Aphorismus - Erinnyen Nr. 18

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Impressum
Erinnyen
Zeitschrift für materialistische Ethik
Herausgegeben vom
Verein zur Förderung des
dialektischen Denkens
Erscheint in zwangloser Folge
Frühjahr 2007
Nr. 18
Kritik der Wertphilosophie
und ihrer ideologischen Funktion
Teil III
Die materiale Wertethik
von Max Scheler
Die „Erinnyen“ werden herausgegeben vom “Verein
zur Förderung des dialektischen Denkens e.V.“
Verantwortlicher Redakteur im Sinne des
Presserechtes und Inhaber der Zeitschrift ist Bodo
Gaßmann.
Die „Erinnyen“ erscheinen im Selbstverlag, u.z. in
zwangloser Folge. Namentlich gekennzeichnete
Beiträge entsprechen nicht unbedingt der Auffassung
der Redaktion.
Die Zeitschrift erscheint hauptsächlich im Internet
und kann dort kostenlos heruntergeladen werden:
www.erinn18.erinnyen.de ISSN 0179-163-18
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Für Philosophie und Ethik: www.zserinnyen.de
Erinnyen Aktuell: www.erinnyen.de
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Unsere englische Seite: www.erinyes.eu
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wissenschaftliche gekennzeichnet sind.
Inhaltsverzeichnis
Editorial
3
2. 8.5. Die tatsächlichen Kriegsgründe und
Schelers Kriegsideologie 50
2. 9. Das Sollen und die materiale
Wertethik
2. 9.1. Das Sollen in der bürgerlichen
Philosophie bei Kant und Hegel 51
2. 9.2. Das Sollen in Schelers ontologischem
Idealismus 51
2.10. Der Geist bei Scheler 54
2.11. Schelers Theologie 57
Aphorismen
Revolution am Samstag Nachmittag? 5
Leibniz' beste aller Welten 5
Ein Tag im Mai. Über die Aktualität des
Klassenkampfes 7
Wissenschaftlicher Beitrag zur Ethik
Von Bodo Gaßmann:
Kritik der Wertphilosophie und ihrer
ideologischen Funktion
3.
Teil III: Die materiale Wertethik von Max
Scheler
1.
Einleitung zur materialen Wertphilosophie
1. 1.
1. 3.
Die phänomenologische Methode
von Husserl als Voraussetzung von
Schelers Begründung der Werte 12
Eine Vorbemerkung zu Schelers
Kantkritik 16
Der Anspruch Max Schelers 17
2.
Die Schelersche materiale Wertphilosophie
1. 2.
Die materiale Wertphilosophie als Ideologie
3.1.
Reaktionärer Fortschrittsbegriff,
konservative Kapitalismuskritik
und Legitimation der Ausbeutung 61
3.2. Die "Zerstörung der Vernunft" und
Schelers Irrationalismus 65
3.3. Schlussbemerkung 68
Literatur 69
Rezensionen
Wie steht es mit der Moral in der
bürgerlichen Presse?
Ethik im Redaktionsalltag. Hrsg.v. Dt.
Presserat.
72
2. 1. Materiale Werte
2. 1.1. Zur Bestimmung materialer Werte 18
2. 1.2. Vorläufige Kritik der irrationalen
Bestimmung materialer Werte 21
2. 2. Zur Ontologie
2. 2.1. Einleitung: Ontologie überhaupt 23
2. 2.2. Kritik an Schelers Ontologie 24
2. 3. Phänomenologische Anschauung /
Wesensschau 25
2. 4. Begründung des
27
phänomenologischen Wertfühlens
2. 5. Kritik der Wertbegründung durch
Wertfühlen 30
2. 6. Milieu und Anthropologie 34
2. 7. Der Ordo amoris 39
2. 8. Die materialen ethischen Werte im
Konkreten
2. 8.1. Rangordnung der Werte 41
2. 8.2. Der Wert des Angenehmen 43
2. 8.3. Der sittliche Wert Gerechtigkeit 45
2. 8.4. Die Apologie des „echten“ Krieges
und Gerechtigkeit 47
"der nächste Amoklauf kommt
bestimmt"
Freerk Huisken: Über die Unregierbarkeit
des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt,
Emsdetten usw.
77
„Nach dem bewaffneten Kampf“
Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige
Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni
sprechen mit Therapeuten über ihre
Vergangenheit...
81
Glossar
Stichwort: Phänomenologie
2
85
von langfristigen Interessen ständig
umzuschlagen droht in das Handeln für seine
unmittelbaren Interessen in der
kapitalistischen Gesellschaft. Der Weg der
linken Akteure durch die Institutionen, den
einige 68er propagiert hatten, endete
bekanntlich mit dem Sieg der kurzfristigen
Interessen an der Karriere.
Editorial
Sollen auch die „Erinnyen“ zu Protesten
gegen den G8-Gipfel aufrufen, obwohl sie
mehr ein theoretisches Medium sind?
Geschichtsphilosophisch geht diese Zeitschrift
von der Erkenntnis aus, dass niemand sich
aufseiten der Geschichte wähnen kann, weder
die Politiker der „freien“ Marktwirtschaft noch
deren Gegner. Die Geschichte, die
Produktivkräfte, die bürgerliche Gesellschaft,
die Klassen und Schichten machen nichts,
erkämpfen nichts, bewegen nichts, kurz: Sie
sind keine Subjekte der Entwicklung, sondern
Subjekte können immer nur konkrete
Individuen sein, auch wenn sie von
vorgefundenen Bedingungen der Gesellschaft
außer sich und einer sozial geprägten
Triebstruktur in sich ausgehen müssen, auch
wenn sie unkontrollierbare Mechanismen
bedienen müssen, um ihr tägliches Brot zu
ergattern. Ob die Bedingungen auf alle
Handlungen durchschlagen oder die
vernünftige Tat siegt, entscheidet immer noch
der freie Wille. Wenn dem aber so ist, dann
kommt für diejenigen, die eine Veränderung
des Bestehenden anstreben, der moralische
Aspekt ihrer Aktionen eine höhere Bedeutung
zu, als bisher in der Linken angenommen
wurde.
Moral in der kapitalistischen
Gesellschaft
Interessen haben keine Prinzipien in sich,
die über die bestehende Gesellschaft
hinausweisen. Eine Orientierung an
Interessen verfällt der gleichen Kritik wie die
an dem bürgerlichen Utilitarismus eines
Bentham oder Mill. Eine angestrebte
alternative Gesellschaft, die allein auf
Interessen beruhen würde, zerfiele
zwangsläufig wieder in unterschiedliche
Sozialgruppen mit gegensätzlichen Interessen,
wie die Geschichte der Sowjetunion gezeigt
hat. Nur eine Moral, die vor der avancierten
Vernunft bestehen kann, enthält zumindest
theoretisch genug Widerstandspotenzial, um
den amoralischen Verlockungen der heutigen
Gesellschaft trotzen zu können. Diese
moralische Seite einer zukünftigen Bewegung
theoretisch zu fundieren, dient der
wissenschaftliche Beitrag: Die Kritik an der
materialen Wertethik. Moral ist in der
kapitalistischen Gesellschaft sowohl eine
ideelle Existenzbedingung der
Klassenherrschaft als auch ein
propagandistisches Mittel, diese abzusichern.
Beide Funktionen erfüllt auch die Wertethik
von Max Scheler, die als reaktionärer
Konservativismus offen gelegt wird, der
heute wieder unter den Ideologen propagiert
wird. Dagegen setzen wir eine sozialistische
Moral, die gegenwärtig nur eine des
Widerstandes sein kann.
Langfristige und kurzfristige Interessen
Gewöhnlich wird der Einwand vorgebracht, es
liege im langfristigen Interesse, die
kapitalistische Katastrophenökonomie
abzuschaffen, sodass man keine moralischen
Gründe brauche und Moral bei den
Handlungen nebensächlich sei. Dies ist jedoch
falsch. Denn die Rede von den langfristigen
Interessen übersieht den Zeitrahmen, diese zu
verwirklichen. Wenn ich meine langfristigen
Interessen in meinem Leben niemals erreichen
werde, und so sieht es zurzeit aus, dann
besteht zunächst für den Einzelnen kein
offensichtlicher Unterschied zwischen
moralischen Gründen für eine Veränderung
der Gesellschaft und den langfristigen
Interessen daran. Wohl aber besteht ein
praktischer Unterschied: Das Eintreten für
eine bessere Gesellschaftsordnung ist im
eminenten Sinne moralisch, während die Rede
Zur gegenwärtigen Situation
Das, was heute unter den Stichworten
„neoliberale Wirtschaftspolitik“ und
„Globalisierung“ auftritt, ist seiner Substanz
nach eine „aggressive Wirtschaftsordnung, die
- national wie global – alles dem Interesse
einer kleinen Minderheit von Menschen
3
unterordnet“ (P. Bürger in Telepolis). Die
Bereicherung der Aktienbesitzer auf Kosten
der Lohnabhängigen ist ebenso Klassenkampf
von oben (vgl. unseren Aphorismus „Ein Tag
im Mai“) wie die Aussaugung von Ressourcen
und Menschen in den Entwicklungsländern.
Wer dagegen allein seine kurzfristigen
Interessen an gesicherten Arbeitsplätzen und
mehr Wohlstand geltend macht, so berechtigt
diese Forderungen auch sind, bleibt den
Mechanismen der kapitalistischen
Klassengesellschaft verhaftet. Wahrer Protest
gegen diese ist deshalb im Wesentlichen
selbstlos, also moralisch motiviert. Er
entzündet sich am Leid der anderen.
ideologischen Beeinflussung und die
Verblödungsweisen der Bewusstseinsindustrie
zu verlassen, um in der bürgerlichen
Demokratie die Massenbasis für die wenigen
Profiteure zu sichern. Kein Wunder, dass die
permanente Selbstermächtigung der
Exekutive zur vorherrschenden Tendenz
in der westlichen Welt geworden ist. Was
soll man von einer Exekutive halten, deren
Führer sich in Deutschland vor dem Volk
durch einen neuen Grenzzaun absichern
müssen. Die Berliner Mauer und Wandlitz
lassen grüßen. Der Point of no Return zur
offenen Diktatur ist zwar noch lange nicht
erreicht, aber eine Diktatur ist auch nicht
nötig, wenn die gelenkte Demokratie, die man
bei Putin kritisiert, um von sich abzulenken, in
Westeuropa funktioniert.
