum) eine Propagandaveranstaltung für Berufsanfänger stattfinden. Diese sollen fürs Töten auf Befehl als Beruf werben. Der Stabsoberbootsmann Heinrichs konnte seinen Vortrag jedoch nicht halten, da er zuvor gezielt eine Torte ins Gesicht bekommen hat. Damit setzt sich die Reihe der Störungen von Bundeswehrveranstaltungen in Arbeitsämtern fort, nachdem schon in Köln und Bielefeld antimilitaristische Aktionen stattgefunden haben…“ 1. Einleitung zur materialen Wertphilosophie 1. 1. Die phänomenologische Methode von Husserl als Voraussetzung von Schelers Begründung der Werte Die Problemstellung Die bürgerliche Philosophie zur Zeit Husserls geht davon aus, dass Wissenschaft im "Sammeln und Beschreiben von Daten" (Fellmann: Phänomenologie, S. 25) besteht, die dann induktiv zu Theorien verarbeitet werden. In diesem Sinn äußert sich auch Scheler über diese. (Scheler: Ethik, z. B. S. 61 und S. 449 ff.) Für ein derartiges beschränktes Verständnis von Wissenschaft ergibt sich das Problem, was die Daten, mit der Klassenkampf von oben und unten Bundeswehr-Werber kommen erneut in Kölner Arbeitsagentur Das Hausverbot für die Bundeswehr in der Kölner Arbeitsagentur ist aufgehoben. Am Donnerstag den 24.Mai 2007 wollen Bundeswehr-Werber erneut im 12 ontologischen Sphäre zu tun haben, denn ohne einen Bezug zum außerbewussten Sein hat keine Theorie einen Wahrheitsgehalt. Da die vorherrschende bürgerliche Philosophie einer "generellen antimetaphysisches Tendenz" (Fellmann: Phänomenologie, S. 25) folgt, d. h. diese abstrakt negiert, ist sie unfähig, von den in der philosophischen Tradition bis Hegel und Marx entwickelten Lösungen der Fundierung von Wissenschaft auszugehen. Sie stürzt sich deshalb in der Phänomenologie auf pseudowissenschaftliche Lösungen des Fundierungsproblems, wie ich in diesem Teil der Kritik der Wertphilosophie zeigen werde. heute gar nicht existent), dann müssen die naturwissenschaftlichen Theorien auch in dem extramentalen Sein als fundiert gedacht werden. Dies aber bestreitet Mach. Man könne sich „nicht darüber täuschen, daß Raum- und Zeitempfindungen ebenso Empfindungen sind wie Farben-, Ton-, Geruchsempfindungen". (A.a.O., S. 522) „Ein Körper ist eine verhältnismäßig beständige Summe von Tast- und Lichtempfindungen, die an dieselben Raumund Zeitempfindungen geknüpft ist. Mechanische Sätze, wie z. B. jener der Gegenbeschleunigung zweier Massen, geben unmittelbar oder mittelbar den Zusammenhang von Tast-, Licht-, Raum- und Zeitempfindungen. Sie erhalten nur (durch den oft komplizierten) Empfindungsinhalt einen verständlichen Sinn.“ Diesen Gedanken verallgemeinert Mach zu seiner These von der metaphysikfreien Wissenschaft, die als „Empiriokritizismus“ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. „Alle Wissenschaft kann nur Komplexe von jenen Elementen nachbilden und vorbilden, die wir gewöhnlich Empfindungen nennen. Es handelt sich um den Zusammenhang dieser Elemente.“ (Mach: Mechanik, S. 522) Über die ontologischen Grundlagen sage die Naturwissenschaft nichts aus, man könne nicht „aus Massenbewegungen die Empfindungen ableiten“, da „Masse“ auch nur eine „verhältnismäßig beständige Summe von Tast- und Lichtempfindungen sei." (A.a.O., S. 522) "Die Mechanik faßt nicht die Grundlage, auch nicht einen Teil der Welt, sondern eine Seite derselben.“ (A.a.O., S. 523) Die bürgerliche Philosophie um 1900 wurde dominiert durch die Strömung des Neukantianismus auf der einen Seite und des Empirismus und Positivismus auf der anderen. Beiden gemeinsam ist die strikte Bewusstseinsimmanenz des wissenschaftlichen Denkens. Eine Reflexion auf die ontologischen Voraussetzungen wurde kaum vorgenommen. Dies zeigt sich darin, dass beide Positionen Front gegen Kants „Ding an sich“ machen, ohne dessen Problematik exakt herauszuarbeiten. Für Rickert gilt: „Alles, was es gibt, ist im Bewußtsein und gehört daher notwendig zum sinnlich Realen.“ (Zitiert nach Gaßmann: Wertphilosophie II, S. 19; vgl. darin auch das Kapitel 7. „Hiatus irrationalis“.) Der „Empiriokritizist“ Ernst Mach bemerkt in einer 1883 zuerst erschienenen Schrift über den naiven Realismus seiner Physikerkollegen: „Den Denkmitteln der Physik, den Begriffen Masse, Kraft, Atom, welche keine andere Aufgabe haben, als ökonomisch geordnete Erfahrungen wachzurufen, wird von den meisten Naturforschern eine Realität außerhalb des Denkens zugeschrieben.“ (Mach: Mechanik, S. 521) Dies sei aber falsch, wie er in dem Bild vom Schnürboden eines Theater, der unserem Bewusstsein entspräche, deutlich machen will. Darin liegt das berechtigte Moment, dass die Kategorien unseres Denkens nicht in intentio recta mit der ontologischen Ansichbestimmtheit der Gegenstände gleichgesetzt werden dürfen. Aber wenn sich mit physikalischen Theorien Naturkräfte manipulieren lassen, Technik möglich ist, die zur notwendigen Bedingung des Industriezeitalters geworden ist (d. h. ohne diese Technik wäre die Masse der Menschen Gegen diese Position hat Lenin bekanntlich seine Kritik formuliert, in der er der Bewusstseinsphilosophie teilweise naiv seine realistische Abbildtheorie gegenüberstellt. Auch einige bürgerliche Philosophen empfanden Unbehagen an einer bloßen Bewusstseinsphilosophie. Die Position einer realistischen Widerspiegelungstheorie konnten sie nicht akzeptieren, weil sie deren metaphysischen Implikationen und Aporien nicht mit ihren an den Naturwissenschaften orientierten Verständnis vereinbaren konnten, nach dem es nur „empirisch-induktiv“ abgesichertes Wissen gäbe. Auch die dialektische Position Hegels war ihnen suspekt, weil dieser ebenfalls nicht-empirische, d. h. metaphysische, Implikationen verlangt. 13 Husserl soll einmal gesagt haben: „Mir ist der ganze Deutsche Idealismus immer zum K... gewesen. Ich habe mein Leben lang (...) die Realität gesucht.“ (Zitiert nach Fellmann: Einführung, S. 42) dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit, anschaulich gegenwärtig ist, soll ‚eingeklammert’ werden.“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S, 70; in der Darstellung Husserls folge ich Stegmüller.) Die Übernahme der Hegelschen Dialektik hätte auch impliziert, sich ernsthaft mit der Marxschen Kapitalanalyse auseinanderzusetzen, dies blockierte aber schon die sozialisationsbedingte Schranke in der Psyche dieser bürgerlichen Philosophen. Anstatt sich aber der wirkenden Realität auszusetzen, z. B. einer Gesellschaftsanalyse zu widmen, verbleibt Husserl in der Immanenzphilosophie und will diese durch ontologische Fundierung neu begründen. Sein Spruch, der Geschichte in der bürgerlichen Philosophie gemacht hat: „Zu den Sachen selbst!“ (zitiert nach Fellmann: Einführung, S. 44), ist für Husserl nicht wörtlich zu nehmen, bestenfalls haben seine Schüler ihn ernst genommen. Husserls Denken selbst bleibt sein Leben lang auf die Wissenschaft von der Wissenschaft beschränkt, die bestehende wissenschaftlichen Resultate als ontologisch fundierte begründen will. Husserl nennt diese Methode auch „phänomenologische Epoché“. Geht man vom Anschaulichen zum Abstrakten vor, dann ergeben sich folgende Komponenten der Reduktion und Einklammerung des Bewusstseinsstroms: 1. Die „historische Einklammerung“ legt alles ab, was an Theorie und Meinung erinnert, nur die unmittelbare Sache soll gegeben sein. (Tendenz zur absoluten Vorurteilslosigkeit) 2. Danach folgt die „existentielle Einklammerung“, in der sich von allen Existenzialurteilen enthalten wird. Denn es ist gleichgültig, ob ich z. B. die Wesenheit „Rot“ an einem sinnlich vorliegenden Gegenstand isoliere oder an einer bloßen Vorstellung von etwas Rotem oder von einem imaginären Traum, sofern nur überhaupt Rot in der Wirklichkeit vorkommt. Die historischen und existenziellen Einklammerungen reichen aber nicht aus, um das Wesen zu bestimmen, da sie sich auf Einzelheiten beziehen, das Wesen aber etwas Allgemeines ist. Deshalb kommt hinzu als 3. die „eidetische Reduktion“: Sie führt zur Unterscheidung von Tatsachen, Fakten, Einzelheiten und deren „Wesen“ (Eidos). Aus dem Tatsächlichen wird das Wesen, z. B. dieses individuelle Rot wird zum Wesen Rot, dieser individuelle Mensch hier und jetzt wird zum Wesen Mensch. Die eidetische Reduktion führt zum „transzendenten Eidos“, das den Gegenstand der Ontologie bildet. Das philosophische Bedürfnis in der bürgerlichen Philosophie, „zurück zu den Sachen“, das sich gegen die vor 1914 im akademischen Betrieb herrschende neukantianische Philosophie mit ihrem Formalismus richtet, findet in diesem Husserlschen Die phänomenologische Methode (Wesensschau) Wissenschaft unterscheidet sich nach Husserl vom nichtwissenschaftlichen Bewusstsein, dass sie eine objektiv begründete Unterscheidung von komplexen Vorstellungen und deren Wesenheiten macht. Für Husserl ist die traditionelle Methode, Wesenheiten zu begründen, nicht mehr akzeptabel, weil sie an der Oberfläche der Phänomene bleibe. Komparation, Abstraktion und Reflexion (vgl. Kant: Logik, S. 524 ff.) würden immer nur Einzelmerkmale herausfinden und zu Wesenheiten kombinieren, denen andere Kombinationen mit dem gleichen Recht gegenüberstehen. (Die Hegelsche Bestimmung des Wesens als Gesetz der Erscheinungen kommt bei Husserl nicht vor.) Dadurch sei die Begründung von Wesenheiten aber nicht objektiv. Husserl glaubt nun in der „phänomenologischen Wesensschau“ eine Methode gefunden zu haben, diesen Mangel zu beseitigen. „Die Welt der natürlichen Einstellung also, deren ich mir als endlos ausgebreitet in Raum und Zeit bewußt bin, aus der mir ein kleiner Teil, umgeben von dem 14 Gedanken ihr neues Fundament. Mit der eidetischen Reduktion kreuzt sich 4. eine „transzendentale Reduktion“, „durch welche die Gegebenheiten im naiven Bewußtsein zu transzendentalen Phänomenen im ‚reinen Bewußtsein’ werden“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 71). Der alleinige Vollzug der transzendentalen Reduktion führt zum „transzendentalen Faktum“ (oder zum „transzendentalen Apriori“), das den Gegenstand der Metaphysik ausmacht. Bestimmung gar nicht aus dem „Erlebnisstrom“ (Husserl) isolieren. Die Wesensschau ist deshalb ein Zirkelschluss. Wenn das Bewusstsein wirklich voraussetzungslos aus dem Komplex der Vorstellungen etwas isolieren wollte, dann müsste es dem ersten Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel folgen: Was einzig unmittelbar gegen ist, sind das Hier und Jetzt, also Raum und Zeit als Formen der Anschauung, aber keine bestimmte Eigenschaft, schon gar kein Wesen. (Vgl. Bensch: Perspektiven) Die Wesensschau soll das Wesen der Dinge begründen – sie setzt aber bereits das Vorhandensein von Wesenheiten voraus – dies müsste aber erst für eine Philosophie, die mit dem Unmittelbaren beginnen will, bewiesen werden. Husserl schließt aus seiner Wesensschau unbegründet auf das Vorhandensein von Wesenheiten. Bei der eidetischen Reduktion ist – gegen die Kritik der Neukantianer (IntuitionismusVorwurf) - sowohl die Anschauung, z. B. in der historischen Einklammerung als Voraussetzung der eidetischen Reduktion, als auch der Verstand (im Vollzug der Akte der Reduktion) wie auch die Spontaneität des Denkens wesentlich mitbeteiligt. „Das Eidos wird nicht einfach ‚gesehen’, sobald ein Seiendes zur originären Gegebenheit gebracht ist, sondern die möglichen Abwandlungen dieses Seienden müssen denkend durchlaufen werden, und das Wesen ist dabei erkennbar als das, was in dieser Möglichkeitsabwandlung invariant bleibt.“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 80 f.) Die moderne positivistische Wissenschaftstheorie lehnt die Epoché ab, weil es ein „zweifacher Weg in die Mystik“ sei. Falsch daran ist die Ablehnung der Differenz von Wesen und Erscheinung, richtig daran ist die Kritik an einer Methode, welche die Spontaneität und Intuition des Denkens als feste methodische Regel aufspreizt – was ein Widerspruch ist zur Spontaneität und Intuition des Denkens, die nur unreglementiert ihrem Begriff nach vorstellbar sind. Was im Resultat des spontanen Denkens wahr ist oder nicht wahr ist, erweist sich erst dadurch, ob es stimmig in eine Theorie sich integrieren lässt oder ob diese Theorie auf rationale Weise modifiziert werden muss – dann ist aber die begriffliche Reflexion entscheidend für die Geltung der Intuition. Letztlich erweist und bewährt sich die Wahrheit einer Theorie in der Praxis, die aus der Theorie folgt (siehe auch 2.2.2.). Kritik der phänomenologischen Methode Diese Methode hat sich als äußerst fruchtbar in der bürgerlichen Philosophie erwiesen (z. B. Scheler, Heidegger, Existenzialismus), auch die Kritik an ihr konnte ihren Erfolg nicht verhindern. Es tat sich ein unendliches neues Arbeitsfeld auf für die, die diese Methode benutzten, um sich den "Sachen selbst" zuzuwenden. Das konnte selbst die folgende Kritik, die im Irrationalismus-Vorwurf mündet, nicht verhindern. Offensichtlich besteht bis heute ein großes Bedürfnis in der bürgerlichen Philosophie, sich den Tatsachen zuzuwenden, ohne sie rational begreifen zu wollen. "Trotz harter Irrationalismusvorwürfe" gewinne die Phänomenologie "wieder an Aktualität" (Fellmann: Phänomenologie, S. 22 f.) Sachliche Resultate hat Husserl nicht geliefert – im Gegensatz zu seinem Schüler Scheler. An dessen Ergebnissen wäre die vorangehende Kritik zu verifizieren. Husserl versucht die Schranken der Subjektivität zu transzendieren (Bulthaup: Metakritik, 1., S. 3). Er will transzendentes Sein immanenzphilosophisch begründen (S. 11). Das aber verfällt der Kantischen Kritik an der Ontologie, in der Kant nachweist, dass Ontologie nur die Denkbestimmungen hypostasiert. Die historische Reduktion auf ein Unmittelbares, z. B. Rot nach Husserl, setzt eine Vorstellung von seinem Wesen immer schon voraus, sonst könnte ich diese 15 ontologischen Grundlage der Gegenstände des Denkens, die Kant als unbekanntes Substrat des Denkens voraussetzt. Entsprechend sind ihm Begriffe wie „Ding an sich“ und „intelligibles Substrat“ nur Anlass zum Spott (vgl. Scheler: Ethik, S. 70). Indem Scheler die Probleme, die darin verborgen liegen, abstrakt negiert, fällt er auf sie herein, wie ich an seiner phänomenologischen Begründung der Werte zeigen werde. In vorweggenommener Kritik wendet Kant gegen die Phänomenologie ein: „Wir können nicht verstehen, als was ein unseren Worten Korrespondierendes in der Anschauung mit sich führt. Wenn die Klagen: Wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, so viel bedeuten sollen, als, wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen; so sind sie ganz unbillig und unvernünftig; denn sie wollen, daß man ohne Sinne doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern sogar der Anschauung und Art nach, gänzlich unterschiedenes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen“ sind. (Kant: Kr.d.r.V., S. B 333 f.) Dieses amenschliche Erkenntnisvermögen unterstellt aber die Phänomenologie, wie ich zeigen werde. Letztlich geht diese Fehldeutung bei Scheler auf seine Abwertung des Geistigen und die daraus folgende Flucht ins Irrationale und Ontologische zurück. Die Abwertung des Geistigen aber ist sozial durch die spätbürgerliche Resignation bedingt. 1.2. Eine Vorbemerkung zu Schelers Kantkritik Die berühmt berüchtigte Kritik Schelers an der Kantischen Philosophie geht schon aus dem Titel seines Hauptwerkes hervor. Diese Kritik zu erörtern würde ein Buch erfordern, das an Umfang über das von Scheler hinausgehen würde. Wenn überhaupt wird in der Erörterung der Schelerschen materialen Wertethik nur auf seine Kantkritik eingegangen, wenn es unbedingt nötig ist zur Erklärung seiner Position. Schelers Kantkritik besteht aus Halbwahrheiten, Schiefheiten, direkten Fehldeutungen bis hin zu polemischen Fälschungen. Es liegt der Verdacht nahe, dass er Kants Moralphilosophie nur aus den Darstellungen des Neukantianismus kennt, sie auf jeden Fall durch dessen Perspektive betrachtet. Dies zeigt sich z. B. in der Umdeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ in eine erzeugende Erkenntnistheorie, die von der Kantischen Voraussetzung, der Reflexion wahrer Wissenschaft völlig abstrahiert (vgl. Wertphilosophie II, S. 13 ff.). Der immer wieder gegen Kant von Scheler gemachte Vorwurf lautet: „Analog wie er in der theoretischen Philosophie die Materie der Anschauung mit einem 'Chaos', einem 'ungeordneten Gewühl' von Empfindungen gleichsetzt, in das erst der 'Verstand' nach den ihm immanenten Funktionsgesetzen, die in aller Erfahrung gelegenen Formen und Ordnungen bringen soll, so – meinte er – seien auch die 'Neigungen' und 'Triebimpulse' zunächst ein Chaos, in das erst der Wille als praktische Vernunft nach einem ihm eigenen Gesetze jene Ordnung bringe, auf die er die Idee des 'Guten' meint zurückführen zu dürfen. “ Diese Auffassung von Kants Philosophie, die Scheler bei den Neukantianern vorfindet, widerspricht aber deren Geist und Buchstaben. So lehrte Kant in seiner „Logik“: „Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt, geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen.“ (Kant: Logik, S. 432) Scheler konfundiert durchgängig die erkennende Leistung der menschlichen Subjektivität, die Kant herausarbeitet, mit der Wie verfälschend Scheler in seiner Kritik an Kants Moralphilosophie vorgeht, zeigt seine Auffassung von der Würde der Person. Er stimmt Kant zu, dass der Person die höchste Würde zuerkannt werden müsse und kritisiert Kant, dass er sie entwürdige, wenn er sie unter ein abstraktes Gesetz, „unter die Herrschaft eines unpersönlichen Nomos“ stelle. (Scheler: Ethik, S. 384) Er verschweigt dabei die Hälfte der Kantischen Argumentation, dass der Mensch nur dem Moralgesetz unterstellt sein darf, dass er sich selbst geben könne. Bei Scheler dagegen untersteht der Mensch den materialen Werten, die ontologisch sind. Er wäre also nach Kant würdelos, auch wenn Schelers materiale Werte keine äußeren Güter sind, von denen er als würdiger auch nach Scheler nicht abhängen dürfe, sondern sich aus dem Sein des Menschen ergeben, ein Sein, das aus der Willkür der Interpretation von 16 Scheler fließt und irrational ist, wie sich ergeben wird. Scheler entwürdigt also den Menschen und wirft dies durch Verfälschung des Kantischen Gedanken seinem Gegner vor. Auch L. W. Beck zeigt in seinem Kommentar von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (Kants Kritik, S. 276), wie Scheler Kant falsch interpretiert: „Seine Kant-Kritik läuft darauf hinaus, daß für Kant das Apriori leer sein muß, weil es rein formal ist. Aber da auch für Scheler ethische Prinzipien a priori sind, so muß es ein materiales Apriori geben, d. h. eine Intuition materialer Wertwesenheiten. Auf diese Weise glaubt Scheler, die 'Subjektivität' und den 'Intellektualismus' der Kantischen Ethik zu vermeiden, die aus Kants angeblichem 'leeren Formalismus' folgen. Aber diese Kritik verfehlt den entscheidenden Punkt in der Kantischen Unterscheidung zwischen dem Objekt des Willens, das immer gegeben ist (Sittengesetz), und dem Objekt des Willens als Bestimmungsgrund des Handelns, das sich nur in einer empirischen praktischen Vernunft findet (die konkreten Zwecke und deren Verwirklichung). In seiner eigenen systematischen Darstellung der Ethik hat Scheler kein rationales Kriterium für materiale Prinzipien, das die Rolle des formalen Prinzips in Kants Theorie übernehmen könnte.“ (Beck: Kants Kritik, S. 276, Einfügungen und Hervorhebung von mir) (S.V). Es geht Scheler um „die Grenze dessen, was in streng apriorischen Wesensideen und Wesenszusammenhängen aufweisbar ist“ (S.V). Seiner „phänomenologischer Fundierung“ der Ethik soll ein „systematischer Charakter“ zukommen, weil die "erforschbaren Sachen der Welt selber einen systematischen Zusammenhang bilden“ (S. VII). Scheler ist in der Wertphilosophie der erste, „bei dem das Wertthema von vornherein im Kontext der Ethik“ steht. (Schnädelbach: Philosophie, S. 225) Scheler will zu einer „konkreten einsichtigen und gleichwohl von allen positiven psychologischen und geschichtlichen Erfahrungen unabhängigen Lehre von den sittlichen Werten, ihrer Rangordnung und den auf dieser Rangordnung beruhenden Normen“ kommen. (S. 2). Damit will er zugleich zu „jedem auf wahrer Einsicht beruhenden Einbau der sittlichen Werte in das Leben des Menschen“ gelangen. Scheler will „etwas Bindendes ausmachen“. (S. 2) Allerdings will Scheler in seiner materialen Wertethik keine „positive Ethik“ entwickeln, also kein System der Werte aufstellen, sondern nur die „Grundarten apriorischer Wesensverhältnisse“ geben (Scheler: Ethik, S. 79). Am Ende seines 2. Vorworts von 1921 schiebt Scheler aber bereits diese strenge Wissenschaftlichkeit beiseite, indem er die Fundierung seiner Werte in einem göttlichen Weltgrund andeutet, eine Frage, „deren Lösung wir nur zu erfahren mögen durch die mögliche Antwort, die unserer Seele in der Einstellung des religiösen Aktes der Weltgrund selbst erteilt.“ (Ethik, S. XII) Dieser Zugang über den religiösen Akt ist aber nur den Eingeweihten oder Gläubigen möglich, mir jedenfalls hat sich der Weltgrund noch nicht offenbart. War sein Anspruch, streng rational vorzugehen, so deutet sein Vorwort bereits an, dass er im Irrationalismus enden wird. Es ist nun zu fragen und immanent kritisch zu prüfen, ob wenigstens seine phänomenologische Begründung der Werte seinem wissenschaftlichen Anspruch standhält. 1. 3. Der Anspruch Max Schelers Max Scheler wendet sich dem Anspruch nach ausdrücklich gegen „Erscheinungen eines sich so nennenden ‚Irrationalismus’“. (Ethik, S. VII) Der Geist seiner Ethik soll der „Geist eines strengen ethischen Absolutismus und Objektivismus“ sein. (S. XI) Scheler spricht von einem „Wertobjektivismus“, der sich gegen die „herkömmlichen relativistischen und subjektivistischen ethischen Lehrmeinungen“ wendet. (S. XI) Sein „Hauptziel der Untersuchung besteht in einer streng wissenschaftlichen und positiven Grundlegung der philosophischen Ethik bezüglich aller wesentlicher für sie in Frage kommender Grundprobleme“ (S. V). Er will eine „Grundlegung, nicht Ausbau der ethischen Disziplin in die Breite des konkreten Lebens“ Diese Kritik der Wertphilosophie Schelers stellt sich nicht die Aufgabe, das Gesamtwerk dieses Autors zu untersuchen. Sie konzentriert sich auf die Wertphilosophie und bezieht andere Aspekte von Schelers Philosophie nur insofern mit ein, als sie die Begründung und 17 die Folgen dieser Wertphilosophie deutlich machen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage: Lassen sich Werte objektiv, auch für andere einsichtig begründen? 2. 2. 1. mit Notwendigkeit gelten kann, so ist sie nach Scheler deshalb bloß formal und nicht „in das Leben des Menschen“ eingebaut, also kaum zu vermitteln. In dieser Kritik drückt sich indirekt die Erfahrung aus, dass die Tendenz zur vernünftig bestimmten Moralität, die Kant postulierte, auch 100 Jahre nach seinem Tod noch keine Fortschritte gemacht hat. Dies liegt aber nicht an der Vernunftmoral Kants, sondern an den antagonistischen Verhältnissen, die Moralität in der Gesellschaft verhindern und immer mal wieder zur Barbarei (wie den 1. Weltkrieg) führen. Ob dem bloß eine andere Art der Ethik abhelfen kann, ist äußerst zweifelhaft. Die Schelersche Wertphilosophie Materiale Werte 2. 1.1. Zur Bestimmung materialer Werte Damit Werte allgemein und notwendig begründet sind, kann eine materiale Wertethik sie nicht direkt von wirklichen Güterdingen, d.h. „Wertdingen“ (Ethik, S. 4), ableiten. Denn wirkliche Güter sind in ständiger Veränderung begriffen und können auch zerstört werden – sie sind also immer auch zufällig. Derart gewonnene materiale Werte wären bloß empirisch und setzten sich zu Recht dem Relativismusvorwurf aus, sodass für eine objektive Ethik, die Scheler anstrebt, nichts gewonnen wäre. Auch Zwecke könnten noch Scheler keine materialen Werte mit allgemeiner Gültigkeit begründen, da Zwecke antizipierte Ursachen eines Gutes sind, das nur erst der Möglichkeit nach, nicht aber wirklich vorhanden ist. Moralisch gut kann nach Scheler nur das Wollen sein, das einen Zweck realisieren will, nicht aber der Zweck selbst (a.a.O., S. 5). Nach der Werttheorie der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus sind Werte etwas Geistiges, die in einer eigenen Sphäre des Geltens angesiedelt sind. Diese Richtung lehnt eine Ideensphäre, die einen eigenen Seinsbereich, der unabhängig vom menschlichen Denken gedeutet wurde, ab, weil dieser nicht rational begründbar ist. Wenn Scheler schon im Titel seiner Ethik materiale Werte anspricht, dann kann er sie weder in einer Geltungssphäre des Denkens noch einfach in der Seinssphäre ansiedeln, die nichts mit dem Menschen zu tun hat, will er nicht als ein Epigone bereits kritisierter oder aus der bürgerlichen Philosophiemode gekommener Konstruktionen gelten. Scheler geht von der Phänomenologie Husserls aus, die angeblich vom denkenden Subjekt unabhängige ontologische Bestimmungen erkennen kann – ein Widerspruch in sich, da erkennen denken ist und ontologische Bestimmungen auf der phänomenologischen Methode beruhen, also einer Denktechnik. Da jedoch jede Philosophie ontologische Prämissen machen muss, wäre dieser Widerspruch hinzunehmen, wenn denn die phänomenologische Methode tatsächlich ontologische Bestimmungen zu erkennen in der Lage wäre. „Indem Kant von den wirklichen Güterdingen bei der Begründung der Ethik abzusehen versucht, und dies mit Recht, meint er ohne weiteres auch von den Werten absehen zu dürfen, die sich in den Gütern darstellen. Dies aber wäre nur dann richtig, wenn die Wertbegriffe, anstatt in selbständigen Phänomenen ihre Erfüllung zu finden, von den Gütern abstrahiert wären; oder aber, wenn sie erst aus den tatsächlichen Wirkungen der Güterdinge auf unsere Zustände von Lust und Unlust ablesbar wären.“ (Ethik, S. 6) Dagegen will Scheler Werte als „selbständige Phänomene“ bestimmen, die sich zwar an den Gütern mittels der phänomenologischen Methode aufweisen lassen, aber die nicht mit der Wirklichkeit der Güter zusammenfallen. Hatte Kant sich dagegen gewehrt, moralische Prinzipien (das Moralgesetz) auf psychologischen oder geschichtlichen Erfahrungen zu gründen oder aus der Wirklichkeit seiner Zeit zu erschließen, weil eine solche Moralbestimmung nicht verallgemeinerbar und heteronom sowie nicht 18 „Wie ich mir ein Rot auch als bloßes extensives Quale z. B. in einer reinen Spektralfarbe zur Gegebenheit bringen kann, ohne es als Belag einer körperlichen Oberfläche, ja nur als Fläche oder als ein Raumartiges überhaupt aufzufassen, so sind mir auch Werte, wie angenehm, reizend, lieblich, aber auch freundlich, vornehm, edel, prinzipiell zugänglich, ohne daß ich sie mir hierbei als Eigenschaften von Dingen oder Menschen vorstelle.“ (Ethik, S. 7) Damit wir „Werte“ erkennen können, müssen wir von dem Komplex von Empfindungen, die mit den jeweiligen Dingen verbunden sind, absehen, um nur den Wert selbst erschauen zu können. So sagt Scheler über ethische Werte: „Daß ein Mensch oder eine Handlung ‚vornehm’ ist oder ‚gemein’, ‚mutig’ oder ‚feige’, ‚rein’ oder ‚schuldig’, ‚gut’ oder ‚böse’, das wird uns nicht erst durch konstante Merkmale an diesen Dingen und Vorgängen, die wir angeben können, gewiß, noch besteht es gar in solchen. Es genügt unter Umständen eine einzige Handlung oder ein einziger Mensch, damit wir in ihm das Wesen dieser Werte erfassen können.“ (Ethik, S. 9) oder abgeleitet oder sonstwie mittels logischer Operationen bestimmt, sondern sie können nur mittels der phänomenologischen Methode zur Anschauung gebracht werden. Im Gegenteil gilt: Dieser anschaulich gegebene Wert ist die Voraussetzung der empirischen Forschung und ihrer denkenden Bewältigung. Werte sind deshalb materiale Qualitäten, die sich an den Gütern (Wertdinge bzw. Menschen, die Träger von Werten sind) zeigen, die aber nicht mit den empirischen Gegenständen zusammenfallen, sondern einen eigenen Bereich des Seins ausmachen. „Aus dem Gesagten geht hervor, daß es echte und wahre Wertqualitäten gibt, die ein eigenes Bereich von Gegenständen darstellen, die ihre besonderen Verhältnisse und Zusammenhänge haben und schon als Wertqualitäten z. B. höher und niedriger usw. sein können. Ist aber dies der Fall, so kann zwischen ihnen auch eine Ordnung und eine Rangordnung obwalten, die vom Dasein einer Güterwelt, in der sie zur Erscheinung kommen, desgleichen von der Bewegung und Veränderung dieser Güterwelt in der Geschichte ganz unabhängig und für deren Erfahrung ‚a priori’ ist.“ (Ethik, S. 10) Allgemein sind Werte materiale Qualitäten, die einer eigenen Seinssphäre angehören. Dies gilt auch für die ethischen Werte. „Alle Werte (auch die Werte ‚gut’ und ‚böse’) sind materiale Qualitäten, die eine bestimmte Ordnung nach ‚hoch’ und ‚nieder zueinander haben; und dies unabhängig von der Seinsform, in die sie eingehen, ob z. B. als pure gegenständliche Qualitäten oder als Glieder von Wertverhalten (z. B. Angenehm- oder Schönsein von etwas) oder als Teilmomente in Gütern, oder als Wert, den ‚ein Ding hat’, vor uns stehen.“ (Ethik, S. 12) Die Schwierigkeit, die Schelerschen Werte zu begreifen, liegt in ihrer Seinsweise. Dass materiale Qualitäten an den Sachdingen und Menschen feststellbar sind, ist eine geläufige Vorstellung. Löst man diese materialen Qualitäten von den Dingen, an denen sie erscheinen, ab, dann sind dies nach der philosophischen Tradition Abstraktionsprodukte, die logisch der Kategorie der Qualität unterstehen. Was aber soll ein eigener Seinsbereich für diese materialen Qualitäten als „Werte“ bedeuten? Scheler sagt: „Auch die Bedeutung des Nicht ein Mensch mit einer guten Eigenschaft ist gut, sondern allein der Wert des Guten, der sich an einem konkreten Menschen zeigt, kann allein gut genannt werden. Werte werden aber nicht aus den Gütern (einschließlich der Menschen) erschlossen oder verallgemeinert 19 Gegenstandes, ‚was’ er in dieser Hinsicht ist (ob z. B. ein Mensch mehr ‚Künstler’ oder ‚Philosoph’ ist) mag beliebig schwanken, ohne daß uns dabei sein Wert mitschwankt. In solchen Fällen offenbart sich sehr klar, wie unabhängig im Sein die Werte von ihren Trägern sind.“ (Ethik, S. 13) Die Ablösbarkeit der Qualitäten von ihren Trägern lässt sich auch zwanglos mit ihrer Geltung als Abstraktionsprodukte oder als erschlossene materiale Qualitäten vereinbaren, die dann als Allgemeinbegriffe oder Ideen (Vernunftbegriffe) unabhängig von den empirischen Gegenständen sind, aus denen sie erschlossen wurden oder für die sie regulativ gelten sollen. Sie müssen deshalb noch nicht als „unabhängig im Sein“, d. h. als ontologische bestimmt werden. würde, nämlich inhaltliche Werte zu besitzen, ohne dem Wertrelativismus zu verfallen, kann kein Argument sein. Denn ein Begründungsbedürfnis ist selbst bereits relativ zum Individuum, seiner Klasse oder zur bürgerlichen Gesellschaft, aber keine objektive Begründung, die Scheler angeblich anstrebt. Seine eigentliche Begründung liefert Scheler unter dem Begriff „Apriorismus“. Das Apriorische ist nicht wie bei Kant das Kategoriale, sondern ein seiendes Apriorisches, ein „Unmittelbares“, eine „intellektuelle Anschauung“, ein „intuitiver Gehalt“ (Ethik, S. 47), der „weder verifiziert noch widerlegt werden“ könne (a.a.O., S. 44). „Phänomenologische Erfahrung in diesem Sinne kann durch zwei Merkmale noch scharf geschieden werden von aller andersartigen Erfahrung, z. B. der Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und der Wissenschaft. Sie allein gibt die Tatsachen ‚selber’ und daher unmittelbar, d. h. nicht vermittelt durch Symbole, Zeichen, Anweisungen irgendwelcher Art. So z. B. ist ein bestimmtes Rot auf die mannigfaltigste Weise zu bestimmen. Z. B. (...) als in einer bestimmten Ordnung, z. B. des Farbenkegels, bestimmt; als Farbe, die ‚ich eben sehe’; als die Farbe dieser Schwingungszahl und Form usw. (...) Die phänomenologische Erfahrung aber ist diejenige, in der die jeweilige Gesamtheit dieser Zeichen, Anweisungen, Bestimmungsarten ihre letzte Erfüllung finden. Sie allein gibt das Rot ‚selbst’. Sie macht aus dem x einen Tatbestand der Anschauung. Sie ist gleichsam die Einlösung aller Wechsel, welche die sonstige ‚Erfahrung’ zieht.“ (Ethik, S. 45) Wie dieser eigene Seinsbereich gedacht werden soll, da nach der traditionellen Ontologie Qualitäten nicht für sich existieren können, sondern nur an Substanzen oder Wesensdingen, bleibt bei Scheler zunächst schleierhaft. Könnte eine Qualität für sich, also substanziell, existieren, dann gäbe es Qualitäten von Qualitäten, aber keine Wesensbestimmungen mehr – das aber will Scheler nicht. Letztlich muss er auf Denkmodelle des Rationalismus und einen Gott zurückgreifen, dessen Modi die Werte sind (siehe unten 2.11.). Im ersten Kapitel seiner materialen Wertethik findet sich keine Begründung, warum Werte nicht Abstraktionsprodukte, sondern ein ontologisches Sein darstellen sollen. Es wird von Scheler immer nur die Differenz von empirischen Qualitäten zum speziellen Begriff der Qualität hervorgehoben. „So wenig die Farbe Blau rot wird, wenn sich eine blaue Kugel rot färbt, so wenig werden die Werte und ihre Ordnung dadurch tangiert, daß sich ihre Träger im Wert ändern. Nahrung bleibt Nahrung, Gift bleibt Gift, welche Körper auch für diese oder jene Organisation vielleicht zugleich giftig und nahrhaft sind. Der Wert der Freundschaft wird nicht angefochten dadurch, daß sich mein Freund als falsch erweist und mich verrät.“ (Ethik, S. 14) Auch die an Platon erinnernde Formulierung, Werte seien „ideale Objekte“ (S. 16), Nicolai Hartmann spricht später vom „idealen Sein“, ist zunächst nur behauptet. Ebenso der Vorteil, den eine materiale Wertethik bieten Die phänomenologische Erfahrung soll also die seiende Bedingung für die Wahrnehmung und die Realitätsbegriffe sein, die aus der Wahrnehmung erschlossen werden. Sie ist die seiende Bedingung der Möglichkeit, überhaupt empirische Wirklichkeitserfahrung zu machen. Scheler geht zurecht davon aus, dass unsere empirisch gewonnenen Begriffe etwas an der extramentalen Welt treffen müssen, wenn sie ein wahres Bewusstsein sein sollen. Ob eine aus empirischen Beobachtungen gebildete Theorie über einen Gegenstandsbereich wahr ist, kann aber letztlich nur ihre Anwendung in der Praxis zeigen (Wertphilosophie II, S. 30 f.). 20 Was aber in diesem Zusammenhang das Resultat der „phänomenologischen Erfahrung“ leisten soll, bleibt schleierhaft, zumal es jenseits der Zeichen und Symbole, also der Sprache, sein soll und das Phänomen „selbst“ geben soll – im Widerspruch zu Scheler Beispielen, die ständig das Phänomen benennen, wie z. B. Rot. Wenn gilt, dass apriorische Seinsgehalte nicht wahrgenommen, sondern nur „aufgewiesen werden“ (Ethik, S. 45) können, dann muss das phänomenologische Verfahren letzte Auskunft geben, ob die materiale Wertethik vor der Vernunft bestehen kann (siehe dazu 2.3. 2.5.). durch Beobachtung und Induktion weder nachweisbar noch widerlegbar? Gibt es materiale ethische Intuitionen?“ (Scheler: Ethik, S. 42 f) Dass er diese Frage mit ja beantwortet, ergibt sich bereits aus der Seitenzahl seiner materialen Wertethik. Der phänomenologisch begründete materiale Wert ist dann das materiale Apriori für die ethischen Urteile, das heißt ihr „Wahrheitskriterium“ (a.a.O., S. 44). Werte sind „unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung“ (a.a.O., S. 272). Sie sind unabhängig von einem „Subjekt“ oder „Ich“ (a.a.O., S. 273). Scheler wendet sich gegen die neukantianische Bestimmung, das noch nicht Erkannte oder für uns Unerkennbare als „Chaos“ (Ethik, S. 78) zu bestimmen. Sondern die Wirklichkeit ist an sich bestimmt. Und damit die Wissenschaften eine ontologische Grundlage hätten, müssten sie auf der phänomenologischen Erfahrung beruhen. Sie „vernimmt“ das materiale Apriori wissenschaftlicher Sätze, selbst der formalsten: „Apriori ‚material’ ist der Inbegriff aller Sätze“ (a.a.O., S. 49), die sich auf formal apriorische Sätze beziehen wie z. B. auf rein logische. Wenn das durch phänomenologische Erfahrung „Erschaute“ die ontologischen Tatsachen sind, die den begrifflichen Konstruktionen der Wirklichkeit allererst zu Grunde liegen, dann gilt dies analog auch für die ethischen Werte. 2. 1.2. Vorläufige Kritik der irrationalen Bestimmung materialer Werte Wenn aber die materialen Werte durch Intuition gewonnen werden, die nicht „durch Beobachtung und Induktion“ nachweisbar noch widerlegbar sind, dann wird die Gestalt der Ethik mysteriös, irrational oder ist eine bloße Behauptung. Scheler weist immer darauf hin, dass bei der empirischen Induktion ein deduktiv gewonnenes Urteil vorausgesetzt ist, ohne dass gar keine Sammlung empirischer Urteile auf eine Frage hin möglich wäre. Dieses vorausgesetzte deduktive Urteil muss aber kein apriorisch Wahres sein, denn dann könnte man sich die empirische Verifikation ersparen, sondern dazu genügt bereits eine Hypothese, die zu überprüfen ist. Mit dieser falschen Deutung der empirischen Induktion, auf die er Wissenschaft (ohne materiales Apriori) reduziert, begründet Scheler dann seine „Wesensschau“ (vgl. Scheler: Ethik, S. 44 f. Und unten unter 2.3.). „Was aber auf theoretischem Gebiete gilt, das gilt in weitgehender Analogie auch für die Werte und das Wollen.