Nach Ansicht der „Süddeutschen Zeitung“
identifizieren sich immer weniger Bürger mit
dem Staat – trotz des wir-sind-alle-der-StaatFußballweltmeisterschaft-Rummels. Auch das
abhängige Kleinbürgertum hat Angst vor
sozialem Abstieg angesichts einer
Regierungspolitik, die vorrangig für das
Großkapital wirkt. Die abnehmende
Zustimmung zu den sogenannten
Volksparteien zeugt davon. Der sittliche
Verfall der Justiz setzt sich fort, wie die
willkürlichen und ungesetzlichen Maßnahmen
gegen die G8-Kritiker zeigen. Einige
Vertreter der herrschenden Klasse
vergessen alle rechtsstaatlichen
Grundsätze, wenn sie sich durch
Andersdenkende bedroht fühlen. Schäuble
als Innenminister, der eigentlich das Recht
schützen müsste, unterhöhlt die
verfassungsmäßigen Rechte der Bürger – und
schert sich einen Dreck um entgegenstehende
Urteile des Verfassungsgerichts.
Moral und Widerstand
Wenn in den nächsten Tagen gegen den G8Gipfel in Heiligendamm protestiert wird, dann
äußert sich vehement ein moralischer Impuls
gegen diese Trends. Was ist es anderes als
Moral, wenn man dagegen protestiert, dass die
Wirtschaftsordnung 30 Millionen Menschen
auf der Erde jährlich an Hunger sterben lässt,
dass die reichen Industriestaaten das größte
Waffenarsenal aller Zeiten unterhalten und
dass ihr „militärischer Humanismus“ nichts
anderes ist als die Sicherung von
Rohstoffquellen und Ausbeutungsstrukturen.
Was anders ist es, wenn nicht nur politische,
sondern auch soziale Menschenrechte
eingeklagt werden, wenn gegen künstlich
erzeugte Umweltkatastrophen, fehlende
Trinkwasserversorgung und für erschwingliche
Medikamente protestiert wird. Was soll Moral
sonst sein, wenn nicht der persönliche Einsatz
für eine lebenswerte natürliche und
gesellschaftliche Umwelt, in der das Kapital
nicht mehr die alles bestimmende Macht ist.
Wer sich derart verhält, nützt seinen
kurzfristigen Interessen kaum, er kann aber in
Selbstachtung leben, für sich partiell Würde
reklamieren, die er als Lohnabhängiger nicht
hat. Er kann seine Freiheit für sich betätigen,
statt sie umsonst in Profit materialisiert den
Shareholdern oder einem Staat abzuliefern, der
ihn bespitzelt, seine Demonstrationsfreiheit
einschränkt und über seine unmittelbaren und
langfristigen Interessen hinweg Politik
betreibt. Also selbstverständlich auf die
Der Trend, die Exekutive über alle anderen
Verfassungsorgane zu stellen, ist weltweit zu
beobachten. So hat der amerikanische
Präsident mehr „Signing Statements“
produziert als alle seine Vorgänger zusammen,
d. h., er hat mehr Gesetze der Legislative
abgeschmettert als je einer, obwohl die
Volkssouveränität von der Legislative
ausgeübt wird. Mit diesen Statements deutet er
Gesetze um und schafft neue Amtsbefugnisse,
die nicht der Kontrolle durch die Legislative
unterliegen, weil jedes Einschreiten des
Kongresses durch ein neues Statement
abgeschmettert wird. Hinter dieser Tendenz
steht das Bestreben der Kapitalpolitiker, sich
nicht mehr allein auf die Raffinesse ihrer
4
Läufe: Nach Rostock oder Heiligendamm!
Die Masse ist unsere Stärke. Aber nicht als
Bittsteller gegenüber den Staatschefs, sondern
als antikapitalistische Kritiker, nur negativ.
Menschen sind als Monaden in „prästabilierter
Harmonie“ miteinander verbunden. „Endlich
wird es unter dieser vollkommenen Regierung
(Gottes im Reich des Geistes) keine gute Tat
ohne Vergeltung, keine schlechte ohne
Züchtigung geben. Alles muss zum Wohle der
Guten ausschlagen, d. h. derer, die in diesem
großen Staat nicht zu den Missvergnügten
gehören, die sich der Vorsehung anvertrauen,
nachdem sie ihre Pflicht getan haben, die den
Urheber alles Guten nach Gebühr lieben und
nachahmen, indem sie sich an der Betrachtung
seiner Vollkommenheit freuen. (…) Solches
bewirkt, dass die Weisen und Tugendhaften an
alledem arbeiten, was mit dem mutmaßlichen
oder vorhergehenden göttlichen Willen
übereinzustimmen scheint – und gleichwohl
mit dem zufrieden sind, was Gott vermöge
seines geheimen, nachfolgenden oder
entscheidenden Willens wirklich eintreten
lässt. Sie anerkennen nämlich, dass wir, wenn
wir die Weltordnung hinreichend zu verstehen
imstande wären, finden würden, wie sie alle
Wünsche der Weisesten übertrifft, und wie es
unmöglich ist, sie besser zu machen, als sie ist.
Und zwar nicht bloß für das Ganze im
Allgemeinen, sondern auch für uns selbst im
Besonderen, wenn wir nämlich dem Urheber
des Ganzen nach Gebühr ergeben sind:
sowohl als dem Baumeister und der
bewirkenden Ursache unseres Seins, wie auch
als unserem Herrn und Endzweck, der das
ganze Ziel unseres Willens ausmachen muss
und allein unser Glück bewirken kann.“ (§ 90.)
Bodo Gaßmann
Aphorismus
Revolution am Samstag Nachmittag?
Ein Vater, ein alter 68er, saß neben seiner
sechzehnjährigen Tochter. Die hörte mit
einem Kopfhörer Radio. Plötzlich schrie sie
laut auf:
„Die Revolution ist ausgebrochen.“
Der Vater antwortete ihr spontan: „In der
Waschmaschinenwerbung oder bei Dieter
Bohlen?“
Doch klammheimlich überlegte er einen
Moment, ob an ihren Worten etwas dran sein
könnte. Es war Samstag Nachmittag und er
entschied überzeugt: Unmöglich; am Samstag
hockt der Gesamtarbeiter im Fußballstadion
oder glotzt die Spiele im Privatfernsehen.
(Nach „Monadologie“ (Reclam), 1975 - in neuer Rechtschreibung)
Wie Voltaire auf diesen Idealismus reagierte,
hat er in einem satirischen Roman deutlich
gemacht. Seine Titelfigur läuft durch die
„beste aller Welten“ und die sieht unter
anderem so aus: „Derweil dann die beiden
Könige das Te Deum singen ließen, jeder in
seinem Lager, beschloss er (Candide),
anderweitig Wirkungen und Ursachen zu
durchdenken. Er stieg über Haufen von Toten
und Sterbenden und erreichte zuerst ein
Nachbardorf; es lag in Schutt und Asche. Es
war ein Abarendorf, das die Bulgaren nach
den Bestimmungen des allgemeinen
Völkerrechts gebrandschatzt hatten. Hier
sahen Greise von Schüssen durchsiebt ihre
hingeschlachteten Weiber sterben, die Kinder
an die blutigen Brüste gepresst, dort taten
Mädchen mit aufgeschlitzten Leibern den
letzten Atemzug und hatten noch die
Leibniz’ beste aller Welten
Zweck aller idealistischen Philosophie war es
stets, die Menschen mit ihrem je
gegenwärtigen Schicksal in Gedanken zu
versöhnen. Der Mensch soll seine Pflicht tun,
sich mit dem bescheiden, was er hat oder –
heute – was karrieremäßig möglich ist. Er soll
die Gebote der Sittlichkeit halten, dann wird er
von einem höheren Prinzip, meist dem Gott,
belohnt. Am schönsten hat diese Bejahung der
gesellschaftlichen Ungleichheit, wie sie in der
Geschichte geworden ist, Leibniz
ausformuliert.
Gott hat nach Leibniz die „beste aller
möglichen Welten geschaffen“; alle Teile des
Kosmos, Natur und Geist, Leib und Seele der
5
natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt;
andere, halbverbrannt, schrien, dass man ein
Ende mit ihnen mache. Hirn bedeckte den
Boden nebst abgehauenen Armen und
Beinen.“ (dtv, S. 15; 2003 - in neuer Rechtschreibung; die
etwa unseren Rosengarten, wenn wir ihn uns
leisten können. Lassen wir andererseits die
Kinder in Afrika verhungern, seien wir froh,
dass es bei uns noch nicht ganz so schlimm ist.
Lassen wir die US-Amerikaner in Afghanistan
auf Hochzeitsgesellschaften schießen und den
iranischen „Widerstand“ seine Gefangenen
und Geiseln abknallen. Genießen wir den
melancholischen Kaffee, der von Indios für
einen Hungerlohn gepflückt wurde, und den
Whisky, dessen Inhalt, der sommerreife
Weizen von Illegalen vergoren und gebrannt
wird. Es gibt kein Gottesreich, keine
Belohnung guter Taten, keine prästabilierte
Harmonie, weder in der Welt noch zwischen
Seele und Körper. Allein das Heute zählt, der
unmittelbare Genuss, das vereinzelte, sich
selbst genießende Ich. Opportunismus,
Egoismus und Laster sind moralische
Anklagen ohne gültige Moral,
Kaugummibegriffe zur Erbauung der
Einfältigen.