“ (Ethik, S. 55) Die „Wertmaterie“ wie gut und böse müsse ethischen Werturteilen, die induktiv empirisch gewonnen werden, immer schon vorausgesetzt sein, „sofern es ethische Wesenserkenntnis überhaupt gibt“ (Scheler: Ethik, S. 40). Scheler kritisiert an Kant, dass eine Moral aus reiner Vernunft bloß konstruiert sei, also keinen Grund im Seienden habe. Dieser sei durch Erkenntnis materialer Werte zu geben, damit sich die Ethik auf einen „Tatsachenkreis“ (a.a.O., S. 42) stützen könne, der durch phänomenologische Erfahrung erkannt werde. Schelers entscheidende Frage lautet: „Gibt es eine materiale Ethik, die gleichwohl 'a priori' ist in dem Sinne, daß Sätze evident sind und Apriorische Gehalte können dementsprechend auch nicht rational begründet, sondern nur „aufgewiesen werden“ durch die „Wesensschau“ (a.a.O., S. 45). Dahinter steht die Ansicht, dass apriorische Begriffe, Prinzipien, Axiome usw. nicht anders einsichtig gemacht werden können (a.a.O., S. 45). Dies ist insofern richtig, als apriorische Bestimmungen in jedem Beweis und jeder Begründung immer schon enthalten sind, sodass ein „Circulus in definiendo“ entsteht, wollte man Apriorisches begründen. Schon vor dem „kritischen Rationalismus“ von 21 Popper und Albert hat Scheler das „Münchhausentrilemma“ angedeutet. Aber dieses Dilemma oder Trilemma ist falsch (vgl. Gaßmann: Logik, S. 244). Prinzipien lassen sich apagogisch (indirekt) begründen aus der Unmöglichkeit ihres kontradiktorischen Gegenteils und sie werden begründet durch die Stimmigkeit der Theorie bzw. Ethik, die ihnen folgt. ontologischen wird dann zusätzlich durch den „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) verschleiert. Materiale Werte haben nicht nur einen apriorischen Gehalt, „der nie zu 'beweisen' oder in irgendeiner Form zu 'deduzieren' ist“, die phänomenologische Erfahrung gebe „die Tatsachen 'selber' und daher unmittelbar“, ihr Resultat sei „asymbolisch“, also nicht sprachlich fassbar, sondern nur in der „Anschauung“ aufzuweisen. Versprachlicht und in Sätzen ausgesprochen müssen sie werden, wenn sie denn überhaupt kommunizierbar sein sollen (a.a.O., S. 58), versprachlicht fällt das Resultat dieser Erfahrung als „Vermeintes“ mit dem „Gegebenen“ zusammen. Es sei ein „intuitiver Gehalt“, der im Apriorischen gegeben ist. Schließlich sind derart gewonnene materiale Werte „absolute“ Tatsachen (a.a.O., S. 47), die allein „einsichtig“ wären. Diese „absoluten Werte“ (a.a.O., S. 95) und ihr Zusammenhang fundieren „als Strukturgesetze und als Formgesetze“ die sinnliche Erfahrung und das ethische Bewusstsein, das sich nach ihnen richtet, weil es in seinem Wesen liege. „Jeden vorgegebenen apriorischen 'Begriff' oder 'Satz', der sich nicht durch eine Tatsache der Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe, weisen wir also ausdrücklich zurück.“ (A.a.O., S. 47) Scheler will dagegen als Phänomenologe materiale Werte als Wertqualitäten aus Gütern und Menschen irrational mittels Wesensschau „zur Anschauung“ bringen und ethische Urteile ontologisch fundieren durch die Wertstruktur des Seins, die als unbezweifelbar ausgegeben wird. Materiale Werte wären ein „unabhängiges Sein“ (Scheler: Ethik, S. 13), das wir durch phänomenologische Erfahrung „zur Gegebenheit bringen“ (a.a.O., S. 7) würden. Als ontologisch bestimmte sind Werte unabhängig von den denkenden Subjekten. Scheler weist explizit die Behauptung zurück, „daß das Sein der Werte ein 'Subjekt' oder 'Ich' voraussetzte, sei es ein empirisches oder ein sogenanntes 'transzendentales Ich', oder ein 'Bewußtsein überhaupt' usw.“ (Scheler: Ethik, S. 273) Als ontologische haben die Werte objektive Geltung, der sich das Individuum beugen müsse. Sie sind in einer Seinssphäre situiert, von historischen Veränderungen ausgenommen, und als Struktur gebende haben sie eine objektive vom Denken unabhängige Rangordnung und Beziehung zueinander. Scheler überbietet noch die problematische phänomenologische Erfahrung Husserls, indem er den Grund der phänomenologischen Erfahrung der materialen Werte im „Fühlen“ ansiedelt. Er entwirft in seiner „Ethik“ einen „Apriorismus des Emotionalen“ (a.a.O., S. 61). Scheler setzt dadurch das Emotionale und das Rationale als zwei parallele Arten der Erkenntnis, wobei jedoch das Emotionale für die Bestimmung der materialen Werte allein die Erkenntnisweise ist, eine Weise die nicht rational, also irrational ist. „So aber sind auch die Wertaxiome ganz unabhängig von den logischen Axiomen und stellen mitnichten bloße 'Anwendungen' jener auf Werte dar. Der reinen Logik steht eine reine Wertlehre zur Seite.“ (A.a.O., S. 60) Da das Emotionale eine eigene Erkenntnisweise sein soll, sieht Scheler seine materiale Wertethik nicht als irrational an. Dass sie dennoch als irrational anzusehen ist, wird die Analyse seiner phänomenologischen Erfahrung im Detail zeigen. „Andererseits darf aber auch nicht gesagt werden, das 'Höhersein' eines Wertes 'bedeute' nur, es sei der Wert, der 'vorgezogen wird'. Denn wenn auch das Höhersein eines Wertes 'im' Vorziehen gegeben ist, so ist dieses Höhersein trotzdem eine im Wesen der betreffenden Werte gelegene Relation. Darum ist die 'Rangordnung der Werte' selbst etwas absolut Invariables, während die 'Vorzugsregeln' in der Geschichte noch prinzipiell variabel sind (eine Variation, die von der Erfahrung neuer Werte noch sehr verschieden ist). (Scheler: Ethik, S. 85 f.) Tatsächlich findet hier eine Hypostase geistiger Bestimmungen statt, deren wahrer Grund dadurch nicht mehr erkennbar ist. Diese Hypostase subjektiver Wertsetzungen zu 22 rationale und damit notwendig kritische Begreifen einer antagonistischen Wirklichkeit hat die bürgerliche Philosophie aus ihrem Bedürfnis heraus nach ideologischer Verbrämung der gesellschaftlichen Antagonismen Gedankengebäude entwickelt, die hinter den Stand der Vermittlung von denkendem Subjekt und Objektivität zurückfallen. (Vgl. hierzu insgesamt Haag: Ontologie, passim, besonders S. 33 f.) 2. 2. Zur Ontologie 2. 2.1. Einleitung: Ontologie überhaupt Der auf Aristoteles zurückgehende Realismus hatte versucht, die Struktur des Seienden im Denken zu reproduzieren. Der in der Welt inkarnierte Logos sollte im menschlichen Bewusstsein abgebildet werden: universalia sunt in rem. Indem er aber bloße Abstraktionsprodukte des Denkens zum Wesen der Dinge erklärte, blieb dieser Realismus an der Oberfläche der seienden Dinge. Wird wie im späten Mittelalter die Vorherrschaft des abstrakt Allgemeinen durch die Aufwertung individueller Tätigkeiten, Produktionen und Entdeckungen in der Ökonomie, Gesellschaft und auch der Kunst problematisch, dann ist dies ein Antrieb aus den Aporien des Abbildrealismus auf das denkende Subjekt zu reflektieren. Resultat dieser Reflexion war die Erkenntnis der konstitutiven Leistung des menschlichen Denkens bei der Erkenntnis im Nominalismus. Seither kann nichts mehr als objektiv und wahr behauptet werden, was nicht durch Denken vermittelt ist. Der Nominalismus verfiel aber in das andere Extrem der Einseitigkeit, indem er das menschliche Denken als allein konstitutiv für die Bestimmung der Dinge und ihr Wesen ausgab, während sich die Wirklichkeit zu bloß singulären Entitäten verflüchtigte, die nichts Allgemeines mehr enthalten sollten: universalia sunt nomina. Die Entwicklung der Philosophie von Descartes bis Hegel ist das Bestreben, aus dem Subjekt heraus die objektive Allgemeinheit der Erkenntnisse zu begründen. Aber erst auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Philosophie bei Hegel ist es gelungen, sowohl die Objektivität wie die Subjektivität dialektisch so miteinander zu vermitteln, dass keine auf die andere reduziert wird, so dass die systematische Entwicklung der Begriffe der Struktur der Objektivität entspricht – von Hegels idealistischen Übertreibungen einmal abgesehen. Die Marxsche Kapitalanalyse ist dann als Anwendung der Dialektik auf einen konkreten Gegenstandsbereich zu verstehen, um dessen Wesen zu begreifen, aber auch dessen Widersprüche und das Nichtidentische dieser Ökonomie zu bestimmen. Gegen dieses So vermischt Lotzes Erfindung der philosophischen Werte ontologische, theologische und gesellschaftstheoretische Gedanken eklektizistisch zu dem, was seiner durch Gratifikation und gesellschaftliche Auswahl bestimmten Meinung nach das theoretische Bedürfnis seiner Zeit erfordere. Eine Philosophie aber, die nach einem gesellschaftlichen Bedürfnis ausgerichtet ist, produziert in einer antagonistischen Gesellschaft, in der die herrschenden Gedanken die Gedanken der herrschenden Klasse sind, nicht Wahrheiten, sondern Ideologie. Sie ist dadurch trotz des Geredes von ontologischen Bestimmungen krasser Nominalismus, willkürliches Denken. (Vgl. Wertphilosophie I, S. 23 f.) Der Neukantianismus von Windelband und vor allem Rickert hat sich dagegen aller ontologischen Begründung enthalten und aus einer reinen Subjektphilosophie heraus „Werte“ begründet. Auch hier konnte nur die Willkür der letzte Grund für die Bestimmungen der Werte sein, eine Willkür, die durch die gesellschaftlichen Mechanismen zwangsläufig zu ideologischen Wertsetzungen führen musste. (Vgl. Wertphilosophie II, S. 20 ff. und 34 f.) Dieser Willkür will Scheler entgehen, aber nicht dadurch, dass er auf den avancierten Stand der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität argumentiert, sondern indem er seine Werte ontologisch (d. h. subjektunabhängig) begründen will. Ontologisch heißt aber in seiner auf Husserl fußenden und abgewandelten Phänomenologie nicht die Bestimmung der Objektivität aus der Dialektik von Subjekt und Objekt heraus, sondern durch Ausschaltung und „Ausklammerung“ der Subjektivität des Denkens zu eruieren. Damit fällt aber das Schelersche Denken hinter die Einsicht des 23 Nominalismus in die konstitutive Leistung der menschlichen Subjektivität bei der Erkenntnis der Welt zurück. So wenig ich mir ein materielles Ding in den Kopf pressen kann, um einen direkten Zugang (intentio recta) zu ihm zu haben, so wenig kann ich eine Bestimmung über das Seiende denken und aussprechen, die nicht zugleich auch durch Denken vermittelt ist. Dies ist nun im Einzelnen zu zeigen. Scheler diesen Beweis nicht führt, sondern stattdessen von seinem Leser die Aufgabe seines Denkens abfordert, will der ihm folgen. Am bloß behauptenden und deshalb autoritären Gestus seines Philosophierens wird die Schwäche der Begründung bereits offensichtlich. Der behauptete Objektivismus, der Schelers Ethik fundieren soll, entpuppt sich als reiner Subjektivismus. Scheler kritisiert scharf den Nominalismus (vgl. Ethik, S. 171) – da sich aber seine als realistisch behaupteten materialen Werte als bloße Setzungen des Individuums Scheler erweisen werden, wird er selbst zum – jetzt allerdings selbstbewusstlosen – Nominalisten. Dieses in der Methode implizierte falsche Bewusstsein ist offen für jede Art der Begriffskonstruktion, es eignet sich deshalb vorzüglich zur Produktion von Ideologie. Als bürgerliche Ideologie entpuppen sich denn auch die Sachanalysen etwa zum I. Weltkrieg oder zur Ökonomie seiner Zeit (vgl. unten 2.9.5.). 2. 2.2. Kritik an Schelers Ontologie Scheler kritisiert an Kant, dass dessen Apriorismus bloß im Subjekt angesiedelt ist. Er sei eine „pure konstruktive Erklärung des apriorischen Gehalts in den Gegenständen der Erfahrung“ (Ethik, S. 62). Im Widerspruch zu den Kant-Texten (vgl. Kant: Logik, S. 432), aber mit den Augen des Neukantianismus sagt er, die extramentale Sphäre werde angeblich von Kant als „Chaos“ (z. B. Scheler: Ethik, S. 62, 63) angesehen. Ein bloßes Chaos kann aber in uns keine begrifflichen Erkenntnisse ermöglichen. Deshalb bedürfe es einer ontologischen Fundierung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Zugang zum ontologischen, d. h. Subjekt unabhängigen, Bereich des Seienden. Ich habe die Kantische Kritik an jeder Art Ontologie bereits gegen Lotze angeführt (vgl. Wertphilosophie I, S. 23 f.). Auch Scheler verfällt dieser Kritik, denn was er das „Gegebene“, die „Wesenheit“, „Washeit“ usw. nennt, kann er doch nur in der Sprache, also mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen ausdrücken, die den Kategorien des Verstandes unterstehen, also kategorial bestimmt sind, also bestenfalls gattungssubjektive Deutungen der objektiven Realität sind, d. h. wissenschaftliche Resultate ergeben. Was diese „Gegebenheiten“ sonst noch sind, bleibt im Schacht von Schelers individuellem Bewusstsein stecken. Es ist an seiner Werteschau zu zeigen, dass die so gewonnenen Werte keine seienden sind, keine ontologischen Aussagen über die objektive Realität bzw. das extramentale Sein bzw. das „ideale Sein“, sondern historische Werte einer historischen Herrschaftsformation. Richtig an diesem Gedanken von Scheler ist, dass die menschlichen Bestimmungen immer auch etwas an der ontologischen Sphäre treffen müssen. Aber von ontologischen Wesenheiten zu sprechen, ist ein Rückfall in den aristotelischen Realismus, auch wenn die Schelerschen Wesenheiten nur ein ontologisches Apriori zu den wissenschaftlichen Resultaten sein sollen. Wie im aristotelischen Realismus so werden auch bei Scheler nur Erscheinungen zur Wesenheit erklärt und dann hypostasiert zu ontologischen Gegebenheiten. Die Folge dieser angeblichen Ansicht von Kant, dass die ontologische Sphäre nur eine chaotische Mannigfaltigkeit wäre, nicht aber der ontologische Grund unserer Weltauffassung, sei die Haltung „des prinzipiellen Mißtrauens“ gegenüber den empirischen Menschen und der Welt als Ganzer. Nach Karl Heinz Haag ist die entscheidende Frage an die Ontologie: Was haben die Phänomene, die als ontologische behauptet werden, mit der extramentalen Welt zu tun? (Vgl. Haag: Ontologie, S. 7) Seiendes, wie der „materiale Wert“ bei Scheler, ist zunächst nur ein Begriff, also eine Setzung des erkennenden Subjekts. Ob ihm auch unabhängig von dieser Setzung ein Bestehen zukommt, wäre zu beweisen. Ich werde aber unten zeigen, dass 24 „Diese ‚Haltung’ kann ich nur mit den Worten einer ganz ursprünglichen ‚Feindseligkeit’ zu oder auch ‚Mißtrauen’ in alles ‚Gegebene’ als solches, Angst und Furcht vor ihm als dem ’Chaos’ bezeichnen. ‚Die Welt da draußen und die Natur da drinnen’ – das ist, auf Worte gebracht, Kants Haltung gegen die Welt, und die ‚Natur’ ist das, was zu formen, zu organisieren, was zu ‚beherrschen’ ist – sie ist ‚das Feindliche’, das ‚Chaos’ usw. Also das Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie“. (Ethik, S. 63 f.) theoretischer Begriff in der Philosophie, der in einem systematischen Zusammenhang mit einer Gesellschaftstheorie stehen muss, wenn er nicht widersprüchlich sein will. Das entscheidende Kriterium für die Rationalität einer Gesellschaftstheorie sind ihre expliziten oder impliziten ethischen Prämissen. Werden die bereits falsch und widersprüchlich konstruiert, dann gibt es überhaupt kein Kriterium, nach denen tatsächliche Gesellschaften und ihre Praxis zu beurteilen sind. Der Schelersche Irrationalismus seiner Wertephilosophie, der sich ergeben hat, ist deshalb ein Aspekt der „Zerstörung der Vernunft“ (Lukács), die geistig den Faschismus ermöglicht hat, unter dem zumindest Schelers Werk und Erbe selbst gelitten hat. (Er selbst starb bereits 1928 und war unter der Herrschaft des Faschismus verpönt.) Das Resultat der Liebe zur Welt wäre die Erkenntnis der Wesenheiten des Seins. „Wie die Wesenheiten, so sind auch die Zusammenhänge zwischen ihnen ‚gegeben’ und nicht durch den ‚Verstand’ hervorgebracht oder ‚erzeugt’. Sie werden erschaut und nicht ‚gemacht’. Sie sind ursprüngliche Sachzusammenhänge, nicht Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der Akte sind, die sie erfassen. ‚Apriorisch’ sind sie, weil sie in den Wesenheiten – nicht in den Dingen und Gütern – gründen, nicht aber, weil sie durch den ‚Verstand’ oder die ‚Vernunft’ erzeugt sind. Was der das Universum durchziehende Logos sei, das wird erst durch sie faßbar.“ (Ethik, S. 64) 2. 3. Phänomenologische Anschauung/Wesensschau Was „Wesensschau“ oder „phänomenologische Erfahrung“ und das ontologische Apriori ist, lässt sich am besten durch ein längeres Zitat aus seiner "Ethik" darstellen. Diese Darstellung ist noch nicht die Wesensschau von „materialen Werten“, sondern zunächst nur die Darstellung der allgemeinen Wesensschau, wie sie auf Husserl zurückgeht und wie sie dann analog auch für das „Fühlen der Werte“ anzuwenden sei. Ob der Philosoph und Wissenschaftler dabei Hass gegenüber dem Gegebenen oder Liebe zu ihm empfindet, ist eine außerwissenschaftliche Problemstellung, wie auch Scheler weiß (vgl. Kosmos, S. 38). Erkennt man aber mit Kant die volle Leistung der menschlichen Subjektivität bei der wissenschaftlichen Erkenntnis an, dann gewinnt man eine geistige Autonomie gegenüber den Erkenntnissen der Realität, die allererst die Voraussetzung für Kritik am Gegebenen oder dessen Affirmation sein kann. Schelers apriorisches Bekenntnis der „Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe“ an diese Welt enthält in sich bereits das ideologische Moment, die bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse als Teil der Welt zu affirmieren (siehe unten 2.13.). „Als ‚Apriori’ bezeichnen wir alle jene idealen Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter Absehen von jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar wären, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen. Also von jeder Art Setzung ist abzusehen. Sowohl von der Setzung: ‚Wirklich’ wie ‚nichtwirklich’, ‚Schein’ oder ‚wirklich’ usw. Auch wo wir uns z. B. täuschen in der Annahme, es sei etwas lebendig, da muß im Gehalte der Täuschung uns doch das anschauliche Wesen des ‚Lebens’ gegeben sein. Nennen wir den Gehalt einer solchen ‚Anschauung’ ein ‚Phänomen’, Letztlich muss sich die Wahrheit einer Theorie in der Praxis (nicht einfach im Erfolg!) zeigen. Aber „Praxis“ ist selbst ein immanent 25 so hat das ‚Phänomen’ also mit ‚Erscheinung’ (eines Realen) oder mit ‚Schein’ nicht das mindeste zu tun. Anschauung aber solcher Art ist ‚Wesensschau’ oder auch – wie wir sagen wollen – ‚phänomenologische Anschauung’ oder ‚phänomenologische Erfahrung’. Das ‚Was’, das sie gibt, kann nicht mehr oder weniger gegeben sein - so wie wir einen Gegenstand genauer und weniger genau etwa ‚beobachten’ können, oder bald diese, bald jene Züge seiner – sondern er ist entweder ‚erschaut’ und damit ‚selbst’ gegeben (restlos und ohne Abzug, weder durch ein ‚Bild’ oder ein ‚Symbol’ hindurch) oder es ist nicht ‚erschaut’ und damit nicht gegeben. Eine Wesenheit oder Washeit ist hierbei als solche weder ein Allgemeines noch ein Individuelles. Das Wesen rot z. B. ist sowohl im Allgemeinbegriff rot, wie in jeder wahrnehmbaren Nuance dieser Farbe mitgegeben. Erst die Beziehung auf die Gegenstände, in denen eine Wesenheit in die Erscheinung tritt, bringt den Unterschied ihrer allgemeinen oder individuellen Bedeutung hervor. So wird eine Wesenheit ‚allgemein’, wenn sie identisch an einer Mehrheit sonst verschiedener Gegenstände in die Erscheinung tritt in der Form: alles, was dieses Wesen ‚hat’ oder ‚trägt’. Sie kann aber auch das Wesen eines Individuums ausmachen, ohne dadurch aufzuhören, eine Wesenheit zu sein.“ (Scheler: Ethik, S. 43) Hypothese (will man nicht in ein trial and error der Alchemisten zurückfallen (vgl. Bulthaup: Soziale Funktion, S. 68)) aber ein objektives Apriori, sogar noch ontologisch aufgebläht und als unwiderlegbar behauptet. Nach Scheler gilt: Dieses ontologische Apriori „kann durch diese Art von ‚Erfahrung’ (nämlich die empirische, BG) weder verifiziert noch widerlegt werden.“ (Scheler: Ethik, S. 44) Dies Annahme eines durch Wesensschau gewonnenen ontologischen Apriori ist zunächst nur eine Behauptung, der eine kontradiktorische Gegenbehauptung mit demselben Recht gegenüberstünde, d. h. bloße dogmatische Behauptungen widersprechen sich selbst. Daraus folgt, dass die bloß behauptete Wesenheit Produkt einer willkürlichen Setzung ist, entgegen ihrem Anspruch, ohne Setzung zu sein. In einer auf Tauschwert und Kapital basierenden Ökonomie ist jedes ursprüngliche "Phänomen" zunächst einmal bloßer Schein (vgl. Marx: Kapital, S. 86 f.). Die Anschauung der Phänomene, wenn sie überhaupt etwas erfasst, gelangt nur zum Schein der Wirklichkeit. Schein ist nicht nichts, sondern die Oberfläche der Dinge (wie z. B. der Sonnenaufgang, während sich in Wirklichkeit die Erde dreht), zu dem Wesen der Dinge kann ein Analytiker, der im Schein befangen ist, nicht vordringen. Die wahre Wirklichkeit ist nur durch die Anstrengung des Begriffs zu fassen, dessen stringent entwickelte Genesis die notwendige Bedingung seiner Wahrheit ist. Die Wirklichkeit, die nicht Schein ist, lässt sich also nur durch das begreifende Subjekt hindurch erkennen. Insofern ist die phänomenologische Methode eine Produktion von Schein und enthält in sich bereits die Anlage zur Produktion von Ideologien, denn Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung beruht auf diesem realen Schein bzw. geht aus ihm hervor. Zur Kritik der Wesensschau Scheler sagt: Wenn ich etwas empirisch beobachte, dann muss ich immer schon den „vorgegebenen Gehalt“ „erschaut“ haben, um der Beobachtung die gewünschte und vorausgesetzte Richtung zu geben“ (a.a.O., S. 44). Ich muss also vor der Beobachtung z. B. wissen, was „Rot“ ist, um es an den äußeren Gegenständen wahrnehmen zu können. Darin steckt die richtige Einsicht, dass jede Induktion immer schon eine Deduktion, die Sammlung empirischer Beobachtungen einen gewussten Gegenstand, der durch die Beobachtung bestätigt werden soll, voraussetzt. Dies vorausgesetzte Urteil oder der vorausgesetzte Gegenstand, der meiner empirischen Beobachtung die Richtung weist, ist in der Wissenschaft aber zunächst nur eine Hypothese, die durch die empirische Beobachtung bestätigt oder widerlegt wird. Bei Scheler ist diese notwendig anzunehmende Schaut man sich Beispiele an für die Wesensschau, dann wird sofort deutlich, dass deren Resultate widerlegbar sind: Wie Husserl will Scheler die Wesensschau am „Rot“ erläutern. Es soll die ontologische Grundlage für den Allgemeinbegriff ‚Rot’ wie für jede wahrnehmbare Nuance dieser Farbe sein (siehe oben). Das „Wesen rot“ soll als Gegebenes die Grundlage der Erscheinung 26 Rot und ihrer Nuancen sein. Zunächst kann man fragen, warum nicht ein rötliches Violett oder ein Rotbraunes Resultat der „Wesensschau“ ist. Mit anderen Worten, welchen Teil der Erscheinungen ich in der Wesensschau auswähle durch Reduktion, ist völlig willkürlich. Im Farbkreis jedenfalls ist keine einzige Farbe ausgezeichnet als Wesensgrundlage der anderen Farben in ihrer Nähe. So benutzt z. B. mein Drucker Magenta, um mit anderen Farben ein bestimmtes Rot mit dieser oder jener Schattierung zu erzeugen. 2. 4. Begründung des phänomenologischen Wertfühlens Weiter soll Rot ein „ideales Sein“ darstellen, gemeint ist ein extramentales, kein inneres psychisches Sein. Das ist aber schlicht falsch. Schließt man wie Locke von den wahrnehmbaren (sekundären) Qualitäten wie „rot“ auf das dieser Qualität ontologisch Zugrundeliegende, Locke nennt dies die primären Qualitäten, dann ist „rot“ nach dem heutigen Erkenntnisstand der Physik Licht, das aus Masse (Photonen) und Bewegung (Frequenz) besteht. Die Wirkung einer bestimmten Lichtfrequenz in unserer Wahrnehmung erzeugt in uns Rot. Was die Wesensschau zum Resultat hat, ist also nichts extramental Seiendes, sondern bestenfalls psychisches Sein, das lediglich in unserem Bewusstsein ist, eine gattungssubjektive Empfindung. (Es ist z. B. experimentell erwiesen, dass Rehe bestimmte Nuancen des Rot nicht sehen, sondern nur Grautöne wahrnehmen. Die Jäger nutzen dies aus, indem sie signalfarbene Kleidung tragen, um sich vor den Kugeln ihrer Jagdkameraden zu schützen, die von den Rehen aber nur als Grauton wahrgenommen werden kann.) Auch für Scheler ist die „phänomenologische Reduktion“ ein „Akt der Ideierung“, deren Ergebnis die Erkenntnis von apriorischen Bestimmungen ist, die den Einzelwissenschaften zur Grundlage dienen würden: „Für die positiven Wissenschaften, deren Feld durch die Prüfbarkeit ihrer reduzierten Sätze vermittels Beobachtung und Messung streng umgrenzt ist, bilden sie die obersten Voraussetzungen, die Axiome, die in den Grenzen der allgemeinsten Gegenstandslogik für alle Gebiete je besondere Gruppen ausmachen und die Richtung einer fruchtbaren Beobachtung, Induktion und Deduktion durch Intelligenz und diskursives Denken allererst weisen.“ (Kosmos, S. 51) Das Grundmerkmal des menschlichen Geistes, die „Trennung von Wesen und Dasein“ (a.a.O., S. 52), setzt „Distanz“ zu den Gegenständen und Sachverhalten voraus, die bei einer Werterkenntnis aber nicht entscheidend sein kann, denn „Werte“ seien „nur im Fühlen gegeben“ (Scheler: Ethik, S. 68). Bei der Erkenntnis ethischer Werte, die ebenfalls ein Apriori unserer tatsächlichen Wertungen seien, reiche der rationale Zugang nicht mehr aus, eine emotionale Epoché wird nach Scheler notwendig. Man müsse sich auf die "alogischapriorische Seite des Geistes" beziehen, die "Ordre du cœr oder logique du cœr " (Scheler: Ethik, S. 59) Scheler übernimmt die Methode der eidetischen Reduktion von Husserl aber nur, um sie charakteristisch abzuwandeln. Die Husserlsche „phänomenologische Reduktion“, um das Wesen der Gegenstände und Sachverhalte zu schauen, soll eine rationale Methode sein. Also ist das Resultat der Wesensschau „Rot“ bei Husserl und Scheler weder eine extramentale ontologische Wesenheit „Rot“ noch gehört es zum Wesen der menschlichen Psyche, wenn seine Auswahl aus dem Farbkreis bloß willkürlich ist. Angesichts dieser Kritik wird die Aufblähung der Wesensschau und ihrer Resultate zu apriori wahren und nicht widerlegbaren zur Hochstapelei. Alles und jedes ist von diesem irrationalen Grund ableitbar: die ideale philosophische Basis für Ideologie. Scheler kritisiert deshalb Husserls Methode. Die Abstraktion von der sinnlichen Wahrnehmung meint auch "Edmund Husserl, wenn er die Ideenerkenntnis an eine ‚phänomenologische Reduktion’ knüpft, d.h. eine Durchstreichung oder ‚Einklammerung’ des zufälligen Daseinskoeffizienten der Weltdinge knüpft, um ihre ‚essentia’ zu gewinnen. 27 Freilich kann ich der Theorie dieser Reduktion bei Husserl im einzelnen nicht zustimmen, wohl aber zugeben, daß in ihr der Akt gemeint ist, der den menschlichen Geist recht eigentlich definiert.“ (Kosmos, S. 53) Die Person, die sich bei Scheler als Zentrum geistiger Akte (a.aO., S. 38, 43) bestimmt, hat eine emotive und voluntative Seite. Deshalb kann man Werte, wenn sie denn für das Subjekt eine Bedeutung haben sollen, nicht rein auf Sachen bezogen erkennen, wie es die Husserlsche Methode nahelegen würde. Dazu ist ein „Fühlen“ der Werte notwendig. Da die Person „nur in ihren Akten und durch sie“ ist (a.a.O., S. 48), nicht aber etwas Substanzielles, kann der Geist auch nicht „selbst irgendwelche Triebenergien erzeugen oder aufheben, vergrößern oder verkleinern. Er vermag nur je verschiedene Triebgestalten hervorzurufen, die eben das den Organismus handelnd vollziehen lassen, was er, der Geist, ‚will’.“ (A.a.O., S. 61) der seelischen Geschehnisse geworden ist, keineswegs nur das Gehirn. Von einer so äußerlichen Zusammenbindung einer Seelensubstanz mit einer Körpersubstanz, wie sie Descartes annahm, kann gar nicht mehr ernstlich die Rede sein.“ (Kosmos, S. 73) Denkt man in der Descartesischen Dichotomie, dann übersieht man „auf der psychischen Seite die Selbständigkeit und (sicher nachgewiesene) Priorität des gesamten Trieb- und Affektlebens vor allen ‚bewußten’ Vorstellungsbildern“ (S. 73). Da nach Scheler der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist (dieser Begriff hat Karriere gemacht), der „physiologische und der psychische Lebensprozeß“ sei „ontologisch streng identisch“ (S. 73), müsse es auch eine emotionale Erkenntnisweise geben. "Es ist nämlich unser ganzes geistiges Leben - nicht bloß das gegenständliche Erkennen und Denken im Sinne der Seinserkenntnis -, das 'reine' - von der Tatsache der menschlichen Organisation ihrem Wesen und Gehalt nach unabhängige - Akte und Aktgesetze hat. Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom 'Denken' erborgt, und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat." (Scheler: Ethik, S. 59) Der Geist kann deshalb auch nur „den lauernden Trieben ideen- und wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie Köder vor Augen“ stellen, „um die Triebimpulse so zu koordinieren, daß sie das geistgesetzte Willensprojekt ausführen, in Wirklichkeit überführen“ (a.a.O., S. 62). Wenn dem so ist, dann müssen in den Trieben bereits die Werte vorhanden sein, die der Geist realisieren will; er muss sie also aus den Trieben, dem Bereich des Emotionalen erkennen - und das geht nach Schelers phänomenologischen Methode nur im Akt des Wertfühlens. Die „rationale“ Erfassung von Werten durch die Husserlsche ‚phänomenologische Reduktion“ und ‚intellektuelle Anschauung’ ist nicht möglich. Nur die Werte können das Individuum steuern, die bereits in seiner Triebstruktur angelegt sind. Der Geist oder der geistige Wille oder das Aktzentrum, d. i. die Person, kann den Menschen mit seinen Gefühlen, Trieben usw. nur zu den Werten lenken, „mit denen der Mensch sich je ‚identifiziert’“ (Kosmos, S. 64) Also müssen sie im Fühlen bereits vorhanden sein. Angelika Sander schreibt über Schelers Deutung des Satzes Le cœr a ses raisons (mit dem Herzen denken) von Pascal: „Für Scheler liegt die Betonung der Aussage darauf, daß das Herz seine eigene Vernunft besitzt. (...) Dementsprechend haben Gefühle einen eigenständigen, unableitbaren Wirklichkeitsbezug. Sie bilden eine eigene Erfahrungsart und sind weder als Trübungen des Verstandes noch als bloße psychische Niederschläge von Sinnesreizen zu verstehen. Das Fühlen besitzt eine Eigengesetzlichkeit, die von einer spezifischen Logik geprägt ist. (...) Obwohl das Gefühl nicht logisch ist, ist es doch nicht irrational und chaotisch. Das Fühlen besitzt Intentionalität, Evidenz und eine – wenngleich ‚alogische’ – apriorische, dem theoretischen Erkennen gleichwertige Gesetzlichkeit. Als eigenständige Erfahrungsart hat das Gefühl seinen eigenen spezifischen Objektbereich, für den der Verstand ‚blind’ ist. Auch die Gesetzlichkeit dieses Bereichs ist nur dem Gefühl zugänglich.“ (Sander: Einführung, S. 44 f.) Da Ein weiterer Grund für die Werteschau durch Fühlen liegt in Schelers Unterscheidung von „Wachbewußtsein“ und den unbewussten Teilen der Seele. „Es ist der ganze Körper, der heute wieder das physiologische Parallelfeld 28 jedoch das Fühlen immer nur das von je einzelnen Individuen sein kann, wäre eine solches Fühlen oder eine solche Art der Erfahrung gar nicht für andere verstehbar, es sei denn das Gefühl wird in Sprache und damit rational dargestellt, dem widerspricht aber die Aussage, dass der Verstand blind sei für das Fühlen. Wäre dem so, dann wüssten wir gar nichts davon. Bei Sanders kommt hinzu, dass sie die Eigenständigkeit des Fühlens betonen kann, weil sie wie Scheler von einer festen Bestimmung des Menschen ausgeht, die letztlich nur durch einen Gott begründbar ist. Diese Nähe zur Theologie, die sie mit Scheler verbindet, veranlasst sie anscheinend zu dem folgenden Lob: „Indem Scheler an der prinzipiellen Verschiedenheit von Fühlen und Denken festhält, gelingt es ihm, die Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit der jeweiligen Erkenntnisweisen tatsächlich zu bewahren.“ (Sander: Einführung, S. 44 f.) sondern die Unmittelbarkeit im Gegebensein des Gegenstandes meinen.“ (Ethik, S. 166) Die Methode Schelers, materiale ethische Werte zu bestimmen, besteht darin, sie aus dem Fühlen zu erkennen. „Werte sind uns zunächst im Fühlen gegeben.“ (Scheler: Ethik, S. 30) Das Fühlen reicht in unser Bewusstsein hinein. Im phänomenologischen Sinn ist der „Empfindungsinhalt“ das, „was unmittelbar als ein Inhalt eines ‚Empfindens’ gegeben ist“ (a.a.O., S. 53), er zählt dazu z. B. Hunger, Durst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit, Organempfinden (S. 53). „Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, Wollen (...)“ (Ethik, S. 59). Scheler veranschaulicht das Gefühl als „Erkenntnisgrund“ an einer Beobachtung bei Kindern: „(…) ein Kind spürt der Mutter Güte und Sorge, ohne irgendwie die Idee des Guten erfasst zu haben und mit zu erfassen, - sei es auch so vag wie immer. Und wie häufig fühlen wir an einem Menschen, der unser Freund ist, eine schöne sittliche Qualität, während wir in der Bedeutungssphäre bei unserer alten negativen Beurteilung seiner bleiben – so dass die Erscheinung jener schönen Qualität, ohne unsere intellektuelle Überzeugung über ihn zu ändern, vorüberflieht. Gegenüber der Sphäre der Nur-Bedeutungen sind also die sittlichen Tatsachen Tatsachen der materialen Anschauung, und zwar einer nicht sinnlichen Anschauung, sofern wir mit ‚Anschauung’ nicht notwendig die Bildhaftigkeit des Inhalts, Bei der Wesensschau unterscheidet Scheler drei Arten: Es gäbe wie bei der phänomenologischen Anschauung von bildlichen Phänomenen wie z. B. „Rot“ einen Apriorismus, und zwar einen „Apriorismus des Emotionalen“ (Ethik, S. 61). Auch dieser hätte „Evidenz“, hätte eine „Exaktheit der phänomenologischen Feststellung“ (a.a.O., S. 61) und sei „evident gegeben“ (S. 66). Die phänomenologische Methode müsse man in weitgehender Analogie (S. 55) zu den Sachgehalten auch auf die Empfindungsinhalte anwenden. „Nicht anders, wie wir denselben Ton zu hören und dieselbe Farbe zu sehen meinen, und auf sie hinweisend über sie urteilen, genau so meinen wir dieselben Werte zu fühlen und nach ihnen die Sachen zu beurteilen, wenn wir von der Güte, Tüchtigkeit eines Menschen, dem schönen Charakter einer Handlungsweise reden.“ (Ethik, S. 175) 1. Die Wesensschau, die auf Qualitäten und Sachgehalte geht. (Noema) 2. Die Wesensschau, die auf Akte geht (Noesis), und 3. Die Wesensschau, die auf Wesenszusammenhänge zwischen Akten und Sachwesenheiten gehe. Zur letzteren gehöre das Wertfühlen. (Ethik, S. 68). Im Betrachten guter Dinge, also Dinge, an denen Werte haften, blitzt dieser Wert durch unser Fühlen auf, er tut sich uns im Fühlen kund. Da Fühlen ein Akt ist, der sich auf Gegenstände richtet, denen Werte anhaften („Güter“), können Werte auch nur im Akt des Fühlens dieser Güter „aufblitzen“. Wie es auch nicht darauf ankomme, ob das Rot an wirklichen Gegenständen erfahren wird oder bloß erahnt oder geträumt ist, so komme es auch für das Wertfühlen nicht auf die Klarheit des Gefühlten an, solange nur überhaupt der Wert vorhanden ist. „Der mit der Werterfahrung verbundene Gefühlszustand des Ich und sein Ausdruck kann bis zur Zone der Indifferenz sich vermindern, ohne daß hierdurch der Wert oder auch nur der Grad des Auffassens und Einlebens in den Wert sich mitvermindert; so vermögen wir einen Wert, eine Tüchtigkeit, 29 auch einen sittlichen Wert an unserem Feinde meist nur kühl – und ohne Enthusiasmus und dessen Ausdruck – zu konstatieren. Und doch ist jener Wert voll gegeben.“ (Ethik, S. 174) Der Enthusiasmus, der dennoch angenommen werden muss, wenn das Fühlen ausschlaggebend sein soll, richtet sich also nicht auf die Nebenumstände, sondern durch die phänomenologische Reduktion allein auf den Wertaspekt eines Geschehens oder eines Gutes. Schnädelbach kommentiert den Zusammenhang von intentionalen Akten, den "Wertnoesen", und den Wertqualitäten ("Wertnoemata"): Die antisubjektivistische Pointe des gesamten Ansatzes soll durch die These erreicht werden, "daß die apriorischen Weisen der Wertintentionen sich jeweils nach der Wesensqualität der intentionalen Objekte richteten und nicht umgekehrt: wie bei Platon soll es das Liebenswerte und das Hassenswerte sein, das Liebe und Haß bedingt, während die empiristischen oder psychologischen Werttheorien die subjektiven Dispositionen des Liebens und Hassens zur Grundlage der qualitativen Bestimmung des Geliebten und Gehaßten erheben." (Schnädelbach: Philosophie, S. 227 f.) materiale Werte nicht mit dem Streben nach ihnen gleichzusetzen, da es auch Werte gibt, die wir nicht erstreben, wie z. B. die Erhabenheit des Sternenhimmels. Durch das Wertfühlen eröffne sich der „absolute Seins- und Wertgehalt der Welt“ (a.a.O., S. 70). An anderer Stelle spricht Scheler vom „Sein idealer Gegenstände“ in Analogie etwa zu Zahlen (wodurch er der neukantianischen „Geltungssphäre“ von Rickert bedenklich nahe kommt, vgl. Wertphilosophie II, S. 29). Alle Notwendigkeit in ethischen Sätzen (wie etwa Kants kategorischen Imperativ, den Scheler allerdings als zu formal ablehnt) sei allein in der Wesensschau begründet. Sie hebe auch den Kantischen Unterschied von „Ding an sich“ und Erscheinung auf, weil Scheler meint, mit der Wesensschau bzw. dem Wertfühlen die ontologische Sphäre erkennen zu können (a.a.O., S. 70). 2. 5. Kritik der Wertbegründung durch Wertfühlen Das Wertfühlen ist zwar alogisch, kann nicht mit logischen Denkmitteln bestimmt werden, habe aber ebenfalls wie die logisch bestimmbaren Gegenstände eine eigene Gesetzlichkeit. Die Wertschau sittlicher Werte hat eine „Exaktheit der phänomenologischen Feststellung“ (S. 61), die „evident gegeben“ (S. 66) sei. Die Kritik, die schon gegen Husserls phänomenologische Methode vorgebracht wurde, lässt sich ebenso auf Schelers Methode des Wertfühlens anwenden. Dort wurde die phänomenologische Methode als Zirkelschluss erkannt. Dies gilt auch für Scheler. Wenn ich aus dem Strom der Gefühle abstraktiv ein Phänomen, also einen ethischen Wert, isoliere („einklammere“) und für sich betrachte und ihn dann als ontologischen ausgebe, dann muss ich diesen Wert bereits in mir zum Bewusstsein gebracht haben, also kennen. Ich erkläre dann einen Begriff in mir zur ontologischen Tatsache. In Wahrheit sind alle ethischen Werte, die Scheler als materiale Werte ausgibt, aus der philosophischen Tradition entnommen, nicht aber originär erkannt. Er müsste ein rationales Kriterium (also für alle einsehbares) angeben, um zu zeigen, welche Werte materiale und damit ontologische sind. Dies Kriterium hat er aber nicht, sondern er ersetzt es durch den Verweis auf die Unmittelbarkeit, das „Aufblitzen“ im Fühlen. Durch diesen Trick kann man sowohl das eine wie sein Gegenteil zum materialen Wert erklären – Die phänomenologisch gefühlten sittlichen Werte seien aber kein „Ideal“, nichts „Vollkommenes“, denn „Vollkommenheit setzt die Werttatsachen voraus“ (S. 170). „Der Wert muß erblickt sein, wenn ich ihn idealisieren will, und es ist gleichgültig, ob als endliche oder unendliche Sache der betreffenden Qualität.“ (Ethik, S. 167) Im unwillkürlichen Äußerungen des Begehrens und Fühlens findet eine „Kundgabe“ von materialen Werten statt, die Tatsachen sind, die existieren. Die Werterfahrung, die sich auf das unmittelbare Aufblitzen der Werttatsachen oder der materialen sittlichen Werte bezieht, ist nicht zu verwechseln mit dem Gefühlszustand, der mit den phänomenologisch erfahrenen Werten verbunden ist, wie das Wertfühlen an den Feinden gezeigt hat. Auch sind ethische 30 eine gedankliche Leerstelle, die letztlich dazu dient, ideologische Vorstellungen dem Bedürfnis seiner Klasse entprechend zu entwickeln. (Siehe unten Kapitel 2.13.) des Wissens sachlich widerspruchsfrei zu integrieren, gegebenenfalls dieses Wissenssystem zu modifizieren oder das intuitiv Bestimmte zu verwerfen. Entscheidend ist aber immer das rationale Denken. Bei Scheler ist es aber gerade umgekehrt: Das bereits objektivierte Wissen soll sich allein der intuitiven Erkenntnis anpassen, die Logik unbeachtet lassen und sich von dem Resultat intuitiver Wesensschau ontologisch fundieren lassen. „Jeden vorgegebenen apriorischen 'Begriff' oder 'Satz', der sich nicht durch eine Tatsache der Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe, weisen wir also ausdrücklich zurück.“ (Scheler: Wertethik, S. 47) Kritik der Intuition und Irrationalität in der phänomenologischen Philosophie und bei Scheler Die phänomenologische Erfahrung oder phänomenologische Reduktion oder Wesensschau beruht vor allem auf der Intuition. Was ist damit gemeint? Eislers „Handwörterbuch der Philosophie“ von 1913, also zu der Zeit, in der Scheler seine „Ethik“ schreibt, definiert 'Intuition' als „unmittelbare, nicht durch Erfahrung oder Schlüsse vermittelte Erfassung des Wesens einer Sache oder eines Verfahrens; unmittelbare Einsicht in eine Wahrheit, in den Wert einer Sache“ (Eisler: Handwörterbuch, S. 319). Damit wird eine psychologische Erkenntnisweise, die subjektiv, methodisch und begrifflich nicht erklärbar ist, da sie ein Moment von Spontaneität enthält, zum Erkenntnisgrund ontologischer Bestimmung – ein Widerspruch in sich. Dies widerspricht nicht nur dem ontologisch Behaupteten, das unabhängig von unserem Denken und unserer Psyche sein soll, sondern auch Husserls und Schelers Kritik an der Psychologie als philosophische Grundlagenwissenschaft. (Vgl. Scheler: Ethik, S. 406 f.) Nach Vetters „Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe“, das neueste Werk aus der phänomenologischen Schule, hat Husserl diesen Begriff in seine Philosophie eingeführt „als terminologischer Gegensatz zur Signifikation, um die Differenz von unbefriedigter (signifikativer) Bedeutungsintension und (intuitiver) Erfüllung zu kennzeichnen“ (Vetter: Wörterbuch, S. 299). Intention sei das „Vermögen der Wesensschau“, dabei mache Husserl den Unterschied von sensualer und kategorialer Intuition. Die Intuition führe „zur adäquaten bzw. 'eigentlichen Vorstellung' (...) des Gegenstandes“. Intuition sei ein „methodischer Grundbegriff der phänomenologischen Wesenslehre“. Wenn Rationalität auf den beiden Quellen der Erkenntnis, sinnliche Erfahrung und begreifendes Denken von Verstand und Vernunft, beruht, dann ist die „unmittelbare“ Erfassung des Wesens ohne diese beiden rationalen Erkenntnisquellen irrational. Da die intuitive Erkenntnis das ontologische Apriori der Wertphilosophie bei Scheler begründen soll, ist diese also auf einer irrationalen Grundlage fundiert. Schelers materiale Wertethik beruht explizit auf diesen Begriff der Intuition: „Auch das a priori Gegebene ist ein intuitiver Gehalt, nicht ein den Tatsachen durch das Denken 'Vorentworfenes', durch es 'Konstruiertes' usw. Wohl aber sind die 'reinen' (oder auch 'absoluten') Tatsachen der 'Intuition' scharf geschieden von den Tatsachen, die zu ihrer Erkenntnis eine (prinzipiell unabschließbare) Reihe von Beobachtungen durchlaufen müssen. Sie allein sind – sofern sie selbst gegeben sind – mit ihren Zusammenhängen 'einsichtig' oder 'evident'.“ (Scheler: Ethik, S. 47) Intuition als psychologischer Begriff wie Spontaneität und Kreativität sind Voraussetzungen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, ohne die wir kein Bewusstsein von der Welt hätten. Sie sind aber auch Voraussetzungen der Kreierung von Aberglauben, Blödsinn, Spinnerei und ideologischem Bewusstsein. Was bei einem Erkenntnisakt, bei dem immer Intuition, Kreativität und Spontaneität mit hineinspielen, wahr und was falsch ist, entscheidet das rationale Denken, indem es die neue Erkenntnis versucht in das bestehende System Damit erweist sich auch die materiale Wertethik als irrational bzw. auf einem 31 irrationalen Fundament beruhend. Scheler bestätigt dieses irrationale Fundament seiner Wertlehre, wenn er sie als alogisch bestimmt: „So aber sind auch die Wertaxiome ganz unabhängig von den logischen Axiomen und stellen mit nichten bloße 'Anwendungen' jener auf Werte dar. Der reinen Logik steht eine reine Wertlehre zur Seite.“ (A.a.O., S. 60) irrationales Denken, unverständliche Behauptung, die daraus folgenden Sätze sind Kommunikation von Nichts. Das Logische, wie die in Sätzen darstellbaren materialen Werte, wird durch das Alogische, das Wertfühlen, begründet. Jede Begründung setzt aber das Logische immer schon voraus, sodass ein Zirkelschluss entstünde: Ich habe Werte im Bewusstsein (meist traditionelle) und interpretiere sie in das Fühlen hinein, um sie dann in Form der Wesensschau wieder aus dem Fühlen zu begründen. Scheler will diesen Zirkel vermeiden und geht von einem Unmittelbaren aus, das durch geistige Anschauung gefunden werden soll. Dieses unmittelbare Wertfühlen ist aber immer schon vermittelt, insofern nur Kulturmenschen die höheren Werte fühlen können (vgl. 2.9.3. und 2.9.4.). Also ist das Unmittelbare nicht unmittelbar, sondern durch die Sozialisation des Wertfühlenden vermittelt. Erkennt man dies, entsteht sofort die Frage nach dem Kriterium, welche gefühlten Werte hoch oder niedrig sind, ob überhaupt etwas Gefühltes ein ideales Sein ist oder bloße Einbildung des wertfühlenden Individuums. Ein solches Kriterium kann Scheler nicht angeben, denn hätte er eins, erübrigte sich seine phänomenologische Werteschau, er wäre wieder in die Aporien des Neukantianismus, den er bekämpft, zurückgefallen. Was Scheler tatsächlich als Kriterium für den Wert eines materialen Werts angibt, sind rein formale Bestimmungen (vgl. Scheler: Ethik, S. 79 und unten 2.9.1.). Höhere und niedere Werte sollen sich durch das „Vorziehen“ bestimmen, also gerade dasjenige, was es zu begründen gälte, für das ein rationales Kriterium gefordert werden müsste, wenn es einsichtig begründet sein soll. „Vorziehen“ aber ist selbst an einen Akt des Fühlens gebunden und beruht auf der Sozialisation des wertenden Individuums. Scheler dagegen verabsolutiert das subjektive Vorziehen zur „intuitiven 'Vorzugsevidenz'“ und dessen Resultat zur „Rangordnung der Werte“, die ein „absolut Invariables“, also ein Ontologisches sein soll. (Scheler: Ethik, S. 85 f.) Dagegen muss sich jedes Bewusstsein, das auf Wahrheit und objektive Geltung seiner Urteile Anspruch macht, vor der reflektierten Vernunft ausweisen. Diese aber enthält als ihr Wesen die Logik. Die logischen Formen und Gesetze sind formale Wahrheitskriterien, sie sind zwar nicht hinreichend zur Begründung der Wahrheit, dazu muss auch die Wahrheit der inhaltlichen Bestimmungen erwiesen werden, aber die logischen Regeln sind ein negatives Wahrheitskriterium: Wer sie beachtet, denkt zumindest widerspruchsfrei, wer aber gegen sie verstößt oder sie gar missachtet oder beiseite lässt bei seiner Darstellung von Sachverhalten, der denkt auf jedem Fall falsch; seine Rede wird unverständlich und vieldeutig. Auch das Argument, die intuitiven „Tatsachen“ wären bloß als intellektuelle Anschauungen vorhanden, als solche seien sie „alogisch“, ist nicht stichhaltig. Denn als bloß „intellektuelle Anschauung“ sind sie, wenn überhaupt, in einem individuellen Bewusstsein und nicht für andere vorhanden. Ohne auf die mit der "intellektuellen Anschauung" verbundenen Probleme im deutschen Idealismus einzugehen, wo dieser Begriff bei Schelling vorkommt (vgl. Bensch: Perspektiven, Kap. II, B) 2.), so kann doch über die flapsige Weise, wie Scheler diesen Begriff zur Begründung seiner materialen Werte benutzt, gesagt werden, dass die "intellektuelle Anschauung" "indemonstrabel" (a.a.O., S. 77), "nicht beweisbar" und deren Resultat "leer" ist (a.a.O., S. 78). Resultate der Intuition sind nicht kommunizierbar, erst wenn sie in Urteilen gefasst werden, sind sie auch für andere existent. Dass zwei Denker die gleiche Intuition haben, erwiese sich als bloßer Zufall. Ich jedenfalls gehöre nicht zu denen, die solche Intuitionen wie Scheler haben. Wenn Scheler seine Wesensschau auf Intuition, geistige Anschauung (eine contradictio in adjecto) und Alogik gründet, dann ist das Fundament seiner Philosophie falsches Bewusstsein, Die Bedeutung des Irrationalen in Bezug auf das Wertfühlen Nach Scheler stehen empirisch in der Gesellschaft Werte im Konflikt untereinander. Eines seiner Werke trägt den Titel „Vom 32 Umsturz der Werte“. Die vorherrschende Auffassung seiner bürgerlichen Philosophiekollegen bestimmt Scheler als Wertrelativismus, alles sei nur subjektiv: „Diese moderne Grundansicht führt je nachdem zu zwei Folgerungen, die beide Ausgangspunkte der modernen Moral gebildet haben: Entweder zu einer Rechtfertigung einer völligen Anarchie in Fragen der sittlichen Beurteilung – so daß hier überhaupt nichts 'Festes' auszumachen zu sein scheint -, oder zur Annahme eines Surrogats für die echte Wertobjektivität, eines sog. Allgemeingültigen 'Gattungsbewußtseins', das seinen Zwang auf das Individuum in Form einer schlechthin gebietenden Stimme 'du sollst' geltend macht: die allgemeine Anerkennung oder 'Anerkennbarkeit' eines Wollens und Handelns als 'gut' soll die fehlende Objektivität des Wertes ersetzen.“ (Ressentiment, S. 88) Angesichts meiner prinzipiellen Kritik an den Subreptionen und Hypostasen von Schelers phänomenologischen Methode, lässt sich diese berechtigte Kritik am Neukantianismus (etwa Rickerts) genauso gegen den Kritiker selbst wenden: Scheler rechtfertigt seine Schau von materialen Werten, die sich als irrational erweist, indem er irrationale Wertsetzungen anderer Philosophen, die ebenso unlogisch begründet sind, als nicht haltbar denunziert. Wesensschau mittels Fühlen – wie problematisch auch immer - eine gewissen Objektivität beanspruchen. Da bei Scheler die „Gefühlslogik“ (Sander) aber explizit nicht die Logik des menschlichen Geistes ist (und eine andere gibt es nicht!), wie sie von Aristoteles als notwendige Bedingung der Möglichkeit menschlicher Verständigung begründet wurde, ist diese Gefühlslogik nicht für andere einsichtig, wenn sie nicht so Fühlen wie Scheler. Denn verstehen kann man eine Aussage nur, wenn sie unter der diskursiven Logik steht, sonst spräche man aneinander vorbei. (Vgl. Gaßmann: Logik, u.a. S. 19 f.) Nun ist das Fühlen, das Emotionale tatsächlich nicht etwas, das von vornherein den logischen Gesetzen gehorcht. Wenn ich es in seiner Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Eigengesetzlichkeit begreifen will, dann versuche ich es, mit logisch stimmigen Sätzen zu deuten. Erst dann kann ich etwas über das Emotionale aussagen. Für Scheler dagegen soll die Erkenntnis gerade aus dem Alogischen des Emotionalen entspringen, er muss entsprechend die Ambivalenz der Gefühle bestreiten oder sie als nebensächlich abtun und das Emotionale in einen ordo amoris, in dem die Liebe zur Welt den Hass überwiegt, ontologisieren. „Wertphänomenologie und Phänomenologie des emotionalen Lebens ist als ein völlig selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und Forschungsgebiet anzusehen.“ (Scheler: Ethik, S. 60) Und in einer Anmerkung zu diesem Satz fügt er hinzu: „(...) in letzter Linie ist (...) der Apriorismus des Liebens und Hassens sogar das letzte Fundament alles anderen Apriorismus, und damit das gemeinsame Fundament sowohl des apriorischen Seinserkennens, als des apriorischen Wollens von Inhalten. In ihm, nicht aber in einem 'Primat', sei es der 'theoretischen', sei es der 'praktischen Vernunft' finden die Sphären der Theorie und Praxis ihre letzte phänomenologische Verknüpfung und Einheit.“ (Ethik, S. 60, Anm.) Die ontologische Eigengesetzlichkeit, die nicht logisch erfassbar sein soll und doch nur mit logisch verstehbaren Sätzen ihre Resultate, die materialen Werte, darstellen kann, gäbe dann die materialen Werte als Richtlinien für unsere Handeln kund. Nun ist das Bedürfnis nach festen Moralbestimmungen kein Erkenntnisgrund, wie ich schon gegen Lotze gezeigt habe (vgl. Wertphilosophie I, S. 47 f.). Wenn man also mit Scheler zwischen „echten“ Werten und „Scheinwerten“ (Ressentiment, S. 89) unterscheiden will, dann muss man ein rationales Kriterium angeben. Das einzige, was Scheler aber angeben kann, ist die Unmittelbarkeit des Gefühls, das „aufblitzen“ der Werte im Akt des Fühlens. Da dieses Fühlen aber alogisch sein soll, kann immer nur der seiner Methode folgen, der genau so fühlt wie Scheler. Das Windelbandsche „Normalitätsbewußtsein“, das selbst der Kritik verfällt (vgl. Wertphilosophie II, S. 16 ff.), wird bei Scheler noch einmal in seiner Irrationalität übertroffen, indem er ein Normalgefühl oder eine anthropologische Gefühlskonstante unterstellt, die schon den Einsichten seiner Zeit in die historische und soziale Bedingtheit des Gefühlslebens krass widersprach. Denn nur wenn es eine konstante Gefühlsgesetzlichkeit gibt, könnte die Das ist kruder Irrationalismus. Wie in jedem Irrationalismus wird mit begrifflicher Sprache 33 etwas behauptet, das den Begriffen nicht zugänglich ist, ein absolutes Jenseits sein soll. Es sei nicht logisch fassbar, aber Scheler kann es nur mit logischen Mitteln kommunizieren. Es habe seine eigene „Logik“, aber entziehe sich aller logischen Bestimmtheit. Seine Werttheorie beruht auf einem ordo amoris, der unserem Denken nicht zugänglich sei. Solche irrationalen Begründungen drücken aber tatsächlich nichts anderes aus als – Willkür. Wenn der Grund irrational ist, dann kann ich alles aus ihm herausklauben, was ich will. Anschauung von vornherein unmöglich gemacht wird.“ (Rickert: Aufsätze, S. 116) „Das Unmittelbare wird als Gegenstand einem Ich gegenüber gestellt, welches sich auf das von ihm intuitiv Erfaßte richtet, und mit dieser Konstruktion ist dann die Sphäre der Unmittelbarkeit im Prinzip verlassen. So hat der Intuitionismus unserer Tage mehr dazu beigetragen, das Problem des Unmittelbaren zu verdecken, als es zu klären. Er arbeitet mit unbemerkten Vermittlungen.“ (A.a.O., S. 118) Der unmittelbare Zugang zu den im Fühlen sich kundgebenden Werten, die für das Bewusstsein aufblitzen, ist in Wirklichkeit vermittelt durch die Gesellschaft, die unsere Psyche prägt. Scheler gesteht zwar zu, dass das Milieu den Menschen und sein Fühlen beeinflusst, aber er muss diesen Einfluss herunterspielen, um seine Ontologisierung des Emotionalen und um den psychischen Apparat als anthropologische Konstante zu retten (siehe nächstes Kapitel). Hatte die Freudsche Psychoanalyse versucht, das Unbewusste, Vorbewusste, die unerkannte Stimme der Gesellschaft in der Psyche ins Bewusstsein zu heben, dem begreifenden Denken zugänglich zu machen, damit es uns nicht ein Fremdes bleibe, das uns beherrscht und krank macht, sondern als bewusstes dem rationalen Umgang mit ihm ermöglicht, so verherrlicht Scheler das Unbewusste als unerklärbares und zugleich Grund unseres Denkens und Handelns. Er stellt sich damit auf die Seite der Antiaufklärung. Das Unbewusste wird bei Scheler zum unbestimmbaren Grund seiner Werte. Wollte Freud die Psyche der Menschen heilen von dem, was die Gesellschaft in ihr angerichtet hatte, so ontologisiert Scheler das Desaster in uns zum ordo amoris. Meine Kritik an der Schelerschen materialen Wertethik könnte hier abbrechen: Der Patient erweist sich als innerlich tot, sein Herz schlägt nicht, der darauf aufbauende Textkörper des Vielschreibers Scheler ist dann ebenfalls eine Totgeburt. Doch ein solcher Abbruch würde die Funktion dieses Irrationalismus verkennen und ein Stück Aufklärung über den heutigen Werteunsinn verweigern. Da aus irrationaler Rede alles Mögliche folgen kann, das eine wie sein Gegenteil, eignet sich diese ontologisierende Willkür hervorragend zur Scheinbegründung von Ideologien. Es wird also zu zeigen sein, wie aus dem falschen Bewusstsein von Schelers materialer Wertbegründung notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung, das ist Ideologie, von ihm entfaltet wird. In seiner Unmittelbarkeitsthese und deren Resultat wird die Willkür seines Verfahrens deutlich. Was die Psyche unmittelbar empfindet, ist immer ein Vermitteltes. Das hatte schon Rickert an der Phänomenologie insgesamt kritisiert. Voraussetzung der phänomenologischen Methode ist die Trennung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Gegenstand – dies gilt auch für Scheler. Dadurch ist die Erkenntnis des Gegenstandes aber immer schon vermittelt durch das erkennende Subjekt. „man muss in einer 'Phänomenologie', die diesen Namen verdient, entweder die Erscheinungen oder das Subjekt unmittelbar nennen und dementsprechend entweder die Phänomene oder das, wofür sie Phänomene sind, als vermittelt bezeichnen. Insofern führt schon der Begriff der Erscheinung (bei Scheler eingeklammertes „Phänomen“, BG), falls dies Wort seinen prägnanten Sinn behalten soll, ein Element in die Betrachtung ein, wodurch das Beharren beim Unmittelbaren des ungebrochenen Erlebens und seiner 2. 6. Milieu und Anthropologie Scheler gilt als einer der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie in der bürgerlichen Philosophie. Anthropologie wurde im Anschluss an Scheler zur Ersatzwissenschaft für die traditionelle Metaphysik, die wie diese anthropologische Erneuerung der Philosophie das gesellschaftliche Leben in Einklang mit überzeitlichen Ideen bringen wollte. Das Neue 34 bei ihm ist, dass er neue Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Anthropologie ins Metaphysische überhöht und in seine Wertphilosophie einbaut. Scheler weist ausdrücklich auf die grundlegende Funktion seiner Anthropologie hin: "Es ist Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie, genau zu zeigen, wie aus der Grundstruktur des Menschseins (…) alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen: so Sprache, Gewissen, Werkzeuge, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit." (Scheler: Kosmos, S. 87) Aber auch aus dem Begründungszusammenhang seiner Wertphilosophie ist die Reflexion anthropologischer Fragen zwingend. S. 159) Die Milieugegenstände können nur die Triebe erregen, soweit sie diesen Trieben entsprechen. „Sie sind nicht Ursachen, sondern Folgen dieser Erregung.“ (Ebda.) Scheler begründet diese Auffassung mit dem Argument, die Milieugegenstände sind nicht einfach nur vorhanden, sondern werden erst zu solchen, weil sie menschlichen Strukturen entsprechen. Aus der Fülle des Existierenden werde das zum Milieugegenstand, das auf Grund der Struktur des Menschen ihn beeinflussen kann. Also sei das Milieu durch diese Struktur allererst gesetzt. „Die Gegenstände, die auf das Handeln bestimmend werden, die Milieugegenstände, werden dies nur, sofern sie selbst schon auf Grund der Wertrichtungen des leiblichen Teillebens und der ihm immanenten Vorzugsregeln aus der Ganzheit der Welttatsachen herausgeschnitten sind. Das jeweilige Milieu eines Wesens ist also das genaue Gegenbild seiner Triebeinstellungen und ihrer Struktur, d.h. Ihres Aufbaues.“ (Ebda.) Wenn Werte durch das Fühlen erkannt werden und dieses Erkennen objektiv sein soll, dann muss das Fühlen durch anthropologische Konstanz bestimmt sein. Scheler argumentiert entsprechend, dass selbst bei „Perversion des Triebes“ das sinnliche Gefühl eine Zeit der Gewöhnung benötigt, um dieser Perversion zu folgen und Lust dabei zu empfinden. (Vgl. Scheler: Ethik, S. 159, Anm. 2) „Perversionen“ kann es nur geben, wenn ein konstantes Natürliches als Maßstab dient, sonst sind es kulturell bestimmte moralische Aversionen oder Verbote. Der natürlichen Konstanz widerspricht die These, dass das Milieu den Charakter prägt, wie sie insbesondere in der Literatur des Naturalismus und auch in der Folge von Darwins Evolutionsdarstellung vorgebracht wurde. Nun ist es richtig, dass nicht alles Existierende ein Milieu für den Charakter ist. Mikroben oder elektromagnetische Wellen außerhalb unseres Sehbereichs nehmen wir nicht wahr. Sie können also auch nicht unseren Charakter oder unsere Triebstruktur prägen. Deshalb ist aber noch lange nicht die Invarianz unserer Triebstruktur begründet. Die Fülle möglicher Milieugegenstände und ihrer Wirkung auf die Charaktere lässt sich nicht mit dem Hinweis abtun, dass Milieugegenstände immer schon auf uns hin bezogen sein müssen, wenn wir sie als solche erkennen. Ein Blick in die Geschichte und der dort erkennbaren Darstellung des Menschen zeigt, dass jedes Jahrhundert seine eigene Bestimmung vom Menschen hat. Wenn Scheler von der anthropologischen Konstanz der Triebstruktur ausgeht, sie als apriorische Basis für die Wertbestimmung ausgibt, dann muss ihm mit Hegel entgegnet werden: „das richtende Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische“ (Hegel: Naturrecht, S. 445) Schon Mandeville hat die verschiedenen Moralvorstellungen der Völker verglichen und deren Unverträglichkeit erkannt. Schelers Antwort auf diese Entwicklungsthese des Menschen ist seine eigene Milieuthese, nach der das, was Milieu ist, immer schon auf den Menschen und seine konstanten „Triebeinstellungen“ bezogen werden müsse. „Faktisch aber ist jedes Lebewesen ein geordneter Stufenbau von Trieben mit materialen Werteinstellungen und dies unabhängig von der Wirkung der Milieugegenstände – wohl aber bestimmend für sie. Es bringt einen 'Plan' der möglichen Güter schon in seiner Triebeinstellungsart mit sich, der nicht erst seiner Milieuerfahrung verdankt wird und dem seine leiblichkörperliche Organisation entspricht.“ (Ethik, „Was die Menschen von Kindheit an gelernt haben, davon werden sie beherrscht; die Macht der Gewohnheit entstellt die Natur und 35 ahmt sie zugleich derart nach, daß es oft schwierig ist, zu wissen, durch welche von diesen beiden wir beeinflußt werden. Im Orient verheirateten sich früher Schwestern mit Brüdern, und es galt als verdienstlich für einen Mann, seine Mutter zu heiraten. Solche Ehebündnisse sind verabscheuenswert; bei allem Grausen, das uns bei dem Gedanken hieran erfaßt, gibt es aber sicher nichts in uns, was sich von Natur dagegen auflehnte, sondern nur etwas, was sich auf Mode und Herkommen gründet. Ein frommer Mohammedaner, der niemals Spirituosen gekostet, aber häufig betrunkene Menschen gesehen hat, kann leicht eine ebenso große Abneigung gegen den Wein bekommen, wie sie bei uns ein anderer von der geringsten Moralität und Bildung gegen eine Verbindung mit seiner Schwester hat, und beide können sich dann einbilden, daß ihre Abneigung in ihrer Natur begründet sei.“ (Mandeville: Bienenfabel, S. 361) 'Kulturgütern' erstarrten sittlichen Normen – als nicht mehr verwertbare Spekulation – erreicht haben. 'Kultur, das heisst, die ausserökonomischen Bezirke, läuft dabei Gefahr, als feiertägliche Abteilung zu gelten ...'. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit, in die das Individuum in einer sich verschärfenden Konkurrenzgesellschaft geraten ist, möchte die Schelersche Philosophie an der überraumzeitlichen Gültigkeit der Werte festhalten, um dem überall drohenden Zerfall der Masstäbe wenigstens vom Denken her Einhalt zu gebieten.“ (Lenk: Ohnmacht, S. 60) Scheler kann sich bei der Fundierung seiner Werte durch das Fühlen auf eine historisch relativ vereinheitlichte Triebstruktur in den Industriegesellschaften berufen, die sich von der Uneinheitlichkeit früherer Epoche unterscheidet. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. (...) Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen." (Marx/Engels: Manifest, S. 464 f.) So entsteht bei Scheler das Paradox, dass er sich - allerdings ohne Selbstbewusstsein davon - auf das Gleichmacherische der kapitalistischen Produktionsweise in seiner Theorie des festen Emotionalen beruft, deren Geist er scheinbar aus konservativer Position bekämpft (siehe unten 3.12.). Scheler, der die Nivellierung der Triebstruktur durch die kapitalistische Industriegesellschaft vor sich hat, kann dadurch die historischen Differenzen abstrakt negieren und wie heute die Verhaltensforschung (Eibl Eibesfeldt) von einer konstanten Triebstruktur ausgehen. Da auch für Scheler der Mensch kaum noch Instinkte hat, die ihn leiten, sind alle „Urtriebe“ (Freud) des menschlichen Organismus und darauf beruhendes Fühlen, keine Konstanten, sondern kommen immer nur vor als kulturell geformte und deshalb historisch modifizierte. Eine Begründung von Werten aus der Treibstruktur des Menschen und seinem Fühlen – falls es überhaupt möglich wäre – könnte deshalb auch nur historische Resultate hervorbringen. Das scheinbar Unmittelbare des Fühlens ist vermittelt durch Erziehung, soziales Milieu, die vorherrschende Triebstruktur der Gesellschaft, politische und rechtliche Verhältnisse, gesellschaftlich vorherrschende Ideen usw. Die Unmittelbarkeit des Fühlens ist deshalb immer konservativ. Kommt der Werttheoretiker aus dem Bürgertum, dann entspringen auch die konservierenden Werte seiner Klasse aus seinem unmittelbaren Fühlen. „Dem in der 'Materialen Wertethik' geforderten rezeptiven Verhalten gegenüber den ewiggültigen Werten entspricht das Mass der Unverbindlichkeit, welches die zu Schelers Auffassung von Milieu mündet bei ihm in einer philosophischen Anthropologie. Er ist der Anreger für eine Hinwendung zum „Wesen“ des Menschen, die nur verständlich ist auf Grund ideologischer Bedürfnisse. War Schelers Milieutheorie noch gekennzeichnet durch die Abwehr von Einwänden gegen seine Methode des Werteerfühlens, so ist seine 36 Anthropologie von vornherein als Fundierung seiner gesamten Philosophie gedacht – eine Begründungsweise, die dann Karriere (besonders in der deutschen Philosophie) gemacht hat. videntia, Klugheit, Schlauheit, List).“ (Scheler: Kosmos, S. 32 f.) Diese Intelligenz bewege sich aber in engen Bahnen, da sie nicht nur von der erfahrbaren Wirklichkeit abhänge, sondern auch durch den Trieb determiniert sei. „nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehungen der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zur Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas.“ (A.a.O., S. 33) Scheler begründet hier anthropologisch, was Max Horkheimer als Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft im Kapitalismus analysiert hat. Scheler hypostasiert demnach kulturelle Erscheinungen zum anthropologischen Faktum, wie er historisch Entstandenes enthistorisiert. Der Mensch ist nach Scheler „als plastischer Säugetiertypus“ durch seinen Körper nicht wesentlich vom Tier unterschieden. Seine Instinkte sind zurückgebildet, dafür hat er die höchst entwickelte Intelligenz im Tierreich. Allerdings versteht Scheler unter Intelligenz nicht das diskursive Denken, sondern ein „Zufallsprodukt“ des „instinktiven Verhaltens“ (Scheler: Kosmos, S, 23). Die Intelligenz besteht für Scheler in den individuellen und variablen Reaktionen auf die Herausforderungen der Umwelt. „Es dürfte wohl auch nachweisbar sein, daß die Intelligenz keineswegs erst auf einer höheren Stufe des Lebens, wie z.B. Karl Bühler meint, zum assoziativen Seelenleben (und seinem physiologischen Analogon, dem bedingten Reflex) hinzutritt; sie bildet sich vielmehr streng gleichmäßig und parallel zum assoziativen Seelenleben aus, und sie ist (...) keineswegs erst bei den höchsten Säugetieren, sondern schon im Infusorium vorhanden.“ (Scheler: Kosmos, S. 23) Nicht minder sei beim Menschen das assoziative Gedächtnis am höchsten entwickelt (Scheler: Kosmos, S. 24). Allerdings berechtigten diese entwickelten Vermögen des Menschen nicht, ihn über die Tierwelt zu erheben, da Intelligenz und assoziatives Gedächtnis sowie auch Wahlvermögen bei höheren Säugetieren vorhanden seien und der Mensch sich von diesen Tieren wie etwa den Schimpansen nur durch eine bloß graduell höhere Entwicklung auszeichne. (A.a.O., S. 33 f.) Die Zurückbildung seiner Instinkte müsse der Mensch durch „Übung“ ausgleichen (S. 25). Dennoch seien die Instinkte des Menschen nicht völlig verschwunden. Sie seien im vor- und unbewussten Fühlen anwesend. „Ferner ist das Wissen, das im Instinkte liegt, nicht sowohl ein Wissen durch Vorstellungen und Bilder oder gar durch Gedanken, sondern ein Fühlen wertbetonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände.“ (S. 24) Da Instinkte starr und artgebunden seien (S. 23), wird von Scheler hier auch anthropologisch seine Wertlehre mit ihrem Apriorismus abgesichert. Das Denken des Ichs ist für das assoziative Gedächtnis, das zur Maßlosigkeit und Dekadenz (wie angeblich im Hedonismus) neigt (a.a.O, S. 31), die „prinzipiell noch organisch gebundene praktische Intelligenz“ (S. 32). „Gehen wir auf die psychische Seite hinüber, so können wir Intelligenz definieren als die plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt, der weder direkt wahrnehmbar gegeben ist noch auch je vorher wahrgenommen wurde, d.h. reproduktiv verfügbar wäre. Positiv ausgedrückt: als Einsicht in einen Sachverhalt (seinem Dasein und zufälligen Sosein nach) auf Grund eines Beziehungsgefüges, dessen Fundamente zu einem Teil in der Erfahrung gegeben sind, zum anderen Teile antizipatorisch in der Vorstellung, z.B. auf einer bestimmten Stufe optischer Anschauung, hinzu ergänzt werden. Für dieses nicht reproduktive, sondern produktive Denken ist also kennzeichnend immer die Antizipation, das Vorher-Haben eines neuen, nie erlebten Tatbestandes (pro- Es gibt nach Scheler aber dennoch etwas im Menschen, dass ihn nicht nur graduell, 37 sondern seinem Wesen nach über alle Tiere erhebt und ihn dadurch zur Gottähnlichkeit bringt. Dieses Etwas begründet die „Sonderstellung“ des Menschen im Kosmos. (A.a.O., S. 37) „Aber auch das wäre verfehlt, wenn man sich das Neue, das den Menschen zum Menschen macht, nur dächte als eine zu den psychischen Stufen: Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl noch hinzukommende neue Wesensstufe psychischer und der Vitalsphäre angehöriger Funktionen und Fähigkeiten, die zu erkennen also in der Kompetenz der Psychologie und Biologie läge.“ (A.a.O., S. 37) Das Geistprinzip steht außerhalb der Vitalsphäre, ist immateriell, „umweltfrei“ und „weltoffen“. Der Geist ist frei, absolut (S. 38), „übersingulär“, „pure Aktualität“ und seiner selbst bewusst (S. 41). Er trennt das Dasein vom Wesen (S. 32). „Schon die Griechen behaupteten ein solches Prinzip und nannten es 'Vernunft'. Wir wollen lieber ein umfassenderes Wort für jenes X gebrauchen, ein Wort, das wohl den Begriff 'Vernunft' mitumfaßt, aber neben dem 'Ideendenken' auch eine bestimmte Art der 'Anschauung', die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die feie Entscheidung mitumfaßt -: das Wort 'Geist'. Das Aktzentrum aber, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als 'Person', in scharfen Unterschied zu allen funktionellen Lebenszentren, die nach innen betrachtet auch 'seelische' Zentren heißen.“ (Scheler: Kosmos, S. 38) Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit (die ja auch Phantasiertes hat), nicht die fixe Stelle im Raume in der Bewegung der Aufmerksamkeit usw., - sondern der erlebte Widerstandseindruck gegen die unterste, primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze noch zukommende Stufe des seelischen Lebens, den 'Gefühlsdrang', gegen unser nach allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch im Schlafe und in den letzten Stufen der Bwußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum.“ (Scheler: Kosmos, S. 53) Der Geist ist „von Hause aus ohnmächtig“, er benötigt eine „Energisierung“ durch den Drang. „Aber als solcher ist der Geist in seiner 'reinen' Form ursprünglich schlechthin ohne alle 'Macht', 'Kraft', 'Tätigkeit'.“ (Scheler: Kosmos, S. 57; siehe auch 2.10.) Diese Vorstellung von Geist ist wissenschaftlich nicht haltbar, wie unten gezeigt wird. Sie rechtfertigt sich allein aus Schelers – selbst wieder falschen – Wertbegründung durch das Fühlen als deren anthropologische Absicherung. In der assoziativen Darstellungsweise von Scheler, bei der man oft nicht zwischen (willkürlichen) Thesen und den Argumenten unterscheiden kann, ergibt sich dieser Begriff des Geistes auch nicht als historische Erfahrung einer sozialen Wirklichkeit, in der tatsächlich eine übergreifende zwecksetzende Vernunft als intellectus agens kaum eine Rolle spielt, weil der Automatismus der Kapitalproduktion alle gesellschaftlichen Zwecke bestimmt. Diese anthropologische Absicherung der materialen Werttheorie lässt sich selbst nur soziologisch begreifen. Es ist ein ideologisches Bedürfnis nach festen Werten, nach philosophischem Eskapismus, der sich selbst noch in Schelers Übernahme neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse äußert. Diese Feier der Sonderstellung des Menschen durch seinen (göttlichen) Geist kontrastiert aber auffällig mit der Reduktion des Geistes auf mehr oder weniger bloße Kontemplation. Nicht der Geist gibt uns das Dasein der Dinge, indem er wie bei Kant aus den Wahrnehmungen die Dinge konstruiert, sondern das „Erlebnis des Widerstandes“, das es nur „für unseren zentralen Lebensdrang“ geben kann. Dieser Drang allein speist den Geist mit Energie, von sich aus fehlt ihm diese völlig. „Nicht ein Schluß führt etwa zur Realsetzung der Außenwelt (die als Sphäre z.B. auch im Traum besteht), nicht der anschauliche Gehalt der Wahrnehmung (wie die 'Formen', 'Gestalten') gibt uns das Über die Rolle dieser Art Anthropologie schreibt Max Horkheimer: „Die moderne philosophische Anthropologie entspricht demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen sucht: nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung, vor allem der Tradition als unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll. Diese Anwendung des Denkens, begriffliche 38 Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen das ganze menschliche Leben sinnvoll zu begründen, die geistige Anstrengung, das Schicksal jedes Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu bringen, gehört zu den wichtigsten Bestrebungen der idealistischen Philosophie. Sie wird vor allem durch den widerspruchsvollen Umstand bedingt, daß in der neueren Zeit die geistige und personale Unabhängigkeit des Menschen verkündet wird, ohne daß doch die Voraussetzung der Autonomie, die durch Vernunft geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen tritt einerseits die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das 'Wertgesetz', nicht als Motor der menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie sich vollzieht, hervor. Der ökonomische Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Naturmacht aus. Die Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt und die ganze Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im Dunkeln. Andererseits haben diese Individuen es gelernt, für die gesellschaftlichen Lebensformen, die sie durch ihr tägliches Handeln aufrecht erhalten und gegebenenfalls beschützen, also für die Verteilung der Funktionen bei der Arbeit, für die Art der hergestellten Güter, für die Eigentumsverhältnisse, Rechtsformen, die Beziehungen der Staaten usw. Gründe zu fordern. Sie wollen wissen, warum sie so und nicht anderes handeln sollen, und verlangen eine Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser Ratlosigkeit durch metaphysische Sinngebung zu steuern. Anstatt dem Anspruch der Individuen nach einem Sinn des Handelns durch Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und durch Hinweis auf ihre praktische Überwindung zu genügen, verklären sie die Gegenwart, indem sie die Möglichkeit des 'echten' Todes zum Thema wählt und dem Dasein tiefere Bedeutung zu geben unternimmt.“ (Horkheimer: Anthropologie, 96 f.) Fremdbestimmung der Menschen als anthropologischen „Drang“, der, als „Einheit aller reich gegliederten Triebe und Affekte des Menschen“, „das Subjekt“ im Menschen sei, ohne den er kein Bewusstsein von der Wirklichkeit hätte. Und er verklärt das Bestehende als „objektive Stufenordnung“ (a.a.O., S. 17 f.), die auch das seelische Leben bestimme, sodass jeder Widerstand gegen diese Ordnung als sinnloser Widerstand gegen die eigene Natur erscheint. 2. 7. Der Ordo amoris Es ist typisch für die bürgerliche Philosophie nach Hegel - also nachdem sie den systematischen Dialog mit der Geschichte der Philosophie abgebrochen hat, diese nur noch als Steinbruch von Gedanken, aber nicht mehr als Entfaltung von Wahrheit ansieht -, dass sie das vorhandene „Begriffsmaterial“ willkürlich nach ihren jeweiligen Interessen ordnet, Systeme aufbaut, deren Halbwertzeit bestenfalls so lange dauert, wie der Philosoph seinen Lehrstuhl inne hat, und mehr oder weniger neue Erkenntnisse der Einzelwissenschaften einbezieht, jedenfalls soweit sie in das System passen. Ein solches System mag auf den ersten Blick in sich eine gewisse Stimmigkeit erlangen, weil alle relevanten Phänomene darin ihren Platz haben, aber bei genauer Analyse wird die Willkür, die Widersprüchlichkeit, das bloß Behauptete, jedoch nicht Bewiesene solch einer Konstruktion deutlich. Und regelmäßig blamiert sich die meist idealistische Konstruktion an der empirischen Wirklichkeit. Solch eine irrationale Konstruktion ist Schelers Aufblähen der Phänomenologie zu einem metaphysischen (wenn auch noch unvollendeten) System: dem Ordo amoris, analog zum mittelalterlichen ordo rerum gedacht. Wenn Scheler davon ausgeht, dass die Menschen ein festes anthropologisches Wesen haben, auf das sich auch eine Ethik gründen kann, wenn die Werte phänomenologisch aus dem Fühlen erschlossen werden können und wenn sich auch eine objektive Rangordnung der Werte durch Vorziehen und Nachsetzen (siehe nächstes Kapitel) aus dem Fühlen ergeben soll, dann setzt das eine Bei Scheler heißt diese Sinngebung der sinnlosen Produktion um der Produktion willen, der sich die Menschen mit ihren Glücksansprüchen opfern müssen, der „Tod“ sei „der Urdrang alles Lebens“. (Scheler: Kosmos, S. 14) Er verklärt die 39 anthropologische Gefühlsstruktur voraus, auf der eine gleichwertige Erkenntnisweise des Gefühls beruht, wie sie das rationale Denken darstellt. Diese Gefühlsstruktur (mein Begriff für das, was Scheler meint) gehorche ähnlich dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs in der diskursiven Logik einem emotionalen Widerspruchsprinzip (vgl. Sanders: Scheler, S. 44 und Scheler: Ethik, S. 82)), sodass unser Gefühl – in Schelers Sinn verstanden – ebenfalls eine widerspruchsfreie Struktur hätte. Soll es diese geben, dann muss es ein oberstes Gefühl geben, dem alle anderen Gefühle zugeordnet sind. Dieser „Urakt“ des Fühlens ist die Liebe (a.a.O., S. 61). Ihr steht als negatives Gefühl der „Haß“ gegenüber. Liebe und Hass sind aber nicht nur faktische Gefühle, sondern werden bei Scheler als „geistige Akte“ überhöht. Die Liebe ist dann ein „geistig-emotionaler Akt“ der Anziehung, eine spontane geistige Bewegung als Welterlebnis (a.a.O., S., 52). Während der Hass als geistiger Akt uns blind mache, führe uns die Liebe zum Sehen, sie erschließt uns die Welt. Auf der Liebe gründe die ganze Ordnung unseres Fühlens und damit der dadurch erkannten ontologischen Werte. „Während das 'Fühlen von' ein eher passives Aufnehmen von Qualitäten ist und das Vorziehen, obwohl ein intentionales geistiges Geschehen, auf die im Fühlen gegebenen Qualitäten als sein Material verwiesen ist, besitzt die Liebe eine aktive Erschließungsfunktion.