Assoziation von „Bulgaren“ und „Abaren“ mit Barbaren ist gewollt.)
Wir haben in Europa zur Zeit Frieden? Dann
sind die Barbarismen nur anders: Und er
wachte auf und hatte Krebs, im Postkasten lag
sein Entlassungsbrief, sein Haus wurde
versteigert, seine Frau ließ sich scheiden und
er musste unter den Brücken schlafen. Die
beste aller denkbaren Welten hatte ihn
zerstört, er machte die schmerzlichen
Erfahrungen eines Candide, ohne dass ein
allwissender Erzähler sein Schicksal zur
Belehrung und satirischen Belustigung der
Nachwelt aufschrieb. Die Armut förderte
seine Krankheit – und als er starb, da war
keine „vollkommene Regierung“ im Himmel,
da war nicht einmal ein Himmel, es war auch
nicht einfach wüst und leer, auch nicht
schwarz, wie man sich einen traumlosen Schlaf
vorstellt – es war Nichts. Lediglich seine
zerstreuten Moleküle und Atome schwirrten
durch das Weltall, ohne sich jemals wieder zur
Monade organisieren zu können.
Derart ist der gegenwärtige Zustand. Nichts
soll durch Pfaffenrhetorik rationalisiert
werden. Dennoch wäre zu fragen, ob nicht in
dem Gedanken, wir leben in der besten aller
Welten, ein Fünkchen Wahrheit glimmt.
Das Allgemeine, das die Philosophen schon
vor Leibniz als Produkt der Menschen enttarnt
hatten, wird von dieser idealistischen
Philosophie vergöttlicht, obwohl es doch der
Erfahrung so krass widerspricht. Es ist nicht
erst aus der Perspektive von Auschwitz
falsches Bewusstsein. Wenn das ideale
Allgemeine Bluff ist, Ruhigstellung und Trost
für die, welche damals im Schweiße ihres
Angesichts hinter dem Pflug hergehen
mussten und heute im Kreislauf von
Produktion und Konsumtion abgenutzt
werden - die amerikanische Gesellschaftskritik
nennt das Rattenrennen (rat race) -, wenn das
ideale Allgemeine also Ideologie ist, dann liegt
der Verdacht nahe, dass jedes Allgemeine in
dieser besten aller Welten falsch ist. Dass Staat
und Gesellschaft, Institutionen und Behörden,
Technik und Kultur nichts weiter sind als
Mittel, die Pflichterfüller, Arbeitenden und
Organisierenden, zu manipulieren, bei der
Stange zu halten und zu verblöden.
Zunächst einmal: Wir können nicht aus dieser
Welt hinausspringen, es ist unsere, wir haben
keine andere. Die Mörder sind unsere Brüder
im Menschsein, ob wir das wahrhaben wollen
oder nicht. Jedes Ausschweifen der Seele in
Traumwelten, Fantasiegebilde und Utopien ist
selbst noch ein Teil des Schlechten. Wir sind
nicht nur Geist, sondern auch Köper, Leib,
und schwingt sich die Seele auch in die Höhe,
juchhe, der Körper bleibt auf dem Kanapee.
Dort wird er getroffen von allen Maßnahmen,
die sich das Führungspersonal der
herrschenden Verhältnisse einfallen lässt. Jeder
Eskapismus – zum Prinzip erhoben – ist selbst
ein Allgemeines. Man kann den
gesellschaftlichen Zumutungen nicht mehr
entfliehen wie einst Epikur in seinen Garten.
Man muss sich wehren, vor allem wenn einem
nicht der glückliche Zufall zu Hilfe kommt.
Aber wer hat schon sechs Richtige im Lotto.
Also Widerstand oder Brücke!
Was ist die Konsequenz aus dieser Einsicht?
Vielleicht diese: Genießen wir „Gottes
Schöpfung“, also das, was noch übrig bleibt,
Leibniz’ Philosophie hat deshalb ein Moment
von Wahrheit, wir leben in der besten aller
Welten, aber nicht weil ein allgütiger Gott sie
nach seiner unbegreiflichen Weisheit als beste
6
unter möglichen schlechteren Alternativen
eingerichtet hat, sondern weil wir keine andere
haben, weil wir auf das, was zur Zeit ist,
angewiesen sind. Wenn der Gott bei Leibniz
Alternativen hatte und einen freien Willen,
zwischen ihnen zu wählen, dann denkt das ein
Menschenhirn, also ist das Wahlvermögen eine
menschliche Fähigkeit – nur ins Ideal-Absurde
gesteigert. Wir haben die Wahl, uns die beste
aller möglichen Gesellschaftsordnungen in
dieser Welt zu erzeugen. Gott ist nichts
anderes als die überhöhte Fähigkeit des
Menschen. Und wenn der Reichtum auf der
Welt ständig wächst, warum sollten wir ihn
nicht so verteilen, dass alle ihren gerechten
Anteil daran haben, dass der Hunger
verschwindet, dass der Kampf um
Sondervorteile befriedet, die
menschverachtende Produktion um der
Produktion willen gestoppt wird …
Ein Tag im Mai
Über die Aktualität des
Klassenkampfes
Eine Collage aus der
Gegenöffentlichkeit
Es gäbe keine Klassen mehr, ist heute
vorherrschende Meinung. Der Arbeitsminister
hat sich jüngst schon über den Begriff
Unterschicht aufgeregt, selbst
Einkommensschichten solle es nicht geben.
Man braucht sich bloß einmal vorstellen, es
existierten keine Kapitaleigner, die von ihrem
Reichtum lebten, und es arbeiteten keine
Lohnabhängigen mehr, die, wie der Name
schon sagt, abhäng von den Kapitalbesitzern
sind, die ihnen Arbeitsplätze „geben“ – dann
hätten wir völlig andere Zustände als heute,
die Produktionsmittel gehörten allen, der
Gewinn würde an alle gerecht verteilt … Da es
aber nicht so ist, müssen wir den süßen
Gedanken fallen lassen und uns der
Wirklichkeit zuwenden. Dort existiert die
klassenlose Gesellschaft nur in der Fantasie
der Ideologen. Die These, es gäbe keine
Klassen, ist die geistige Absicherung, dass die
Klassen weiter existieren können, also selbst
Klassenkampf, und zwar von oben.
Nutzen wir also unsere Fähigkeiten. Als
Leibniz die Feudalgesellschaft verteidigte – sie
sei ohne Alternative -, war sie bereits in der
Defensive, sodass selbst sein Rationalismus
(ungewollt) zu ihrem Untergang beitrug. Ohne
Leibniz kein Kant und Hegel, ohne Kant und
Hegel kein Marx, ohne Marx keine rationale
sozialistische Alternative in dieser Welt.
Ersetzen wir das bestehende schlechte
Allgemeine durch das vernünftige Allgemeine,
das sich mit dem Besonderen versöhnen kann.
Bringen wir die reflektierte Einbildungskraft
an die Macht. Was fehlt, ist nur noch der letzte
zureichende Grund: die Menschen, die sich
aufrappeln. Die Überwindung der irrationalen
Feudalgesellschaft hat 500 Jahre gedauert, wie
lange dauert die Überwindung der
gegenwärtigen längst überflüssigen
Herrschaft? Wie lange lassen wir uns noch die
Zumutungen dieses anonymen und
entfremdeten Mechanismus und seiner
Nutznießer gefallen? Tun wir unsere Pflicht in
der besten aller Welten, erkämpfen wir das real
Mögliche. Öffnen wir den Kleinmütigen ihre
fensterlose Monade - wie hoffnungslos der
Erfolg zur Zeit auch erscheint.
Doch Vorurteile, lange genug verbreitet und
mit bunter Kleidung für alle kaschiert, sind
zählebig, sie sperren sich bei den
Vorurteilsbeladenen jeder rationalen
Aufklärung. Der Medienpöbel, der sich seine
Weltanschauung allabendlich in den
Massenmedien bestätigen lässt, fühlt sich eins
mit der Volksgemeinschaft. Er merkt gar
nicht, dass diese Suggestion von Gemeinschaft
selbst eine Form von Klassenkampf ist. Wer
gegen Argumente immun ist, wird auch nicht
die folgende Collage von Nachrichten als
einen Beweis ansehen, dass Klassenkampf
notwendig zum kapitalistischen System gehört,
in welcher Form er auch immer stattfinden
mag.
Eine tiefe Spaltung geht durch das Land, ein
permanenter Kampf der Klassen, der durch
schöne Bilder, Harmonie der Unterhaltung
und scheinhaften Streit der Meinungen in den
Talkshows verkleistert werden soll. Was sich
7
tatsächlich tut, darüber kann man sich in der
Gegenöffentlichkeit informieren, wie sie sich
z. B. im Internet etwa bei LabourNet äußert.
Man muss sich nur an den richtigen Quellen
orientieren. Das ist heute dank
Suchmaschinen, Newsletter und RSS-Feed
kein Problem mehr.
Amt mehr benötigt (…) Gestreikt wurde
deshalb in den Call Centern.
Klassenkampf von oben
Telekom-Chef lässt die Muskeln spielen
„Angesichts des Streiks bei der Telekom hat
Konzern-Chef René Obermann mit
Verkäufen von Service-Sparten gedroht, sollte
es zu keiner friedlichen Lösung mit der
Gewerkschaft Verdi kommen. In diesem Fall
könne das Unternehmen zu Verkäufen
gezwungen sein, um die Kosten in den Griff
zu kriegen, sagte Obermann der "Bild am
Sonntag".
Die folgenden Nachrichten spiegeln den
Klassenkampf eines Tages wider – und
dennoch ist es nur eine Auswahl der Auswahl:
Was bei LabourNet erscheint, ist selbst bereits
ausgewählt aus der unendlichen
Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Kämpfe,
und was wir aus den LabourNet-Nachrichten
in diese Collage aufgenommen haben, ist
reduziert auf Deutschland, auf die Headlines,
auf die ersten Sätze der Artikel. Wer sich für
einzelne Beiträge interessiert, kann den
Newsletter bei LabourNet nachlesen und auch
dessen Quellen verfolgen.
Klassenkampf von unten
Temporarily not available
Die Beschäftigten der Telekom wehren sich
gegen die Zumutungen des Vorstands. Ein
Streik in der Festnetzsparte T-Com steht
bevor.
Quelle der Quellen:
http://www.labournet.de/news/index.html (Die
Zwischenüberschriften sind von uns, Kürzungen und
Auslassungen sind nicht gekennzeichnet.)
Klassenkampf von oben
Liebe KollegInnen,
Bluten für die Aktionäre? Trotz
Milliardengewinne: Die Festnetzsparte soll
zerschlagen werden
neu im LabourNet Germany am Montag,
14. Mai 2007:
„…"Zeitgemäß" und "marktgerecht" sind für
die Telekom-Vorstände Jahresgehälter für sich
selber von deutlich über einer Million Euro,
dagegen Hungerlöhne von 5,11 Euro pro
Stunde für Beschäftigte aus Call-Centern, wie
sie jenen drohen, die kürzlich an die WalterTelemedien-Gruppe verkauft wurden. Bei den
Tarifverhandlungen am 22./23.März legte das
Telekom-Management erst mal seine
Forderungen auf den Tisch: Mindestens vier
Stunden länger arbeiten, zum gleichen Lohn
versteht sich, arbeiten rund um die Uhr von
Montag bis einschließlich Samstag mit
mehrfachem täglichen Arbeitsantritt, und
Einführung einer zweiten Lohnebene — das
sind nur einige der Unverschämtheiten…“
Der Streik bei Telekom
Klassenkampf von unten
Streiken sie schon - oder ist das noch
"Service"?
Der erste Streiktag bei der Telekom verlief
ohne große Unterschiede zum
Normalbetrieb…
„…Insgesamt sind bei der Telekom 160.000
Mitarbeiter beschäftigt, davon 80.000 in der
vom Streik betroffenen Festnetzsparte. Rund
zwei Drittel von ihnen sind Mitglied der
Gewerkschaft ver.di und bekommen
Streiktage bezahlt. Dass man im normalen
Telefonbetrieb nichts von dem Streik merkte,
lag wahrscheinlich weniger an der von ver.di
angekündigten Politik, Privatkunden zu
"schonen", sondern daran, dass das
Telefonnetz schon lange kein Fräulein vom
Verschiedenes
Klassenkampf von unten
ERA-Protest: 150 Kollegen bei BetriebsratsSprechstunde im Daimler-Werk Marienfelde
8
Am 9. Mai 2007 kam es erneut zu Protesten
im DaimlerChrysler-Werk Marienfelde gegen
die Einführung neuer Entgelte im Rahmen des
ERA-Tarifvertrags (Entgelt-RahmenAbkommen der IG Metall mit den MetallArbeitgebern). 150 Kollegen nutzten die
Betriebsratssprechstunde, um ihren Unmut zu
äußern.
„Klinikum Wahrendorff: Beschäftigte erklagen
Tarifgehalt, zwei Betriebsratsmitglieder
wenden Kündigungen ab und sieben
außerordentliche Kündigungen gegen ein
Betriebsratmitglied werden kassiert. Bereits am
18. April war vor dem Landesarbeitsgericht
(LAG) unter Vorsitz der Richterin Knaußt
regelrecht „Wahrendorff-Tag“: Gegen 9.20
Uhr schob Geschäftsleiter Alfred Jeske
zusammen mit der Anwältin der GmbH, Frau
Mysegades, einen riesigen Einkaufwagen voller
Akten in den Sitzungssaal. Die Akten türmte
die Anwältin zeitweise zu einer Art
symbolischen Schutzwall um sich und Herrn
Jeske auf. Aber alles Taktieren und Drohen
sollte den Vertretern der Firma Klinikum
Wahrendorff GmbH an diesem Tage wenig
helfen…“
Klassenkampf von oben
Bundestag speist Putzkräfte mit
Dumpinglöhnen ab
Eine Hotline der IG BAU soll Fälle von
Dumpinglöhnen in der Gebäudereinigung
offen legen. Was dabei herauskam, machte die
Gewerkschafter baff: Selbst der Bundestag
zahlt Putzkräften nur Dumpinglöhne. Die
liegen sogar unter dem im Entsendegesetz
festgelegten Mindestlohn von 7,87 Euro.
Bankkaufleute psychisch am Ende - Die
Sparkassen in NRW stehen vor Privatisierung.
1400 Arbeitsplätze gefährdet
Discount-Dozenten
„Nach kritischen Medienberichten schafft die
Uni Hamburg ihre Ein-Euro-Jobs ab, um den
Imageschaden, der längst entstanden ist, zu
begrenzen. Doch billige Lehre gibt es an allen
Hochschulen: Lehrbeauftragte unterrichten für
Minilöhne oder sogar umsonst…“
„Die beabsichtigte Änderung des
Sparkassengesetzes in Nordrhein-Westfalen
(NRW) stößt bei Bankkaufleuten auf
entschiedenen Widerstand. Rund 300
Beschäftigte der kommunalen Geldinstitute
des Landes protestierten am
Mittwoch beim Sparkassentag 2007 in
Bochum unter anderem dagegen, daß durch
diese »Reform« zahlreiche Arbeitsplätze aufs
Spiel gesetzt werden. Nach dem Willen der
schwarzgelben Landesregierung sollen die
Sparkassen in NRW teilprivatisiert und
profitabel geführt werden…“
Billige Ersatzlehrer
Quereinsteiger werden an den Schulen
dringend gebraucht. Doch mit neuen
Tarifverträgen schrecken die Bundesländer
Interessenten ab. Es gibt bis zu 1300 Euro
weniger im Monat.
G8
Klassenkampf von unten
Klassenkampf von oben
Protest gegen Bremer Klinik-Pläne Krankenhausbeschäftigte warnen vor
schleichender Privatisierung
»Es gibt nicht den Hauch eines Beweises«
„»Egal wer in Bremen nach den
Landtagswahlen am Sonntag regiert, unsere
Interessen müssen wir selber in die Hand
nehmen.« So lautet die Devise der
Unabhängigen Betriebsgruppe »Uns reicht's
Bremen!«…“
Es hat selten ein 129a-Verfahren mit so
schlechter Begründung gegeben. G-8-Gegner
unbeirrt. Ein Interview von Wera Richter mit
Sven Lindemann, Anwalt in Berlin und
Betroffener der Polizeirazzien gegen G-8Gegner am Mittwoch in der jungen Welt vom
11.05.2007…
Ausgebremst: Geschäftsleitung der Klinikum
Wahrendorff GmbH erlebt schwere
Niederlage
Polizei kopierte Daten von so36.net - G 8Razzia: Berliner Internetdienst betroffen
9
„Bei der großangelegten Razzia gegen linke
Projekte ist am Mittwoch auch der Berliner
Internetanbieter so36.net ins Visier der
Ermittler geraten. Dank einer Anwältin konnte
eine Beschlagnahme zwar verhindert werden.
Bei der Durchsuchung konnte die Polizei
indes eine Reihe von Daten kopieren…“
Klassenkampf von oben
Schäuble sperrt weg
„Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
erklärt: Jeder hat das Recht, gegen den G-8Gipfel im Juni in Heiligendamm zu
protestieren. Wer wann wo wie demonstrieren
darf, die einschränkenden Details regelt ihr
Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Im
Boulevardblatt Bild drohte er am Freitag,
»gewaltbereite Chaoten« präventiv zwei
Wochen wegzusperren. »Die Polizeigesetze
der Länder sehen den sogenannten
Unterbindungsgewahrsam vor«, betonte
Schäuble, wohl wissend, daß »Chaot« kein
Rechtsbegriff und »gewaltbereit« nicht
gleichbedeutend mit »gewalttätig« ist. Die
Älteren in Deutschland kennen die
willkürliche Inhaftierung politisch
Unliebsamer noch unter dem euphemistischen
Nazibegriff »Schutzhaft«…“
Klassenkampf von unten
Jetzt erst recht!
„Hinter der Kriminalisierung der Proteste
gegen die G8 verbirgt sich der Unwille der
Verantwortlichen in Politik und Verwaltung,
sich mit unseren Argumenten
auseinanderzusetzen. An die Stelle des Dialogs
mit aktiven Teilen der interessierten
Bevölkerung tritt die Inszenierung pauschaler
Verdächtigungen und die Abstemplung von
Straßenprotest als terroristisch. Damit wird
dann vor der Öffentlichkeit begründet,
weshalb mit der Straße nicht geredet, sondern
im Bedarfsfall lieber geprügelt wird.
Das ist völlig unakzeptabel. Die Europäischen
Märsche 2007 gegen Armut und
Existenzunsicherheit schließen sich deshalb
dem Protest gegen die Polizeirazzien im
Vorfeld des G8-Gipfels an. Zusammen mit
allen anderen Anti-G8-Protestlern werden wir
dafür sorgen, dass unsere Mobilisierung jetzt
erst recht breit wird und auch all diejenigen
erreicht, die bislang zu Hause bleiben
wollten.“
Klassenkampf von unten
»Die Polizei hat Gesprächsversuche
abgeblockt«. Anwälte wollen Protestierern
gegen den G-8-Gipfel bei der Wahrung ihrer
Rechte helfen.