“ (Sander: Scheler, S. 51) Scheler unterscheidet nach Sander, deren affirmativen Darstellung ich hier bei der Wiedergabe des Ordo amoris folge, zwischen einem faktischen Ordo amoris, der „aus zielmäßig wirksamen", aber nicht „aktiven, frei bewußten (...), sondern „automatischen (...) Vorgängen des psychovitalen Subjekts im Menschen“ hervorgeht, und dem „idealen“ Ordo amoris, der eine „an sich zeitlose Wertwesenheit in der Form der Personalität“ darstellt und die „individuelle Bestimmung“ einer Person beinhaltet (zitiert nach Gesammelte Werke Bd. 10, S. 353; Sander: Scheler, S. 63). Dieser ideale Ordo amoris werde von dem Menschen nicht „gesetzt“, sondern nur erkannt, durch Selbsterfahrung entschleiert. Er bestehe nur für die geistige Persönlichkeit in uns. Die Art des Aufbaus der Liebes- und der Hassakte bestimme dann den Kern des Menschen als Geistwesen. Ja, der Ordo amoris bestimme sogar das Milieu des Menschen, wie z.B. ein Jäger in der Landschaft ein anderes Milieu vorfindet als ein unbedarfter Spaziergänger an dem gleichen Ort. Es versteht sich von selbst, dass der Mensch seinen faktischen Ordo amoris dem idealen Ordo amoris annähern sollte, um den Wert seiner Persönlichkeit zu steigern. Wie die Werte apriorisch seien, so enthalte auch das Lieben und Hassen einen Apriorismus, der das „letzte Fundament alles anderen Apriorismus, und damit das gemeinsame Fundament sowohl des apriorischen Seinserkennens, als des apriorischen Wollens von Inhalten“ ist (Scheler: Ethik, S. 60). Der Ordo amoris ist damit der letzte Einheitsgrund alles menschlichen Erkennens und Verhaltens. Wie Freud, den Scheler sonst kritisiert, den Lebenstrieb (Eros) und den Todestrieb (Tantalos) zum Erklärungsgrund für menschliches Verhalten schlechthin überhöht (vgl. Lohmann: Freud, S. 47 ff., und Freud: Unbehagen, S. 102), sodass sich mit diesen Prinzipien sogar noch Kriege erklären ließen, so macht Scheler „Liebe“ und „Haß“ zu universellen letzten Erklärungsgründen für alles historische Geschehen. (Vgl. zum „Haß“ etwa Scheler: Pädagogische, S. 305 ff., zu Liebe und Krieg etwa: a.a.O., S. 68 f. und unten 2.9.4.) Ökonomische Mechanismen und ihre gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen werden anthropologisiert, zum 40 Wesen des Menschen umgedeutet und dadurch zu natürlichen erklärt. solchermassen unternommenen Rettungsversuchs ist aber der Rückfall in einen Subjektivismus, der sich darin zeigt, dass Scheler aus der Analyse des von der objektiven, historischen Vernunft abgespaltenen menschlichen Seins die Kategorien für das Begreifen der geschichtlichen Wirklichkeit zu gewinnen meint. Losgelöst 'von den materiellen Momenten der Existenz hat Denken sich' bei ihm 'zum metaphysischen Prinzip verklärt und als Grundlage des geschichtlichen Prozesses ausgelegt'.“ (Lenk: Ohnmacht, S. 57 f.; die Zitate im Zitat sind von Horkheimer) Seit es Wissenschaft und psychologische Fragestellungen gibt (z.B. Aristoteles Buch über die Seele), war man bestrebt, den zunächst chaotisch erscheinenden Fluss von Vorstellungen, Gefühlen, Assoziationen und begrifflichen Gedanken zu ordnen und Prinzipien darin zu erkennen. Bekannt sind zu Schelers Zeit die Freudschen Begriffe des Es, Ich und Über-Ich. Sind diese aber empirisch erschlossen und mehr oder weniger begründete Hypothesen, die Freud sein Leben lang an seinen Beobachtungen von seelischen Krankheiten präzisierte, so übernimmt Scheler Behauptungen der Psychologie seiner Zeit (z.B. von Franz Brentano) und macht „Selbstbeobachtungen“, die er dann zu seiner phänomenologischen Ontologie hypostasiert. Wie diese Ontologie ist aber auch sein Ordo amoris nichts als eine subjektive Konstruktion, Willkür, die sich als Objektivität aufspreizt. Der Anspruch der klassischen Philosophie von Kant bis Hegel, unbedingt nach Objektivität und Wahrheit zu streben, ist bei Scheler – trotz anderslautender Beteuerungen – verschwunden, ähnlich wie in seinem philosophischen Umfeld in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn Schelers gesamte Konstruktion verfällt wie seine bisher dargestellte Wertphilosophie der Kritik: Die Gefühle eines spätbürgerlich geprägten „Kulturmenschen“ werden absolut gesetzt, seine Wertbegründung aus dem „Fühlen“ heraus ist ein grandioser naturalistischer Fehlschluss, die phänomenologische Methode irrational, die behauptete ontologische Fundierung der „Werte“ eine Hypostase subjektiver Bestimmungen. Abgesehen von seinem höchsten Wert des Heiligen ist der Ordo amoris der Höhepunkt Schelerscher Irrationalität. 2. 8. Die materialen ethischen Werte im Konkreten 2. 8.1. Rangordnung der Werte Eine Intention Schelers ist es, alle Werte in einer Rangordnung zu fundieren. Da alle unsere Handlungen auf Werte bezogen sind, selbst wenn diese Handlungen unmoralisch sind, sich also an „negativen Werten“ (passim u. z.B. Ethik, S. 20) orientieren, kann Scheler die gesamte gesellschaftliche und natürliche Ordnung in einer Werteordnung fundieren. Dazu gehört z.B. auch das Rechtssystem, denn „alles Sein eines positiven Gesollten ist recht“ (Ethik, S. 79, siehe auch 2.9.3.). Dies ist das Programm der mittelalterlichen Philosophie, die alles Sein in eine hierarchische Ordnung bringen wollte, sodass vom Stein bis zu Gott eine seinsmäßige göttliche Rangordnung gebildet wird, die sich dann im Kopf der Menschen als bewusste Seinsordnung widerspiegelt – zu der es keine vernünftig denkbare Alternative geben soll. Bei Scheler ist diese Rangordnung aber keine, die aus den Erscheinungen des Seienden abstrahiert wird, wie in der mittelalterlichen Philosophie, sondern, wie bereits gezeigt, soll sie ontologisch durch das Wertfühlen uns „gegeben“ sein. Was Kurt Lenk allgemein formuliert, gilt insbesondere für den Ordo amoris: „Gegenüber den skeptischen Positionen, die alles philosophische Erkennen mit dem Makel der Ideologiehaftigkeit belegen, möchte Scheler die Autonomie des Denkens 'retten'. Er glaubt, dass dies nur in der Weise zu leisten sei, dass das Philosophieren sich auf eine von der Geschichte unberührte Sphäre, auf ein objektiv gültiges Ideen- und Wertreich zurückziehe. Die Konsequenz eines Das Erkennen der Rangordnung geschieht wie beim Erkennen der einzelnen Werte durch das Fühlen. Der Rang eines Wertes wird durch Vorziehen erfühlt. Dieses „Vorziehen“ „findet statt ohne jedes Streben, Wählen, Wollen“ (Ethik, S. 85). Es ist vom empirischen 41 Vorziehen zu unterscheiden, das sich auf die Güter bezieht, das „apriorische Vorziehen“ dagegen geht auf die Werte selbst. So wie wir diese phänomenologisch fühlen, so fühlen wir auch ihre Rangordnung durch das „Vorziehen“. Die Kritik am Fühlen, wie sie oben gemacht wurde, gilt auch für das Fühlen als Vorziehen. Da dieses irrational ist, würde jeder eine andere Rangordnung konstruieren. Doch diese „Täuschung des Vorziehens“ verkenne die „intuitive Vorzugsevidenz“, die nicht mit der logischen Deduktion von Werten, wie sie etwa Kant betreibe, zu verwechseln sei. „Vielmehr findet alle Erweiterung des Wertbereiches (eines Individuums z.B.) allein 'im' Vorziehen und Nachsetzen statt. Erst die in diesen Akten ursprünglich 'gegebenen' Werte können sekundär 'gefühlt' werden. Die jeweilige Struktur des Vorziehens und Nachsetzens umgrenzt also die Wertqualitäten, die wir fühlen. Es ist hiernach klar, daß die Rangordnung der Werte niemals deduziert oder abgeleitet werden kann.“ (Ethik, S. 87) Der „höhere Wert“ soll uns „wie von selbst“ entgegentreten, sodass uns die Rangordnung sich enthüllt. Das setzt wie beim einfachen phänomenologischen Wertfühlen eine anthropologische Ordnung voraus, die zugleich als ontologische gedacht wird. zurückführen, sodass auch in der Täuschung die Werte „notwendig erfüllt" werden. Diese Argumentation hätte nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn seine materialen Werte tatsächlich ontologisch im Menschen als Apriori verankert wären. Da die Begründung dieses Apriori sich als irrational erwiesen hat, ist auch die Rangordnung der Werte bei Scheler, soweit sie auf der „intuitiven Vorzugsevidenz“ beruht, irrational (siehe oben 2.5.). Wenn das Vorziehen intuitiv ist, dann ist es auch nur Eingeweihten zugänglich, die eine ähnliche Sozialisation hinter sich haben wie Scheler. Es läuft dann letztlich wieder aufs gesellschaftliche Bedürfnis hinaus wie bei Lotze, dessen philosophische Konstruktion die eines konservativen Edelspießers im 19. Jahrhundert ist. Scheler kommt denn auch nicht umhin, damit man auch nur seine Intention verstehen kann, diskursive Kriterien für die Rangordnung seiner Werte anzugeben, die er aus der idealistischen Tradition der Philosophie entnimmt, ohne sie auch nur ansatzweise zu begründen. (Das wäre dann nämlich wieder eine „Deduktion“ wie bei Kant, von der er sich ständig distanziert.) Der Idealismus der Rangordnung ergibt sich bereits aus den höchsten Werten, nämlich den „ewigen“ Werten (Ethik, S. 91) und dem „Heiligen“, die dann letztlich als Emanation des Göttlichen behauptet werden. „So scheinen die Werte um so 'höher' zu sein, je dauerhafter sie sind; desgleichen um so höher, je weniger sie an der 'Extensität' und Teilbarkeit teilnehmen; auch um so höher, je weniger sie durch andere Werte 'fundiert' sind; um so höher auch, je 'tiefer' die Befriedigung ist, die mit ihrem Fühlen relativ ist auf die Setzung bestimmter wesenhafter Träger des 'Fühlens' und 'Vorziehens'.“ (Ethik, S. 88) Im Einzelnen sind dies: Scheler weiß selbstverständlich, dass uns Gefühle täuschen können, aber da dies in Bezug auf die Güter, an denen Werte haften, geschieht, kann er das Wertfühlen und das Vorziehen in der Rangordnung der Werte – wenn es der phänomenologischen Methode folge - als widerspruchsfrei hinstellen. „Daß wir nicht denselben Wertverhalt begehren und verabscheuen können, ist ein evidenter Satz.“ (Ethik, S. 82) Dem Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch in der Logik korrespondiere die Widerspruchsfreiheit des „reinen Fühlens“ in unserer ontologisierten Gefühlswelt. (Vgl. Sander: Scheler, S. 44) Obwohl dies allen historischen Erfahrungen widerspricht und auch den Ergebnissen der Völkerkunde (vgl. Strauss: Traurige Tropen, passim), muss Scheler offenkundige Widersprüche und Gegensätze menschlicher Gefühle ablehnen und widersprechende Wertungen zu „Täuschungen über ihr Anwendungsgebiet“ umdeuten. Und noch die Täuschungen muss er auf den bösen Willen 1. Das Kriterium der Teilbarkeit: Ein ökonomischer Wert wie etwa Tuch ist teilbar und deshalb weniger Wert als ein Kunstwerk, das nur als Ganzes seinen Wert habe. 2. Das Kriterium der Fundierung: So fundiert der Wert des Angenehmen den Wert des Nützlichen, sodass der 42 Wert des Angenehmen höher in der Rangordnung steht. 3. Das Kriterium der Dauer: Ewige Werte sind höherrangig als Werte mit einer Dauer, die begrenzt ist, und diese wertvoller als kurzlebige Werte. Das ewige Heilige ist demnach höher als vitale Werte wie Gesundheit und diese höher als der von Verbrauchsgütern. 4. Das Kriterium der Tiefe des Gefühls: Der Wert eines geistigen Produkts ist höher, erzeugt eine größere Befriedigung als etwa die Lust an einem guten Essen. konkreten Werten, dem Angenehmen und der Gerechtigkeit, das ideologische Moment seiner ethischen Konstruktion aufzeigen. 2. 8.2. Der Wert des Angenehmen Nach Eislers „Handwörterbuch der Philosophie“ von 1913, also der Entstehungszeit der Schelerschen Ethik, erscheint „angenehm“ als etwas Subjektives: „Angenehm ist, was dem fühlendbegehrenden Wesen in der Empfindung willkommen ist, das sinnlich Gefallende, was lustbetonte Empfindungen hervorruft. Wenn auch das Angenehme vom Schönen zu unterscheiden ist, so ist doch das Angenehme von Sinneseindrücken (z.B. von Farben, Tönen) an dem Zustandekommen ästhetischer (s. d.) Gefühlen beteiligt. - Nach KANT ist a., 'was den Sinnen in der Empfindung gefällt' (Krit. der Urteilskraft, § 3). Das A. ist individuell-subjektiv, es reizt das Begehren und ist daher vom Ästhetischen (s. d.) scharf zu sondern.“ (S. 30) Auch lässt sich über das Angenehme nach Kant keine Regel aufstellen. Auch hier zeigt sich wieder die idealistische christliche Tradition, die ontologisch verklärt wird, indem gegen den „Hedonismus“, als das „unbefriedigende“ rastlos Suchen nach „Genußwerten“, die geistige Befriedigung gesetzt wird, als ob nicht geistige Befriedigung immer auch mit körperlicher Lust verbunden ist, wie schon Aristoteles wusste (vgl. Nikomachische Ethik, S. 249), und als ob nicht das geistige Streben nach Erkenntnis auch ein „rastloses Suchen“ ist oder sein kann. Die „gefühlte Absolutheit“ (Ethik, S. 98) von Werten, ihre Erkenntnis durch „unmittelbare Intuition“ (Ethik, S. 97) und „reines Fühlen“ (Ethik, S. 95), das "nicht erst durch Überlegung“ zustande kommt, sondern man sagen muss: „sie gehen auf“ (Ethik, S. 97), diese ontologische Hybris erweist sich als das falsche idealistische Bewusstsein eines bürgerlichen Philosophen, der den Weg seiner Kollegen zum Irrationalismus um eine Variante bereichert hat. (Das hindert nicht daran, oder genauer: gerade deshalb ist Schelers oberster Wert: das Heilige, in Niedersachsen zum Kursthema für die Oberstufe im Fach „Werte und Normen“ von der konservativen Regierung bestimmt worden.) Diese Subjektivität wird im Utilitarismus wichtig zur moralischen Orientierung. Nach Jeremy Bentham ist das Prinzip der Nützlichkeit oberstes Prinzip der Moral, und die Nützlichkeit fußt auf der Vermeidung von Leid und dem Erstreben von Freude, wobei diese beiden Begriffe mit dem Vermeiden des Unangenehmen und dem Erstreben des Angenehmen bei Scheler cum grano salis verglichen werden können. „Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt.“ (Bentham: Prinzipien, S. 16) „Freuden und das Vermeiden von Leiden sind also die Ziele, die der Gesetzgeber im Auge hat; ihm obliegt es somit, ihren Wert zu erkennen.“ (Bentham: Prinzipien, S. 17) Es kann hier nicht der Ort sein, die Schelersche Wertscholastik weiter zu treiben. Wer etwas über seine Personen- und Sachwerte, Eigen- und Fremdwerte, Aktwerte, Funktionswerte und Zustandswerte lesen möchte, der kann in seiner materialen Wertethik die entsprechenden Kapitel nachlesen. Stattdessen möchte ich an zwei Nach Scheler liegt der Fehler im Utilitarismus nicht darin, dass es in dieser Interessenmoral kein sittliches Prinzip gäbe oder dass er keine „sozial geltende Moral“ wäre (Scheler: Ethik, S. 179), ja sogar Ideale sieht er in ihm, sondern der Fehler liege in der Unfähigkeit des Utilitarismus, seine Prinzipien objektiv 43 herzuleiten. „Der Irrtum des Utilitarismus liegt also darin, daß er eine Theorie des Guten und Bösen selbst zu geben meint, während er nur eine (wahre) Theorie vom sozialen Lob und Tadel des Guten und Schlechten faktisch gibt.“ (Scheler: Ethik, S. 181) Damit aber alle Menschen eine Moral akzeptieren, muss sie fundiert sein. Fundiert wäre sie aber nur nach der phänomenologischen Methode. Für eine Moral, die ein Sollen aufstellt, müsse gelten: „Vielmehr gründen auch alle Normen, Imperative, Forderungen usw. - wenn sie nicht willkürliche Befehlssätze sein wollen – in einem selbständigen Sein, im Sein der Werte.“ (Scheler: Ethik, S. 179) „absoluten Unterschied“: „Mag derselbe Vorgang für einen Menschen angenehm sein, der für einen anderen unangenehm ist (resp. für verschiedene Tiere), so ist doch der Unterschied der Werte angenehm – unangenehm selbst ein absoluter Unterschied, der vor der Kenntnis dieser Dinge klar ist.“ (Ethik, S. 104) Wenn aber für den einen etwas angenehm ist und für den anderen dasselbe unangenehm, dann kann dies den Inhalt des Begriffs „angenehm“, den Scheler allerdings nicht direkt definiert, nicht unberührt lassen – er löst sich auf. Entweder ist das Angenehme und Unangenehme bloß ganz formal unterschieden, dass es also nur überhaupt diesen Unterschied gibt, ohne jeden bestimmten Unterschied, bloß die Tatsache, dass wir etwas faktisch vorziehen, dann kann das Angenehme kein materialer Wert sein, es wäre rein formal. Genau das behauptet Scheler: Es bleibt bei ihm als einzige Bestimmung, dass das Angenehme dem Unangenehmen vorgezogen wird. Das aber ist für das philosophische, d.h. allgemeine, Denken ein Unterschied von Nichts. Nur die empirische Anschauung könnte zeigen, dass etwas für diesen Menschen angenehm, für einen anderen dagegen unangenehm ist. Danach ist der Begriff des Angenehmen ein reiner Formalismus, den Scheler ständig Kant vorwirft, aber kein apriorischer materialer Wert. Andererseits lobt er den Utilitarismus aber auch, insofern er die Scheinobjektivität vieler sich absolut gebender Moraltheorien ausspricht, indem er ihr Interesse geleitetes Bestreben offen legt.. Ob aber Schelers ontologischer Apriorismus mehr trägt, lässt sich am „absoluten“ Wert des Angenehmen zeigen. Das Angenehme wird bei Scheler zu einem Wert ontologisiert und von dem Angenehmen konkreter Dinge streng unterschieden. Das Angenehme als Wert ist apriori, das konkrete Angenehme als Gut ist empirisch und kann dementsprechend schwanken in seinem Wert. Das Angenehme ist kein besonders hoher Wert in der „Rangordnung der Werte“, es ist abhängig von den vitalen Werten wie Gesundheit, Mut, Edlem und Tüchtigen (Ethik, S. 105). Andererseits sei das Angenehme ein „Selbstwert“, kein „Konsekutivwert“ (Folgewert). Vom Angenehmen ist z.B. der Konsekutivwert des Nützlichen abhängig, der ein bloßes Werkzeug des Angenehmen sei. Scheler selbst ordnet den Rang des Angenehmen als apriorischen Wert wie folgt ein: „Die Werte des Edlen und Gemeinen sind eine höhere Wertreihe als die des Angenehmen und Unangenehmen; die geistigen Werte eine höhere Wertreihe als die vitalen Werte, die Werte des Heiligen eine höhere Wertreihe als die geistigen Werte.“ (Ethik, S. 109) Der Wert "Angenehm" gehört nach Scheler zur Wertreihe der vitalen Werte. Oder dem Angenehmen und Unangenehmen käme ein inhaltlicher Unterschied zu, wie er etwa rot und blau zukommt, dann wäre das Angenehme auch kein objektiver Wert, sondern vom subjektiven Empfinden der Individuen, die etwas als angenehm bestimmen, abhängig – entgegen der Schelerschen Bestimmung des Angenehmen als objektiven Wert. Die dritte Möglichkeit, dass das Angenehme als Wert eine anthropologische Konstante sei, also ontologisch im Menschen verankert wäre, widerspricht den empirischen Tatsachen, die gerade bei diesem immer auch sinnlich Empfundenen eine große Bandbreite an Vielfalt dessen zeigen, was angenehm oder unangenehm für die Individuen ist, von historischen und geografischen Unterschieden ganz zu schweigen. Wenn z.B. Wein in Maßen genossen in Westeuropa durchaus als „angenehm“ empfunden wird (nicht dieser konkrete Wein, sondern guter Wein überhaupt Kritik am Wert des Angenehmen Scheler macht zwischen dem „Angenehmen“ als Wert und angenehmen Dingen einen 44 als das „Angenehme“), so empfinden andere Kulturen Wein mit Abscheu, also als das Unangenehme, sodass sie sogar religiöse Verbote dagegen aussprechen. Man muss schon sehr von dem „Edlen“ (Ethik, S. 105) in sich und seiner „Tiefe“ (Ethik, S. 98) überzeugt sein, um seine Vorstellung des „Angenehmen“ als apriorischen materialen Wert aufzuspreizen. Das macht Scheler ebenfalls im Widerspruch zu seiner bloß formalen Bestimmung des Unterschieds vom Angenehmen und Unangenehmen, wenn er z.B. von „Perversion der Begierden“ spricht, „vermöge deren sie (die Perversen, B.G.) lebensschädliche Dinge 'als angenehm' erleben“ (Ethik, S. 104). Dass diese „lebensschädliche(n) Dinge“ an dem eurozentristischen und bürgerlichen Werten gemessen werden, versteht sich von selbst. Dieser Maßstab im Verhältnis zu anderen Kulturen, den der Edelspießer Scheler hat, wird dann nicht nur zum Maß „apriori“ „historischer Wertschätzung“, sondern auch zum Maßstab „aller ethnologischen Erfahrung“ für „fremde Lebensäußerungen“ (Ethik, S. 104). bürgerlich europäischen Kultur soll sie noch einmal als objektive bestimmt und dadurch gerettet werden. Schelers Intention ist die Konservierung der „Werte“ einer untergehenden sozialen Schicht innerhalb der herrschenden Klasse. Was Thomas Mann in seinem Roman „Die Buddenbrooks“ mit Wehmut geschildert hat, will Scheler durch Ontologisierung retten. Die willkürliche Erklärung bürgerlicher Werte zu ontologischen, um sie als ewige zu bewahren, beschleunigt aber nur ihren Untergang. Das willkürliche Verfahren der Bestimmung apriorischer Werte, noch dazu in einem Bereich, in dem es kein Apriori geben kann, untergräbt jede Dignität des behaupteten Inhalts. 2. 8.3. Der sittliche Wert Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist ein geistiger Wert bei Scheler. Gerechtigkeit steht deshalb über den vitalen Werten (und dann auch über den Wert des „Angenehmen“), aber unter den obersten Wert des „Heiligen“. Eine genaue Definition, was dieser geistige Wert ist, wird nicht gegeben, man muss sie aus den Textzusammenhängen erschließen. Der geistige Wert „Gerechtigkeit“ steht über dem positiven Recht (vgl. Scheler: Ethik, S. 212, Anm. 2), Scheler wendet sich damit gegen jede Art der Begründung, die positives Recht allein aus einer „Setzung des souveränen Subjekts“ (Monarch oder Parlament) erschaffen sein lässt (a.a.O., S. 566 Anm. 1). Ein Recht, das dem geistigen Wert der Gerechtigkeit genügt, kann allein aus einer Gesamtperson als Zentrum geistiger Akte kommen, das ist der Staat, die Kirche oder eine andere Gemeinschaft (nicht aber der Gesellschaft als bloßes Agglomerat). Eine Gemeinschaft besteht aus Personen im Schelerschen Sinne, die sich zu einer „Gesamtperson“ vereinigt haben. Als Gesamtperson darf sie nicht von zufälligen Mehrheiten abhängen, sondern sich allein an den Werten orientieren. Das ist die antidemokratische, gegen den Gedanken der Volkssouveränität gerichtete Stoßrichtung der Gerechtigkeit bei Scheler. Gerade am Begriff des Angenehmen zeigt sich die Unmöglichkeit materiale Werte als allgemein gültige zu bestimmen. Allgemein kann nur - wie Kant wusste - die Form sein: Hier der logische Unterschied von angenehm und unangenehm. Einen allgemeinen materialen Wert des Angenehmen kann es nicht geben, da es eine praktisch unendliche Variabilität der Empfindungen des Angenehmen gibt. Ein materialer Wert des Angenehmen ließe sich noch nicht einmal für eine besondere Kultur bestimmen, geschweige denn für eine Kultur, die auf einer kapitalistischen Warenproduktion mit ihrer permanenten Revolutionierung der sinnlichen Reize basiert. Diese Widersprüchlichkeit in der Bestimmung des Angenehmen, das einmal bloß formal sein soll und dennoch ein materialer Wert sein soll, das apriori gelten soll und dem tatsächlich sehr unterschiedliche bis widersprüchliche inhaltlichen Empfindungen des Angenehmen entsprechen, das eine historische Epoche, die europäische Kultur, zum Maßstab macht und doch überhistorisch absolut sein soll, macht die objektiven Interessen Schelers deutlich: In der Zeit des Untergangs und Versagens der Das Verhältnis des „ethischen“ Wertes „Gerechtigkeit“ zur Rechtssphäre ist nicht monokausal zu sehen. Der Unterschied zum 45 Recht liegt einmal in der Freiwilligkeit, da Gerechtigkeit ein sittlicher Wert ist und deshalb nur auf Freiwilligkeit beruhen kann; das positive Recht dagegen ist immer mit Zwang verbunden, kann also auch gegen den sittlichen Willen einer Person stehen. Allerdings solle der Wert Gerechtigkeit der Maßstab für das positive Recht sein – wie vermittelt auch immer sie in Beziehung stehen. Nach Scheler gehören Privat- und Strafrecht zur vitalen Sphäre. Werte und Rechtsformen wie „Vergeltung“, „Strafe“, „Sühne“ oder gar „Rache“ sind keine Formen der Gerechtigkeit, sondern sollen das Überleben der Gesellschaft sichern. Im Extremfall der Todesstrafe gibt es keine sittliche Rechtfertigung, wohl aber könne die Gesellschaft auf Grund ihres Lebensinteresses „Vergeltung“ dieser Art fordern. Lediglich aus dem Leben und Überleben, also den vitalen Werten, lässt sich die Bestrafung von Gesetzesbrechern rechtfertigen. 'Vergeltung' je abzuleiten oder durch Analyse zu gewinnen.“ (Scheler: Ethik, S. 374 f.) Der sittliche Wert wird durch diese Konstruktion rein gehalten und kann doch als der höhere und bestimmendere angesehen werden, insofern das Äquivalenzprinzip beachtet wird. Diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Recht drückt Scheler auch so aus: „Nur aus einem Teil des Wesenskernes der Gerechtigkeit, nach dem es gut ist und sein soll, daß unter gleichem Wertverhalten (!) auch gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde, folgt – wenn es Vergeltung gibt -, daß diese auch Gleichwertiges gleich zu treffen habe. Nicht aber folgt aus ihr die Forderung einer 'Vergeltung' selbst.“ (A.a.O., S. 377) Der Wesenskern der Gerechtigkeit widerspricht aber auch nicht der Vergeltung! Als wesentliche inhaltliche Bestimmung des geistigen Wertes „Gerechtigkeit“ bleibt dann die abstrakte Regel: „daß unter gleichem Wertverhalten auch gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde“ (ebda.). Die Pointe dieser Bestimmung liegt in dem implizit geforderten unterschiedlichen Recht, je nach dem Wertverhalten einer Person. Eine wertvollere Person muss in der Konsequenz Schelerscher Gerechtigkeit nach einem höheren Recht beurteilt werden als eine weniger wertvolle Person. Das "Höhere" im Wertrang ist für Scheler immer auch das Höhere in der sozialen Stellung. (Vgl. Bd. 8, S. 21) Das aber ist die elitäre Überhöhung der wertvolleren Persönlichkeiten gegenüber den weniger wertvollen, denn Gleiches gilt nur für Wertgleiches, Einzelpersonen oder Kulturpersonen wie die Nation mit einem höheren Wert stehen dann über Personen mit einem niederen Wert oder niederen Nationen und können auch ein höheres Recht für sich in Anspruch nehmen. Da das "Wertverhalten" bei den Menschen unterschiedlich ist, folgt aus dieser Bestimmung die unterschiedliche Behandlung der Personen: Jedem das Seine, aber nicht als Ziel für alle auf Basis einer allgemeinen Befriedigung der Bedürfnisse, davon ist bei Scheler nirgends die Rede, sondern je nach Rangordnung der Personen in der Klassengesellschaft oder im Konkurrenzkampf der Nationen. Konsequent wird von Scheler eine Wertdifferenzierung der Personen auch im Recht gefordert. Dies ist die Umkehrung der bürgerlichen Gleichheit vor dem Recht, wie sie seit der Damit aber tut sich ein Widerspruch zwischen der Rangordnung der Werte und ihrer Praxis auf. Der geistige und sittliche Wert Gerechtigkeit steht höher in der Rangordnung als die vitalen Werte, diese können aber nach Scheler gegen den höherrangigen Wert verstoßen, wenn es vital opportun ist, wodurch die Ranghöhe des sittlichen Werts keine Bedeutung mehr hätte, er wäre ranghöher und nicht ranghöher – oder er wäre im Geist ranghöher und in der Praxis nicht ranghöher: Und die Schelersche Konstruktion erweist sich als abstrakter Idealismus. Wenn dann der sittliche Wert der Gerechtigkeit der positiven Rechtssphäre und ihrer Praxis den moralischen Maßstab liefert, dann kann dies nur sehr vermittelt sein. Scheler macht diesen Zusammenhang an dem Beispiel der Vergeltung deutlich. „(...) es ist nicht die sittliche Sphäre, sondern die von ihr grundverschiedene Rechtssphäre, in deren Umkreis die Vergeltungsidee zu suchen ist. 'Vergeltung' als solche ist darum auch keineswegs eine Folgeforderung davon, daß Gerechtigkeit sein solle. Die Gerechtigkeit ordnet und regelt nur den Impuls der Vergeltung, indem sie die Idee der Proportion, des Gleichen für Gleiches, der Forderung nach Vergeltung (auf irgendeine näher bestimmte Weise) hinzufügt. Nicht aber ist aus der Idee der Gerechtigkeit jene der 46 Aufklärungsperiode im 18. Jahrhundert gefordert, zum "Vorurteil" geronnen (Marx) und schließlich auch in den meisten westeuropäischen Ländern als positives Recht durchgesetzt wurde. Die gleichen sozialen Chancen für alle, die sozialistische Erweiterung der formalen bürgerlichen Gleichheit, hätte in Schelers Wertphilosophie überhaupt keine Basis zur Begründung. Auf den Krieg bezogen ergibt sich, dass eine höherwertige Kulturpersönlichkeit (Nation) gegenüber einer minderwertigen alles moralische Recht auf ihrer Seite hat (s. u. 2.9.4.). Brutalitäten darstellt. (Siehe abschließende Kritik 3.1. ind 3.2.) Dies lässt sich an seiner Apologie des Krieges zeigen. 2. 8.4. Die Apologie des „echten“ Krieges und Gerechtigkeit Im Frühjahr 1918, als die deutsche Niederlage für Prinz Max von Baden, dem späteren Reichskanzler für kurze Zeit, noch nicht abzusehen war, forderte er eine „ethische Fundamentierung unserer äußeren Politik zur Fruktifizierung (Nutzbarmachung, B.G.) unserer materiellen Macht“ (Prinz Max von Baden: Denkschrift, S. 419). Ob dieser „ethische Imperialismus“ (ebda.) durch Schelers Ethik des Krieges philosophisch begründet wird, und wenn ja, auf welche Weise eine Legitimierung mit seinem Gerechtigkeitsbegriff zu tun hat, gilt es nun zu untersuchen. Andererseits kann der Staat, die Gemeinschaft oder die Nation zwar das Leben einer Person im Krieg fordern, nicht aber die Aufgabe ihres Personseins, als ob mit dem Tod eines Menschen nicht auch sein Personsein verschwindet. (Dem Tod der Person steht auch nicht das Argument entgegen, dass man das Andenken eines Toten ehren sollte oder seine Taten ihn zurechnen sollte, denn Person ist bei Scheler ein Aktzentrum und das besteht nur aus einzelnen Akten, Tote aber können keine geistigen Akte mehr ausführen - es sei denn, man nimmt ein imaginiertes Jenseits an). Es ist für Scheler selbstverständlich, den Krieg, „zu rechtem Ziele und auf rechte Weise geführt“, „vor dem sittlichen Gewissen und dem religiösen Sinne des Daseins und Lebens unseres Geschlechts“ zur rechtfertigen. (Scheler: Bd. 4, S. 55) Deshalb wendet er sich auch gegen die bloße Legitimation des Krieges durch Nutzen, Interessen, Militarismus oder der Aggressionsneigung, die sich in der „brutal, biologischen blonden Bestienmoral“ (a.a.O., S. 66) ausdrückt. Da er den Krieg um des Krieges willen ablehnt, ebenso wie „die einseitige und rohe Fassung des kriegerischen Ethos als bloßes Draufgängertum, bloßes 'Mutethos' und wohl gar noch irdisches, nur auf die eigene Gruppe bezogenes Herrschaftsethos", ist Scheler von den deutschen Faschisten abgelehnt worden (seine Bücher durften nach 1933 nicht mehr verlegt werden). In der widersprüchlichen Konstruktion, die im Verhältnis des geistigen Wertes der sittlichen Gerechtigkeit und der vitalen Werte des positiven Rechts besteht, zeigt sich der Idealismus der gesamten Wertphilosophie Schelers. Einigermaßen schlichten ließe sich der Widerspruch nur, wenn man den geistigen Wert Gerechtigkeit als unverbindliches Ideal ansieht – dann wäre er aber bloße Propaganda oder Manipulationsmittel, in Schelers Kriegsapologie würde er dann zur Ideologie. Zwar liegt hinter diesem Widerspruch das objektive Problem jeder Stände- oder Klassengesellschaft, dass ihre Moral sich regelmäßig an den gesellschaftlichen Verhältnissen blamiert, aber Scheler will diese Tatsache gar nicht rational durchdringen, sondern er verschleiert sie durch irrationale und widersprüchliche Konstruktionen seiner ontologisierenden Axiologie. Bezieht man die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft ein, dann zeigt sich, dass die Schelersche Konstruktion seines sittlichen Wertes „Gerechtigkeit“ ein Ideologem ist, dessen objektiver Zweck die Legitimation der Klassengesellschaft mit ihren Seiner Kriegsapologie entsprechend wendet sich Scheler andererseits gegen den Pazifismus jeder Couleur. Der Pazifismus geht nach Scheler von der falschen Voraussetzung aus, dass alle Menschen und ihre jeweiligen Gesellschaften gleiche Rechte hätten und gleichwertig wären – unabhängig von ihrem individuellen sittlichen Wert. Nur dann könne man internationale Institutionen fordern, die einen „ewigen Frieden“ als Schiedsrichter, 47 Gerichtshof oder Organisator herstellen und überwachen. Diese Ideen des Pazifismus beruhten auf einer Verkennung des Begriffs der Gerechtigkeit, die bei ihnen rein formal sei. Diese bloß formale Idee der Gerechtigkeit führe „nie und nimmer hinaus über eine bloß logisch-formale Ordnung und Systematisierung von Willenszwecken: "Es werde Gleichwertiges Gleichwertigem unter gleichen Umständen. Was aber zu wollen und zu tun sei und was nicht, davon sagt uns diese Idee nichts. Sie scheint uns nur dann etwas Derartiges zu sagen, wenn wir Verhaltensweisen, wie Achtung, Liebe, Wohlwollen in den Subjekten heimlich schon voraussetzen, um deren 'Gerechtigkeit' es sich handelt, bestimmte inhaltlich wertvolle Eigenschaften aber in denen, auf die sie zielt. 'Systematisch' können die Ziele des Teufels ebenso sein, wie die Ziele Gottes! Nennt man z.B. Gleiche stark hassen, quälen, bestehlen, berauben unter gleichen Umständen, sinnvoll keine 'gerechte' Handlung, so gibt man selbst zu, daß man alles 'gerechte' Verhalten gegen jemand bereits in irgendwelcher Form einer auf die Anschauung positiver Werte in ihm gegründeten Liebe verwurzelt hatte.“ (Scheler: Bd. 4, S. 59) Der Verlauf des I. Weltkrieges zeigt jedenfalls keine besondere Ritterlichkeit, die nach Scheler zu einem derartig höher stehenden Wesen gehört. Aus den geistigen oder sittlichen Unterschieden der Menschen folgen auch nicht unterschiedliche Rechte der Individuen und ihrer Gemeinschaften. Denn die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht nur eine rationale Forderung auf Grund der Bestimmung aller Individuen als Selbstzweck (Kant), sondern auch eine Bedingung für einen möglichen „ewigen Frieden“. Denn die Schelersche „Liebe“ liefe auf eine Weltdiktatur des höchsten Volkes hinaus (die philosophische Verbrämung des deutschen Griffs nach der Weltmacht), die fast automatisch den Widerstand der beherrschten Völker herausfordern müsste, also einen ewigen Krieg erzeugte. Überhaupt liefe die Schelersche Konstruktion auf das Paradoxon hinaus, dass die Liebe zum Krieg führt, um einen Zustand zu erreichen, der in „einem Maximum von Liebe auf Erden das höchste Ziel aller menschlichen Bestrebungen erblickt“ (Scheler: Bd. 4, S. 58). Danach ist Gerechtigkeit das Verhalten, das ein Maximum an Liebe auf Erden als höchstes Ziel anstrebt. Tatsächlich führt diese Art der Liebe zum Massenmord durch Materialschlachten und Giftgaseinsätze, und das alles, damit die Menschen mehr Liebe in die Welt bringen können. Solche Verrücktheiten kann sich auch nur ein idealistischer Philosoph ausdenken! Daraus ergibt sich auch der spezifisch Schelersche Begriff der Gerechtigkeit: „'Gerechtigkeit' ist eben keine neben oder gar über der Liebe stehende sittliche Grundidee, sondern nur die logische Ordnung in der Betätigung irgendeiner Art und Form von Liebe, resp. eines von Liebes-Gesinnung noch irgendwie umspannten inneren Verhaltens.“ (Scheler: Bd. 4, S. 59) Gerecht kann sich nach Scheler immer nur auf die Unterschiede der Menschen und ihrer „Gemeinschaften“ (nicht Gesellschaften) beziehen. Aus dieser teilweise schlüssigen Kritik an einer bloß formalen Gerechtigkeit folgt aber noch nicht die Schelersche Wertsetzung (oder wie er ontologisierend sagt: Wertgegebenheit) der menschlichen Unterschiede, denn diese an der Höhe des Geistes ausgerichteten Rangstufungen stehen nicht nur im Widerspruch zu Schelers Abwertung des Geistes (s. u.), sondern sind auch in sich falsch, als ob der höher stehende geistige Mensch nicht ebenso zu Brutalitäten fähig wäre wie eher geistig schlichte Menschen. Scheler leitet seine Apologie des Krieges allgemein aus seiner Wertlehre ab. Dabei wird einmal der Krieg aus der „Liebe“ bzw. aus dem Ordo amoris begründet, zum anderen aus der Gerechtigkeit. Aus der Bestimmung der Gerechtigkeit, „daß unter gleichen Wertverhältnissen (!) auch gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde“ (Scheler: Ethik, S. 377), folgt, wie oben gezeigt, nicht, dass alle Personen gleich seien – auch wenn sie alle vor dem positiven Recht faktisch als gleich gelten -, sondern die Person, die im Schelerschen Sinn höherwertig ist, kann sich auch auf ein höheres (geistiges fundiertes) Recht im Umgang mit den Personen berufen, denen weniger Recht zusteht oder die weniger wertvoll sind. Da das 48 Personsein nicht nur das menschliche Individuum kennzeichnet, sondern auch die Nation, sie ist als Kulturgemeinschaft „geistige Gesamtperson“ (Scheler: Bd. 4, S. 62), von der das Individuum abhängt und geprägt wurde, gäbe es zwischen Nationen oder Staaten Rangunterschiede in ihrer Wertqualität. Nach Scheler rechtfertigt allein dieser Rangunterschied bereits einen Krieg. Er macht dies an einem Beispiel deutlich. „die Eroberungen Roms wurden auch zu Eroberungen eines Teiles der Welt für das höhergeartete römische Recht.“ (A.a.O., S. 64) Ähnlich legitimiert Scheler die Besetzung Polens durch Preußen. einem Plebiszit der Elsässer Bevölkerung abhängig machten. Aber die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmt sich nicht nach Wunsch und 'Nationalbewußtsein' der in Frage kommenden Subjekte. Sie bestimmt sich nach Art und Richtung der Arbeit, der Formung, die dieser Boden in sich aufgenommen hat und nach jenen tieferen Lebens-Schaffens-Werttraditionen, die jenseits der Oberfläche des 'Urteilsbewußtseins' und des 'Wunsches' in dieser Bevölkerung leben.“ (Scheler: Bd. 4, S. 59) Die Fehler der Schelerschen Wertphilosophie zeigen in ihrer Anwendung ihre wahren Konsequenzen: Eine autoritäre, undemokratische und elitäre Ideologie des deutschen Imperialismus. Was die legitimierten Werte sind, wird der rationalen Diskussion entzogen (ganz abgesehen von dem Anachronismus, als hätten 1871 die Politiker schon gewusst, was "Werte" im Schelerschen (oder Lotzeschen) Sinn überhaupt sind) und nur der Eingeweihte kann über Länder und Menschen verfügen. Scheler rechtfertigt den Krieg ebenfalls aus der Liebe. Für Scheler ist die „Liebe“, wie sie oben im Kapitel über den „Ordo amoris“ charakterisiert wurde, die „Wurzel aller echten 'Objektivität' im Verhalten“, sie ist das „letzte Agens, das unseren Geist aus dem Umkreis unseres Leibes und seiner Begierdeimpulse sich heraus ins Freie, zu Dingen und Werten hinbewegen läßt“ (Scheler: Bd. 4, S. 61). Diese Liebe aber, die unsere Werterkenntnis in Gang setzt, ist nicht wertneutral, sondern wertet die Person in den Individuen wie in den Gemeinschaften. Sie ist deshalb auch keine „Disposition, anderen wohlzutun, sondern stellt „die Forderung des höheren Wertes im Gegenüber“ sowie „die Bewahrung der Geisteswürde des Anderen“, deshalb muss sie auch fähig sein zu züchtigen – bis hin zum Krieg. „Die echte Liebe aber, die nicht auf die Wünsche, sondern die Werte und die Würde des anderen Teiles und auf sein wahres 'Heil' gerichtet ist, kann auch hier nach dem Vorbilde Gottes verfahren, der weise 'züchtigt, die er liebt'. Das gilt auch noch im Völkerleben.“ (Scheler: Bd. 4, S. 60) Überhaupt ist diese Wertideologie von Scheler gegen jede Art der philosophischen Tradition gerichtet, die kosmopolitisch auf den Standpunkt der Menschheit wie jede wahre Wissenschaft argumentiert. Scheler muss diesen Standpunkt schon deshalb ablehnen, weil er die Geschichte der Philosophie zurückgedreht hat, indem er das (gattungs)subjektive Moment in jeder Erkenntnis zugunsten seiner phänomenologischen Ontologisierung ersetzt hat. Da diese Ontologisierung falsch ist, sind auch alle darauf aufbauenden Rangunterschiede im Wert falsch bzw. irrational. Nur deshalb kann er die prinzipielle Gleichheit aller Menschen kritisieren: Gesellschaft und Menschheit sind keine Gemeinschaften, weder Kultur- noch Wertegemeinschaften, sondern bloß eine äußerliche Addition atomisierter Menschen. Gäbe es keinen Rangunterschied unter den Nationen, dann hätte jede Nation eine Stimme, die niederen Nationen könnten die höheren dominieren. „Eine auch wert- und liebesblinde Gerechtigkeit aber wäre auch blind und ohnmächtig für – die Gerechtigkeit selbst.“ (Scheler: Bd. 4, S. 61) Der Standpunkt der Menschheit dagegen wird ihm zur „Entziehung eines Liebesquantums“ für die Nation. Daraus folgt für Scheler, „daß gleichzeitig eben die Sphäre dieser höheren, alle 'Wohlfahrt' weit überragenden Werte, von Auf die realen Beziehungen der Nationen angewandt, erläutert Scheler seine Apologie des Krieges aus der Liebe am Beispiel der Annexion von Elsass-Lothringen. Diese wird nicht durch den Sieg, also durch pure Macht, gerechtfertigt, auch nicht durch eine mögliche Volksabstimmung, sondern durch die Werte, die diese Kulturlandschaft so geprägt haben, dass sie auch ohne Begründung mit der Volkssouveränität deutsch wären. „Man hat uns z.B. den Vorwurf gemacht, daß wir 1871 unsere Erwerbung der uns von Ludwig XIV. entrissenen Landesteile des Elsaß nicht von 49 Hause aus nicht allen Menschen 'gemeinsam' sind, sondern nur völkisch national oder nach Kulturkreisen differenzierten Eigenschaften, Werken und Kräften der Menschen zukommen können.“ (Scheler: Bd. 4, S. 62) erreicht, dann streben die Kapitale über den Binnenmarkt hinaus auf den Weltmarkt. Dies war vermehrt in Deutschland spätestens nach 1884 der Fall. Dort treffen sie aber auf fremdes Kapital und einen „Naturzustand“, wie er analog bei Hobbes beschrieben wurde, das heißt einen ungeregelten Krieg aller gegen alle. Deshalb kann ein Einzelkapital auf dem Weltmarkt nur agieren, wenn es die geballte Macht der ganzen Gesellschaft (bei Scheler „Nation“ genannt) hinter sich weiß. Der Konkurrenzkampf der Kapitale wird zum Konkurrenzkampf der Staaten. Dies setzt andererseits die Durchdringung der Staatsinteressen durch das Kapital voraus. Der höhere Rang eines Staates bemisst sich nicht nach irgendwelchen sittlichen Werten, sondern nach der Größe seiner Produktion, die sich in der Höhe der Kapitalien ausdrückt. Der sittliche Wert der Nation, wie Schelers ihn sieht, ist faktisch nur der illusionäre Schein des ökonomischen Werts, der bei ihm unter den niederen Werten der „Nützlichkeit“ rangiert. Können die Staaten ihre ökonomische Konkurrenz nicht mehr mittels Verträgen und anderen friedlichen Mitteln regulieren, kommt es zum Krieg unter ihnen. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem sind deshalb Kriege als Fortsetzung des ökonomischen Konkurrenzkampfes mit anderen Mitteln eine ständig Möglichkeit, die zwangsläufig immer mal wieder in die Realität umschlagen muss. Kommt in Deutschland noch die Verschwisterung der Kapitalbesitzer mit dem Adel, dessen Identität durch das Militärische bestimmt wird, hinzu, dann entsteht faktisch eine besonders aggressive Tendenz, die dann zum Ersten Weltkrieg geführt hat, den Scheler moralisch als „echten Krieg“ (a.a.O., S. 56) legitimiert. Gibt es dagegen Krieg zwischen ungefähr gleichrangige Nationen, dann sind nach Scheler ihre Rivalität und der Krieg ein „Gottesgericht“ (GW Bd. 4, S. 59). Die Höhe der Personenwerte und den Rang, den eine Gemeinschaft einnehmen kann, zeigt sich im Bereich des Sittlichen in ihrem Kriegsethos. Dieses beschreibt Scheler so: „Kriegerisches Ethos ist aber ebenso ursprünglich, wie es Mutethos ist, auch Ethos ritterlicher Selbstbeherrschung der eigenen Triebe und Opferethos; kriegerisches Ethos ist gerade nicht rohes Säbeltum, sondern ritterliches und großherziges Degenethos, das mitten im Kampf den Feind bejaht und achtet und 'Haß' und 'Neid', d.h. die spezifischen Haltungen der 'Ohnmacht ' nicht kennt; ist nicht nur Ethos des guten Befehlens, sondern auch des guten echten Gehorchens (im Gegensatz zu sklavischer, meist mit dem Bewußtsein äußerster 'Selbständigkeit' gepaarten Beeinflußbarkeit und Ansteckbarkeit durch fremdes Wollen); nicht nur Ethos der Siegesfreude, sondern auch Ethos ruhigen und stillen Duldenkönnens einer Niederlage; nicht nur irdisches Herrschaftsethos, sondern auch der Unsterblichkeit zugewandtes Ruhmesethos.“ (Scheler: Bd. 4, S. 66) Zum Ziel des Krieges kann deshalb auch nicht die Vernichtung des Gegners gehören, sondern gut Clausewitzschisch: die „Wehrlosmachung des fremden Staates“. (A.a.O., S. 56) Vergleicht man dieses ritterliche Ideal mit der typischen Wirklichkeit, dann wird das Illusionäre, Don Quixotische und Ideologische offenbar. Das Schelersche Ethos, das es in den historischen Kriegen bestenfalls vereinzelt gab, die Ritter, nach denen diese Ritterlichkeit benannt wurde, entsprachen nie ihrer eigenen Propaganda, hat auch mit den Tatsachen des I. Weltkrieg nichts zu tun. Die „geistige Willenspersönlichkeit des Gegners“ wurde nicht geachtet, sondern er wurde vergast, ohne dass er sich wehren konnte, ohne dass sein Wille irgendeine Bedeutung hatte. Dass dieser Massenmord ein „Töten ohne Haß“ sei, mag vielleicht auf den einzelnen Soldaten zutreffen, nicht aber auf die Kriegspropaganda, die geradezu auf den Hass setzte (was sich u.a. in 2. 8.5. Die tatsächlichen Kriegsgründe und Schelers Kriegsideologie In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Konkurrenz der Kapitalien erzwungen durch ihr Aufeinandertreffen auf dem Markt. Ein Kapital kann nur bestehen, wenn es seine Produktivität erhöht und sich vermehrt, d.h. ausweitet, seinen Profit wieder reinvestiert. Hat die Produktion eine gewisse Größe 50 banalen Sprüchen wie diesen äußerte: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt“). Moral basierenden Umgangs der Menschen miteinander, in der die Menschen Selbstzweck sind, durch innere individuelle Dispositionen und äußere gesellschaftliche Zwänge gehemmt wird. Dennoch müsse diese moralische Anstrengung von den Menschen gefordert werden, um einen „ewigen Frieden“ zu schaffen, auch wenn die entscheidende Triebkraft für einen Fortschritt zur Moralität die Widersprüche im Wesen des Menschen und seiner Gesellschaft sind. Hegel hat diese Position kritisiert als „Ohnmacht der Tugend vor dem Weltlauf“. Nur die moralischen Forderungen seien akzeptabel, die eine Basis haben in der objektiven Sitte der Gesellschaft. Allerdings sah Hegel die Moralität in der Gesellschaft seiner Zeit als objektive Tendenz angelegt, sodass Moral als ein Moment der Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat) ihren Platz habe. (Vgl. zum Verhältnis von Kant und Hegel den Essay von Pelzer: Studien.) Dagegen hat Marx gezeigt, dass in der kapitalistischen Gesellschaft tendenziell die Menschen zum bloßen Mitteln der Produktion von Mehrwert, der Akkumulation von Kapital gemacht werden. (Marx: Kapital I, S, 167 f., 189 f.; vgl. auch meinen Aufsatz über „Kapital und Ethik“ in „Erinnyen“ Nr. 4, 1989, S. 19 – 78) Die Geschichte bei Hegel als „Bewusstsein vom Fortschritt der Freiheit“ entpuppt sich als ein blinder Mechanismus, der von Katastrophe zu Katastrophe schlittert. Dadurch erhält die Kantische Entgegensetzung von moralischem Gesetz und sozialer Wirklichkeit wieder Bedeutung, freilich nicht in einer unmittelbaren Aufforderung, dem moralischen Gesetz in der kapitalistischen Gesellschaft zu folgen, was meist unmöglich ist, sondern als moralisches Motiv, die kapitalistischen Verhältnisse zu beseitigen, die Moralität, d.h. ein friedliches Zusammenleben, verhindern (vgl. Gaßmann: Widerstand, S. 58 f. u. 112-114). Durch den Stand der Produktivkräfte hatten auch die entwickelten Destruktivkräfte ein Niveau erreicht, das solche Begriffe wie „ritterliche Selbstbeherrschung“, „Opferethos“, „großherziges Degenethos“ obsolet machten. Im Dauerbombardement auf die Schützengräben spielte die Kampfmoral kaum eine Rolle: Wer getroffen wurde, entschied allein der blinde Zufall. Auch den "guten echten Gehorsam" gab es kaum: Selbst wenn es diesen bei einigen kriegssozialisierten Offizieren anfangs gab, die Masse der Soldaten aus Lohnabhängigen legte eher den "Sklavengehorsam" an den Tag, indem sie sich für die Interessen ihrer Ausbeuter abschlachten ließ; bei ihnen trifft Schelers Formulieren des Sklavengehorsams zu: „meist mit dem Bewußtsein äußerster 'Selbständigkeit' gepaarten Beeinflußbarkeit und Ansteckbarkeit durch fremdes Wollen“. Und die in diesem Kriegsethos geforderte Tugend des „ruhigen und stillen Duldenkönnens einer Niederlage“ war nach der wirklichen Niederlage bei den Kriegstreibern nur eine der Dolchstoßlegende und eine der Forderung nach einem Revanchekrieg. Wenn aber zwischen dem Schelerschen Kriegsethos und der typischen Wirklichkeit ein konträrer Gegensatz besteht, wenn der Schelersche Idealismus nichts mit der brutalen Realität moderner imperialistischer Kriege zu tun hat, dann stellt sich überhaupt die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Werten und der Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wird in der Ethik unter dem Begriff des Sollens abgehandelt. 2. 9. Das Sollen und die materiale Wertethik 2. 9.2. Das Sollen in Schelers ontologischem Idealismus 2. 9.1. Das Sollen in der bürgerlichen Philosophie bei Kant und Hegel Werte sind nach Scheler vom äußeren Sein unabhängig. „Werte sind in bezug auf Existenz und Nichtexistenz prinzipiell indifferent gegeben.“ (Ethik, S. 210) Alles Sollen dagegen ist auf die Existenz von Kants kategorischer Imperativ fordert eine moralische Anstrengung von den Menschen, weil er gesehen hat, dass der Zustand der Moralität, d.h. ein Zustand des friedlichen auf 51 Werten bezogen. Die Diskrepanz zwischen den Werten und dem Seinsollen von Werten (d.h. nicht allen Werten) kann aber nicht das letzte Wort der materialen Wertethik sein, denn dann wäre sie bloßer idealistischer Schein. Scheler muss also angeben, wie Werte durch Menschen zum Sein gebracht werden können bzw. sollen. Scheler geht dabei von drei „Axiomen“ aus, die das Verhältnis von Sein und Sollen bestimmen müssten. äußeren Gütern sind oder nicht sind, insofern sie nur an diesen Gütern sein könnten. Materiale Werte sind seiende in Bezug auf das menschliche geistige Fühlen. Das Kapitel über das Sollen aus der „materialen Wertethik“ hat nun weniger die Verwirklichung der Werte zum Gegenstand, sondern den Aufweis der Belanglosigkeit des Sollens für diese Ethik. So bestimmt Scheler, dass das Sollen ursprünglich niemals das Sein des Guten meint, sondern das Nichtsein des Übels. Nur das „Nichtsein des Guten“ erzwingt ein Sollen. Damit aber unterstellt Scheler implizit die soziale Wirklichkeit als insgesamt gute, ohne dass seine Ethik die soziale Wirklichkeit als Bedingung der Wertethik und des Sollens systematisch einbezieht bzw. einbeziehen kann. Im Gegenteil, die soziale Wirklichkeit wird nach den Werten konstruiert (siehe 3.1.), sodass Scheler immer schon seine Werte in der sozialen Wirklichkeit verwirklicht sieht. Der Zirkelschluss seiner phänomenologischen Methode (siehe 2.3. – 2.5.) wird zum Zirkel seiner gesamten Weltkonstruktion: Die Werte werden (ontologisierend) aus dem vermeintlichen Sein genommen und aus den Werten wird das Sein wieder konstruiert. Dieser Zirkel, der schon bei Rickert von mir nachgewiesen wurde, unterscheidet sich vom bewusstseinsimmanenten Neukantianismus nur durch die angebliche ontologische Fundierung. In diesem Zusammenhang lobt er Hegels Kritik an Kants scheinbar abstrakter Gegenüberstellung von moralischem Sollen und sozialer Wirklichkeit, kritisiert aber die „Aufhebung und Rechtfertigung des Historischen“ bei Hegel, weil dieser seine „Werte“ aus Fakten, Menschen, Handlungen und Gütern der Geschichte angeblich abstrahiert habe. Demgegenüber werden Schelers Werte als überhistorische, absolute angesehen und aus anthropologischen Konstanten bestimmt (siehe oben 2.7.). 1. Das Sein des positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert (a.a.O., S. 210). Damit wird von ihm ausgedrückt, das zumindest bestimmte Werte in Existenz überführt werden sollen. 2. Alles positiv Wertvolle soll sein, alles negativ Wertvolle soll nicht sein (ebda.). Dieses „Axiom“ ergibt sich aus dem ersten (nach meiner Reihenfolge) und betont den Übergang vom bloßen Wert zu den Gütern, also Dingen, an denen positive Werte haften. 3. „Alles Sollen ist fundiert auf Werte“ (ebda.), denn ein Sollen ohne Wertbezug wäre ein leeres Sollen, da alle Handlungen des Menschen einen Wertaspekt (und sei es den der Nützlichkeit) haben. Umgekehrt gilt: Werte sind nicht auf ein ideales Sollen fundiert, sondern, gemäß der phänomenologischen Methode, uns aus dem Wertfühlen gegeben. Bei jedem Sollen könne man immer fragen, auf welchen Werten es basiert, das Sollen kann niemals von sich aus angeben, was ein positiver Wert ist (a.a.O., S. 212). Da der Inhalt des Sollens in die Existenz überführt werden müsse, also noch nicht existiert, kann ein Sollen auch misslingen. Dies mögliche Scheitern des Sollens tangiert aber nicht den Wert, der in die Existenz überführt werden soll. Es soll hierbei das Kantwort gelten, dass „das Gute sein soll, auch wenn es niemals und nirgends geschehen wäre“ (a.a.O., S. 210). Dies ist kein Widerspruch zu der materialen Wert- und Güterethik, die von seienden Werten spricht, denn – wie oben belegt – kann der seiende Wert auch aus einem Traum erschlossen sein, Werte sind immer „ideales Sein“, unabhängig davon, ob sie an Seiner heteronomen Ethik entsprechend könne das Sollen auch keine „Selbstverpflichtung“ wie bei Kant sein, sondern beruhe auf einem Befehl, den der „Wert eines Nichtseienden“ dem Sollen aufzwingt. Aus dem Nichtsein eines Wertes folgt ein Streben, das sich als ideales Sollen manifestiert, dieses wiederum wird zum Befehl für das Streben nach einem bestimmten 52 Sollen. Eine Ethik aber, die sich imperativisch gibt, unterstelle ein „konstitutives Mißtrauen in die menschliche Natur“ (Ethik, S. 216), ja in das Wesen sittlicher Akte überhaupt. Ein moralischer Befehl ist geradezu kontraproduktiv, weil er „sittlichen Trotz“ (a.a.O., S. 218) hervorruft, der sich auch gegen den Inhalt des Sollens, also gegen den Wert richtet, der verwirklicht werden soll. Das Sollen intendiert geradezu „Böses“, wenn der Befehl auf „Einsichtigkeit“ trifft und dadurch diese Art Trotzreaktion auslöst (a.a.O., S. 217). fremder Einsicht folgt; er ist aber auch ein einsichtiger Akt, wenn wir einsehen, der Befehlende habe ein höheres Maß von sittlicher Einsicht als wir selbst.“ (Ethik, S. 78 Anm. 2)) Geistige Autonomie ist demnach Einsicht in die materialen Werte und in die Ranghöhe wertvoller Personen, geistige Autonomie ist Gehorsam in diese Personen, also in Scheler. Autonomie des sittlichen Handelns ist Gehorsam dem Sein der materialen Werte gegenüber, die Scheler definiert. Autonomie hingegen im Sinne Kants, die Selbstgesetzgebung des Moralgesetzes, kann es für Scheler gar nicht geben, da die materialen Werte keine Produkte der Vernunft sind, sondern des irrationalen Fühlens, also des "einsichtigen" Gehorsams dem Sein gegenüber. Aus diesen Implikationen des Sollens ergibt sich für Scheler die Aporie jedes Sollens: „Sollen setzt voraus, daß ich wisse, was gut ist. Weiß ich aber unmittelbar und voll, was gut ist, so bestimmt auch dieses fühlende Wissen unmittelbar mein Wollen, ohne daß ich durch ein 'ich soll' einen Durchgang nehmen müßte.“ (a.a.O., S. 213) Da die Werte durch das Fühlen erkannt würden, seien sie immer schon (ähnlich bei Windelband) im Individuum verankert und unmittelbar handlungsbestimmend. Faktisch führt diese Aporie des Sollens zur Anpassung an die bestehende Sittlichkeit, die immer schon als gut vorausgesetzt ist und aus einer angeblich fixen anthropologischen Struktur des Menschen begründet ist. Werte sind als materiale seiend und das Sein ist immer schon durch die Werte geprägt. Die Ethik besteht dann lediglich darin, sich dieser Werte bewusst zu machen, sich den Sitten seines Volkes anzupassen und – wie das Kapitel über Gerechtigkeit und Krieg gezeigt hat -, wenn es sein muss, für die Werte der Nation zu sterben. War in der Kantischen Idee der Pflicht als innere Nötigung noch eine Spannung zwischen der Autonomie der Person und ihrer sozialen Wirklichkeit impliziert, so bügelt Scheler diese Spannung weg und reduziert Autonomie auf die Einsicht ins Bestehende, das apriori als gut gesetzt wird. Die richtige Einsicht, dass man Liebe nicht gebieten kann, wird bei Scheler zur Behauptung, dass die Liebe zu seinen Werten allgemeine Strebenstendenz sei. „Autonomie des sittlichen Erkennens und Autonomie des sittlichen Wollens und Handelns sind daher grundverschiedene Dinge. So ist der Akt des Gehorsams ein autonomer Willensakt (im Umterschiede vom Unterliegen einer Suggestion, Ansteckung oder Nachahmungstendenz), der aber gleichzeitig Abgesehen von seiner modernen (falschen) phänomenologischen Begründung seiner materialen Werte fällt Scheler in der Konsequenz seiner Ethik nicht nur hinter den Stand des ethischen Denkens von Kant zurück, sondern auch hinter Hegel, dem er nur scheinbar näher steht, denn bei Hegel war die Sittlichkeit nicht einfach im preußischen Staat seiner Zeit verwirklicht, sondern bestenfalls in seiner Potenz, in seiner Entwicklungsrichtung (vgl. Pelzer: Hegel, S. 27). Da sich nun faktische Verstöße gegen die behaupteten herrschenden (illusorischen) Werte nicht verschweigen lassen, werden sie als Ausnahmen abgetan. „Das Medikament des Gebotes und Verbotes zu unserer normalen sittlichen Nahrung zu machen – ist Widersinn.“ (Ethik, S. 218) Sollensforderungen gehen nur an die verbohrten Uneinsichtigen oder Unbedarften. Imperative des Sollens und Normen des Handelns sind historisch variabel, während die Werte überhistorisch sind und absolut gelten. Als historisch variable können Imperative bei „Anerkennung derselben Werte“ (S. 219) sogar „entgegengesetzt“ sein, je nach der „ursprünglichen Wertrichtung des Strebens“. So müsse man beim „krankhaften Opfermut“ den Imperativ der Eigenliebe, beim krassen Egoismus den Imperativ der Fremdliebe betonen. Diese Variabilität der Imperative (des Sollens) ändere aber nichts an der allgemeinen Sittlichkeit des Bestehenden, der „Liebe zur Welt“, im Gegensatz zu einer Pflichtethik wie der von Kant, die „Mißtrauen“ und „Feindseligkeit“ „in alles 'Gegebne' 53 unterstelle“ (Ethik, S. 63) und die „Haltung des prinzipiellen Mißtrauens von Mensch zu Mensch einnehme“ (a.a.O., S. 63/Anm. 2). einigen in die Augen treibt. Was es mit dieser Verklärung auf sich hat, ist nun zu zeigen. Einschätzung der Schelerschen Ethik in Bezug auf das Sollen 2.10. Der Geist bei Scheler Der obige Widerspruch zwischen seinem Kriegsethos und den wahren moralischen Tatsachen des Krieges ist kein zufälliger Einzelaspekt in Schelers Konstruktion, keine zufällige Fehleinschätzung, sondern seiner ethischen Konstruktion als schlechter Idealismus immanent. Seine Kriegsapologie ist nicht nur aus der Situation Deutschlands nach 1914 zu erklären, sondern konsequenter Ausfluss seiner materialen Wertethik. Da seine Werte nicht mit der Wirklichkeit vermittelt sind, sondern ähnlich wie im Neukantianismus die Wirklichkeit nach den Werten gedeutet wird, kann er das „Sollen“ herunterspielen im Medium seiner wirklichkeitslosen Ethik. Scheler konstruiert die Welt, wie sie sein soll, indem er das Sollen als nebensächlich für seine Ethik abtut. Die traditionelle Bestimmung des Geistes Was ist rational betrachtet Geist? Menschliches Bewusstsein, das sich als allgemeines bestimmt, wird zum Geist. Das Ich transzendiert sich und wird zum „Wir“ (Hegel: Phänomenologie, S. 145). Denkt ein singuläres Bewusstsein z.B. 5+7=12, dann akzeptiert auch ein anderes Ich diese Rechenoperation, letztlich alle rational denkenden Menschen – es sei denn, es sind Dostojewskische Spinner. Bei Kant gründet der menschliche Geist auf dem transzendentalen Bewusstsein, als transzendentales ist es aber immer nur real in einem empirischen Bewusstsein, dessen objektives Wesen es ist oder doch sein sollte. Das wahre menschliche Bewusstsein ist dann der Schnittpunkt von empirischem und transzendentalem Bewusstsein oder wie Hegel es nennt, der individuelle Geist. Als Geist enthält das Bewusstsein ein autonomes oder absolutes (unbedingtes) Moment, insofern es die Welt auf sich hin interpretiert, Ziele und Zwecke setzt, die nicht in der Natur vorkommen – auch nicht in seiner eigenen, wie z.B. moralische Zwecke. Hätte es nicht dieses absolute Moment, sondern wäre es durch einen Gott, die Materie, die natürliche und gesellschaftliche Umwelt oder durch das Gehirn vollständig bestimmt, dann wäre es an die Naturzwänge gebunden, hätte noch nicht einmal die Freiheit, diese Zwänge zu erkennen, um in sie einzugreifen und sie antizipierend zu überschreiten, etwa wenn es sich z.B. Zwecke setzt, die noch nicht realisiert sind. Die Abwertung des Sollens folgt aber nicht nur aus der Idealisierung der sozialen Wirklichkeit, sondern ist zugleich Produkt seiner abstrakten Vernunftethik, die sich als ontologische ausgibt. Die „materiale Wertethik“ wird scheinbar zur bloßen Deskription der Realität, während sie tatsächlich als Wunschethik das bürgerliche Bedürfnis nach geistiger Sicherheit und die Sehnsucht nach einem rückwärtsgewandten Zustand, den es doch nie gab, ausdrückt. Die willkürlich konstruierten Werte führen bei Scheler zu einer Verklärung der tatsächlichen Verhältnisse. Diese Verklärung ist nicht nur Blindheit gegenüber der wirklichen Welt, sondern beschleunigt wegen des schlechten Idealismus noch den Untergang der bürgerlichen Kultur im Geistigen, wie diese Kultur infolge des I. Weltkrieges real ihrem Ende zugeht. Dennoch ist der Geist auf das Andere des Geistes als seine Voraussetzung bezogen. Er hat das Allgemeine der Welt zum Gegenstand, ohne die er ein Geist von Nichts wäre, also kein Geist; er ist auf die Biologie des Gehirns als seine naturale Basis angewiesen und bedarf der menschlichen Sinne, um einen Zugang zu dem zu haben, was er nicht ist: der äußeren materiellen Welt. Wäre der Geist nur das Bewusstsein objektiver Resultate des Denkens, Das kann nicht ohne Auswirkungen auf den Begriff des Geistes selbst sein. Jeder „Werte und Normen“-Lehrer weiß, dass Scheler den Menschen als Geistwesen bestimmt hat; dieser Begriff gehört deshalb zur Standardbestimmung des Unterrichts in den Schulen, der die Tränen der Entzückung bei 54 dann wäre er rein kontemplativ. Und selbst als kontemplativer kann er nur Gegenstände denken, indem er sie in sich erzeugt oder nacherzeugt, z.B. einen Würfel in allen seinen Dimensionen, die niemals alle zugleich sichtbar sind oder gesehen werden können. Der Geist muss also als aktiver bestimmt werden und als aktiver ist er nur bestimmbar als mit einer vitalen Basis, dem Gehirn, verbunden gedachter. Geist ist charakteristisch verändert gegenüber dieser Tradition. Einmal weitet er den Geist aus, wenn er auch das Fühlen als nicht rationale Erkenntnisweise des Geistes ausgibt. Er definiert den Menschen als Geistwesen und überhöht dabei den Geist als das radikal andere der Natur. Zum anderen engt er ihn drastisch ein, wenn er ihm abspricht, seine Begriffe zu setzen und ihn zum bloßen Moderator des gefühlsmäßigen Dranges macht. Der Geist verliert bei Scheler gegenüber der Tradition die Einsicht in die konstitutive Leistung der menschlichen Subjektivität bei jeder Erkenntnis, die er im frühen Nominalismus gewonnen hatte, und er wird zugleich irrational und in seinen Fähigkeiten restringiert. Als produktiver Geist ist er aktiv-produktiv, als rezipierender Geist ist er passivaufnehmend, oder wie die metaphysische Tradition sagte, er ist intellectus agens und intellectus possibilis (vgl. Mensching: Allgemeine, S. 225). Der menschliche Geist konstruiert sich seine Welt immer auf sich zu, setzt sich Zwecke und dringt über den Willen auf deren Verwirklichung. Die Umgestaltung der Erdoberfläche in den letzten 300 Jahren legt genügend Zeugnis davon ab. Er kann aber nicht nur aktiv-produzierend sein, dann wäre er eine reine Aktualität und könnte keine neuen sinnlichen Eindrücke in sich aufnehmen. Da er aber auch Neues sich aneignet, Wahrnehmungen aufnimmt, um neue Begriffe zu bilden, muss er auch als passiv-aufnehmend, als Potenz, als ein Mögliches und Bestimmbares gedacht werden. Der intellectus possibilis ist nach Thomas von Aquin das Gedächtnis (vgl. Mensching, Allgemeine, S. 225). Dieses Charakteristische wird erst vor dem oben angedeuteten traditionellen Hintergrund deutlich. „Geist“ ist nach Scheler „alles, was das Wesen von Akt, Intentionalität und Sinnerfülltheit hat – wo immer es sich finden mag“ (Scheler: Ethik, S. 404). Dabei sind „Akte“ nichts Psychisches, sondern allein geistig. Sie sind auch kein Physisches, sondern „Akte entspringen aus der Person in die Zeit hinein“ (a.a.O., S. 403), sie sind vom Ich, das allein psychisch gedacht wird und dessen Funktionen in der Zeit sind, streng zu unterscheiden. „Funktionen sind Tatsachen in der phänomenalen Zeitsphäre und indirekt durch Zuordnung ihrer phänomenalen Zeitverhältnisse auf die meßbaren Zeitdauern der in ihnen gegebenen Erscheinungen selbst meßbar. Zu den Funktionen gehören z.B. das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, alle Arten des Aufmerkens, Bemerkens, Beachtens (nicht nur die sog. sinnliche Aufmerksamkeit), des vitalen Fühlens usw., nicht aber echte Akte, in denen etwas 'gemeint' wird.“ (Scheler: Ethik, S. 403) Keines dieser Momente des Geistes darf verabsolutiert oder hypostasiert werden, wenn man einen rationalen Begriff vom Geist haben will. Weder ist er nur ein Absolutes noch bloß eine Gehirnfunktion, weder ist er nur Aktivität noch alleinige Passivität, weder ist er vollkommen frei noch vollkommen determiniert, weder ist er bloß kontemplativ noch allein als Produzierendes zu bestimmen. Welche dieser dialektisch vermittelten Gegensätze überwiegt, ist jeweils an der konkreten Gestalt des Geistes in der Geschichte zu studieren. Den Zusammenhang von Akt des Geistes und den Funktionen des Ichs erklärt Scheler so: Funktionen können Gegenstände von Akten sein, „wie z.B., wenn ich mir mein Sehen selbst zu anschaulicher Gegebenheit zu bringen suche“ (a.a.O.), das heißt ontologisch fundiere. „Sie können aber auch das sein, 'wohindurch' ein Akt sich auf ein Gegenständliches richtet. (...) So z.B. wenn ich einmal einen Gegenstand sehend, das andere Mal hörend, 'denselben' Urteilsakt vollziehe (d.h. einen Urteilsakt identischen Sinnes und Der Geist bei Scheler Indem Scheler den Menschen als „Geistwesen“ bezeichnet, scheint er in der Tradition des gerade angedeuteten Begriffs des Geistes zu stehen. Doch seine Vorstellung von 55 über denselben Sachverhalt)“ (a.a.O., S. 403). Das „Zentrum“ der geistigen Akte nennt Scheler „Person“. „D.h. zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert und lebt im Vollzug 'intentionaler' Akte.“ (Wertethik, S. 405). Aus dem Gesagten folgt notwendig die strickte Unterscheidung von Ich-Funktionen und geistigen Akten. Wert zur Anschauung gebracht haben. „Nicht also an die Sätze (oder gar an die Urteilsakte, die ihnen entsprechen) ist das Apriori gebunden, etwa als Form dieser Sätze und Akte (...); sondern es gehört durchaus zum 'Gegebenen', zur Tatsachensphäre, und ein Satz ist nur insofern apriori wahr (resp. falsch), als er in solchen 'Tatsachen' sich erfüllt. (...) Was als Wesenheit oder Zusammenhang solcher erschaut ist, kann also durch Beobachtung und Induktion niemals aufgehoben, nie verbessert oder vervollkommnet werden.“ (Scheler: Ethik, S. 44) „Daß aller Geist dann auch wesensnotwendig 'persönlich' ist und die Idee eines 'unpersönlichen Geistes' 'widersinnig' ist, folgt dann ohne weiteres aus dem früher Gesagtem. Keineswegs aber gehört ein 'Ich' zum Wesen des Geistes; und darum auch keine Scheidung von Ich und Außenwelt. Vielmehr ist Person die wesensnotwendige und einzige Existenzform des Geistes, sofern es sich um konkreten Geist handelt.“ (A.a.O., S. 404) Ich und Person „sind mithin nicht aufeinander zurückzuführen“ (a.a.O., S. 404, Anm. 2). Aber auch der Schelersche Geist selbst ist restringiert in seinen Funktionen im Verhältnis zur erkannten Leistung des Geistes in der Tradition. Der Geist kann eigentlich nur passiv zusehen, wie der Drang in uns arbeitet, aber selbst nur minimal den Drang steuern. Das Gegebene wirkt in uns, kaum der Geist. Scheler macht an der Leistung großer Persönlichkeiten in der Geschichte deutlich, was der Geist selbst leistet. „Alles leidenschaftliche Wollen schon – erst recht noch höheren Formen des Wollens – lassen die gleichzeitigen oder zu erwartenden sinnlichen Gefühlszustände vollends außer der Gegebenheit. Diese Tatsachen machen es auch verständlich, daß gerade bei den mächtigsten Willenspersonen der Geschichte oder besonders energischen Gruppen schon das Bewußtsein des Ausgehens des Wollens von ihrem 'Ich' – erst recht seiner Rückwirkung auf das Ich – am wenigsten entwickelt war. Entweder sie erlebten ihre Willenswirksamkeit als 'Gnade' (z.B. die tatkräftigen englischen Puritaner wie Cromwell und sein Kreis) oder fühlten sich ganz als Werkzeuge Gottes (wie Calvin als sein 'Rüstzeug'), oder die Stadien ihres Lebens als 'Schicksal' (z.B. die tatkräftigen Araber und Türken; Wallenstein, Napoleon); oder sie fanden, daß sie nur 'Entwicklungstendenzen' gefördert oder ausgelöst hatten (wie Bismarck).“ (Scheler: Ethik, S. 57) Nun ist der Gedanke, dass in der Geschichte Führende immer auch objektive Tendenzen folgten, nicht falsch. Für Scheler ist das aber ein Beleg für die Unwichtigkeit des geistigen Wollens, er vergisst dabei, dass diese Tendenzen nur durch die Individuen hindurch wirken und deren entschiedenen Willen voraussetzen, auch wenn sie darüber kein entwickeltes Selbstbewusstsein haben. Das Ich könne keine Einheit in das wissenschaftliche Denken bringen, dies gehe nur durch die ontologischen „Wesenszusammenhänge“, wie sie in der phänomenologischen Erfahrung gegeben seien. Wenn der Geist aber nur „persönlich“ ist, dann entsteht zusätzlich das Problem, wie seine Resultate verallgemeinerbar, auch für andere objektiv einsehbar sind. Dies ist eine Leerstelle bei Scheler, die er nur durch die Autorität der wertvollen Persönlichkeit füllen kann, als Gehorsam in den Besseren (Ethik, S. 78, Anm. 2). Scheler versucht die „Kopernikanische Wendung“ Kants, welche die konstitutive Leistung des menschlichen Denkens bei der Erkenntnis nachweist, zurückzudrehen zu einer ontologischen Fundierung, die er nicht rational begründen kann, wie die Kritik an der phänomenologischen Methode gezeigt hat. Damit negiert er die produktive Leistung des menschlichen Geistes und restringiert das Denken auf das irrationale Erfassen von Gegebenheiten. Diese Restringierung ist eine Negation dessen, was bei Kant Vernunft heißt, sodass das menschliche Denken, soweit es immer auch psychisch ist, auf den Verstand beschränkt wird, der dann nur Hilfsfunktion für den ontologisierten Schelerschen Geist hat. Er hat nur in Sätzen und Urteilen das auszusprechen, was wir uns im Fühlen als 56 eine größere Anstrengung des Willens zu benötigen und ohne eine originäre Leistung des Geistes zu erfordern. In seiner Spätschrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ hat Scheler dann seine Auffassung von der Begrenztheit des Geistes auf den Begriff gebracht. „Der Geist ist, wie wir bereits sagten, in letzter Linie ein Attribut des Seienden selbst, das im Menschen manifest wird in der Konzentrationseinheit der sich zu sich 'sammelnden' Person. Aber als solches ist der Geist in seiner 'reinen' Form ursprünglich schlechthin ohne alle 'Macht', 'Kraft', 'Tätigkeit'. Um irgendeinen noch so kleinen Grad von Kraft und Tätigkeit zu gewinnen, muß jene Askese, jene Triebverdrängung und gleichzeitige Sublimierung hinzukommen.“ (Scheler: Kosmos, S. 55) „(...) von Hause aus und ursprünglich hat der Geist keine eigene Energie“ (a.a.O., S. 66). „Geist und Wollen des Menschen kann (...) nie mehr bedeuten als 'Leitung' und 'Lenkung'. Und das bedeutet immer nur, daß der Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält, und das Wollen den Triebimpulsen – die schon vorhanden sein müssen – solche Vorstellungen zuwendet oder entzieht, die die Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren können. (...) Ein direkter Kampf des reinen Willens gegen die Triebmächte, d.h. ohne solche Vorhaltungen von Ideen bzw. Zuwendung oder Entziehung von Vorstellungen, ist eine Unmöglichkeit.“ (Scheler: Kosmos, S. 69) Gegen die Freudsche These, dass die Triebversagung zur Sublimierung und zum Geist führe, wendet er ein: „Eben der Geist ist es, der bereits die Triebverdrängung einleitet, indem der idee- und wertgeleitete geistige 'Wille' den ideewertwiderstreitenden Impulsen des Trieblebens die zu einer Triebhandlung notwendigen Vorstellungen versagt, andererseits den lauernden Trieben idee- und wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie Köder vor Augen stellt, um die Triebimpulse so zu koordinieren, daß sie das geistgesetzte Willenprojekt ausführen, in Wirklichkeit überführen. Diesen Grundvorgang nennen wir 'Lenkung', die in einem 'Hemmen' (non fiat) und 'Enthemmen' (non non fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen besteht, und 'Leitung' die Vorhaltung – gleichsam – der Idee und des Wertes selbst, die dann je erst durch die Triebbewegungen sich verwirklichen.“ (Scheler: Kosmos, S. 62) Da Schelers „Werte“ Teil der Gefühlswelt sind, können sie nach diesem Schema zwanglos zur Verwirklichung kommen, ohne Die Reduzierung des Geistes auf bloße Steuerungsfunktion des Dranges in uns wird von Scheler nicht systematisch begründet, er kann nur Beispiele zur Erläuterung anführen, aber keine Gründe, die über seine (bereits widerlegte) phänomenologische Grundposition hinausgehen. Gegen solche überredende Beispiele lassen sich immer auch Gegenbeispiele anführen, etwa ein wohl überlegter Selbstmord, bei dem der (geistige) freie Wille gegen den Lebensdrang im Individuum dieses und sich selbst als Teil des Individuums beseitigt. Auch immanent ist die These von der bloßen Steuerungsfunktion des Dranges in uns durch den Geist nicht haltbar. Der Geist und seine Akte, der so radikal von dem psychischen Ich getrennt wird, steht vor dem Problem, wieso er überhaupt etwas tun, etwas bewegen kann. Bereits das Vorhalten von Ideen, damit der Drang in eine Richtung gelenkt werden kann, setzt eine Eigenenergie des Geistes voraus, der doch energielos sein soll. Da der Geist an die Person gebunden ist und diese nur im Vollzug ihrer Akte als deren Zentrum ist, müsste die Person und mit ihr der Geist ständig verschwinden und beim nächsten Akt ständig wieder auferstehen. Das aber wäre kruder Mystizismus, irrationale Behauptung, die sich in die Aporien des Okkasionalismus verstricken würde. 2.11. Schelers Theologie Scheler löst dies Problem dogmatisch mit der Behauptung, dass der menschliche Geist ein Attribut Gottes wäre, dass ein substanzieller Gott in uns wirke und dadurch den Geist erhalte. Das einzige Argument, das er dafür anführen könnte, wäre dies: diese Behauptung folgt notwendig aus seiner Konstruktion des Geistes. Solch ein Argument lässt sich immer auch umdrehen: Da man Gott nicht beweisen kann, ist dann eben die Konstruktion falsch! Obwohl Scheler Descartes Dualismus von Seele und Körper kritisiert, lobt er ihn in Bezug auf seine Substanzialisierung des Geistes. „Wertvoll an der Lehre Descartes ist 57 nur eines: die neue Autonomie und Souveränität des Geistes“ (Scheler: Kosmos, S. 72). Zugleich kritisiert er aber auch Descartes, indem er ihm vorwirft, dass bei ihm der Geist „auf Ratio reduziert“ sei. (A.a.O.) Dieser Vorwurf impliziert, wie gezeigt, die Abwertung der Ratio, indem das geistige Fühlen als gleichwertig hingestellt wird. 'Vernunft' 'erzeugt' sind. Was der das Universum durchziehende Λογος sei, das wird erst durch sie faßbar.“ (Ethik, S. 64) Und wie im Menschen das „Geistwesen“ als Attribut des Seienden gedacht und durch Gott abgesichert werde, so seien auch die Werte göttlich. „Alle möglichen Werte aber sind 'fundiert' auf den Wert eines unendlichen persönlichen Geistes und der vor ihm stehenden 'Welt der Werte'. Die Werte erfassenden Akte sind selbst nur die absolut objektiven Werte erfassend, sofern sie 'in' ihm vollzogen werden, und die Werte nur absolute Werte, sofern sie in diesem Reiche erscheinen.“ (Scheler: Ethik, S. 94) Eine Konsequenz aus dieser Konstruktion des Geistes ist seine Vergöttlichung, die Scheler dann in seinem Buch „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928) noch einmal überhöht, indem er den menschlichen Geist zum Gott erklärt. Wenn der Geist als substanziell bestimmt wird, aber radikal von der Psyche getrennt wird, dann ist die Erhaltung dieser Substanz „Geist“ auf einen Gott angewiesen. Der Mensch kann nicht zu seiner Bestimmung gelangen, "ohne sich als Glied jener beiden Attribute des obersten Seins und dieses Seins sich selbst einwohnen zu wissen“ (Scheler: Kosmos, S. 92). Das ist der Mensch natürlich nur, wenn er die Schelersche Philosophie akzeptiert und drauf hat und seine „absoluten Werte“ (Ethik, S. 95) glaubt, denn sonst würde er ja falsch denken und kein Gott sein. Kritik der Schelerschen Theologie Scheler geht richtig davon aus, das unser Weltund Selbstbewusstsein ein Absolutes impliziert (vgl. Bensch: Perspektiven, S. 27 f.). Aus der notwendigen Bestimmung des Absoluten für das Selbstbewusstsein macht Scheler ein Seiendes. Er hypostasiert das Absolute des Geistes zum ens a se, zum Sein durch sich. „Man erfasse die strenge Wesensnotwendigkeit dieses Zusammenhangs, der zwischen dem Welt-, dem Selbst- und dem formalen Gottesbewußtsein des Menschen besteht – wobei ‚Gott’ hier nur als ein mit dem Prädikat ‚heilig’ versehenes ‚Sein durch sich selbst’ erfaßt wird, das tausendfältige bunteste Ausfüllungen annehmen kann. Die Sphäre aber eines absoluten Seins überhaupt, gleichgültig, ob sie dem Erleben oder Erkennen zugänglich ist oder nicht, gehört ebenso konstitutiv zum Wesen des Menschen wie sein Selbstbewußtsein und sein Weltbewußtsein.