"Nicht die Schutzrechte der Menschen,
sondern die staatlichen Abwehrrechte gegen
die Bürger stehen im Vordergrund"
Martin Dolzer, Sprecher des vom
Republikanischen Anwältinnen- und
Anwälteverein eingerichteten anwaltlichen
Notdienstes, zu den Razzien und den
Sicherheitsmaßnahmen für den G8-Gipfel.
Wider staatliche Repression – für das
Grundrecht auf Versammlungs- und
Meinungsfreiheit
„Die Kriminalisierung der KritikerInnen der
von den G8-Repräsentanten und wenigen
Repräsentantinnen betriebenen Globalisierung
hat schon früh begonnen - und hat System.
Deshalb warnen sowohl die OrganisatorInnen
des Protestes rund um Heiligendamm als auch
weitere bürgerrechtlich engagierte
Organisationen schon seit Wochen und
Monaten vor der staatlichen Kriminalisierung
des Protestes und einer inszenierten
Gewaltdebatte…“
Klassenkampf von oben
Für Schäuble ist die Gefährdungslage ernst
„Anstatt im Vorfeld des G8-Gipfels auf
Deeskalation zu setzen, macht der
Bundesinnenminister das Gegenteil, vermischt
Terrorismus und Protest, droht mit
Vorbeugehaft und bringt erneut die
Bundeswehr ins Spiel…“
10
Der RAV kritisiert das unkooperative
Verhalten der Polizei im Vorfeld des G8Gipfels
„Die Besondere Aufbau Organisation der
Polizei (BAO) „Kavala“ verweigert die weitere
Kooperation mit dem anwaltlichen Notdienst
der Vereinigung der Strafverteidigerinnen und
Strafverteidiger Mecklenburg Vorpommern
(VdSMV) und dem RAV…“
werden. Wir kritisieren die politische
Perspektive und die Inhalte des
Positionspapiers. Denn es kündigt einen
Konsens auf, der bis dato in der Mobilisierung
nach Heiligendamm von einem breiten
Bündnis getragen wurde: die G8 zu
delegitimieren anstatt Forderungen – von A
wie Afrika bis Z wie Zollpolitik – an sie zu
stellen..." Eine Replik der BUKO auf das
"NGO-G8 Positionspapier"…
Weiter G8
Überwachungsstaat
Klassenkampf von unten
Klassenkampf von oben
Kriege beenden statt Kriege vorbereiten.
Schluss mit den Auslandseinsätzen der
Bundeswehr
Die tausend Augen des Staates
„Heimliche Durchsuchungen von
Privatcomputern, der polizeiliche Zugriff auf
Passfotos von jedermann und der Abgleich
mit Aufnahmen von Überwachungskameras wie sich Schäubles Kontroll-Vorhaben auf den
Rechtsstaat auswirken. Immer mehr
unbescholtene Bürger geraten in das Visier der
Fahnder…“
Aufruf aus der Friedensbewegung zur
Demonstration am 2. Juni 2007 gegen den G 8
Gipfel in Heiligendamm beim
Friedenspolitischen Ratschlag…
Globalisierung und G 8-Gipfel: Die
Gewerkschaften im Norden rufen ihre
Mitglieder auf, sich aktiv in der
Globalisierungsbewegung zu engagieren
Klassenkampf von unten
Sicherheitskatalog: Juristen werfen Schäuble
Abkehr vom Rechtsstaat vor
Der DGB Bezirksvorstand NORD
einschließlich IG BAU, TRANSNET, GdP,
GEW, IG BCE, NGG, IG Metall und ver.di
rufen zur DEMO am 2. Juni und ins G8 Gute
Nacht Camp südlich von Rostock nach
Bützow auf.
„Selten haben sich Juristen so deutlich in die
Tagespolitik eingemischt. Deutsche
Anwaltsverbände fordern die Große Koalition
auf, den geplanten Sicherheitskatalog von
Innenminister Schäuble zu stoppen. Sie sehen
Deutschland auf dem Weg zum
Präventivstaat…“
G8-Proteste zeigen erste Erfolge: Gipfel
gekürzt
Pressemitteilung der Campinski Pressegruppe
vom 11. Mai 2007…
Internationale Liga für Menschenrechte
fordert „sofortige Beendigung des
Grundrechte-Ausverkaufs und eine
Generalrevision der Antiterrorgesetze“.
Internationale Liga für Menschenrechte sieht
im „Kampf gegen den Terror“ die
Bürgerrechte bedroht…
Klassenkampf von oben
Glaubwürdigkeit von NGOs auf dem
Prüfstand
Antifaschismus
"Im März 2007 haben über 40
Nichtregierungsorganisationen ein
„Positionspapier“ zum G8-Gipfel in
Heiligendamm verabschiedet, in dem in
verschiedenen Bereichen wie der Klima- und
Rohstoffpolitik, Welthandel oder
Entwicklungspolitik gegenüber Afrika
Forderungen an die G8-Regierungen gestellt
Klassenkampf von unten
Onlinearchiv: Antifaschistischer Widerstand
Das European Resistance Archive (ERA) ist
online! ERA ist ein online-Archiv des
11
Widerstands gegen Faschismus und Besatzung
während des zweiten Weltkrieges in Europa.
Kern des Webportals sind momentan 20
Videointerviews mit Frauen und Männern, die
am antifaschistischen Widerstand in
verschiedenen europäischen Ländern
teilgenommen haben. ERA bietet historisches
Wissen, Kartenmaterial, Textsammlung und
Partizipationsmöglichkeiten.
Berufsinformationszentrum (BIZ) der
Arbeitsagentur in der Luxemburger Straße in
Köln junge Erwerbslose fürs Militär und seine
Auslandseinsätze zu werben. GegnerInnen
treffen sich um 11:30 Uhr vor der
Arbeitsagentur Luxemburger Str. …
Klassenkampf von oben und unten
GEW Hamburg beendet Debatte um
Rothenbaumchaussee: "Normaler Kauf?"
Wissenschaftlicher Beitrag zur Ethik
von Bodo Gaßmann
Darf eine Gewerkschaft arisiertes Eigentum
behalten?
Kritik der
Wertphilosophie III
Ein offener Brief von Bernhard Nette und
Stefan Romey ( Mitglieder der AG Ro 19 der
GEW Hamburg) an die Gedenkveranstaltung
„Zerschlagung der Gewerkschaften durch die
Nationalsozialisten 1933“ am 2. Mai 2007 im
Gewerkschaftshaus Hamburg.
Die materiale Wertethik
von
Max Scheler
Imperialismus und Krieg
Klassenkampf von unten
Kritik der Wertphilosophie und
ihrer ideologischen Funktion
Bundeswehrwerbeoffizier in Wuppertal
getortet
„Am Donnerstag, den 10.05.07 sollte im BIZ
(Berufsinformationszentrum) eine
Propagandaveranstaltung für Berufsanfänger
stattfinden. Diese sollen fürs Töten auf Befehl
als Beruf werben. Der Stabsoberbootsmann
Heinrichs konnte seinen Vortrag jedoch nicht
halten, da er zuvor gezielt eine Torte ins
Gesicht bekommen hat. Damit setzt sich die
Reihe der Störungen von
Bundeswehrveranstaltungen in Arbeitsämtern
fort, nachdem schon in Köln und Bielefeld
antimilitaristische Aktionen stattgefunden
haben…“
1.
Einleitung zur materialen
Wertphilosophie
1. 1. Die phänomenologische
Methode von Husserl als
Voraussetzung von Schelers
Begründung der Werte
Die Problemstellung
Die bürgerliche Philosophie zur Zeit Husserls
geht davon aus, dass Wissenschaft im
"Sammeln und Beschreiben von Daten"
(Fellmann: Phänomenologie, S. 25) besteht,
die dann induktiv zu Theorien verarbeitet
werden. In diesem Sinn äußert sich auch
Scheler über diese. (Scheler: Ethik, z. B. S. 61
und S. 449 ff.) Für ein derartiges beschränktes
Verständnis von Wissenschaft ergibt sich das
Problem, was die Daten, mit der
Klassenkampf von oben und unten
Bundeswehr-Werber kommen erneut in
Kölner Arbeitsagentur
Das Hausverbot für die Bundeswehr in der
Kölner Arbeitsagentur ist aufgehoben. Am
Donnerstag den 24.Mai 2007 wollen
Bundeswehr-Werber erneut im
12
ontologischen Sphäre zu tun haben, denn
ohne einen Bezug zum außerbewussten Sein
hat keine Theorie einen Wahrheitsgehalt. Da
die vorherrschende bürgerliche Philosophie
einer "generellen antimetaphysisches
Tendenz" (Fellmann: Phänomenologie, S. 25)
folgt, d. h. diese abstrakt negiert, ist sie
unfähig, von den in der philosophischen
Tradition bis Hegel und Marx entwickelten
Lösungen der Fundierung von Wissenschaft
auszugehen. Sie stürzt sich deshalb in der
Phänomenologie auf pseudowissenschaftliche
Lösungen des Fundierungsproblems, wie ich
in diesem Teil der Kritik der Wertphilosophie
zeigen werde.
heute gar nicht existent), dann müssen die
naturwissenschaftlichen Theorien auch in dem
extramentalen Sein als fundiert gedacht
werden. Dies aber bestreitet Mach. Man könne
sich „nicht darüber täuschen, daß Raum- und
Zeitempfindungen ebenso Empfindungen sind
wie Farben-, Ton-, Geruchsempfindungen".
(A.a.O., S. 522)
„Ein Körper ist eine verhältnismäßig
beständige Summe von Tast- und
Lichtempfindungen, die an dieselben Raumund Zeitempfindungen geknüpft ist.