“ (Scheler: Kosmos, S. 88) Das Absolute ist aber nur als Bewusstsein existent, wie z.B. die transzendentale Einheit der Apperzeption, die die distributive Einheit des Erfahrungsganzen zusammenfügt. Von dieser auf die Einheit der Welt als positive Erkenntnis oder als ontologische Erkenntnis zu schließen, also die reale Einheit der Welt als „kollektive Einheit des Erfahrungsganzen“ zu behaupten, ist nach Kant eine Hypostase des Denkens. (Vgl. Kant: Kr.d.r.V., B 610 f. u. B 708) Lediglich als regulative Idee ist dieser Gedanke rational. Scheler macht aus dem Absoluten des Bewusstseins nun ein „absolutes Sein“, sogar seine „Gottheit“, ohne triftige Argumente Dieser grandiosen Überhöhung des menschlichen Geistes zum Göttlichen, zu Gott in uns, korrespondiert eigenartig seine durchgängige Abwertung des Geistes. Die menschliche Ratio und die real existierende Wissenschaft werden auf bloße Hilfsfunktionen des Geistes restringiert. Ihre Resultate hätten keine eigenständige Bedeutung, sondern seien ein bloßes „Meinen“, wenn sie nicht durch die „Gegebenheiten“, die nur der phänomenologischen Methode sich verdankten, abgesichert würden. Auch ethische Werte seien keine „Setzungen“ der Vernunft oder des Verstandes, sondern seien gegeben. „Wie die Wesenheiten, so sind auch die Zusammenhänge zwischen ihnen 'gegeben' und nicht durch den 'Verstand' hervorgebracht oder 'erzeugt'. Sie werden erschaut und nicht 'gemacht'. Sie sind ursprüngliche Sachzusammenhänge, nicht Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der Akte sind, die sie erfassen. 'Apriorisch' sind sie, weil sie in den Wesenheiten – und nicht in den Dingen und Gütern – gründen, nicht aber, weil sie durch den 'Verstand' oder die 58 anführen zu können, wie überhaupt seine Philosophie von nicht beweisbaren Aussagen strotzt. Von der Denknotwendigkeit eines Absoluten im Bewusstsein auf eine Gottheit zu schließen, ist der Trick aller idealistischen Philosophie, die das Bestehende rechtfertigen und philosophisch absichern will. Bei Scheler wird sein Gott der ontologische Grund seiner Werte – ähnlich der Behauptung von Lotze und Rickert, wenn auch anders begründet. Phantasieüberschusses“ offenbart sich Scheler dann eine eigene „Seinssphäre“, eine Idee von einem obersten „Grund-Sein der Dinge“ (S. 90). Aus dem gleichen Grund könnte man an den noch heute weit verbreiteten Aberglauben vom Schicksalsschlag, den eine schwarze Katze bewirkt, die einem über den Weg läuft, auf eine Seinssphäre des Schicksals schließen, das uns lenkt und eine Gottheit repräsentiert. Auch wenn Scheler die christlichen Vorstellungen von Gott ablehnt und sich auf Hegels Pantheismus bezieht, den er noch einmal versubjektiviert zur „Selbstvergottung“ des individuellen Menschen (vgl. S. 91), bleibt die Hypostase eines Bewusstseinsbegriffs wie des Absoluten ein Kindergeburtstagsweihnachtsmärchen. Scheler scheut sich auch nicht offensichtliche Widersprüche einzugehen, wenn er über das oberste Sein schreibt: „So wenig der Mensch zu seiner Bestimmung gelangen kann, ohne sich als Glied jener beiden Attribute des obersten Seins und dieses Seins sich selbst einwohnend zu wissen, so wenig das Ens a se ohne Mitwirkung des Menschen.“ (Kosmos, S. 92) Wenn die Gottheit der Mitwirkung des Menschen bedarf, so ist sie kein Ens a se (Sein aus sich), sondern abhängiges Sein wie der menschliche Geist von seinem körperlichen Fundament, dem Gehirn, abhängt, auch wenn er der Idee des Absoluten fähig ist. „Im selben Augenblicke, da jenes ‚Nein, Nein’ zur konkreten Wirklichkeit der Umwelt eintrat, in welchem sich das geistige aktuale Sein und seine ideellen Gegenstände konstituierten; genau in demselben Augenblicke, da das weltoffene Verhalten und die nie ruhende Sucht entstand, grenzenlos in die entdeckte Weltsphäre vorzudringen und sich bei keiner Gegebenheit zu beruhigen; genau im selben Augenblicke, da der werdende Mensch die Methoden alles ihm vorhergehenden tierischen Lebens, der Umwelt angepaßt zu werden oder ihr sich anzupassen, zerbrach und die umgekehrte Richtung einschlug: die Anpassung der entdeckten Welt an sich und sein organisch stabil gewordenes Leben; in genau dem selben Augenblicke, da sich der ‚Mensch’ aus der ‚Natur’ herausstellte und sie zum Gegenstand seiner Herrschaft und des neuen Kunst- und Zeichenprinzips machte, - in ebendemselben Augenblicke mußte der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern. Konnte er sich doch nicht mehr als einfachen ‚Teil’ oder als einfaches ‚Glied’ der Welt erfassen, über die er sich so kühn gestellt hatte!“ (Scheler: Kosmos, S. 89) Da es für Scheler letztlich „nie theoretische Gewißheiten“ (Kosmos, S. 93) in der Gottesfrage gibt, ist das Absolute im menschlichen Geist auch eventuell keine Gottheit, d.h. man braucht diese Begriffskrücke gar nicht, weil sich Gott und Mensch in seiner pantheistischen Konstruktion gar nicht unterscheiden. Einen Unterschied benötigt Scheler aber dennoch, um seine Wertlehre irrational abzusichern. Er braucht die Gottheit in ihrer Differenz zum menschlichen Geist, um seine „Werte“ auch theologisch zu legitimieren (vgl. das Zitat oben in diesem Abschnitt, Ethik, S. 94). Zwar hat Scheler seine persönliche Theologie mehrmals abgewandelt, nicht aber die Gottheit selbst und ihre legitimierende Funktion aufgegeben. Er fällt mit dieser theologischen Konstruktion hinter seine Behauptung zurück: „Zur Stützung des Menschen, zur bloßen Ergänzung seiner Schwächen und Bedürfnisse, die es immer wieder zu einem ‚Gegenstande’ Mit diesem quasi historischen „Gottesbeweis“ wird lediglich von der Absolutheit als Aspekt des menschlichen Geistes auf einen Gott geschlossen, der andererseits wieder die Werte Schelers legitimieren soll. Was Scheler für diese Hypostase des geistig Absoluten zum ontologischen Absoluten anführen kann, ist der „Drang nach Bergung“ (Kosmos, S. 90), also wie bei Lotze bereits ein Bedürfnis, das die Konstruktion bestimmt. Zwar sei dies zunächst individuell, dann auf die Gruppe bezogen worden „mit Hilfe des ungeheuren Phantasieüberschusses“, den der Mensch hat. Diese „Seinssphäre“ sei mit beliebigen Gestalten bevölkert, „um sich in deren Macht und Ritus hineinzubergen“ (S. 90). Und aus diesen falschen Gestalten des „ungeheuren 59 machen wollen, ist das absolute Sein nicht da.“ (Kosmos, S. 93) durch die phänomenologische Methode bedürfen, schottet sich in Wahrheit diese Geistmonade von der gründlichen Durchdringung der wahren natürlichen und gesellschaftlichen Allgemeinheiten ab, an deren Abarbeitung doch erst seine Substanz sich bilden könnte, und bleibt im Bereich der Konstruktion von Welt, der dem bürgerlichen Ideologiebedürfnis entspringt. Die irrationale Konstruktion der Schelerschen Philosophie erweist sich als sublimierter Ausdruck der Widersprüche in der herrschaftlich verfassten Gesellschaft. (Siehe 2.8.4.) Da Schelers phänomenologische Methode als irrational erkannt wurde, sind seine gegebenen Werte tatsächlich willkürliche Setzungen, die sich als gottgegebenes Seiendes tarnen. Schelers Ontologie entpuppt sich wie die seines Zeitgenossen Heidegger als kruder Nominalismus, ohne ein Selbstbewusstsein von seiner Willkür zu haben (vgl. Haag: Ontologie, S. 83). Die Abwertung des menschlichen Geistes, der angeblich nur das Seiende zur „Gegebenheit“ bringen könne, wird zum Politikum in Schelers Apologie des imperialistischen Krieges, den er aus dem Wesen des Menschen fließen lässt. Gott offenbare sich "nur durch Mitvollzug, nur durch den Akt des Einsatzes und der tätigen Identifizierung" (a.a.O., S. 93). Da viele, wie auch der Autor dieser Kritik, den "Akt des persönlichen Einsatzes des Menschen für die Gottheit" (ebda.) ablehnen und mit diesem Akt die ganze Wertlehre, ist der derart subjektivierte Gott gestorben, bevor er sich hat durchsetzen können. Hat sich seine materiale Wertethik auch in der Praxis desavouiert, z.B. in seiner Apologie des Massenmordes, dem I. Weltkrieg, dann stirbt mit seiner Wertlehre auch sein Gott, der lediglich dazu da ist, diese zu legitimieren. Die Aporien eines mal transzendenten mal immanenten Gottes, die mangelnde Vereinbarkeit dieses Gottes mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, haben auch Theologen wie R. Bultmann dazu bewogen, Gott in den Menschen zu verlegen (vgl. Haag: Metaphysik, S. 64 ff.) - und Scheler wie Bultmann folgen diesem Trend. Durch diese Subjektivierung, die zugleich eine Entmythologisierung sein soll, wird aber der einst als objektiv und unabhängig vom Menschen gedachte Gott, der menschlichen Willkür preisgegeben: Er ist nur noch solange eine Macht und ein Wirken, wie die Menschen an ihn glauben. Da bei Scheler am Ende seines Lebens die gesamte Axiologie auf den subjektivierten Gott fundiert ist, hängt sie letztlich allein von der suggestiven Wirkung seiner philosophischen Rhetorik ab. Auch das ideologische Bedürfnis nach moderner theologischer Absicherung im Bürgertum hat diese in der Theologie immanente Tendenz befördert und popularisiert bis hinein in katholische Predigten in den Kirchen. W. F. Haug erklärt diese Tendenz folgendermaßen: "Der wissenschaftliche Sozialismus der modernen Arbeiterbewegung und die Fortschritte in Naturwissenschaften und Technik hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die philosophische Spekulation in eine tiefe Krise gestürzt. Die alte Verjenseitigung griff nicht mehr, war nicht mehr geeignet für den Status einer herrschenden Ideologie, und zwar weder in der direkt theologischen Form noch in der Form verschämter Theologien, die ein abstrakt-ideelles Jenseits postulierten. Im 'Diesseitigen' mußte die Philosophie ansetzen." (Haug: Philosophen, S. 184) Dieses ideologische Bedürfnis ist die soziologische Bedingung für die Wandlung der Schelerschen Gottesideologie von der Transzendenz zur Immanenz. Diese Konstruktion von Scheler, die alle restaurativen Motive des frühneuzeitlichen Rationalismus wiederholt (vgl. Mensching: Totalität, S. 15-26), aber zugleich das rationale Moment eliminiert, um es durch eine emotionale Monade zu ersetzen, stellt eine gefährliche Abwertung des menschlichen Geistes dar, der hinter die erkannte Leistung der menschlichen Subjektivität bei der Konstitution der Erkenntnis zurückfällt und das Denken wieder an ein scheinobjektives Gegebenes bindet, wie es einst der mittelalterliche ordo rerum darstellte. Durch die radikale Trennung von Geist als göttlich fundierter Monade, der die Werte fühlt und gründet, und dem empirischen Ich, das sich den Erfahrungen aussetzt, die aber beschränkt sein sollen, also der geistigen Fundierung 60 3. Humanität, zur Emanzipation der Menschheit von heute überflüssiger Herrschaft des Kapitals. Scheler nimmt eine transitorische Haltung ein, allerdings nicht in Richtung einer Emanzipation des Menschen von Herrschaft überhaupt, sondern zu überwundenen Stufen der Herrschaft: Scheler will die Klassengesellschaft überwinden, nicht indem durch Sozialisierung soziale Gleichheit hergestellt, sondern eine (neue) Ständegesellschaft eingeführt wird. Schelers Haltung zum Fortschritt ist reaktionär. Bereits in seiner Bestimmung der "Gerechtigkeit" hatte er den Wertrang der Personen zum Kriterium der Gerechtigkeit gemacht. Konsequent folgt daraus, dass höherrangige Personen auch einen höheren Stand in der Gesellschaft bilden. Vorbild für diese angestrebte Ständegesellschaft ist die mittelalterliche Ständehierarchie. Die materiale Wertphilosophie als Ideologie Aus dem Irrationalismus der phänomenologischen Methode folgt scheinbar nicht zwangsläufig bürgerliche Ideologie. Denn man könnte, weil die Methode irrational ist, auch das Gegenteil, z. B. eine kommunistische Weltanschauung ableiten. Doch dem ist nicht so. Die willkürliche Entscheidung zur irrationalen Phänomenologie ist selbst bereits eine Entscheidung zur bürgerlichen Ideologie, nicht nur, weil diese Methode auch zur Begründung von Ideologie erfunden wurde, sondern vor allem deshalb, weil nur eine Klasse, die überflüssige Herrschaft verschleiern muss, will sie mit ihrem ökonomischen System überstehen, auf Irrationalismus angewiesen ist. Eine verändernde soziale Bewegung braucht keinen Irrationalismus, sie kann sich gründlich selbst kritisieren, sie vertritt die objektiven Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung, letztlich auch die wahren Interessen der Mitglieder des Bürgertums selbst. Jede Art Irrationalismus einer solchen Bewegung würde diese nur schaden – oder sie wäre Ausdruck einer neuen Art Herrschaft wie im bürokratischen Kollektivismus der Sowjetunion und der von ihr beeinflussten Länder. Die Entscheidung zum Irrationalismus impliziert – wenn auch nicht theoretisch zwingend, so doch in der praktischen Konsequenz – die Festlegung auf einen ideologischen Standpunkt. Am Kapitalismus kritisiert Scheler, dass "die Idee der Solidarität und Gegenseitigkeit" "aller Individuen und aller menschlichen Untergruppen in Schuld und Verdienst, Schicksal und Wert zerbrochen am Boden" liege (Scheler: Bd. 4, S. 297). "Im Wirtschaftsleben siegte im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte mehr und mehr der Geist grenzenloser Pleonexie (Habsucht, Unersättlichkeit, B.G.) und ungehemmter freier Konkurrenz, sei es zwischen Individuen, sei es zwischen Staaten; ein Geist, der jeden mit jedem um so stärker zu neiderregenden Vergleich zwingt, als steigende bürgerliche Gleichheit vor Verfassung und Gesetz resp. der Staaten vor dem nur formal verstandenen modernen Völkerrecht zu diesem Vergleich einladet; der alle 'Stände' in 'Klassen' (Interessengruppen) verwandelte, alle Liebe zum Werke und seiner Qualität auflöste und alles nach dem Geldgewinn bemessen ließ." (ebda.) Der dem Kapitalismus immanente Klassenkampf und der Widerstand der Lohnabhängigen gegen ihre Ausbeutung und den imperialistischen Krieg kann Scheler auf Grund seiner Gefühlstheorie nur als Neid und Ressentiment begreifen. "In jedem der europäischen Großstaaten samt Rußland aber war ein freilich sehr verschieden starker revolutionärer Geist und Wille der Unterschichten tätig - überall geladen von Haß, Neid, Ressentiment gegen Oberschichten, die man herrschen und genießen sah, und die man doch als herrschaftswürdig schon wegen ihres 3.1. Reaktionärer Fortschrittsbegriff, konservative Kapitalismuskritik und Legitimation der Ausbeutung Wie jemand zum Fortschritt steht, ob er die kapitalistische Herrschaftsform verteidigt, sie überwinden will oder gar eine rückwärts gewandte Entwicklung anstrebt, ist ein Kriterium meiner Beurteilung der Wertphilosophien, was ihre Wirkung in der Gesellschaft betrifft. Nur eine transitorische Haltung zum Kapitalismus kann einen Fortschritt anstreben, der nicht nur technisch ist, sondern einen Fortschritt zu mehr 61 historischen Ursprungs aus demselben Stand, aus dem die revolutionären Unterschichten sich abdifferenziert hatten, nicht anerkennen konnte." (Ebda.) Verhaltensweisen wie Konkurrenz, Gewinnstreben, die durch das Wirtschaftssystem erzwungen werden, macht Scheler zum Ausfluss des "kapitalistischen Geistes", weil er an einer intellektuellen Durchdringung dieses Wirtschaftssystem gar nicht interessiert oder nicht in der Lage ist. angefressenen, d.h. radikal-konservativen Kulturelemente, daß sich der germanische und gleichzeitig christlich-kirchliche Korporationsgedanke, der Geist unseres Gesinnungs-Militarismus und das formale deutsche monarchische Staatsethos einerseits und die innerlich neugeformte Arbeiterbewegung, soweit sie nicht durch den Geist des bürgerlichen Liberalismus angesteckt und nur sein etwas radikalerer Schleppträger geworden ist (gemeint ist der Marxismus, B.G.), zu einer moralischen Macht zusammenschlössen - um nicht nur in unserem Staate, sondern in einem gewissen Maße in ganz Europa das Zeitalter gründlich zu bestatten, das man nicht mit Unrecht das 'bürgerlich-kapitalistische' genannt hat." (Scheler: Bd. 4, S. 304) Die so bestimmte Volksgemeinschaft, die später von den deutschen Faschisten in abgewandelter Form, aber grundsätzlich nach der Konzeption der Korporation, wie auch Scheler sie sich wünscht, eingeführt wurde, ist nach Scheler auch der Grund für den Hass auf Deutschland im I. Weltkrieg, weil die anderen Völker den Deutschen um diesen "Korporationsgedanken", der auch schon im Kaiserreich wirkte, beneideten. Scheler "korporatistisches Staatsideal" Neben der sozialistischen Arbeiterbewegung ist die bürgerliche Demokratie der Hauptgegner seiner politischen Philosophie. Er entwickelt dabei nationalistische und antidemokratische Vorstellungen, die unmittelbar aus seiner materialen Wertethik, besonders seiner Rangordnung der Werte folgen. Die Ranghöhe der Deutschen, die den Hass der Feinde im I. Weltkrieg auf sich gezogen hat, ist für Scheler eine ontologische Größe: "Solange Deutsche Deutsche bleiben, wird niemals der Geist des westlichen Demokratismus und Parlamentarismus bei uns herrschen und niemals werden seine Abarten von Freiheitsidee die unseren sein können; wird niemals auch der gemeinsame Grundglaube dieser in ihren Freiheitsideen sonst so verschiedenen Völker in uns einkehren, daß die Wahrheit und das Gute vor allem und in erster Linie durch die Form des Dialoges möglichst vieler erreicht werde, d.h. jener parlamentarischen Streitkunst, welche englische und amerikanische Studenten schon in den Colleges, ja die Kinder in der Schule üben." Die Zurückgebliebenheit Deutschlands in der Entwicklung, die "Verspätete Nation" (Plessner) wird von Scheler hypostasiert zum Wesen der Deutschen, wenn er unmittelbar fortfährt: "Immer wird für uns der evangelische Satz gelten: Die Wahrheit (und das Gutsein) wird euch frei machen - nie der umgekehrte: Die Freiheit wird euch zur Wahrheit und zum Guten führen." (Scheler: Bd. 4, S. 357 f., letzteres forderte dagegen Kant in seiner Schrift: Was ist Aufklärung?) Wie alle Schreibtischkrieger in der Zeit von 1914 bis 1918, die er ansonsten in ihrer primitiven Ausführung bekämpft, macht Scheler seine Gesellschaftskonzeption am Siegfrieden der Mittelmächte fest, nämlich: "daß sich das Älteste und das Jüngste, daß sich die vom kapitalistischen Geiste noch nicht Die politische Position, die sich in Schelers praktischer Philosophie abzeichnet, ist die des konservativen und reaktionären Kleinbürgertums, das gegenüber der kapitalistischen Dynamik Ängste entwickelt und sich nach einem autoritären und patriarchalischen Staat sehnt, der sich im "organischen Staatsideal" ausdrückt (Hobsbawm: Zeitalter, S. 149) Dieses Staatsideal, das so oder ähnlich auch in anderen europäischen Ländern propagiert wurde, will die Prinzipien des traditionellen Systems der Ständegesellschaft wieder erstarken lassen, ohne eine völlig reaktionäre Wiederherstellung mittelalterlicher Verhältnisse anzustreben. Es reagiert auf die Herausforderungen des liberalen Individualismus ebenso wie auf die der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, indem diese neuen Erscheinungen des Kapitalismus anerkannt werden (bei Scheler das wagende Unternehmertum und die begrenzten "Standesinteressen" der Arbeiter), aber nur im Rahmen eines autoritären Staates, der die jeweiligen Gruppeninteressen obrigkeitsstaatlich vermittelt. "Dahinter steht 62 die nostalgische Ideologie einer bestimmten Vorstellung vom Mittelalter oder von einer Feudalgesellschaft, in der die Existenz von Klassen oder wirtschaftlichen Interessengruppen zwar anerkannt wurde, die schreckliche Vorstellung eines Klassenkampfes jedoch durch den bereitwilligen Konsens der gesellschaftlichen Hierarchie gebannt war, weil akzeptiert wurde, daß jeder gesellschaftlichen Gruppe oder jedem 'Stand' in einer konstitutionellen und allumfassend-dirigistischen Gesellschaft eine spezifische Rolle zukommt und jede Gruppe als kollektive Entität beachtet wird." (Hobsbawm: Zeitalter, S. 149) Wirtschaftssystem so um, dass sie mit seiner Wertphilosophie zusammen passen bzw. seine Werte werden zu Organisationskriterien der ökonomischen Tatsachen. Kapital ist nach Scheler nicht "Mehrwert heckender Wert" (Bd. 4, S. 617), der "durch die Dauer der Arbeitszeit", durch den "durchschnittlichen Arbeitsaufwand" bestimmt würde, wie Marx sage, sondern Kapital sei "ein Inbegriff von Wertungsweisen und -formen", ein Gesinnungsethos und eine damit verbundene "Triebstruktur des Menschenleibes" und eine historische Denkund Anschauungsform eines bestimmten Menschentyps, Kapital sei "an erster Stelle (...) ein sozialethischer oder doch axiologischer Begriff". "Kapital ist nicht ein soziales Verhältnis, sondern Gegenstand des kapitalistischen Geistes" (Bd. 4, S. 624). "jedes Wirtschaftssystem ist ein 'kapitalistisches', in dem der kapitalistische Geist die Führung und Leitung alles Wirtschaftslebens, aller Produktion, Distribution und Konsumtion besitzt. (...) 'Kapitalistischer Geist' ist sozialethisch gutgeheißene und als gut und vorbildlich geltende 'Vorherrschaft' unbegrenzten Mehrerwerbsstrebens in der Sphäre ökonomischer Wertträger über alle anderen gleichzeitigen menschlichen Triebund Bedürfnisformen. Selbstverwertungstendenz." (Bd. 4, S. 620) Was bei Max Weber nur die Konsequenz seiner Untersuchung über den "Geist des Kapitalismus" war, nämlich dass dieser Geist das Wirtschaftssystem erzeugt habe, für Weber selbst nur eine Hypothese (vgl. Wertphilosophie II, S. 42), wird bei Scheler zur unumstößlichen Gewissheit. Die Diktaturen von Salazar in Portugal, von Pilsudski in Polen und Franco in Spanien waren geschichtliche Emanationen dieses "organischen Staatsideals". Auch Schelers widersprüchliche Haltung zum Kapitalismus, einerseits eingeschränkte Sozialisierungen zuzugestehen und andererseits das Privateigentum an Produktionsmitteln und die freie Unternehmerinitiative zu verteidigen (siehe nächstes Kapitel), ist typisch für diese konservativ kleinbürgerliche und klerikale Politik. Über die Beziehung dieser konservativ bis reaktionären Staatsdiktaturen und ihrer Ideologien zum Faschismus schreibt Hobsbawm: "Obwohl die Ursprünge und Vorstellungen solcher reaktionären Regime älter und manchmal auch völlig anderes geartet waren als der Faschismus, gab es keine klare Trennlinie zwischen ihnen, denn beide hatten dieselben Feinde, wenn nicht sogar dieselben Ziele." (A.a.O., S. 149) (Zu Schelers Bezug zum Faschismus siehe auch weiter unten.) Durch diese Subjektivierung des Kapitals, das in Wirklichkeit ein objektives gesellschaftliches Verhältnis ist, kann Scheler und mit ihm alle bürgerlichen "antikapitalistischen" Kritiker den Kapitalismus kritisieren, ohne ihn antasten zu müssen. Es genügt scheinbar eine bessere Ansicht an den Tag zu legen, eine andere Wertgesinnung zu haben, um den Kapitalismus abgeschafft oder in seine Schranken verwiesen zu haben. Es genügt eine "Umwertung der Werte" (ein Buchtitel von Scheler) und alle Probleme dieses Wirtschaftssystems wären gelöst. Wenn man die Gesinnung des kapitalistischen Geistes Schelers Haltung zur sozialistischen Arbeiterbewegung Wenn Marx den Kapitalismus kritisiert und auch Scheler dieses Wirtschaftssystem für die Zersetzung der konservativen Werte verantwortlich macht, dann scheinen sie sich in dieser Kritik geistig zu berühren. Dem ist jedoch nicht so. Scheler kann kein Interesse haben, den Kapitalismus zu verstehen, denn würde er ihn begreifen, müsste er seine Wertphilosophie aufgeben. Stattdessen konstruiert er die Erscheinungen dieses 63 ändert, dann wird alles gut, obwohl das Kapital weiter die Lohnabhängigen ausbeutet. "Nur Ursachen, die den kapitalistischen Geist beseitigen, könnten den Kapitalismus beseitigen. (...) Nur der christliche Sozialismus der 'neuen Gesinnung', des 'neuen Geistes und Herzens', ist also der wahrhafte und einzige, geschworene Feind des Kapitalismus, der hinter seinen tausend Masken und Rollen in der Geschichte sein wahres Wesen, seinen teuflischen, widergöttlichen Kern zu erkennen weiß." (Scheler: Bd. 4, S. 635) Entsprechend dieses steilen Idealismus muss er den marxistischen Sozialismus abwerten und verfälschen: "Der marxistische Sozialismus ist dagegen in allen seinen Formen nur eine Interessenideologie der Handarbeiter innerhalb des Kapitalismus." (Ebda.) Es gehe ihm nur darum, die "unbegrenzte Lohnsucht" der Handarbeiter zu fördern (a.a.O., S. 635). Gäben die Arbeiter diese "Lohnsucht" tatsächlich auf, dann erhöhten sie automatisch die Profitrate ihrer Ausbeuter, aber diesen Mechanismus kennt Scheler nicht. Ideal vom Verhältnis von Kirche und dem Staat - nur um des Kampfes gegen den Kapitalismus willen. Die christliche Seele lebt im Ewigen, Dauernden, Stabilen (...)" (Scheler: Bd. 4, S. 663) Entscheidend für eine materialistische Position ist die für Scheler "untergeordnete Frage": Was will Scheler ökonomische verändern, wenn er den Kapitalismus überwinden will (nicht abschaffen, das geht schon wegen seiner Drang-These nicht!)? Diese Frage zu beantworten, greift Scheler in die Diskussion um die Sozialisierung der Produktionsmittel nach 1918 in Deutschland ein. Er ist für die Sozialisierung aus ethischen Gründen und weil in der "Anarchie des freien Marktes" das „Bedarfsdeckungsprinzip“ nicht den Vorrang hat. Allerdings sei Sozialisierung nur sinnvoll "unter Wahrung der freien Initiative der Unternehmer und unter rechtlicher Abfindung und Schadloshaltung bezüglich alles dessen, was sie an Eigentumsrechten und Verfügungsgewalten verlieren" (a.a.O., S. 665). Nimmt man die Gründe und die Einschränkungen zusammen, dann ist dies Gesellschaftsideal kein Sozialismus im Gegensatz zum Kapitalismus, sondern ein gelenkter Kapitalismus wie er im ersten totalen Krieg zwischen 1916 und 1918 in Deutschland bestand. Arbeiter und Unternehmer sollen "dieselbe Zurückstellung des puren Selbstinteresses zugunsten des solidarischen Gesamtwohls" leisten, "da wir an sittliche Mächte auch im ökonomischen Leben glauben" (a.a.O., S. 665). (In der ökonomischen Realität liefe die Einschränkung des Konsum der Arbeiter und der Unternehmer auf eine Erhöhung der Investitionsquote des Kapitals hinaus, also gerade jener Pleonexie, die Scheler am Kapitalismus kritisiert.) Schaut man sich seine Liste der Ausnahmen (a.a.O., S. 667) an, die nicht sozialisiert werden dürfen, dann bleibt eigentlich nur das anonyme Kapital der Konzerne und Trust' übrig, und selbst diese Enteignung müsse sich noch aus "technischen Gründen" rechtfertigen. Wendet man Schelers eigene Wissenssoziologie auf ihn selbst an, dann ist dies der Standpunkt des Kleinbürgers, der die Konkurrenz des Großkapitals fürchtet und seine Kritik an deren Übermacht als "christlichen Sozialismus" drapiert. Bei Scheler läuft sein "christlicher Sozialismus" in seinem neuen Ständestaat auf ein Erhöhung der Ausbeutung der Lohnabhängigen hinaus, aber derart, dass dieses implizierte Ziel nicht mehr wie Kapitalismus aussieht, da der ausgedrückte kapitalistische Geist seiner verblasenen Ideologie gewichen wäre. Da Scheler nur die Erscheinungsformen, genauer: den Schein, des Kapitalismus zur Kenntnis nimmt, nicht aber seine Gesetze wie etwa das Wertgesetz, er ihn also nicht begreift, will er mit seinem "christlichen Sozialismus" den kapitalistischen Geist abschaffen, ohne den Kapitalismus zu beseitigen. In der Konsequenz läuft die Schelersche Kapitalismuskritik auf die Sonntagsgesinnung des Bourgeois hinaus, der Werktags sich mit gutem Gewissen wieder den harten Bedingungen des Geschäftslebens stellt. Schelers Vorstellung von "Sozialisierung" Dass es Scheler nicht ernst ist mit seinem "christlichen Sozialismus" zeigt folgende Äußerung: Bei der Überwindung des Kapitalismus gelte das Prinzip: "Kein erkanntes Sittengesetz und natürlich Rechtsgesetz zu verletzen, keinen erkannten positiven Kulturwert preiszugeben; erst recht keinen religiösen Wert -, z.B. auch nicht unser 64 Der entscheidende Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist die auch ethisch bestimmte Frage nach der Ausbeutung der Lohnabhängigen mit dem darin inkarnierten Gewaltverhältnis versus Gewaltfreiheit durch Selbstverfügung der Produzenten über ihre Ökonomie. Dieser Unterschied gibt Aufschluss über Schelers Verhältnis zur Marxschen Mehrwerttheorie. Nach der Arbeitswertlehre von Marx wird der Neuwert aufgeteilt in Profit (bzw. Mehrwert) und Lohn. Da es keine Regel für die Aufteilung des Neuwerts gibt, entscheidet die Gewalt, d.h. das Kräfteverhältnis im Klassenkampf über die Aufteilung des Neuwerts (vgl. Marx: Kapital, S. 247 ff.). Scheler, der einmal die Arbeitswertlehre aus katholischer Sicht anerkennt, zum anderen alle Argument gegen die Mehrwerttheorie der bürgerliche Ökonomie vorbringt, ohne auf Marx Widerlegung dieser Argumente einzugehen (vgl. a.a.O., S. 636 ff. und Gaßmann: Ökonomie, S. 30 ff.), erkennt letztlich an, dass der Lohnabhängige einen Teil seines produzierten Wertquantums abgibt, indem er diese Abgabe als "Opfer" deutet. "Das Opfer ist eben ein Grundbegriff menschlicher Besitzung. Nur in einer rein individualistischen Welt (Robinsone) gäbe es darum auch ein Recht auf den vollen Arbeitsertrag. Der Begriff mitverantwortlicher Kooperation an gemeinsamen Werken schließt logisch dieses Recht aus." (A.a.O., S. 638) Dass dieses "Opfer" nicht nur in Form von Steuern z.B. für Schulen ausgegeben wird, sondern in seinem wesentlichen Teil kostenlos vom Eigentümer der Produktionsmittel angeeignet wird, verschweigt Scheler wohlweislich oder moralisiert diesen Sachverhalt mit dem Begriff der Verantwortung, den die anonymen Aneigner gar nicht mehr haben. Stattdessen werden alle Forderungen der Arbeiter nach mehr Lohn als verwerfliche Ausbreitung des Strebens nach Lust oder als "unbegrenzte Lohnsucht" oder als Neid auf die Wohlhabenden diffamiert. Scheler vertritt also eindeutig die Kapitalseite gegenüber den Lohnabhängigen. „Okkupation“ zurückgehe (Scheler: Ressentiment, S. 84). Da er den Sachverhalt von seiner willkürlich konstruierten Wertphilosophie aus betrachtet, kann er in einer Forderung nach Änderung der Eigentumsordnung nur das Ressentiment am Werke sehen, das sich als Neid äußert. „Wer sähe es dieser 'Theorie' nicht an, daß sie bereits durch den Neid der arbeitenden Klassen auf die nicht durch Arbeit zu ihrem Besitz gelangten Gruppen gebildet ist, und eben darum das Eigentumsrecht dieser für prinzipiell illusorisch oder nur für die Folge eines Gewaltzustandes erklärt, den abzuschütteln man ein 'Recht' habe?“ (Scheler: Ressentiment, S. 84) Wie aktuell diese Ideologie Schelers ist, zeigen die Reden von Konservativen im Bundestag, die regelmäßig Kritik an der Eigentumsdifferenz bzw. von Forderungen nach deren Zurückdrängung als Neid oder „Neidkampagne“ diffamieren. Man kann das Werk Schelers heute lesen als eine Phänomenologie von Vorurteilen und Ideologemen zur Abwehr sozialistischer Forderungen und zur Sicherung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Selbst dort, wo Scheler sich kritisch gegenüber dem Kapitalismus gibt, läuft alles auf dessen Apologie hinaus. 3.2. Die "Zerstörung der Vernunft" und Schelers Irrationalismus In den beiden ersten Teilen meiner Kritik der Wertphilosophie habe ich gezeigt, wie nach Hegel der bürgerliche Geist zum Irrationalismus tendiert. Lotze als der erste Philosoph, der das weltanschauliche und ideologische Bedürfnis zum Grund seiner Philosophie gemacht hatte, erzeugte gerade in dieser Hinsicht eine neue Tradition, die über Scheler bei Theodor Lessing und der Buddhismus-Welle der Zwanziger Jahre ihren ersten Höhepunkt findet. Der Grundsatz dieses Irrationalismus ist von Lessing so formuliert worden: „Daß die ältesten Mystiker und Väter immer und immer wieder das Denken bezeichnen als die Pest, den Krebs, die Hölle des menschlichen Geschlechts; daß sie den Gott des Geistes gleichsetzen dem Satan und die Vernunft eine Hure nennen, man kann alle diesen Widersinn der Entsprechend seines Gerechtigkeitsbegriffs, wonach die höherrangige Person auch mehr Rechte beanspruchen darf als die niederrangige, rechtfertigt er das Privateigentum ebenso wie das Erbrecht, selbst wenn das Eigentum ursprünglich auf 65 christlichen Jahrhunderte nur dann aus der Tiefe begreifen, wenn man groß ward im Irrgarten der europäischen Philosophie, in welchem (seit Descartes) das Seiende als ein im Bewußtsein Gegebenes, das Erleben als denkendes Erleben betrachtet wird und die Worte: Leben, Anschauung, Erfahrung usw. unaufhörlich zum Mittelpunkt völlig blutlosen Philosophierens gemacht werden, ohne Gefühl für die oberste Wahrheit, welche Indien nie verloren ging: daß der sicherste Totschläger des Lebens – der Begriff: Leben ist, daß ein Wissen vom Leben nicht möglich ist; ... maßen alles Wissen immer nur sein kann: das nachträgliche Sinngeben.“ (Lessing: Kultur, S. 36 f.) weil die Zwänge der Kapitalökonomie ein solches nicht benötigten, um zu funktionieren, dazu genüge ein ökonomisches und fachliches Funktionieren. Aber die kapitalistische Ökonomie braucht schon lange eine politischökonomische Steuerung, die zumindest ein Minimum von Totalitätsbewusstsein verlangt. Das Klima des Irrationalismus, das die bürgerliche Philosophie in fast allen ihrer Schattierungen geschaffen hatte, war denn auch eine geistige Voraussetzung des deutschen Faschismus, der dieses Bürgertum in seiner Existenz zu vernichten drohte. Diese Kritik an Vernunft und diskursivem Denken kann Theodor Lessing aber nur darstellen in Form von diskursivem Denken und vernünftiger Rede; Lessing widerspricht sich mit seinem literarische Werk selbst. Wäre er konsequent, dann müsste er schweigen. Scheler, dessen materiale Wertethik und Phänomenologie für Theodor Lessing nur ein „Modewahn“ ist (a.a.O., S. 37), hat dagegen noch einen wissenschaftlichen Anspruch, der bei ihm aber in einen offenen Irrationalismus mündet. Selbst die streng sich wissenschaftlich gebende Philosophie des logischen Positivismus von Mach, Carnap und Neurath fördert den Irrationalismus, indem sie die Vernunft nicht nur auf technische reduziert, sondern auch ihren Gegenstand, wie er in der philosophischen Tradition überliefert ist, abstrakt zugunsten eines formalistischen Scientismus negiert. Ähnliches gilt für den Neukantianismus vor allem von Rickert, dessen Wertbegründung und Fundierung letztlich ebenfalls in irrationalen Setzungen mündet. Schelers Bezug zum Faschismus, dessen Gegner er in einigen oberflächlichen Aspekten ist, liegt tiefer begründet als in seinem konservativen Staatsideal, das Anklänge an das faschistische hat. Mit seiner materialen Wertlehre auf phänomenologischer Basis hat Scheler die "Zerstörung der Vernunft" gefördert, den Irrationalismus unter dem Schein von wissenschaftlicher Objektivität weiter als normale geistige Haltung bürgerlicher Philosophen populär gemacht und mit seinen philosophischen Anregungen wie der philosophischen Anthropologie als Grundlagenwissenschaft die Ideologisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins gesteigert. Der deutsche Faschismus konnte sich auf diesen Irrationalismus stützen, und da keine anerkannte praktische Rationalität den Ideologemen Einhalt gebieten konnte, war es gleichgültig, ob man wie Scheler einen hierarchischen Gerechtigkeitsbegriff einsetzte oder das Führerprinzip, ob man einen diesseitigen Gott zur letzten Begründung inaugurierte oder die Hitlersche Vorsehung, ob man das Heilige als obersten Wert annahm oder die Nation (Hitler) oder den Krieg als Gottesdienst (Scheler und Goebbels) propagierte. Irrationalismus Schelers und der Faschismus Wenn die vorherrschende Philosophie einer Klasse in ihren entscheidenden Partien die Wirklichkeit, wie sie in ihrer Ökonomie vor ihr liegt, verdrängt und stattdessen in Irrationalismen abgleitet, dann verliert diese Klasse und mit ihr die, welche geistig von ihr partizipieren, ihr Realitäts- und Selbstbewusstsein. Sie hat dann kein Totalitätsbewusstsein mehr über ihre Welt und muss zu Grunde gehen. Dagegen könnte man einwenden, dass das Bürgertum kein Selbstbewusstsein über sein Dasein brauche, Motive der irrationalen Philosophie von Scheler kehren im ideologischen Eklektizismus des deutschen Faschismus wieder. Hitler bedient sich in seiner Propaganda der von Scheler und anderen Wertphilosophen erzeugten Ideologeme. So ist ihm die "Welt des Gefühls" von außerordentlicher Stabilität, so dass Propaganda daran anknüpfen müsse. (S. 20; diese und die folgenden Zitate aus 66 Hofer: Dokumente) Der Schelersche Ordo amoris erscheint bei Hitler als Vorlage für die Propagandastrategie: "Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliegt weniger dem Wechsel als Achtung, Haß ist dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag zu allen Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie beseelenden Fanatismus und manchmal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie." (a.a.O., S. 20; aus: "Mein Kampf") Und wenn es gegen den Bolschewismus geht, greift Hitler auf die Werte zurück: "Ich zittere für Europa bei dem Gedanken, was aus unserem alten, menschenüberfüllten Kontinent werden soll, wenn durch das Hereinbrechen dieser destruktiven und alle bisherigen Werte umstürzenden asiatischen Weltauffassung das Chaos der bolschewistischen Revolution erfolgreich sein würde." (S. 231 f.; Hitler in einer Rede 1936) Gegen diesen Umsturz aller "bisherigen Werte" müsse man als höchsten Wert die Nation setzen. Dies begründet Hitler mit der - wenn auch verflachten Schelerschen Trieblehre: "Ich bin Deutscher. Ich liebe mein Volk und hänge an ihm. Ich weiß, daß es nur dann glücklich sein kann, wenn ihm das Leben nach seinem Wesen und seiner Art möglich ist." (A.a.O., S. 231) Selbst die Situierung der Gottheit im Menschen kommt bei Hitler vor, wenn er als Ziel der Jugenderziehung anstrebt: "In meinen Ordensburgen wird der schöne, sich selbst gebietende Gottmensch als kultisches Bild stehen (...)" (a.a.O., S. 88). Und zuletzt, aber nicht am unwichtigsten: Scheler und der Faschismus haben die gleichen Gegner: den Liberalismus einschließlich der bürgerlichen Demokratie und die sozialistische Arbeiterbewegung. unzufrieden. Er haßte es, sich von Hugenberg vorführen zu lassen und sich in seiner Abhängigkeit von den Großindustriellen zu erkennen zu geben. Er mußte auf seinen antikapitalistischen Appell bedacht sein, wenn auch gänzlich auf dem kapitalistischen Boden, aber so, daß immer beide Seiten des Widerspruchs zugegen waren, damit dort, wo alle rationale Überlegung abtrat, die Mystik seines Führertums wirksam werden konnte. Ich erinnere mich an eine Redaktionskonferenz der Führerbriefe (ein unabhängiges Organ der Bourgeoisie) zu einem späteren Zeitpunkt, wo gerade dieses Phänomen zu Sprache kam, weil Franz Reuter schockiert von einer Unterredung mit Schacht zurückkehrte, in der gerade dieser, an dem sein ganzes Vertrauen hing, an die Grenze des ratlosen Achselzuckens geraten, in den Ruf ausgebrochen war: 'Der Führer wird’s schon machen!' Das hatte Reuter um so tiefer betroffen, als er dasselbe bereits bei SchwerinKrosigk, Hitlers Finanzminister, beobachtet hatte.“ (Sohn Rethel: Faschismus, S. 71) Diese „Ohnmacht des Geistes“ (Lukaćs, Lenk), eines Geistes, der sich an der Garderobe zur Macht aufgibt und nicht mehr zur Analyse seiner Situation, noch nicht einmal seiner (langfristigen) Interessen fähig ist, wurde in der bürgerlichen Philosophie systematisch vorbereitet. Die Wertphilosophie von Lotze, über Rickert bis zu Scheler als ein wesentlicher Teil der bürgerlichen Philosophie lässt sich als Abstieg in den Irrationalismus begreifen, in die „Zerstörung der Vernunft“ (Georg Lukaćs). Demnach war Hitler und seine kriminelle Mannschaft kein „Betriebsunfall“ der durch den verlorenen Krieg, die Revolution und die Weltwirtschaftskrise verunsicherten herrschenden Klasse, sondern neben den objektiven ökonomischen Ursachen, die es ebenfalls in Frankreich oder den USA gab, ohne dass er sich dort durchsetzte, auch die notwendige Folge der Selbstaufgabe des bürgerlichen Denkens in Deutschland. Wenn die bürgerliche Ideologie, die ja als Ideologie immer auch reales Bewusstsein enthält, zur „Lebenslüge“ und zur irrationalen Weltanschauung wird, dann gibt das herrschende Bewusstsein seinen Geist auf und wird zur Spinnerei oder zur bloßen Propaganda, die von sich aus prinzipiell kein Selbstbewusstsein haben kann, denn dieses Kein Zweifel, Scheler war kein Faschist, doch sein Beitrag an der Zerstörung der gesellschaftlichen Vernunft, vor allem im Bürgertum, hat zweifellos den Erfolg des Faschismus gefördert. Wie sich diese Zerstörung praktisch auswirkte, hat Alfred Sohn Rethel registriert. Er berichtet aus dem Jahre 1933 wie die Manager großer Betriebe, bürgerliche Politiker und die Vermögenden die Machtübernahme der deutschen Faschisten in der Weltwirtschaftskrise geistig begleiteten. „Hitler war mit seiner Rolle in Harzburg sehr 67 setzt ein Minimum an Realitätsbewusstsein voraus. Schelers Philosophie stellt eine Verunglimpfung des Geistes dar, der letztlich auch den letzten Schritt zum offenen Irrationalismus in seiner theologischen Fundierung hinab schreitet. Die Abwertung des Geistes in Form seiner Verherrlichung bei Scheler benötigt zur völligen Exekution des Geiste bei Theodor Lessing nur einen kleinen Schritt. Diesen Abwärtstrend des Geistes zu seiner Vernichtung teilen die philosophierenden bürgerlichen Nazigegner mit den Faschisten (siehe Lukaćs: Zerstörung), deren Erscheinungsformen sie teilweise äußerst scharfsichtig zu analysieren wissen – jedenfalls was Theodor Lessing betrifft. Dass Lessing von den deutschen Faschisten ermordet und Schelers Werk unter deren Herrschaft verpönt war, ist kein Argument für ihren akademischen Irrationalismus. Die Resultate ihrer Philosophie, das Wertegeraune, hat der Führer und seine Propagandamannschaft übernommen, weil es schon damals populär war, indem er als höchsten Wert die deutsche Nation ansah, der er dennoch 1945 den Untergang wünschte. Gegenwart zunächst nur im Bewusstsein. Dieser Idealismus ist nur vernünftig legitimierbar, wenn eine Analyse der sozialen Bedingungen vorliegt, die sich mit den idealen Aspekten der Moral in historischer Perspektive vermitteln lässt. (Eine solche Vermittlung des rationalen Gehalts der Moralbestimmungen habe ich in meiner „Ethik des Widerstandes“ versucht, vgl. insbesondere S. 129-158.) Bei Scheler dagegen ist seine materiale Wertethik irrational, um nicht von Schwindel zu reden, wie seine Wirklichkeitsauffassung bereits die Geltung dieser Wertethik fälschlich unterstellt. Scheler materialisiert seine idealen Werte und idealisiert dadurch zugleich die soziale Wirklichkeit. Was die kapitalistische Gesellschaft realiter gewaltförmig erzeugt, sekundiert Scheler durch geistige Legitimierung. Was bleibt, ist die Brutalisierung der Menschen mit ihren enttäuschten Wertflausen durch den Weltkrieg, die Erkenntnis der „Sinngebung des Sinnlosen“ und der heilsame ästhetische Zynismus von „Da Da“, dem Lallen, das schließlich die Werte ersetzt. Die gesamte Schelersche Philosophie reiht sich dadurch in den Verfall des bürgerlichen Geistes ein, einen Verfall, den sie beschleunigt. Philosophie schlägt bei Scheler nicht erst in der Konsequenz seines Denkens in Ideologie um, sondern die ganze Konstruktion seiner materialen Wertethik ist auf ihre ideologische Funktion angelegt, insbesondere durch die phänomenologische Methode, die irrational und willkürlich ist. Er unterscheidet sich von Lotze, der das bürgerliche Bedürfnis nach geistiger Absicherung und ideologischer Verklärung der Wirklichkeit direkt zum Programm erhebt (vgl. Wertphilosophie I, S. 47) dadurch, dass er sich auf Objektivität und Fundierung der Ethik im ontologisch Seienden beruft, ohne dies allerdings anderen einsichtig machen zu können. Durch Schelers Hypostase von ethischen Bestimmungen, die der Tradition entnommen wurden, wird seine Philosophie zum schlechten Idealismus, der sich nicht nur vor dem Stand des Denkens, etwa Kants Kritik der Ontologie, blamiert, sondern als „Modephilosophie“ (Theodor Lessing) die Verfallszeit solcher Moden noch beschleunigt. 3.3. Schlussbemerkung Mit der Kritik an der Erfindung der Wertphilosophie (Lotze), an der subjektiven (Windelband, Rickert) und der objektiven Wertphilosophie (Scheler) ist diese Aufsatzsammlung abgeschlossen. Insgesamt stellt sich die moralische Axiologie dar als bürgerlicher Versuch, den objektiven Schwierigkeiten einer Vernunftmoral ins irrationale auszuweichen. Wenn eine vernünftig bestimmte Moral an den unvernünftigen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert, dann kann das Denken entweder mit dieser Moral die soziale Wirklichkeit kritisieren oder in irrationale Konstruktionen ausweichen, um den Widerspruch zwischen autonomer Moral und antagonistischen Verhältnissen im Schein aufzulösen. Letzteres macht die Wertlehre, sie erweist sich dadurch als falsches Bewusstsein. Ihre Begründung aus dem menschlichen Eine autonome Moral, die nicht mit der heteronomen Wirklichkeit übereinstimmen kann, hat immer einen idealen Aspekt, sie ist als bessere Möglichkeit der schlechten 68 Bewusstsein im Neukantianismus hat sich ebenso als falsch erwiesen wie ihre Fundierung in einer scheinbar objektiven ontologischen Sphäre. Damit sind prinzipiell die Wege zur Begründung der Werte ausgeschritten, wie immer man die einzelnen falschen Philosopheme noch differenzieren und modifizieren mag. In der Gegenwart gibt es keine ernst zu nehmende Wertphilosophie mehr, die Abfolge der „Modephilosophien“ und anderer ideologischer Formen des philosophischen Denkens ist über diese hinweggegangen. Paradoxerweise wird der Wertbegriff in der Politik und der bürgerlichen Publizistik dennoch immer populärer. Das zeugt vom geistigen Niveau des Führungspersonals der herrschenden Klasse. Der Irrationalismus der Wertphilosophie, als ein Teil der Zerstörung der Vernunft, hatte schon einmal 1933 zum Abtreten der Macht an Abenteurer geführt; bei einer ähnlich schwerwiegenden Krise der Ökonomie hat die herrschende Klasse auch heute keine geistigen Mittel, dem zu widerstehen. In allen Varianten der Wertphilosophie wurde nachgewiesen, dass sie auf den Schein, den die kapitalistische Ökonomie erzeugt, hereinfällt, weil sie die Werte abstrakt zum Konstruktionsprinzip für diesen Schein macht, nicht aber auf einer wahren Analyse der Erscheinungen beruht, die zum Gesetz der Erscheinungen vordringt. Das falsche Bewusstsein wird dadurch zum notwendig falschen Bewusstsein. Da die Denker der Werte alle aus dem Bürgertum kommen, deren Vorurteile tragen und das Bedürfnis dieser Klasse nach geistiger Absicherung befriedigen, dient dieses notwendig falsche Bewusstsein zur Herrschaftssicherung – es erfüllt exakt den Begriff der Ideologie. Hinzu kommt noch die besondere Situation des geistigen Lebens in Deutschland, das durch die ökonomische und politische Zurückgebliebenheit bedingt ist: die sozialen Ängste durch die unbeherrschbare Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise äußern sich in reaktionärer Sehnsucht nach überwundenen scheinbar sicheren Zuständen. Die Wertphilosophie ist deshalb konservativ (bei Lotze und Rickert) und reaktionär (bei Scheler). Sie schafft zusammen mit offen irrationalen Strömungen in Deutschland ein Klima der Abwertung der Vernunft, auf das sich der deutsche Faschismus verlassen konnte. Literatur Adorno, Theodor W. (Metakritik) (1972): Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Ffm. Beck, Lewis White (Kants Kritik) (1985): Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar. Ins Deutsch übersetzt von KarlHeinz Ilting, München. Bensch, Hans-Georg (Hegel) (2005): Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes. Band 5, CANTRADICTIO Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. CONTRADICTIO Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte Band 5. Herausgegeben von Günther Mensching, Würzburg. Ethik als Wertphilosophie, soweit sie in anderen philosophischen Strömungen vorkommt, läuft letztlich auf den Skeptizismus hinaus. So will die „Metaethik“ des Positivismus gar nicht mehr irgendwelche Werte einsichtig begründen, sondern nur deren Anspruch reflektieren. Alles Gerede von westlichen Werten, Grundwerten oder gar deutscher Leitkultur, ist deshalb von vornherein eine subjektive Setzung, die sich bestenfalls durch Überredung oder gesetzlichen Zwang (etwa durch Einwanderungsgesetze) durchsetzen lässt. Bentham, Jeremy (Prinzipien) (1987): Leid und Freude als herrschende Prinzipien, in: Glück und Moral. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart. Bulthaup, Peter (Funktion) (1973): Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften. Ffm. Bulthaup, Peter (Gesetz) (1998): Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte. Hrsg. v. Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover. Unter Mitarbeit von: H.-G. Bensch, A. Diekmann, G. Ehlerding, M. 69 Ellinghaus, W. Hofmann, A. Knahl, F. Kuhne, M. Städler, J. Weyand, W. Worbs. Redaktion: H.-G. Bensch, F. Kuhne, J. Weyand., Lüneburg. Gaßmann, Bodo (Ökonomie) (1993): Ökonomie. Eine populäre Einführung in die „Kritik der politischen Ökonomie“, Garbsen. Haag, Karl Heinz (Fortschritt) (1983): Der Fortschritt in der Philosophie. Ffm. Bulthaup, Peter (Fachsystematik) (1998): Fachsystematik und didaktische Modelle. In: Ders.: Gesetz der Befreiung. Und andere Texte. Haag, Karl Heinz (Metaphysik) (2005): Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, Ffm. Bulthaup, Peter (Metakritik) (1988): Requien für einen toten Hund: Adornos Metakritik der Erkenntnistheorie (Vorlesungsabschrift), Hannover. Haag, Karl Heinz (Ontologie) (1960): Kritik der neueren Ontologie, Stuttgart. Haug, Wolfgang Fritz (Philosophen) (1989): Deutsche Philosophen 1933. Hrsg. v. W.F.Haug. Mit Beiträgen von R. Alisch, Th. Friedrich, W.F. Haug, G. Klinger, Th. Laugstein und Th. Weber, Hamburg. Bermes, Christian; Henckmann, Wolfhart; Leonardy, Heinz (Vernunft) (2003): Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, Würzburg. Eisler, Rudolf (Handwörterbuch) (1913): Handwörterbuch der Philosophie, Berlin. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Phänomenologie) (1980): Phänomenologie des Geistes. (= Theorie Werkausgabe G.W. Hegel, Band 3). Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 4.Aufl., Ffm. Fellmann, Ferdinand (Einführung) (2006): Phänomenologie zur Einführung, Hamburg. Freud, Siegmund (Unbehagen) (1972): Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Ffm. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Naturrecht) (1977): Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in: ders.: Jenaer Schriften 1801 - 1807. Theorie Werkausgabe Bd. 2, Ffm. Gaßmann, Bodo (Ethik) (2001): Ethik des Widerstandes. Abriß einer materialistischen Moralphilosophie, Garbsen. Gaßmann, Bodo (Wertphilosophie I) (2005): Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion. I. Teil: Der Ursprung der Wertphilosophie bei Hermann Lotze, in: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik Nr. 16, Garbsen. Hobsbawm, Eric (Zeitalter) (2004): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Yvonne Badal. 7. Aufl. München. Hofer, Walter (Hrsg.) (Dokumente) (1957): Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 1945. Hrsg., eingel. und dargestellt von W. Hofer. Ffm. Gaßmann, Bodo (Wertphilosophie II) (2006): Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion. II. Teil: Die subjektive Wertphilosophie, in: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik Nr. 17, Garbsen. Horkheimer, Max (Anthropologie) (1935): Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung. Hrsg. v. Max Horkheimer. Jahrgang 4, Paris (dtv reprint 1980, München) Gaßmann, Bodo (Logik) (1994): Logik. Kleines Lehrbuch des menschlichen Denkens. Begriff, Urteil, Schluß und von der wissenschaftlichen Methode, Garbsen. Kant, Immanuel (Grundlegung) (1974): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Ffm. 70 Kant, Immanuel (KrdrV) (1976): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg. Mandeville, Bernhard (Bienenfabel) (1968): Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile. Einleitung von Walter Euchner, Ffm. Kant, Immanuel (Logik) (1975): Immanuel Kants Logik ein Handbuch zu Vorlesungen, in: Werke in zehn Bänden. Band 5, Darmstadt. Marx, Karl (Kapital) (1966): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Berlin. (entspricht MEW 23) Kuhne, Frank (Ideologiebegriff) (1998): Marx’ Ideologiebegriff im Kapital, in: Hans-Georg Bensch, Frank Kuhne u. a.: Das Automatische Subjekt bei Marx. Studien zum Kapital, hrsg. v. Gesellschaftlichen Institut Hannover, Lüneburg. Marx, Karl; Engels, Friedrich (Manifest) (1974): Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin. Mensching, Günther (Allgemeine) (1992): Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart. Kuhne, Frank (Subjekt) (1995): Das Subjekt der Kritik der politischen Ökonomie, in: Traditionell kritische Theorie. Zehn Überlegungen zu verschiedenen Gegenständen. Herausgegeben vom Gesellschaftlichen Institut (GI) e.V., Würzburg. Opitz, Reinhard (Hrsg.) (Europastrategien) (1994): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Bonn. Pelzer, Roland (Studien) (1964): Studien über Hegels ethische Theoreme, in: Archiv für Philosophie. Hrsg. v. J. v. Kempski, Bd. 13 / 1 - 2, S. 3 - 49. Stuttgart. Lessing, Theodor (Sinnlosen) (1983): Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Mit einem Nachwort von Rita Bischof. München. Prinz Max von Baden (Denkschrift) (1994): Die Denkschrift des Prinzen Max von Baden über den "ethischen Imperialismus", in: Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 - 1945. Hrsg. v. Reinhard Opitz, Bonn. Lessing, Theodor (Kultur) (1981): Die verfluchte Kultur. Gedanken über den Gegensatz von Leben und Geist. Mit einem Essay von Elisabeth Lenk. München. Levi-Strauss, Claude (Traurige Tropen) (1981): Traurige Tropen. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Ffm. Rickert, Heinrich (Aufsätze) (1999): Philosophische Aufsätze, Tübingen. Sander, Angelika (Einführung) (2001): Max Scheler zur Einführung, Hamburg. Lukács, Georg (Zerstörung) (1962): Die Zerstörung der Vernunft. Werke Band 9, Neuwied, Berlin. Scheler, Max (Ethik) (1921): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Halle, 2. Aufl. (Nach dieser Ausgabe wird zitiert, zur Klärung ist aber auch die 4. Auflage herangezogen worden: Scheler, Max (1954): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Gesammelte Werke Band 2, Bern. 4. Aufl. Diese Auflage enthält einige vor allem sprachliche und formale Verbesserungen und ein ausführliches Sachregister. Die Seitenzahlen weichen etwa um plus 25 Seiten von der 2. Aufl. ab.) Lenk, Kurt (Ohnmacht) (1959): Von der Ohnmacht des Geistes. Kritische Darstellung des Spätphilosophie Max Schelers, Tübingen. Lohmann, Hans-Martin (Freud) (2002): Sigmund Freud zur Einführung, Hamburg. Mach, Ernst (Mechanik) (1988): Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt. Herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Renate Wahsner und Horst-Heino von Borzeszkowski, Berlin, 2. Aufl. 71 Rezensionen Scheler, Max (Grammatik) (2000): Grammatik der Gefühle. Das Emotionale als Grundlage der Ethik, München. (Auswahl) Wie steht es mit der Moral in der bürgerlichen Presse? Scheler, Max (Nation) (1923): Nation und Weltanschauung, Leipzig. Ethik im Redaktionsalltag. Hrsg. v. Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses; Deutscher Presserat, Reihe: Praktischer Journalismus Bd. 63, Konstanz 2005. Scheler, Max (Bd. 4) (1982): Politischpädagogische Schriften, Gesammelte Werke Band 4, Bern und München. Scheler, Max (Ressentiment) (2004): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Ffm. Ethische Einsichten müssen in die Praxis hineinwirken. Dem will diese Publikation dienen. Das Buch will allen Journalisten, vor allem aber den Berufsanfängern den moralischen Aspekt ihrer Tätigkeit näher bringen. Nach einer mehr grundsätzlichen Einleitung folgen Erfahrungsberichte von namhaften Journalisten. Der Hauptteil enthält Fallbeispiele, denen jeweils eine Beschwerde zu Grunde gelegen hat, und ihre moralische Beurteilung durch den Deutschen Presserat. Der Presserat ist eine moralische Instanz und kann einen „redaktionellen Hinweis“, eine „Missbilligung“ und als härteste Konsequenz eine „öffentliche Rüge“ aussprechen (S. 19), die eine Zeitung auch tunlichst abdrucken sollte, will sie nicht ihre Reputation verlieren. Juristische Konsequenzen hat die Beurteilung von Verstößen durch den Presserat nicht, es sei denn, ein Geschädigter verklagt die Zeitung. Obwohl Journalisten sorgfältig mit ihren Begriffen umgehen sollten, wird in dem Buch durchgängig von „Ethik“ gesprochen, obwohl es eigentlich um Moral geht und die Verstöße gegen diese. Anscheinend klingt „Ethik“ besser als „Moral“, wie schon Fontane im 19. Jahrhundert bemerkte. Lediglich die ersten Artikel enthalten Ansätze zur Reflexion der Moral, also Ethik, ansonsten wird der Pressekodex des Deutschen Presserates als moralische Norm vorausgesetzt, ohne diese Norm selbst noch einmal ethisch zu reflektieren. Scheler, Max (Kosmos) (2002): Die Stellung des Menschen im Kosmos. Hrsg. v. Manfred S. Frings, Bonn. Scheler, Max (Umsturz) (1972): Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Gesammelte Werke Band 3, Bern und München. Scheler, Max (Bd. 8) (1960): Die Wissensformen und die Gesellschaft. Gesammelte Werke Band 8. 2. durchgesehene Auflage, Bern und München. Schnädelbach, Herbert (Philosophie) (1999): Philosophie in Deutschland 1831 - 1933. 6.Aufl., Ffm. Sohn-Rethel, Alfred (Faschismus) (1973): Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Vorwort von Johannes Agnoli, Bernhard Blanke, Niels Kadritzke, Ffm. Stegmüller, Wolfgang (Hauptströmungen) (1978): Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. Band I, Stuttgart, 6. Aufl. Vetter, Helmuth (Wörterbuch) (2004): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Unter Mitwirkung von Klaus Ebner und Ulrike Kadi herausgegeben von Helmuth Vetter, Hamburg. Der Hauptteil mit den Fallbeispielen ist so gegliedert, dass er der Entstehung eines Artikels folgt: Vor der Veröffentlichung – Veröffentlichung – Nachbereitung. In dieser Gliederung nimmt der Teil „Veröffentlichung“ wieder den weitesten Platz ein, er enthält Unterthemen wie „Sorgfaltspflicht und Augenmaß“, 72 „wirtschaftliche Interessen“, „Achtung der Persönlichkeit“, „Vor Gericht“, „Sensation und Gewalt“ u.a. Im Anhang werden die „Publizistischen Grundsätze (Pressekodex)“ im Zusammenhang abgedruckt, nachdem sie bereits in Bezug auf die Fallbeispiele ausgiebig zitiert wurden. Außerdem enthält der Anhang “Verhaltensgrundsätze für Presse/Rundfunk und Polizei“ sowie ein kommentiertes Literaturverzeichnis, das allerdings außer Susan Sonntag mit einem Essay über Bildethik keinen namhaften Philosophen aufweist. Abgeschlossen wird das Buch durch ein Sachund Personenregister. Medienmarkt positiv ergänzt haben. (Letzteres kommt kaum vor.) Diese prinzipielle Einleitung von Protze ist in vielerlei Hinsicht falsch. Der Markt hat nie existiert, ohne staatliche Normierung, welche die Konkurrenten zur Einhaltung dauerhafter Marktbeziehungen zwangen bis hin zur Durchsetzung von Menschenrechten – es sei denn, der Markt uferte aus zum Raubzug weniger gegenüber schwächeren Konkurrenten. Rechtliche und moralische Regeln wie der Zwang zur Einhaltung von Verträgen, wie zur moralischen Anerkennung der anderen Personen als freie und gleiche in den Marktbeziehungen gelten auch schon für die einfache Marktwirtschaft der Antike und des Mittelalters. Das sind keine „Werte“ oder gar „Grundwerte“, sondern ideelle Existenzbedingungen einer dauerhaft funktionierenden Marktwirtschaft. Wenn für das Buch der „Pressekodex“ des Deutschen Presserates „(…) die verbindliche ethische Qualitäts-Zusage“ der ganzen Branche ist, dann geht es in diesem Buch nicht um ethische Prinzipien von Ideologen wie Protze, sondern um „Anregungen für die Umsetzung“ des verbindlichen Verhaltenskanons, um überhaupt den Medienmarkt in seiner Funktion als „vierte Gewalt“ aufrecht erhalten zu können. Dieses Sachbuch über die Moral im Redaktionsalltag beginnt mit einer Apologie der freien Marktwirtschaft in der Presselandschaft. Zunächst kritisiert Manfred Protze das „Organisationsprinzip des Marktes“: „Fragen der Gerechtigkeit und der Humanität kann der Markt nicht beantworten.“ (S. 14), er liefere keine Maßstäbe „für die Schutzwürdigkeit“. „Barmherzigkeit kennt er ebenso wenig wie Nächstenliebe oder Solidarität.“ Da der Markt „darwinistisch“ funktioniere, blieben journalistische „Werte“ wie „Wahrhaftigkeit“, „Achtung von Würde und Privatsphäre, Schutz vor kollektiver und personaler Diskriminierung“ oftmals auf der Strecke. Doch diese scheinradikale Kritik entpuppt sich schnell als konservatives Denkschema zur Rechtfertigung der Marktwirtschaft im Medienwesen und seiner Eigentumsverhältnisse. Als Alternative zum Markt in der Medienlandschaft kann sich Protze nur ein „obrigkeitsstaatlich reguliertes und bürokratisch exekutiertes Verfahren“ wie in der ehemaligen DDR vorstellen, als „Zuteilungsverfahren“, als ein „staatlich organisierte(s) Verteilungsverfahren“, das keine „Garantien für Grundwerte“ gewährleiste. Nach dieser konservierenden Kritik des Marktes und ihrer gleichzeitigen Zurücknahme, indem die heutige Marktwirtschaft zur besten aller Welten erklärt wird, kommt er zur Lösung der moralischen („ethischen“) Probleme des Journalismus: „Wir sollten die Marktregeln durch soziale und humane Regeln ergänzen“ (S. 14). Der Hauptteil des Buches besteht dann darin, Fälle aufzuzeigen, in denen die journalistische Moral versagt hat oder die „ethischen Regeln“ den Dass anscheinend solch eine moralische Anleitung notwendig ist, zeigt dem Leser, wie brüchig selbst die Marktstandards angesichts großer Medienkonzerne geworden sind. Dass es für die Autoren dieser „Ethik“ wie für Protze keine Alternative zur Marktwirtschaft („Ein Kapitalist schlägt viele tot“ – Marx) gibt, zeigt nicht nur die mangelnde soziale Fantasie bürgerlicher Journalisten, sondern auch die ideologisierende Wirkung des Marktes. Kaum jemand wird in einer bürgerlichen Zeitung Journalist, der sich offen gegen die kapitalistische Marktwirtschaft ausspricht oder dies gar in seinen Artikeln kundtut. Die Eigentumsverhältnisse allein reichen aus, um eine soziale Auslese ideologischer Art bei der Einstellung von Journalisten durchzusetzen. Die Ideen der Herrschenden, d. h. der Kapitaleigner der Medien, sind die herrschenden Ideen, weil sie allein die Mittel zur massenhaften Verbreitung ihrer Ideen haben, wie immer auch sie in diesem Rahmen den Meinungsstreit pflegen. Von der „Zeit“ 73 bis zur „Bildzeitung“ wird kein prinzipieller Kritiker des Kapitals mit sozialistischer Perspektive geduldet. Dieses ethische Problem kommt aber in der „Ethik im Redaktionsalltag“ nicht vor. Es ist aber zum Verständnis der Fälle, die gegen den „Pressekodex“ verstoßen, ein notwendiges Analysekriterium. Marx hat deshalb schon im 19. Jahrhundert gefordert, dass die erste Freiheit der Presse sein muss, kein Gewerbe zu sein. der Tatsache, dass es oft für Journalisten schwierig ist, die Wahrheit herauszufinden, der Begriff „Wahrheit“ in allgemeiner Skepsis aufgelöst. Dann ist es leicht die sprichwörtlichen Lügen der Bildzeitung im Nachhinein zu rechtfertigen: „(…) bei aller Vorsicht ist es immer wieder passiert, dass dann doch die falsche Geschichte in der Zeitung stand.“ (S. 54 f.) Wer das Buch von Wallraff „Der Aufmacher“ gelesen hat oder das Anti-Bild-Blog verfolgt (http://www.bildblog.de/) weiß, dass es oft nicht mangelnde Vorsicht, sondern bewusste Lüge ist, um die „Sensationsgier“ (ebda.) zu stillen und damit hohe Auflagen, also Profit zu sichern. Aber auch bei seriösen bürgerlichen Zeitungen schlägt das Geschäftliche negativ auf den „Informationsauftrag“ der Zeitungen durch. W. Schneider, Nachrichtenchef der „Süddeutschen Zeitung“, schreibt über erfundene Aufmacher und das Hochpeitschen von Kampagnen in den „60 Tagen“, in denen die Zeitungen kein Topthema haben: „Die 60 ereignislosen Tage trieben eine Tendenz, eine Versuchung auf die Spitze, die dem Nachrichtenjournalismus immer innewohnt: die Suche nach dem Ungewöhnlichen, Regelwidrigen, Bedrohlichen, Dramatischen. Wenn ein Hinterbänkler im Bundestag in die Zeitung kommen will, dann muss er bekanntlich entweder krassen Unsinn vorschlagen (wie die Empfehlung, Mallorca zum 17. Bundesland zu machen) oder die eigene Partei beschimpfen; lobt er sie und leistet er einfach nützliche Arbeit, so ist er für Journalisten ein Niemand, ein Nichts.“ (S. 32) Diese Einsicht stellt überhaupt die Frage nach den Auswahlkriterien. Sind diese hauptsächlich an der Verkäuflichkeit ausgerichtet, dann kann die bürgerliche Presse noch nicht einmal ihren „demokratischen Auftrag“ erfüllen, den „mündigen Bürger“ zu informieren, und zwar mit Nachrichten, nach denen man sich richten kann. Schneider hat für die Missinformation der Leser ein treffendes Beispiel angeführt: „Welcher Schaden also wäre entstanden, wenn BSE niemals zum Aufmacher oder zur ersten Nachricht der Tagesschau geworden wäre? Keiner! Es gab ja in Deutschland nicht einen Toten und nicht einen Kranken durch den Rinderwahn. Dagegen kommen auf Deutschlands Straßen jeden Tag 17 Menschen um, 120 jede Woche, mehr als 6000 im Jahr. In dem Buch geht es also nicht um die Moral der Journalisten überhaupt, sondern um die Moral von bürgerlichen Journalisten in den Medien, die als Geschäftsbetrieb geführt werden und Gewinn abwerfen müssen, wenn sie nicht eingehen wollen. Das muss nicht heißen, dass die moralischen Prinzipien für seriösen Journalismus per se falsch sind, wer könnte etwas gegen die „Achtung der Wahrheit“ haben (Ziffer 1 des Pressekodex). Die Tatsache aber, dass Ziffer 1) bis 3) (und noch einige Unteraspekte) von 16 sich mit der „Wahrheit“ beschäftigen müssen, deutet darauf hin, wie prekär diese Forderung in der journalistischen Praxis ist. Denn ex negativo entstand aus der Praxis dieses Regelwerk. Selbst aus einigen Reflexionen kann man auch in diesem Werk erkennen, wie prekär das Wahrheitsproblem ist, etwa wenn ein ehemaliger Chefredakteur der Bildzeitung schreibt: „Hinter jeder Geschichte steckt nicht nur eine Wahrheit. Und dahinter vielleicht noch eine andere und hinter dieser wieder eine andere: Oder die Wahrheit ist eine Mischung aus vielen Wahrheiten.“ (S. 54) Hier wird aus 74 Wann hätte man darüber je einen Aufmacher gelesen? 6000 Tote durchs Auto, was ist das schon – verglichen mit null Toten durch den jüngsten Umweltskandal!.“ (S. 33) Kritik üben, „wo sich das Mobile des gesellschaftlichen Lebens zu verhaken droht“ (S. 23). Das aber ist unter den bestehenden Verhältnissen die Anpassung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Kapitals, die Anpassung an die permanente Produktion von Produktivität, die ständige Kulturrevolution ohne wirklich Neues zu erzeugen. Die zugleich geforderte „Fairness“ erweist sich dann als eine unter Manipulateuren, die gar nicht wissen, dass sie manipulieren, weil ihnen das theoretische Rüstzeug fehlt, ihre Verhältnisse zu durchschauen, und der Wille, dies zu tun. Solche Schieflagen entstehen automatisch, d. h. ohne Schrifttumskammer oder Interessenlobby, allein aus Verpflichtung auf das Geschäft, dem bürgerliche Journalisten dienen, und ihrer affirmativen Grundeinstellung, sodass sie von sich aus niemals die Autoindustrie und den durchgesetzten Individualverkehr prinzipiell kritisieren können. Folgenschwer war diese Tendenz zur Affirmation des Bestehenden im Jugoslawienkrieg zu sehen, als auf einem Schlag alle größeren Zeitungen auf Kriegspropaganda umgeschwenkt sind. Bedenkt man dies, dann sind auch die Fallbeispiele in diesem Buch durchaus mit Erkenntnisgewinn zu lesen. Zwei Beispiele mögen die dargestellten Fälle belegen. Ein Nachrichtenmagazin veröffentlicht einen Artikel über neue Medikamente gegen Aids. In den Titelschlagzeilen wird vom „AidsWunder“, vom „Ende des Sterbens“, von einem neuen Wirkstoff, der „80% der Patienten retten“ könne, gesprochen. Eine Leserin kritisiert diese Schlagzeilen, weil sie „unberechtigte Hoffnungen“ machten, den „Nicht-Infizierten falsche Sicherheit“ vorgaukelten, und beschwert sich beim Presserat. „Diese Form von Journalismus, der es unter dem Deckmantel der Seriosität nur um Effekthascherei gehe, hält die Beschwerdeführerin für unverantwortlich.“ (S. 91) Die Redaktion erwidert gegenüber dem Presserat, dass die sorgfältige Berichterstattung nicht Aufgabe eines Titelblattes sei, dort könne man „die Dinge plakativ darstellen, zuspitzen und ‚auf den Punkt bringen’, während in den Artikeln der Stand der Behandlungsmöglichkeit „richtig und differenziert dargestellt“ sei.. Der Beschwerdeausschuss des Presserates sah die Beschwerde als begründet an und sprach der Zeitschrift eine Missbilligung aus. „Nach Ansicht des Ausschusses kann die Erwartungshaltung, die bei den Patienten durch die Schlagzeile entsteht, durch die Realität nicht untermauert werden. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Beschwerdeausschuss auch die suggestive Wirkung, die von der TitelblattVeröffentlichung ausgeht. Dem dadurch erzeugten Erwartungs- und Hoffnungsdruck werden die tatsächlichen Forschungserkenntnisse nicht gerecht.“ (S. 109) Ein anderes Beispiel ist die neoliberale Gleichschaltung der Medien, davon zeugt inzwischen jeder Kommentar zu Wirtschaftsthemen und jeder Artikel, der sich mit der Lohnfrage im weitesten Sinne befasst. Obwohl in Deutschland auf Grund seiner ständigen Produktivitätssteigerung immer mehr Reichtum in immer kürzeren Zeiten produziert wird, beschneiden in einer konzertierten Aktion das Kapital, die Politiker aus SPD, CDU und FDP sowie die Massenmedien den Lohnabhängigen seit 10 Jahren die Kaufkraft. Wo ist die bürgerliche Zeitung, die diese Schieflage grundsätzlich zum Thema macht? Sie kann es nicht, weil sie sonst keine bürgerliche Zeitung mehr wäre. Wer sich also über die sozialen Wahrheiten informieren will, der darf nicht die gewerbliche Presse lesen, sondern sollte sich etwa im Internet bei Labournet, Indymedia oder ähnlichen Seiten informieren. Diese Schieflage der bürgerlichen Presse, der eigentliche ethische und moralische Skandal, kommt in der „Ethik im Redaktionsalltag“ nicht vor. Ihre Berichterstattung, soweit sie seriös ist, d. h. nicht Fakten fälscht, bewegt sich prinzipiell im affirmativen Raum prokapitalistischer Information. Die Darstellung und Auswahl von Fakten ohne durchdachte Gesellschaftstheorie ist von vornherein ideologisch, weil die Oberfläche dieser Gesellschaft nur das Quidproquo der wahren Verhältnisse spiegelt. Worum es bei der „Freiheit des Journalismus“ wirklich geht, sagt A. Baum: Die Zeitungsmacher sollen 75 Die Texte mit den Fallbeispielen sind so angeordnet, dass erst der Fall dargestellt, mit Zusatzinformationen versehen und mit Anregungen und Fragen abgeschlossen wird, um anschließend einige Seiten weiter das Urteil des Beschwerdeausschusses abzudrucken. Das mag einigen zu didaktisch erscheinen, erzeugt aber eine gewisse Spannung beim Lesen, die den Unterhaltungswert des Buches fördert – was nicht ironisch gemeint ist. Im Übrigen passt dieser pädagogische Aufbau in die Buchreihe, in der es erscheint, die der Förderung des journalistischen Nachwuchses dienen soll. kochen solche Leute wie der Bundesinnenminister Schäuble oder sein bayrischer Kollege Bechstein ihr Süppchen, um immer neue Sicherheitsgesetze zu erlassen oder, wie Schily, rechtswidrig selbst Redaktionsräume durchsuchen zu lassen (vgl. das Cicerourteil des BVG) – darüber steht nichts in dem Buch. Die „Ethik des Redaktionsalltags“ zeigt die Notwendigkeit auf, den gewerblichen Medien moralische Schranken zu setzen, sie thematisiert aber kaum das grundsätzliche Problem eines auf Gewinn angewiesenen Medienwesens, sondern behandelt nur die unmittelbaren Folgen und Auswüchse. Ein anderer Fall steht unter dem Kapitel „Sensation und Gewalt“. Da das Analysevermögen vieler Journalisten nicht oft betätigt werden kann, das Blatt täglich gefüllt werden muss und „Kinderschänder und Mörder“ nach „den Aufmerksamkeitsgesetzen der Medien willkommene Quotentreiber“ sind (S. 178), werden einzelne Kriminalfälle oder Tötungsdelikte oft aufgeputscht und zur Sensation stilisiert. So verstieß ein Mitarbeiter einer Boulevardzeitung gegen den Pressekodex, als er sich durch polizeiliche Absperrmaßnahmen zu einem Selbstmordopfer schlich, um ein Bild von der verkohlten Leiche einer jungen Frau zu schießen. Der Pressekodex fordert auf, über Selbsttötungen mit „Zurückhaltung“ zu berichten, und stellt fest: Sensationsbedürfnisse können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.“ (S. 183) Entsprechend wurde der Zeitung eine „öffentliche Rüge“ ausgesprochen, die sie an gleicher Stelle wie das beanstandete Foto abdrucken musste. Die Kritik an der bürgerlichen Presse darf für eine linke Gegenöffentlichkeit, will sie nicht gettoisiert werden, auch kein Grund sein, sich nicht auch der bürgerlichen Medien zu bedienen oder mit bürgerlichen Journalisten zusammenzuarbeiten. Und was wären wir ohne die Informationen der bürgerlichen Medien! An deren Seriosität muss auch die Linke Interesse haben. Gegen staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit oder gegen die Zerfallsformen der bürgerlichen Öffentlichkeit wehren sich auch bürgerliche Journalisten. Sie sind dabei zu unterstützen. Was die neueste Tendenz im Geschäftsgebaren der Medienkonzerne ist, hat jüngst Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ dargestellt. Unter der Überschrift: „Sind wir Journalisten oder Trommelaffen? Früher war die Pressefreiheit vom Staat bedroht. Heute besorgen die Medien das selbst“, schildert er die Zukunft des „Manchester-Journalismus“. Der Verleger der Ruhr-Nachrichten hat eine komplette Lokalredaktion vor die Tür gesetzt und sie durch schlechter bezahlte und weniger qualifizierte Leute ausgetauscht. Der Verleger Lensing-Wolf drückt dies so aus: „Outsourcing ist Teil einer Flexibilität, die wir zur Modernisierung brauchen.“ (www.sueddeutsche.de vom 1.3.07) Prantl kommentiert diese neoliberale Modernisierung: „Der Manchester-Journalist ist demnach ein Trommelaffe: Mit den Händen patscht er die Tschinellen zusammen, mit den Ellbogen schlägt er die Trommel auf seinem Rücken, an die Füße kriegt er ein paar Klappern und Rasseln. So kehrt der Journalismus zurück zu seinen Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch, dass eine Presse, die auf Sensationen angewiesen ist, systematisch in Versuchung gerät, den Pressekodex ihrer Standesorganisation zu missachten. Die gesellschaftlichen Folgen der Sensationspresse werden zwar in dem Buch teilweise genannt, aber ohne auf die langzeitlichen Konsequenzen einzugehen. „Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung glauben laut einer TNS Infratest-Umfrage, dass die Kriminalität in den vergangenen zehn Jahren massiv angestiegen sei.“ (S. 178) Tatsächlich sei die Kriminalität in weiten Bereichen laut Statistik gesunken. Aber auf diese „gefühlte Kriminalitätsentwicklung“ 76 marktschreierischen Ursprüngen auf den Marktplätzen des Mittelalters.“ (Ebda.) Opfer hat es der Amokschützen gebracht. Wenn so etwas Scheußliches passiert, dann werden alle möglichen Erklärungen abgegeben, die meist an den eigentlichen Ursachen vorbeigehen. Da wird auf einen Aggressionstrieb verwiesen, den niemand nachweisen kann und der in dem Moment nicht gelten soll, wenn staatlich erlaubte Gewalt angewandt wird. Da wird ein Verbot von Gewaltspielen gefordert, um die Aktionsfähigkeit der Politik zu beweisen, als ob solche Spiele Ursachen wären, wo doch Millionen Spieler nicht morden, wo doch tausend Entscheidungen zwischen solchen Spielen und einem Gewaltakt liegen. Da werden verschärfte Waffengesetze gefordert, obwohl sich die Täter meist auf dem Schwarzmarkt bedienen. Dass diese oder ähnliche Konzeptionen im derzeitigen „Medien-Management große Sympathien“ genießen, macht er an anderen Beispielen deutlich. Der Pressekodex unterstellt als Aufgabe der Presse, dass sie das Informationsbedürfnis der Bürger befriedige, dagegen tendiert das „redaktionelle Zeitungsbüro“ des „Journalist als Trommelaffe“ zum Gegenteil. „Schon heute sagt jeder dritte Journalist, dass die Zeit fehle, ‚um sich über ein Thema auf dem Laufenden zu halten’. Dadurch ist – und das mitnichten nur bei vielen kleinen lokalen Blättern – eine zentrale journalistische Aufgabe gefährdet: das Aufspüren von Entwicklungen, das Sammeln, Bewerten und Ausbreiten von Fakten und Meinungen. Es besteht wie noch nie seit 1945 die akute Gefahr, dass der deutsche Journalismus verflacht und verdummt, weil der Renditedruck steigt; weil an die Stelle von sach- und fachkundigen Journalisten Produktionsassistenten für Multimedia gesetzt werden, wieselflinke Generalisten, die von allem wenig und von nichts richtig etwas verstehen. Aus dem Beruf, der heute Journalist heißt, wird dann ein multifunktionaler Verfüller von Zeitungs- und Webseiten. Solche Verfüllungstechnik ist allerdings nicht die demokratische Kulturleistung, zu deren Schutz es das Grundrecht der Pressefreiheit gibt.