Mechanische Sätze, wie z. B. jener der
Gegenbeschleunigung zweier Massen, geben
unmittelbar oder mittelbar den
Zusammenhang von Tast-, Licht-, Raum- und
Zeitempfindungen. Sie erhalten nur (durch den
oft komplizierten) Empfindungsinhalt einen
verständlichen Sinn.“ Diesen Gedanken
verallgemeinert Mach zu seiner These von der
metaphysikfreien Wissenschaft, die als
„Empiriokritizismus“ in die
Philosophiegeschichte eingegangen ist. „Alle
Wissenschaft kann nur Komplexe von jenen
Elementen nachbilden und vorbilden, die wir
gewöhnlich Empfindungen nennen. Es handelt
sich um den Zusammenhang dieser Elemente.“
(Mach: Mechanik, S. 522) Über die
ontologischen Grundlagen sage die
Naturwissenschaft nichts aus, man könne
nicht „aus Massenbewegungen die
Empfindungen ableiten“, da „Masse“ auch nur
eine „verhältnismäßig beständige Summe von
Tast- und Lichtempfindungen sei." (A.a.O., S.
522) "Die Mechanik faßt nicht die Grundlage,
auch nicht einen Teil der Welt, sondern eine
Seite derselben.“ (A.a.O., S. 523)
Die bürgerliche Philosophie um 1900 wurde
dominiert durch die Strömung des
Neukantianismus auf der einen Seite und des
Empirismus und Positivismus auf der anderen.
Beiden gemeinsam ist die strikte
Bewusstseinsimmanenz des wissenschaftlichen
Denkens. Eine Reflexion auf die
ontologischen Voraussetzungen wurde kaum
vorgenommen. Dies zeigt sich darin, dass
beide Positionen Front gegen Kants „Ding an
sich“ machen, ohne dessen Problematik exakt
herauszuarbeiten. Für Rickert gilt: „Alles, was
es gibt, ist im Bewußtsein und gehört daher
notwendig zum sinnlich Realen.“ (Zitiert nach
Gaßmann: Wertphilosophie II, S. 19; vgl. darin
auch das Kapitel 7. „Hiatus irrationalis“.)
Der „Empiriokritizist“ Ernst Mach bemerkt in
einer 1883 zuerst erschienenen Schrift über
den naiven Realismus seiner Physikerkollegen:
„Den Denkmitteln der Physik, den Begriffen
Masse, Kraft, Atom, welche keine andere
Aufgabe haben, als ökonomisch geordnete
Erfahrungen wachzurufen, wird von den
meisten Naturforschern eine Realität
außerhalb des Denkens zugeschrieben.“
(Mach: Mechanik, S. 521) Dies sei aber falsch,
wie er in dem Bild vom Schnürboden eines
Theater, der unserem Bewusstsein entspräche,
deutlich machen will. Darin liegt das
berechtigte Moment, dass die Kategorien
unseres Denkens nicht in intentio recta mit der
ontologischen Ansichbestimmtheit der
Gegenstände gleichgesetzt werden dürfen.
Aber wenn sich mit physikalischen Theorien
Naturkräfte manipulieren lassen, Technik
möglich ist, die zur notwendigen Bedingung
des Industriezeitalters geworden ist (d. h. ohne
diese Technik wäre die Masse der Menschen
Gegen diese Position hat Lenin bekanntlich
seine Kritik formuliert, in der er der
Bewusstseinsphilosophie teilweise naiv seine
realistische Abbildtheorie gegenüberstellt.
Auch einige bürgerliche Philosophen
empfanden Unbehagen an einer bloßen
Bewusstseinsphilosophie. Die Position einer
realistischen Widerspiegelungstheorie konnten
sie nicht akzeptieren, weil sie deren
metaphysischen Implikationen und Aporien
nicht mit ihren an den Naturwissenschaften
orientierten Verständnis vereinbaren konnten,
nach dem es nur „empirisch-induktiv“
abgesichertes Wissen gäbe. Auch die
dialektische Position Hegels war ihnen
suspekt, weil dieser ebenfalls nicht-empirische,
d. h. metaphysische, Implikationen verlangt.
13
Husserl soll einmal gesagt haben: „Mir ist der
ganze Deutsche Idealismus immer zum K...
gewesen. Ich habe mein Leben lang (...) die
Realität gesucht.“ (Zitiert nach Fellmann:
Einführung, S. 42)
dunkel bewußten Horizont unbestimmter
Wirklichkeit, anschaulich gegenwärtig ist, soll
‚eingeklammert’ werden.“ (Stegmüller:
Hauptströmungen, S, 70; in der Darstellung
Husserls folge ich Stegmüller.)
Die Übernahme der Hegelschen Dialektik
hätte auch impliziert, sich ernsthaft mit der
Marxschen Kapitalanalyse
auseinanderzusetzen, dies blockierte aber
schon die sozialisationsbedingte Schranke in
der Psyche dieser bürgerlichen Philosophen.
Anstatt sich aber der wirkenden Realität
auszusetzen, z. B. einer Gesellschaftsanalyse
zu widmen, verbleibt Husserl in der
Immanenzphilosophie und will diese durch
ontologische Fundierung neu begründen. Sein
Spruch, der Geschichte in der bürgerlichen
Philosophie gemacht hat: „Zu den Sachen
selbst!“ (zitiert nach Fellmann: Einführung, S.
44), ist für Husserl nicht wörtlich zu nehmen,
bestenfalls haben seine Schüler ihn ernst
genommen. Husserls Denken selbst bleibt sein
Leben lang auf die Wissenschaft von der
Wissenschaft beschränkt, die bestehende
wissenschaftlichen Resultate als ontologisch
fundierte begründen will.
Husserl nennt diese Methode auch
„phänomenologische Epoché“. Geht man
vom Anschaulichen zum Abstrakten vor, dann
ergeben sich folgende Komponenten der
Reduktion und Einklammerung des
Bewusstseinsstroms:
1. Die „historische Einklammerung“
legt alles ab, was an Theorie und
Meinung erinnert, nur die
unmittelbare Sache soll gegeben sein.
(Tendenz zur absoluten
Vorurteilslosigkeit)
2. Danach folgt die „existentielle
Einklammerung“, in der sich von
allen Existenzialurteilen enthalten
wird. Denn es ist gleichgültig, ob ich z.
B. die Wesenheit „Rot“ an einem
sinnlich vorliegenden Gegenstand
isoliere oder an einer bloßen
Vorstellung von etwas Rotem oder
von einem imaginären Traum, sofern
nur überhaupt Rot in der Wirklichkeit
vorkommt. Die historischen und
existenziellen Einklammerungen
reichen aber nicht aus, um das Wesen
zu bestimmen, da sie sich auf
Einzelheiten beziehen, das Wesen aber
etwas Allgemeines ist. Deshalb kommt
hinzu als
3. die „eidetische Reduktion“: Sie
führt zur Unterscheidung von
Tatsachen, Fakten, Einzelheiten und
deren „Wesen“ (Eidos). Aus dem
Tatsächlichen wird das Wesen, z. B.
dieses individuelle Rot wird zum
Wesen Rot, dieser individuelle Mensch
hier und jetzt wird zum Wesen
Mensch. Die eidetische Reduktion
führt zum „transzendenten Eidos“,
das den Gegenstand der Ontologie
bildet. Das philosophische Bedürfnis
in der bürgerlichen Philosophie,
„zurück zu den Sachen“, das sich
gegen die vor 1914 im akademischen
Betrieb herrschende neukantianische
Philosophie mit ihrem Formalismus
richtet, findet in diesem Husserlschen
Die phänomenologische Methode
(Wesensschau)
Wissenschaft unterscheidet sich nach Husserl
vom nichtwissenschaftlichen Bewusstsein,
dass sie eine objektiv begründete
Unterscheidung von komplexen Vorstellungen
und deren Wesenheiten macht. Für Husserl ist
die traditionelle Methode, Wesenheiten zu
begründen, nicht mehr akzeptabel, weil sie an
der Oberfläche der Phänomene bleibe.
Komparation, Abstraktion und Reflexion (vgl.
Kant: Logik, S. 524 ff.) würden immer nur
Einzelmerkmale herausfinden und zu
Wesenheiten kombinieren, denen andere
Kombinationen mit dem gleichen Recht
gegenüberstehen. (Die Hegelsche Bestimmung
des Wesens als Gesetz der Erscheinungen
kommt bei Husserl nicht vor.) Dadurch sei die
Begründung von Wesenheiten aber nicht
objektiv. Husserl glaubt nun in der
„phänomenologischen Wesensschau“ eine
Methode gefunden zu haben, diesen Mangel
zu beseitigen. „Die Welt der natürlichen
Einstellung also, deren ich mir als endlos
ausgebreitet in Raum und Zeit bewußt bin, aus
der mir ein kleiner Teil, umgeben von dem
14
Gedanken ihr neues Fundament. Mit
der eidetischen Reduktion kreuzt sich
4. eine „transzendentale Reduktion“,
„durch welche die Gegebenheiten im
naiven Bewußtsein zu
transzendentalen Phänomenen im
‚reinen Bewußtsein’ werden“
(Stegmüller: Hauptströmungen, S. 71).
Der alleinige Vollzug der
transzendentalen Reduktion führt zum
„transzendentalen Faktum“ (oder zum
„transzendentalen Apriori“), das den
Gegenstand der Metaphysik ausmacht.
Bestimmung gar nicht aus dem
„Erlebnisstrom“ (Husserl) isolieren. Die
Wesensschau ist deshalb ein Zirkelschluss.
Wenn das Bewusstsein wirklich
voraussetzungslos aus dem Komplex der
Vorstellungen etwas isolieren wollte, dann
müsste es dem ersten Kapitel der
„Phänomenologie des Geistes“ von Hegel
folgen: Was einzig unmittelbar gegen ist, sind
das Hier und Jetzt, also Raum und Zeit als
Formen der Anschauung, aber keine
bestimmte Eigenschaft, schon gar kein Wesen.