“ (Ebda.) Der Autor ist laut Klappentext von 1971-2006 Professor an der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Politische Ökonomie des Ausbildungssektors gewesen. Bei VSA ist ebenfalls eine Studie über den „PISA-Schock“ und über das Thema Nationalsozialismus im Unterricht von dem Autor erschienen, auch sein Hauptwerk ist dort veröffentlicht: „Die Erziehung im Kapitalismus“. Das Buch „Über die Unregierbarkeit des Schulvolks“ von Freerk Huisken will über die wahren Ursachen von Gewaltausbrüchen bei Jugendlichen aufklären, obwohl die von der herrschenden Klasse und ihres publizistischen Mainstreams nicht gehört werden wollen, denn sonst müssten sie „Einsicht in die Irrationalismen“ ihres Überbaus gewinnen, ihre herrschende Stellung aufgeben und ein anderes sozialpolitisches System etablieren. Die Schrift ist aus Vorträgen hervorgegangen, die der Autor über „Rütli-Schulen“, „Jugendgewalt“ und Ideologie, „Killerspiele“ und über „Erfurt, Emsdetten…- der nächste Amoklauf kommt bestimmt“ gehalten hat. Dabei darf der Leser nicht erwarten, eine psychologische Individualanalyse etwa über den Amokschützen Sebastian B. zu bekommen. Huisken geht es um die objektiven Gründe für solche Taten, auch wenn der Rechtfertigungsbrief von Sebastian B. im Anhang abgedruckt wird und einige Aussagen in den Texten analysiert werden. „Zufällig ist allenfalls die Verbindung dieser bestimmten Gewalttaten mit den besonderen Individuen, nicht aber die brutale Logik der „der nächste Amoklauf kommt bestimmt“ Freerk Huisken: Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw., Hamburg 2007 (VSAVerlag). Die Überschrift meiner Rezension (zugleich eine Kapitelüberschrift bei Huisken) hat sich auf makabere Weise bestätigt, während ich diesen Text formuliere, hat in den USA/Virginia gerade wieder ein Student andere Studenten und Lehrer erschossen – die Medien melden einen neuen Rekord: Auf 32 77 Amokläufe selbst. An diesen besonderen Fällen etwas Allgemeines aufzuzeigen, nämlich dass diese Jugendlichen die in dieser Gesellschaft ziemlich systematisch vermittelten Touren, sich mit Konkurrenzniederlagen abzufinden, drauf hatten, und dass diese zugleich einen hübschen Sprengstoff enthalten, darum ging es mir.“ (S. 143) fortsetzt. (…) Die Schüler haben dann den Rest der Schulpflicht in der Hauptschule abzusitzen. Sie wissen, was ihnen blüht und bereiten sich mit Resignation, Gleichgültigkeit oder einem Arsenal von Selbstbetrügereien auf ihre ‚Zukunft’ vor.“ (S. 19) Da diese Schüler nicht über brauchbare, „sprich: kapitalistisch nachgefragter Qualifikationen“ verfügen, landen sie in der „wachsenden Masse der Gesellschaftsverlierer“ (S. 19). Die Schule produziere also Konkurrenzverlierer, und zwar ist dieses Resultat gewollt. Selbstverständlich ist die Zensurengebung, das Sitzenbleiben usw. das Mittel dieser Einstufung, Sortierung und Ausgrenzung in der Schule. Die „Fehlersuchmaschine“ Schule (H. Prantl) schafft es, dass besonders Kinder armer Familien kaum Chancen haben, Abitur zu machen. „Jedes Kind, egal welcher Herkunft, soll beim groß angelegten Leistungstest die gleichen Chancen haben, muss also gleich behandelt werden. Bei der gnadenlosen Durchsetzung dieses Prinzips, die jede ungerechte Bevorzugung der Kinder aus ‚bildungsfernen Schichten’ vermeidet, kann es nicht ausbleiben, dass all jene Kinder, die in ihrem ‚bildungsnahen und einkommensstärkeren’ Elternhaus moralisch und theoretisch erfolgreich auf die Schule eingeschworen werden, sich im chancengleichen Test als die Schulsieger herausstellen.“ (S. 21) Gesetzt den Fall, alle Schüler würden derart gleich vorbereitet, dann werde das Schulsystem dennoch Schulverlierer produzieren, weil es gar nicht anderes kann und soll. Werden dazu noch Immigranten durch zusätzliche politische Sortierung und mindere Rechtsstellung am Schulerfolg gehemmt, dann ist das Resultat der Schule: „Der chancengleich organisierte Ausleseprozess reproduziert nicht nur die Herkunftslage mit ihren ungleichen Voraussetzungen, er verstärkt diese.“ (S. 22) Die Frage an einen Hauptschüler, was er werden möchte, beantwortete dieser mit: „Ich will Hartz IV werden“ (S. 41). Im ersten Teil „Rütli-Schulen“ beantwortet Huisken die Frage, warum bis zu 50 % der Schüler in Hauptschulen nicht beschulbar sind, warum der Unterricht durch eine „totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes“ (S. 11) geprägt ist. Dabei geht er von den Erfahrungen des Kollegiums der Rütli-Schule (Berlin-Neuköln) aus, deren Brandbrief im Anhang abgedruckt wird. Seine Antwort ist, dass diese Problematik „ein Produkt kapitalistischer Sortierung und Ausgrenzung“ (S. 17) und des Rassismus gegenüber Kindern aus Migrationsfamilien ist. „Diesem Sortierungsauftrag kommen die Lehrer fleißig nach. Er ist ihr Job. Die Paradoxie dieses Auftrags, ausgerechnet die schlechten Schüler, die mehr Unterweisung brauchen, von besserer Unterweisung auszuschließen, kommt ihnen nicht in den Sinn; eher schon all jener erziehungswissenschaftliche Unfug, mit dem begründet wird, dass es angesichts der Begabung und/oder der sozialen Lebensumstände für ‚ihr Kind das Beste ist’, wenn es ‚seinen Weg’ auf der Hauptschule Was Huisken ausführlich darstellt, kann in dieser Rezension nur im Grundsätzlichen angedeutet werden. Er kritisiert aber nicht nur die kapitalistische Konkurrenzökonomie, die ihre Ansprüche auf die Schule überträgt, sondern auch das Verhalten der Schüler, die zwar ihren Unmut über diese Art Schule 78 äußern, aber selbst den „Wertvorstellungen“ (S. 40) einer Gesellschaft anhängen, die sie systematisch zur Armutskarriere verdammt. Sie machen die Schule und ihre Umgebung zur „Bühne ihrer Selbstdarstellung“, als ob sich durch „jugendliche Coolness“ etwas an ihrer Lage änderte. Damit ist auch bereits ein Grund für Gewalt von Jugendlichen genannt. Die Begriffe „Jugendgewalt“ und „Jugendkriminalität“ lehnt Huisken aber ab, weil damit „nichts als eine Verbeugung vor außerwissenschaftlichen, nämlich vor juristischen Kriterien“ stattfindet (S. 55), aber die wahren Ursachen aus der Normalität der bürgerlichen Gesellschaft verdrängt werden. Die Gewalt ist keine jugendspezifische Eigenschaft, sondern konstitutiv für die Konkurrenzgesellschaft, wie Militär, Polizei, Gerichte und psychiatrische Anstalten deutlich machen. nicht, besser: Es bräuchte sie nicht“ (!) (S. 66 f.) Da die führenden Politiker dies nicht zugeben können oder wollen, weichen sie auf Pseudoerklärungen aus wie den oben erwähnten „Aggressionstrieb“ oder auf die scheinaufgeklärte Kritik an „Killerspielen“. „Kritikabel an den Gewaltspielen ist also gerade nicht eine innewohnende geheime Qualität, die den Spieler zu wirklicher Gewalt anstiftet. Kritikabel ist das in ihnen steckende Angebot, sich vermittels der gespielten Imagination blutrünstiger Massaker mit den tatsächlichen, aber auch mit eingebildeten Niederlagen des alltäglichen Daseins zu versöhnen.“ (S. 84) Angesichts der Gewaltgründe in der Gesellschaft lässt sich dann auch der Amoklauf von Erfurt, Emsdetten oder der von Virginia erklären – soweit es um die allgemeinen gesellschaftlichen Gründe geht. Bei diesen Konkurrenzverlierern kommt aber noch der Selbstbewusstseinskult hinzu. Die durch Aussortierung gekränkte Ehre führt nicht zur Anpassung (etwa das Abitur im 2. Bildungsweg nachzuholen) oder zum Weg in die Kriminalität (mit der Maxime, sich nicht erwischen zu lassen) oder zum „Gerechtigkeitsfanatiker“ und linken Kritiker (S. 72), sondern zur demonstrativen Rache. So schreibt Sebastian B.: „Mein Leben lang war ich der Dumme“, und fordert Beachtung, weil er ein Mensch sei, der es „wert ist beachtet zu werden“. Da er diese Beachtung nicht bekommen habe, hat er deswegen „Rache geschworen“ (S. 100). Diese Anerkennungsund Selbstbestimmungsprobleme, die dann zum Amoklauf führen, kommentiert Huisken so: „Der zum Schulversager erklärte Schulverlierer, der sich einerseits für seine Misserfolge für zuständig erklärt bzw. erklärt wird und doch andererseits auf sich selbst ziemlich große Stücke hält bzw. halten möchte, ist damit meilenweit davon entfernt, eine vernünftige Bilanz seiner Lebenssituation zu ziehen. Anstelle der Frage, wie er seine prekäre Lage ändern kann, treibt ihn die Sorge um, wie er als Versager vor sich selbst und in der Welt dasteht.“ (S. 113) Das Besondere an der Gewalt von Jugendlichen ist es oft, dass sie kein „Mittel für gebilligte oder nicht gebilligte Zwecke“ ist, sondern: „Auch Unterlassungen sind Gründe für den Gewalteinsatz, sogar solche, von denen das Gewaltopfer gar nichts weiß. Exakt so verhält es sich z. B. bei dem angerempelten Jungen, der dem ‚Schlägertyp’ nicht nur nichts getan, sondern es auch nicht einmal bewusst unterlassen hat, dem Rohling per Unterwerfungsgesten mitzuteilen, dass er ihn für den Größten, Coolsten und Stärksten hält. Er wusste nämlich gar nicht, was da für ein Anspruch personifiziert auf ihn zukommt und fiel deswegen aus allen Wolken. Das ist kein Zufall, denn um ihn und seine Person ging es dabei gar nicht. Es hätte jeden anderen genauso treffen können. Er selbst war nur gleichgültiges Material für den Zweck des Schlägers, der für sich selbst und für andere per Einsatz seiner überlegenen Physis den Beweis antreten wollte, dass es sich bei ihm einfach um einen coolen Siegertyp handelt.“ (S.58) Das Verbot und die Ächtung von Gewalt, gar ein Versuch diese abzuschaffen, müssen in der kapitalistischen Gesellschaft scheitern, solange die Ursachen der Gewalt bestehen, diese aber sind dieser Gesellschaft systemimmanent. Ohne „chronische Konflikte und prinzipielle Gegensätze“ bedürfe es nicht „die grundgesetzliche Verbrieftheit der Unverletzlichkeit der Person. Es gäbe sie Selbstbewusstsein, eigentlich ein Begriff aus der Philosophie, nimmt Huisken so wie er ihn im Massenbewusstsein dieser Gesellschaft vorfindet, nämlich als „Einbildung über sich selbst“ (S. 114), obwohl er durchaus ein 79 „rationales Bewusstsein seiner selbst“ (S. 113) kennt. Der Selbstbewusstseinskult ist dann das illusionäre Selbst- und Wunschbild, das mit der Tatsache im Widerspruch steht, dass er ein von der Schule produzierter Verlierer ist. Jugendliche, die diesen Widerspruch nicht ertragen können, versuchen dann Anerkennung zu erzwingen. Dabei ist es dann gleichgültig, wer ihre Opfer sind. Steigert sich dieser Anerkennungswahn, dann führt er zur demonstrativen Rache aus gekränkter Ehre. In seiner Rache aber folgt er noch den Prinzipien der Gesellschaft, gegen die er ansonsten revoltiert. Indem der Rächer „- tatsächlich oder vermeintlich – Schuldigen ein Leid antut, ist für ihn die Schadensbilanz ausgeglichen. Deswegen ist ‚Rache süß’: Es kommt dem Rächer auf den Genuss des Schadens an, den er jenen zufügt, die er für sein erlittenes Unrecht haftbar macht. So gesehen befinden sich die Amokläufer in guter Gesellschaft: Dass am Schaden nur die Unrechtmäßigkeit interessiert, und dass ein Unrecht allein durch Strafe aus der Welt kommt, das haben sie den Prinzipien des Rechtsstaates entnommen. Nur über ein Dogma haben sie sich hinweggesetzt: Dass die Realisierung solcher Prinzipien nicht in private Hände, sondern allein in die von staatlich befugten Gewalttätern gehört, haben sie für sich nicht gelten lassen wollen.“ (S. 128) der Jugendverwahrlosung über die Arbeitslosigkeit bis hin zur Umweltzerstörung propagieren, dann müssen sie sich klarmachen, dass sie einer Umwälzung der dafür zuständigen Produktionsverhältnisse das Wort reden.“ (S. 163) Damit hat der Autor jedoch eine positive Einsicht formuliert, die aus seinen Vorträgen folgt, die aber im Alltag der Lehrer nicht hilft, bestenfalls „Einsicht in die Irrationalismen“ des gesellschaftlichen Bewusstseins ermöglicht. Der Rezensent stimmt dem Autor im Grundsätzlichen seiner Argumentation zu, möchte aber einige kritische Anmerkungen zu diversen Aspekten machen: Huisken will nicht den Lehrern helfen, weil er das Schulsystem apriori für falsch hält. Durch diese abstrakte Negation fallen dann auch alle Alternativmodelle von Schule aus seinem Blick oder sind bloß Gegenstand der Kritik, die sie zur Illusion erklärt. Eine Vorstellung von Schule jedoch, wie sie in einer sozialistischen Gesellschaft sein soll, muss bereits im Bestehenden entwickelt werden, soll nicht die Idealisierung der schlechten Zustände durch die angepassten Lehrer andererseits der abstrakte Idealismus des ganz Anderen folgen, der sich historisch meist als reaktionär entpuppt. Der letzte Teil des Buches ist mit „Debatte“ überschrieben, in ihm beantwortet Huisken Fragen, die nach seinen Vorträgen gestellt wurden. Auf die Frage eines Lehrers, was er nun für positive Lehren aus dem Vortrag mitnehmen könnte, antwortet Huisken: Keine, die Schule ist selbst das Problem, das es zu lösen gelte. „Wer die Tauglichkeit von ‚Alternativen’ an den Verhältnissen bemisst, die da gerade kritisiert werden, verweigert sich einer ernsthaften Befassung mit der vorgelegten Kritik.“ (160) Aus dem berufsbedingten Idealismus der Lehrer, die Huisken als „Berufslüge“ ansieht, folgt für ihn das Dilemma der Lehrer: „Immer wieder geben sie einerseits in ihrem pädagogischen Tun zu Protokoll, dass sie für die bürgerliche Gesellschaft viel übrig haben und ihr die tauglichen Nachwuchsmannschaften liefern wollen. Andererseits führen sie sich als Kritiker der jugendlichen Verwahrlosung auf, die eben dieser Kapitalismus hervorbringt.“ (162) „Wenn sie - anders gesagt – die Abschaffung aller aufgelisteten Ärgernisse von Analog gilt dies auch für seine Moralvorstellungen. Moral ist ihm durchweg Anlass zur Denunziation: „Moralbolzen“ (S. 44), „Moralfront“ (S. 67) und „Ehrpussel“ sind nur einige Beispiele für seine sarkastische Aversion gegen Moral überhaupt. Auch hier ist bei Huisken bloß abstrakte Negation zu erkennen. Angenommen, es wäre eine Gesellschaftsordnung etabliert, die keine konstitutive Gewalt mehr benötigte, dann bedarf es nach Huisken keiner Moral und keiner Menschenrechte mehr, wie er im bereits oben zitierten Satz andeutet: „Es bräuchte sie nicht“ - „die grundgesetzliche Verbrieftheit der Unverletzlichkeit der Person“ (S. 66). Das aber ist ein steiler Idealismus, eine Romantisierung des Menschen, die kontradiktorisch seiner Kritik an jedem Idealismus und seiner teilweise zynischen Darstellungsweise (vgl. 144 ff.) entgegensteht. Diese Aussage widerspricht auch direkt seiner 80 allgemeinen Bestimmung des Individuums als nie völlig Erklärbares. So gesteht er zu, dass den Amokläufern auch ein Moment des Zufalls zukommen kann: „ Würde sich der Sachverhalt ganz in individuellen Besonderheiten der Täter auflösen – und so etwas gibt es durchaus -, dann wäre Zufall am Werk gewesen, aus dem sich keine Konsequenzen ziehen lassen. Zufall ist Zufall. Dann wäre die Tat einmalig und kein Mensch müsste sich Sorgen vor ihrem systematischen Auftreten machen: wie es ebenso keinem Menschen möglich wäre, solche Gewalttaten zu verhindern.“ (S. 143) Man muss kein Anhänger eines Aggressionstriebes oder anderer sogenannter anthropologischer Konstanten sein, um zu wissen, dass Menschen aus individuellen Gründen asozial handeln können – auch in einer möglichen Zukunftsgesellschaft. Und da sollten noch nicht einmal Handlungsprinzipien (Moral) gelten? Allein schon um zu verhindern, dass eine zukünftige Gesellschaft zurück in Gewaltverhältnisse fiele, ist Moral – wenn auch eine andere als die heute herrschende – notwendig. Das ist keine bloße Spekulation, die mit diesem Thema nichts zu tun hätte, denn strebt man eine Gesellschaft an, in der vernünftige Moralprinzipien gelten sollen, dann hat das auch Auswirkungen auf die gegenwärtigen Mittel, die man gegen die Gewaltverhältnisse bereit ist anzuwenden. (Vgl. dazu die „Ethik des Widerstandes“ von Bodo Gaßmann) „Nach dem bewaffneten Kampf“ Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit. Mit Beiträgen u.a. von Monika Berberich, Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts, Roland Mayer, Ella Rollnik, Irene Rosenkötter sowie Volker Friedrich, Angelika Holderberg und Lothar Verstappen. Mit einem Vorwort von Davis Becker, Gießen 2007 (PsychosozialVerlag) Als der Rezensent das Buch das erste Mal in einer Buchhandlung durchblätterte, dachte er sofort: Aha, Psychologisierung der RAF, also: Wenn nicht Verrückte, so doch psychisch Gestörte, also Individualisierung des Konzepts „Stadtguerilla“, also ideologische Bewältigung des Problems. Manchmal geht man aber auch mit seinen linken Vorurteilen in die Irre. Das Buch ist keine ideologische Bewältigung des Themas linker Terror, auch wenn falsches Bewusstsein vorkommt, und das Buch behandelt tatsächlich auch den psychologischen Aspekt der „Roten Armee Fraktion“. Einige Psychotherapeuten und ehemaligen Mitgliedern der „Rote Armee Fraktion“ stellen ihre Erfahrungen mit diesen Gesprächen in dem Buch dar. Von allgemeinem Interesse sind aber weniger die Individuen, die eine falsche politische Strategie gewählt haben, sondern die Frage: Wie geht man mit Niederlagen um? Und da trifft sich die Problematik der ehemaligen RAF-Leute mit den Niederlagen der Linken überhaupt in den letzten 30 Jahren. Will man nicht in der unendlichen Mannigfaltigkeit psychischer Aspekte, persönlicher Erfahrungen und situativer Bedingungen sich verlieren – dieser Gefahr verfällt das vorliegende Buch teilweise -, dann muss man die prinzipiellen Fragen klären. Huisken selbst kommt nicht umhin – trotz seiner Moralaversion - plötzlich moralisch zu argumentieren: „Gewalt ist immer und in jedem Fall verwerflich.“ (S. 64) Das heißt doch wohl, unabhängig davon, wer sie anwendet: ob das der Staat macht, ein Amokläufer, ein Mensch in Notwehr oder ein Weltveränderer. Dem aber widerspricht die abstrakte Negation jeder Moral bei unserem Autor. Nun sollte aber kein Leser dieser Rezension meine kritischen Anmerkungen als Ausrede nahmen, die richtigen Einsichten Huiskens in die Klassengesellschaft, ihr Schulsystem und ihre Gewaltstruktur zu verdrängen. Guerillakrieg kann eine Option sein, um gegen eine erdrückende Fremdherrschaft, den Terror einer verbrecherischen Despotie, die Unerträglichkeit der Verhältnisse zu kämpfen. Die Unerträglichkeit der Situation allein führt bestenfalls zur individuellen Revolte. Als hinreichende Bedingung für einen Guerillakrieg müssen weiter hinzukommen: 81 - Der überwiegende Teil der Bevölkerung muss hinter einem stehen (Die Kämpfer schwimmen im Volk wie die Fische im Wasser (Mao)). - Die Kämpfer müssen Unterstützung mit Waffen, Geld usw. von außen haben (Clausewitz). Sind diese beiden pragmatischen Bedingungen nicht erfüllt, ist ein Guerillakonzept bloßes Abenteuertum oder Verzweiflungstat. Daraus folgt notwendig, dass die „RAF“, als sie mit ihrem Kampf begann, diese Bedingungen nicht vorfand. Die Aussagen von Marx und Che Guevara haben moralische Implikationen. Wenn das ökonomische System die Menschen beherrscht, anstatt dass die Menschen ihre Wirtschaft unter ihre vernünftige Kontrolle bringen; wenn in der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise Gewalt qua Eigentumsverhältnissen inkarniert ist, die 90 % der Menschen zwingen, von Lohnarbeit zu leben, d.h. sich ausbeuten zu lassen, dann kann es nicht im Interesse der abhängigen Menschen liegen, dieses Gewaltverhältnis durch ein anderes Gewaltverhältnis zu ersetzen, sondern solche herrschaftlich verfassten Verhältnisse überhaupt abzuschaffen. Der Zustand der Gewalt würde dann abgelöst durch einen Zustand der Moralität („Emanzipation der Arbeiterklasse“). Eine vernünftige Moral regelte dann die Beziehungen der Menschen untereinander, sie wäre das Gesetz ihrer Freiheit – das Gegenteil von Gewaltverhältnissen. Wer gegen das Moralgesetz verstößt, schädigt andere Menschen. Gewalt gegen andere, das Töten von Menschen überhaupt, ist – abgesehen von dem jeweilig geltenden Recht – immer ein Verstoß gegen die Moral, also unmoralisch, ob dies ein individueller Terrorist tut oder der Staat. In Bezug auf die bürgerliche Demokratie sagt Marx zum Problem der Gewalt: „Das Ziel (…) ist die Emanzipation der Arbeiterklasse und die darin enthaltne Umwälzung (Umwandlung) der Gesellschaft. ‚Friedlich’ kann eine historische Entwicklung nur so lange bleiben, als ihr keine gewaltsamen Hindernisse seitens der jedesmaligen gesellschaftlichen Machthaber in den Weg treten. Gewinnt z. B. in England oder in den Vereinigten Staaten die Arbeiterklasse die Majorität im Parlament oder Kongreß, so könnte sie auf gesetzlichem Weg die ihrer Entwicklung im Weg stehenden Gesetze und Einrichtungen beseitigen, und zwar auch nur, soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies erfordre. Dennoch könnte die ‚friedliche’ Bewegung in eine ‚gewaltsame’ umschlagen durch Auflehnung der im alten Zustand Interessierten; werden sie (wie der Amerikanische Bürgerkrieg und die Französische Revolution) durch Gewalt niedergeschlagen, so als Rebellen gegen die ‚gesetzliche’ Gewalt.“ (MEW 34, S. 498 f.) Insofern ist jeder Krieg, jeder Guerillakampf unmoralisch. Nun kann es durchaus Verhältnisse geben - wie oben beschrieben -, wo man zur Gewalt greifen muss, um Schlimmeres zu verhindern (z. B. Widerstand gegen ein faschistisches Regime). Aber auch dann gilt die Marxsche Einschränkung: „soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies erfordre“, oder mit den Begriffen von Zweck und Mittel ausgedrückt: Wenn der Zweck die Emanzipation der Menschen ist, dann können nicht Unschuldige oder Unbeteiligte getötet werden. Karl-Heinz Dellwo hat dies erkannt, wenn er schreibt: „Im Gefängnis war mir irgendwann klar geworden, dass wir von keiner Gegengesellschaft oder Gegenmoral reden können, wenn dies die Möglichkeit von Geiselerschießungen und damit die vollständige Verdinglichung von Menschen beinhaltet. Es wäre nur eine barbarische Gesellschaft. Heute akzeptiere ich, dass unsere Handlungen verurteilt worden sind und Folgen für uns haben mussten. Es wird keine Legitimität konstruiert, wenn das eine Unrecht mit dem anderen aufgerechnet wird. Es zeigt Ähnlich hatte später der junge Che Guevara argumentiert, indem er auch den entscheidenden Grund gegen den Guerillakampf in der bürgerlichen Demokratie nennt. „Dort, wo ein Unterdrückerregime auf mehr oder weniger demokratischem Wege an die Macht gelangt ist (…) und wo wenigstens dem Anschein nach die verfassungsmäßige Gesetzlichkeit gewahrt wird, kann keine Guerillabewegung entstehen, weil die Möglichkeiten des Kampfes mit friedlichen Mitteln noch nicht ausgeschöpft sind.“ (Zitiert nach Gaßmann: Ethik des Widerstandes, S. 199) 82 nur zwei Situationen, die abzulehnen sind.“ (S. 108) Falschheit des RAF-Konzeptes erst auf 1977, als es nicht mehr um die politischen Ziele ging, sondern um die Freipressung der Gefangenen der 1. Generation, welche Geiselnahme und Tötung Unschuldiger involvierte. Ähnlich argumentiert Roland Meyer: „Das Projekt RAF ist gescheitert, vieles daran war falsch, manches unentschuldbar. Dennoch war der Versuch in dieser Welt richtig.“ (S. 156) Auch andere argumentieren so in diesem Buch, ein ehemaliger RAF-Angehöriger „NN“ übertreibt diesen Gedanken bis hin zur moralischen Rigidität. „Ich bin davon überzeugt, dass aus Strukturen, die nicht stimmen, keine richtige Politik kommen kann. Sobald man anfängt, faule Kompromisse zu machen, Menschen zu benutzen, sobald es Hierarchien, Befehle und Gemauschel gibt usw., mit der Begründung, dass das halt notwendig sei, um – aus einer Position der Schwäche – ein höheres Ziel zu erreichen, kann man’s besser lassen. Es lohnt die Mühe nicht, da unter dem Strich auch nichts anderes herauskommen wird als wir bereits haben. Je mehr im täglichen Prozess das Abstraktionsvermögen bemüht werden muss, um für die Scheiße, die man macht, den höheren Kontext und die rechtfertigende Begründung zu suchen, desto gründlicher verrutscht die Sache.“ (S. 163) Als rationale Begründung für den als „richtig“ eingestuften Versuch gibt Dellwo an: „Die RAF ging davon aus, dass der Prozess in Gang zu setzen ist, aus dem der Minderheitenwille nach Befreiung gesellschaftlich allgemein werden kann.“ (S. 128) Wie man durch Attentate auf Führungspersonen, also Morde, aus den Minderheitenwillen eine Mehrheit macht, ist schleierhaft. Die Erfahrungen der gewalttätigen Anarchisten im 19. Jahrhundert zeigen, dass ihr Terror der Reaktion genützt hat. Die Ermordung Kotzebues durch einen Studenten hat die Karlsbader Beschlüsse legitimiert, die Attentate auf den ersten deutschen Kaiser hat Bismarcks Sozialistengesetze durchsetzen helfen. Nur die deutschen Faschisten hatten Erfolg mit ihrer Propaganda der Tat, sie konnten Teile des deutschen Volks einschüchtern und ihnen Angst machen und diese Angst in Wahlerfolge ummünzen. Aber deren Anspruch war auch nicht die „Emanzipation“ (vgl. u.a. S. 147), sondern politische Macht mittels Terror, Gleichschaltung und offener Diktatur zur Sicherung der Eigentumsverhältnisse und zum zweiten Versuch des deutschen Kapitals, nach der Weltmacht zu greifen. Warum kann man nicht aus der Geschichte lernen? Warum musste man Fehler wiederholen? Warum brachen die „linken Kinderkrankheiten des Kommunismus“ (Lenin) wieder durch? Warum hat die Selbstreflexion der linken Bewegung bei den Leuten von der RAF versagt, warum wurde die Marxsche Forderung, sich gründlich selbst zu kritisieren, nicht beachtet, bevor man in die Illegalität ging? Diese Fragen eines vernünftig denkenden Menschen beantwortet das Buch nicht und beantworten die ehemaligen Terroristen nicht. Stattdessen werden zwei absurde Gründe angedeutet: Antiintellektualismus und die Sehnsucht des unfertigen, kleinbürgerlich sozialisierten Solche Einsichten kamen aber zu spät, haben nicht verhindert, das Konzept der RAF anzufangen und durchzuziehen. Selbst im Nachhinein wird die Strategie einer Stadtguerilla in einer bürgerlichen Demokratie gerechtfertigt. So schreibt Karl-Heinz Dellwo: „Unser Aufbruch war richtig. Es war ein Versuch, ‚das Kontinuum des Bestehenden’ aufzusprengen.“ (S. 129) Er datiert die 83 Individuums nach Geborgenheit, dem befreiten Leben, dem ganz Anderen. Fast alle ehemaligen Mitglieder der „RAF“ und der Bewegung 2. Juni klagen über die Sprachlosigkeit in den Gruppen, sowohl im illegalen Kampf wie im Gefängnis und der Zeit danach. „Wir (…) konnten Kritik schlecht ertragen. Die Therapeuten machten es möglich, jede Sichtweise zuzulassen und sich damit auseinander zu setzen.“ (Rollnik, S. 151 f.) In der Illegalität wurde nicht über Aktionen usw. gesprochen, sondern die jeweilige Leitfigur bestimmte als Autorität, der sich die anderen kritiklos unterordnen mussten. Wer auch nur andeutungsweise andere Meinung war, wurde als Verräter ausgegrenzt. Im Gefängnis artet diese Entfremdung untereinander zum politischen Machtkampf aus. Dellwo beschreibt die Zustände untereinander ähnlich „den krankmachenden Zustand der Säuberungsprozesse der 30er Jahre in der Sowjetunion“, allerdings als „Farce“ (S. 119). Weitere Stichworte sind „Selbsthass“, „Selbstnegation“, „rasender Subjektivismus“, „Verunsicherung“, „Dichotomie des Entweder–oder“, „stumpfsinniger Militarismus“. Den Irrationalismus und Antiintellektualismus drückt NN aus, wenn er von „kaltverstandlichen Historikern“ redet, die einmal die Auswirkungen der „RAF“ darstellen werden. Oder wenn Elke Rollnik schreibt: „Die Diskussion musste auch den Beziehungsbereich, Emotionen, Verletzungen ansprechen, weil unsere Politik niemals rein theoretisch, intellektuell bestimmt war, sondern von Anfang an die ganze Existenz mit einbezog.“ (S. 150) Vor allem aber die Absurditäten mancher Argumentationen zeigen den Irrationalismus dieser Leute auf. So schreibt Roland Meyer: „Ein zentraler Punkt für die Gruppenstruktur war die Maxime, dass nur im Bruch mit der Legalität und den bisherigen Beziehungen der Keim für neue Beziehungen entsteht und eine neue Intensität der Beziehungen innerhalb der Gruppe. Damit verbunden war das Gefühl eines umfassenden Aufbruchs; es ging nicht (nur) um eine dem Bestehenden diametral entgegengesetzte Politik, sondern es sollte ein umfassender Aufbruch hin zu neuen Strukturen, Verhältnissen und Beziehungen in allem werden.“ (154) NN, der aus der „Unterstützerszene“ (offizielle Sprache) kam, fasst die psychische Gemengelage der „RAF“ zusammen: „Wahrscheinlich kann man sich die zugehörigen politischen Strukturen vorstellen, in denen Leute rumlaufen, die mit sich selber nicht zurechtkommen, nicht kritisch reflektieren, Fragen stellen usw. Hinter konspirativem Gehabe, zu dem es natürlich immer auch Anlässe gab, da die Observation einen fast erdrückte, und die politische Bewegung, an der man teilnahm, durchgängig kriminalisiert war, wurde auch vieles versteckt, was man nicht zur Diskussion stellen wollte. In diesem Nebel konnten elementare menschliche Eigenschaften wie Aufrichtigkeit und Offenheit schlecht gedeihen; für Intriganz und Heuchelei gab es im Gegensatz dazu ausreichend Raum. Die Kompensation persönlicher Unfähigkeiten auf dem Rücken anderer war gang und gäbe; es gab unzählige Tabus, Dinge, die man nicht denken, aussprechen und empfinden durfte.“ (S. 164) Wie man im Kampf gegen einen hochgerüsteten Staat ohne Rückhalt in der Bevölkerung und unter ständiger Angst, verhaftet zu werden, von „Aufbruch hin zu neuen Strukturen“ sprechen kann, ist ein Rätsel – oder grenzt an Wahnvorstellungen. An dieser Stelle nun setzt der Erkenntniswert des Buches ein. Wenn es keine rationalen Gründe für die Politik der „Roten Armee Fraktion“ gibt, dann lässt sich diese nur psychologisch begreifen. Hier haben damals junge Menschen einen persönlichen Ausweg aus ihrer beschränkten Sozialisation, den spießigen Verhältnissen ihrer Kleinfamilie, den verknöcherten Strukturen der BRD und der Betroffenheit durch die ungeheuerliche Brutalität des Vietnamkrieges gesucht, aber nur indem sie diese Strukturen negativ abbildeten. Sie haben die Gewaltverhältnisse bekämpft, indem sie selbst die Gewalt zum Selbstzweck gemacht haben. Sie haben das kleinbürgerliche Ressentiment bekämpft, indem sie es in ihrer Gruppe reproduziert haben. Die Gespräche, die von Therapeuten jahrelang mit den Ehemaligen über ihre Erfahrungen mit der „RAF“ und dem Staat geführt wurden, waren die Alternative zum „verbitterten 84 Rückzug in das individuelle Leben“ (S. 160). Die Sprachlosigkeit, psychische Deformation und die politische Resignation stehen aber symptomatisch für einen Teil der Linken nach 1989. Wahrheit integrieren. Der Gang der Entwicklung zur Wahrheit gehört zur philosophischen Wahrheit notwendig dazu. Ein avancierter Stand des philosophischen Bewusstseins hat dann im Idealfall prinzipiell alle Argumente (geistigen Phänomene), die je zu einem Problem und seiner Lösung gedacht wurden, in die Theorie, die dieses Problem klären will, aufgenommen. Zu der Erkenntnis, dass ein Konzept wie das der Stadtguerilla in einer bürgerlichen Demokratie von vornherein ein Fehler war, dazu ringt sich allerdings keiner der Ehemaligen durch – trotz der Arbeit der Therapeuten. Die lange Haft, Isolationsfolter und Schikane durch den Staat, der ihnen eine Sonderbehandlung verpasste, hat sie derart deformiert, dass sie schon aus Selbstachtung zu einer radikalen Kritik ihrer Strategie unfähig sind. Sie verkraften die Niederlage ihrer Militarisierung der Politik mit dem Hinweis auf die Unreife der Zeit (Dellwo, S. 128 u.a.). Wenn aber die Zeit reif ist, dann ist eine Stadtguerilla erst recht überflüssig, wie Marx im obigen Zitat angedeutet hat – es sei denn die proslavery revolution (MEW 23, S. 40) siegt mal wieder wie 1933. Die moderne Phänomenologie, die auf Husserl zurückgeht, hat kaum etwas mit dieser Tradition des Begriffs „Phänomenologie“ zu tun. Sie will die vorhandenen Erkenntnisse, insbesondere die der Naturwissenschaften ontologisch begründen. Durch die Methode der Reduktion und Wesensschau (siehe in diesen „Erinnyen“ den wissenschaftlichen Beitrag: 1.1.) sollen alle psychischen und situativen Aspekte einer Vorstellung „ausgeklammert“ werden, um das Phänomen „rein“ zu erkennen. So sollen von etwas Rotem in der Wahrnehmung oder in der Vorstellung alle Nebenaspekte wie die Helligkeit, die Schattierung wie Weinrot, die Situation, in der ich das Rot sehe, usw. ausgeklammert werden, um das Phänomen ‚rot’ rein zu erkennen. Diese reinen Phänomene werden dann zum Ontologischen erklärt und sollen die phänomenologische Grundlage der entsprechenden Wissenschaft sein. Glossar Stichwort: Phänomenologie Dabei spielt der Begriff „Intuition“ eine wichtige Rolle: Die Phänomene sollen uns intuitiv gegeben sein, sodass keine logische Argumentation daran rütteln könne. Nun spielt bei jeder neuen Erkenntnis die Intuition als spontane Erkenntnis eine Rolle, ob aber das intuitiv Erkannte wahr ist oder nur Blödsinn, muss sich im systematischen Zusammenhang der Erkenntnisse erweisen, während bei Husserl der systematische Zusammenhang auf dem intuitiv Gewonnenen als dem Apriori basieren soll. Die Phänomenologie mündet dadurch im Irrationalismus. Der Begriff „Phänomen“ bedeutet ein Wahrnehmbares, das ohne Bezug auf das Wesen einer Sache Schein ist, als Wahrnehmbares eines Wesen ist es Erscheinung. Die Erkenntnis beginnt mit dem Schein (z. B. sehen wir die Bewegungen der Sterne am Nachthimmel), daraus wird das Wesen (die Rotation der Erde) erkannt, sodass der Schein sich zur Erscheinung aufklärt (wir drehen uns mit der Erdoberfläche, während die Sterne dazu relativ fest stehen). Diesen allgemeinen Gang der Erkenntnis hat Hegel für die Philosophie als den spezifischen Weg ihrer Erkenntnisse entwickelt. Da die Philosophie im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ihre allgemeinen Aussagen nicht durch Experimente belegen kann, muss sie den Gang der Argumentation (die Phänomene der philosophischen Entwicklung) als notwendige Momente ihrer Diese phänomenologische Methode, die das Unmittelbare erkennen will, widerspricht sich selbst: Als Unmittelbares, das durch die Methode der Reduktion gewonnen werden soll, ist es immer schon durch das erkennende Subjekt und seine Methode vermittelt, also 85 nicht unmittelbar. Wird dieses durch das erkennende Subjekt Vermittelte zum Ontologischen (Extramentalen) erklärt, dann ist dies eine Hypostase von Denkinhalten. So ist etwa „Rot“ nach dem heutigen Stand des Wissens eine Lichtfrequenz (also Masse und Bewegung). Was wir als rot wahrnehmen, ist allein unserem Wahrnehmungsapparat geschuldet, also etwas Gattungssubjektive, das durch entsprechende Lichtfrequenz in uns angeregt wird. Das Phänomen „Rot“ ist deshalb gerade kein Extramentales. Welches Phänomen ich für die Reduktion zum reinen und ontologischen Phänomen auswähle, liegt in meiner Willkür: Die Erklärung eines solchen Phänomens zum Ontologischen, das die Grundlage der Wissenschaften sein soll, ist ein Zirkelschluss: Ich bestimme ein Phänomen meiner Wahrnehmung als ontologisches und gründe darauf wieder meine Wissenschaft von dieser Art der Phänomene, analog mit der Wesensschau. Mit diesem Zirkelschluss lässt sich etwas und sein Gegenteil begründen. Was bei den anderen Nachfolgern Husserls von der ursprünglichen irrationalen Phänomenologie bleibt, ist die reduktive Methode („Wesensschau“), die Intuition als Basis der Erkenntnis und der Anspruch, Ontologisches (bei Heidegger „Ontisches“) durch direkten Zugriff erfassen zu können. Gegenüber dem um 1900 vorherrschenden Neukantianismus, der jede Korrelation von Denken und extramentalem Sein ablehnte, war es der Anspruch der Phänomenologie, „zu den Sachen selbst“ vorzudringen, eine Korrelation von Denken und Sein herzustellen. Dieser Anspruch war für viele bürgerlichen Denker attraktiv, er hat diese Richtung der Philosophie bis heute am Leben erhalten. Aber auf der Grundlage eines Irrationalen Philosophie und Wissenschaft betreiben zu wollen, ist ein Widerspruch in sich und wohl ideologischen Motiven zu verdanken: Man kann sich mit den Sachen befassen, ohne sie wirklich in ihrem Wesen erkennen zu wollen. So hat Hanna Arendt die Phänomene des „Totalitarismus“ treffend beschrieben und analysiert, sie bewegt sich aber im Bereich des Scheins, der politischen Oberfläche, weil sie die wesentlichen Unterschiede des bürokratischen Kollektivismus („Stalinismus“) mit staatlichem Eigentum an Produktionsmittel und Planwirtschaft, und des Faschismus, der eine Diktatur mit kapitalistischer Produktionsweise darstellt, nicht systematisch als Wesensbestimmungen dieser Gesellschaften einbezieht. Derartige Wesensbestimmungen sind dann auch keine beobachtbaren Phänomene oder deren Wesen, sondern Gesetze der Erscheinungen, an welche die Phänomenologie nicht heranreicht. Max Scheler hat nun diese falsche Philosophie noch einmal irrational übersteigert, indem er seine „materialen Werte“ der Moral dem Fühlen entspringen lässt. Material sollen seine moralischen Werte deshalb sein, weil sie nicht dem Bewusstsein oder der Vernunft entsprungen seien, sondern an den Gütern (und Menschen) als deren moralische Qualität im Fühlen „aufscheinen“. Seine zirkuläre Bestimmung der Werte liegt darin, dass er den Kulturbürger der Kaiserzeit absolut setzt, sein Fühlen zum menschlichen Fühlen überhaupt erklärt und zum Maßstab und Auswahlkriterium seiner materialen Werte macht. Diese als apriori bestimmten materialen Werte sind jedoch aposteriori aus der historischen Epoche einer bestimmten sozialen Klasse gewonnen. Sie sind deshalb auch nicht objektiv und ontologisch unserer Gefühlsstruktur inkarniert (bei ihm zum ordo amoris übersteigert), sondern Ausdruck eines sowohl von der Arbeiterbewegung wie durch den modernen Kapitalismus in die Defensive gedrängten kleinbürgerlichen Kulturmenschen. Indem diese historischen „Werte“ willkürlich zu ontologischen erklärt werden, um sie dem Lauf der Geschichte zu entziehen, verfallen sie erst recht qua ihrer Willkür dem Zeitlauf. Primärliteratur: (Genauere Angaben siehe Literaturverzeichnis zum wissenschaftlichen Beitrag.) Kant: Kritik der reinen Vernunft Hegel: Phänomenologie des Geistes Moderne Phänomenologie: Husserl: Logische Untersuchungen Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik Sekundärliteratur: Fellmann: Phänomenologie zur Einführung Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Band I Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe Und in diesen „Erinnyen“: Gaßmann: Kritik der Wertphilosophie III 86