(Vgl. Bensch: Perspektiven) Die Wesensschau
soll das Wesen der Dinge begründen – sie
setzt aber bereits das Vorhandensein von
Wesenheiten voraus – dies müsste aber erst
für eine Philosophie, die mit dem
Unmittelbaren beginnen will, bewiesen
werden. Husserl schließt aus seiner
Wesensschau unbegründet auf das
Vorhandensein von Wesenheiten.
Bei der eidetischen Reduktion ist – gegen die
Kritik der Neukantianer (IntuitionismusVorwurf) - sowohl die Anschauung, z. B. in
der historischen Einklammerung als
Voraussetzung der eidetischen Reduktion, als
auch der Verstand (im Vollzug der Akte der
Reduktion) wie auch die Spontaneität des
Denkens wesentlich mitbeteiligt. „Das Eidos
wird nicht einfach ‚gesehen’, sobald ein
Seiendes zur originären Gegebenheit gebracht
ist, sondern die möglichen Abwandlungen
dieses Seienden müssen denkend durchlaufen
werden, und das Wesen ist dabei erkennbar als
das, was in dieser Möglichkeitsabwandlung
invariant bleibt.“ (Stegmüller:
Hauptströmungen, S. 80 f.)
Die moderne positivistische
Wissenschaftstheorie lehnt die Epoché ab,
weil es ein „zweifacher Weg in die Mystik“ sei.
Falsch daran ist die Ablehnung der Differenz
von Wesen und Erscheinung, richtig daran ist
die Kritik an einer Methode, welche die
Spontaneität und Intuition des Denkens als
feste methodische Regel aufspreizt – was ein
Widerspruch ist zur Spontaneität und Intuition
des Denkens, die nur unreglementiert ihrem
Begriff nach vorstellbar sind. Was im Resultat
des spontanen Denkens wahr ist oder nicht
wahr ist, erweist sich erst dadurch, ob es
stimmig in eine Theorie sich integrieren lässt
oder ob diese Theorie auf rationale Weise
modifiziert werden muss – dann ist aber die
begriffliche Reflexion entscheidend für die
Geltung der Intuition. Letztlich erweist und
bewährt sich die Wahrheit einer Theorie in der
Praxis, die aus der Theorie folgt (siehe auch
2.2.2.).
Kritik der phänomenologischen Methode
Diese Methode hat sich als äußerst fruchtbar
in der bürgerlichen Philosophie erwiesen (z. B.
Scheler, Heidegger, Existenzialismus), auch die
Kritik an ihr konnte ihren Erfolg nicht
verhindern. Es tat sich ein unendliches neues
Arbeitsfeld auf für die, die diese Methode
benutzten, um sich den "Sachen selbst"
zuzuwenden. Das konnte selbst die folgende
Kritik, die im Irrationalismus-Vorwurf
mündet, nicht verhindern. Offensichtlich
besteht bis heute ein großes Bedürfnis in der
bürgerlichen Philosophie, sich den Tatsachen
zuzuwenden, ohne sie rational begreifen zu
wollen. "Trotz harter Irrationalismusvorwürfe"
gewinne die Phänomenologie "wieder an
Aktualität" (Fellmann: Phänomenologie, S. 22
f.)
Sachliche Resultate hat Husserl nicht geliefert
– im Gegensatz zu seinem Schüler Scheler. An
dessen Ergebnissen wäre die vorangehende
Kritik zu verifizieren. Husserl versucht die
Schranken der Subjektivität zu transzendieren
(Bulthaup: Metakritik, 1., S. 3). Er will
transzendentes Sein immanenzphilosophisch
begründen (S. 11). Das aber verfällt der
Kantischen Kritik an der Ontologie, in der
Kant nachweist, dass Ontologie nur die
Denkbestimmungen hypostasiert.
Die historische Reduktion auf ein
Unmittelbares, z. B. Rot nach Husserl, setzt
eine Vorstellung von seinem Wesen immer
schon voraus, sonst könnte ich diese
15
ontologischen Grundlage der Gegenstände des
Denkens, die Kant als unbekanntes Substrat
des Denkens voraussetzt. Entsprechend sind
ihm Begriffe wie „Ding an sich“ und
„intelligibles Substrat“ nur Anlass zum Spott
(vgl. Scheler: Ethik, S. 70). Indem Scheler die
Probleme, die darin verborgen liegen, abstrakt
negiert, fällt er auf sie herein, wie ich an seiner
phänomenologischen Begründung der Werte
zeigen werde. In vorweggenommener Kritik
wendet Kant gegen die Phänomenologie ein:
„Wir können nicht verstehen, als was ein
unseren Worten Korrespondierendes in der
Anschauung mit sich führt. Wenn die Klagen:
Wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein,
so viel bedeuten sollen, als, wir begreifen nicht
durch den reinen Verstand, was die Dinge, die
uns erscheinen, an sich sein mögen; so sind sie
ganz unbillig und unvernünftig; denn sie
wollen, daß man ohne Sinne doch Dinge
erkennen, mithin anschauen könne, folglich
daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß
dem Grade, sondern sogar der Anschauung
und Art nach, gänzlich unterschiedenes
Erkenntnisvermögen haben, also nicht
Menschen“ sind. (Kant: Kr.d.r.V., S. B 333 f.)
Dieses amenschliche Erkenntnisvermögen
unterstellt aber die Phänomenologie, wie ich
zeigen werde. Letztlich geht diese Fehldeutung
bei Scheler auf seine Abwertung des Geistigen
und die daraus folgende Flucht ins Irrationale
und Ontologische zurück. Die Abwertung des
Geistigen aber ist sozial durch die
spätbürgerliche Resignation bedingt.
1.2. Eine Vorbemerkung zu Schelers
Kantkritik
Die berühmt berüchtigte Kritik Schelers an
der Kantischen Philosophie geht schon aus
dem Titel seines Hauptwerkes hervor. Diese
Kritik zu erörtern würde ein Buch erfordern,
das an Umfang über das von Scheler
hinausgehen würde. Wenn überhaupt wird in
der Erörterung der Schelerschen materialen
Wertethik nur auf seine Kantkritik
eingegangen, wenn es unbedingt nötig ist zur
Erklärung seiner Position. Schelers Kantkritik
besteht aus Halbwahrheiten, Schiefheiten,
direkten Fehldeutungen bis hin zu
polemischen Fälschungen. Es liegt der
Verdacht nahe, dass er Kants
Moralphilosophie nur aus den Darstellungen
des Neukantianismus kennt, sie auf jeden Fall
durch dessen Perspektive betrachtet. Dies
zeigt sich z. B. in der Umdeutung der „Kritik
der reinen Vernunft“ in eine erzeugende
Erkenntnistheorie, die von der Kantischen
Voraussetzung, der Reflexion wahrer
Wissenschaft völlig abstrahiert (vgl.
Wertphilosophie II, S. 13 ff.).
Der immer wieder gegen Kant von Scheler
gemachte Vorwurf lautet: „Analog wie er in
der theoretischen Philosophie die Materie der
Anschauung mit einem 'Chaos', einem
'ungeordneten Gewühl' von Empfindungen
gleichsetzt, in das erst der 'Verstand' nach den
ihm immanenten Funktionsgesetzen, die in
aller Erfahrung gelegenen Formen und
Ordnungen bringen soll, so – meinte er –
seien auch die 'Neigungen' und 'Triebimpulse'
zunächst ein Chaos, in das erst der Wille als
praktische Vernunft nach einem ihm eigenen
Gesetze jene Ordnung bringe, auf die er die
Idee des 'Guten' meint zurückführen zu
dürfen. “ Diese Auffassung von Kants
Philosophie, die Scheler bei den
Neukantianern vorfindet, widerspricht aber
deren Geist und Buchstaben. So lehrte Kant in
seiner „Logik“: „Alles in der Natur, sowohl in
der leblosen als auch in der belebten Welt,
geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese
Regeln nicht immer kennen.“ (Kant: Logik, S.
432) Scheler konfundiert durchgängig die
erkennende Leistung der menschlichen
Subjektivität, die Kant herausarbeitet, mit der
Wie verfälschend Scheler in seiner Kritik an
Kants Moralphilosophie vorgeht, zeigt seine
Auffassung von der Würde der Person. Er
stimmt Kant zu, dass der Person die höchste
Würde zuerkannt werden müsse und kritisiert
Kant, dass er sie entwürdige, wenn er sie unter
ein abstraktes Gesetz, „unter die Herrschaft
eines unpersönlichen Nomos“ stelle. (Scheler:
Ethik, S. 384) Er verschweigt dabei die Hälfte
der Kantischen Argumentation, dass der
Mensch nur dem Moralgesetz unterstellt sein
darf, dass er sich selbst geben könne. Bei
Scheler dagegen untersteht der Mensch den
materialen Werten, die ontologisch sind. Er
wäre also nach Kant würdelos, auch wenn
Schelers materiale Werte keine äußeren Güter
sind, von denen er als würdiger auch nach
Scheler nicht abhängen dürfe, sondern sich
aus dem Sein des Menschen ergeben, ein Sein,
das aus der Willkür der Interpretation von
16
Scheler fließt und irrational ist, wie sich
ergeben wird. Scheler entwürdigt also den
Menschen und wirft dies durch Verfälschung
des Kantischen Gedanken seinem Gegner vor.
Auch L. W. Beck zeigt in seinem Kommentar
von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“
(Kants Kritik, S. 276), wie Scheler Kant falsch
interpretiert: „Seine Kant-Kritik läuft darauf
hinaus, daß für Kant das Apriori leer sein
muß, weil es rein formal ist. Aber da auch für
Scheler ethische Prinzipien a priori sind, so
muß es ein materiales Apriori geben, d. h. eine
Intuition materialer Wertwesenheiten. Auf
diese Weise glaubt Scheler, die 'Subjektivität'
und den 'Intellektualismus' der Kantischen
Ethik zu vermeiden, die aus Kants
angeblichem 'leeren Formalismus' folgen. Aber
diese Kritik verfehlt den entscheidenden
Punkt in der Kantischen Unterscheidung
zwischen dem Objekt des Willens, das
immer gegeben ist (Sittengesetz), und
dem Objekt des Willens als
Bestimmungsgrund des Handelns, das
sich nur in einer empirischen praktischen
Vernunft findet (die konkreten Zwecke
und deren Verwirklichung). In seiner
eigenen systematischen Darstellung der Ethik
hat Scheler kein rationales Kriterium für
materiale Prinzipien, das die Rolle des
formalen Prinzips in Kants Theorie
übernehmen könnte.“ (Beck: Kants Kritik, S.
276, Einfügungen und Hervorhebung von
mir)
(S.V). Es geht Scheler um „die Grenze dessen,
was in streng apriorischen Wesensideen und
Wesenszusammenhängen aufweisbar ist“
(S.V). Seiner „phänomenologischer
Fundierung“ der Ethik soll ein „systematischer
Charakter“ zukommen, weil die
"erforschbaren Sachen der Welt selber einen
systematischen Zusammenhang bilden“ (S.
VII). Scheler ist in der Wertphilosophie der
erste, „bei dem das Wertthema von vornherein
im Kontext der Ethik“ steht. (Schnädelbach:
Philosophie, S. 225) Scheler will zu einer
„konkreten einsichtigen und gleichwohl von
allen positiven psychologischen und
geschichtlichen Erfahrungen unabhängigen
Lehre von den sittlichen Werten, ihrer
Rangordnung und den auf dieser
Rangordnung beruhenden Normen“ kommen.
(S. 2). Damit will er zugleich zu „jedem auf
wahrer Einsicht beruhenden Einbau der
sittlichen Werte in das Leben des Menschen“
gelangen. Scheler will „etwas Bindendes
ausmachen“. (S. 2) Allerdings will Scheler in
seiner materialen Wertethik keine „positive
Ethik“ entwickeln, also kein System der Werte
aufstellen, sondern nur die „Grundarten
apriorischer Wesensverhältnisse“ geben
(Scheler: Ethik, S. 79).
Am Ende seines 2. Vorworts von 1921 schiebt
Scheler aber bereits diese strenge
Wissenschaftlichkeit beiseite, indem er die
Fundierung seiner Werte in einem göttlichen
Weltgrund andeutet, eine Frage, „deren
Lösung wir nur zu erfahren mögen durch die
mögliche Antwort, die unserer Seele in der
Einstellung des religiösen Aktes der Weltgrund
selbst erteilt.“ (Ethik, S. XII) Dieser Zugang
über den religiösen Akt ist aber nur den
Eingeweihten oder Gläubigen möglich, mir
jedenfalls hat sich der Weltgrund noch nicht
offenbart. War sein Anspruch, streng rational
vorzugehen, so deutet sein Vorwort bereits an,
dass er im Irrationalismus enden wird. Es ist
nun zu fragen und immanent kritisch zu
prüfen, ob wenigstens seine
phänomenologische Begründung der Werte
seinem wissenschaftlichen Anspruch standhält.
1. 3. Der Anspruch Max Schelers
Max Scheler wendet sich dem Anspruch nach
ausdrücklich gegen „Erscheinungen eines sich
so nennenden ‚Irrationalismus’“. (Ethik, S.
VII) Der Geist seiner Ethik soll der „Geist
eines strengen ethischen Absolutismus und
Objektivismus“ sein. (S. XI) Scheler spricht
von einem „Wertobjektivismus“, der sich
gegen die „herkömmlichen relativistischen und
subjektivistischen ethischen Lehrmeinungen“
wendet. (S. XI) Sein „Hauptziel der
Untersuchung besteht in einer streng
wissenschaftlichen und positiven Grundlegung
der philosophischen Ethik bezüglich aller
wesentlicher für sie in Frage kommender
Grundprobleme“ (S. V). Er will eine
„Grundlegung, nicht Ausbau der ethischen
Disziplin in die Breite des konkreten Lebens“
Diese Kritik der Wertphilosophie Schelers
stellt sich nicht die Aufgabe, das Gesamtwerk
dieses Autors zu untersuchen. Sie konzentriert
sich auf die Wertphilosophie und bezieht
andere Aspekte von Schelers Philosophie nur
insofern mit ein, als sie die Begründung und
17
die Folgen dieser Wertphilosophie deutlich
machen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage:
Lassen sich Werte objektiv, auch für andere
einsichtig begründen?
2.
2. 1.
mit Notwendigkeit gelten kann, so ist sie nach
Scheler deshalb bloß formal und nicht „in das
Leben des Menschen“ eingebaut, also kaum zu
vermitteln. In dieser Kritik drückt sich indirekt
die Erfahrung aus, dass die Tendenz zur
vernünftig bestimmten Moralität, die Kant
postulierte, auch 100 Jahre nach seinem Tod
noch keine Fortschritte gemacht hat. Dies liegt
aber nicht an der Vernunftmoral Kants,
sondern an den antagonistischen
Verhältnissen, die Moralität in der Gesellschaft
verhindern und immer mal wieder zur
Barbarei (wie den 1. Weltkrieg) führen. Ob
dem bloß eine andere Art der Ethik abhelfen
kann, ist äußerst zweifelhaft.
Die Schelersche
Wertphilosophie
Materiale Werte
2. 1.1. Zur Bestimmung materialer
Werte
Damit Werte allgemein und notwendig
begründet sind, kann eine materiale Wertethik
sie nicht direkt von wirklichen Güterdingen,
d.h. „Wertdingen“ (Ethik, S. 4), ableiten. Denn
wirkliche Güter sind in ständiger Veränderung
begriffen und können auch zerstört werden –
sie sind also immer auch zufällig. Derart
gewonnene materiale Werte wären bloß
empirisch und setzten sich zu Recht dem
Relativismusvorwurf aus, sodass für eine
objektive Ethik, die Scheler anstrebt, nichts
gewonnen wäre. Auch Zwecke könnten noch
Scheler keine materialen Werte mit allgemeiner
Gültigkeit begründen, da Zwecke antizipierte
Ursachen eines Gutes sind, das nur erst der
Möglichkeit nach, nicht aber wirklich
vorhanden ist. Moralisch gut kann nach
Scheler nur das Wollen sein, das einen Zweck
realisieren will, nicht aber der Zweck selbst
(a.a.O., S. 5).
Nach der Werttheorie der südwestdeutschen
Schule des Neukantianismus sind Werte etwas
Geistiges, die in einer eigenen Sphäre des
Geltens angesiedelt sind. Diese Richtung lehnt
eine Ideensphäre, die einen eigenen
Seinsbereich, der unabhängig vom
menschlichen Denken gedeutet wurde, ab,
weil dieser nicht rational begründbar ist. Wenn
Scheler schon im Titel seiner Ethik materiale
Werte anspricht, dann kann er sie weder in
einer Geltungssphäre des Denkens noch
einfach in der Seinssphäre ansiedeln, die nichts
mit dem Menschen zu tun hat, will er nicht als
ein Epigone bereits kritisierter oder aus der
bürgerlichen Philosophiemode gekommener
Konstruktionen gelten.
Scheler geht von der Phänomenologie
Husserls aus, die angeblich vom denkenden
Subjekt unabhängige ontologische
Bestimmungen erkennen kann – ein
Widerspruch in sich, da erkennen denken ist
und ontologische Bestimmungen auf der
phänomenologischen Methode beruhen, also
einer Denktechnik. Da jedoch jede
Philosophie ontologische Prämissen machen
muss, wäre dieser Widerspruch hinzunehmen,
wenn denn die phänomenologische Methode
tatsächlich ontologische Bestimmungen zu
erkennen in der Lage wäre.
„Indem Kant von den wirklichen Güterdingen
bei der Begründung der Ethik abzusehen
versucht, und dies mit Recht, meint er ohne
weiteres auch von den Werten absehen zu
dürfen, die sich in den Gütern darstellen. Dies
aber wäre nur dann richtig, wenn die
Wertbegriffe, anstatt in selbständigen
Phänomenen ihre Erfüllung zu finden, von
den Gütern abstrahiert wären; oder aber,
wenn sie erst aus den tatsächlichen Wirkungen
der Güterdinge auf unsere Zustände von Lust
und Unlust ablesbar wären.“ (Ethik, S. 6)
Dagegen will Scheler Werte als „selbständige
Phänomene“ bestimmen, die sich zwar an den
Gütern mittels der phänomenologischen
Methode aufweisen lassen, aber die nicht mit
der Wirklichkeit der Güter zusammenfallen.
Hatte Kant sich dagegen gewehrt, moralische
Prinzipien (das Moralgesetz) auf
psychologischen oder geschichtlichen
Erfahrungen zu gründen oder aus der
Wirklichkeit seiner Zeit zu erschließen, weil
eine solche Moralbestimmung nicht
verallgemeinerbar und heteronom sowie nicht
18
„Wie ich mir ein Rot auch als bloßes
extensives Quale z. B. in einer reinen
Spektralfarbe zur Gegebenheit bringen kann,
ohne es als Belag einer körperlichen
Oberfläche, ja nur als Fläche oder als ein
Raumartiges überhaupt aufzufassen, so sind
mir auch Werte, wie angenehm, reizend,
lieblich, aber auch freundlich, vornehm, edel,
prinzipiell zugänglich, ohne daß ich sie mir
hierbei als Eigenschaften von Dingen oder
Menschen vorstelle.“ (Ethik, S. 7) Damit wir
„Werte“ erkennen können, müssen wir von
dem Komplex von Empfindungen, die mit
den jeweiligen Dingen verbunden sind,
absehen, um nur den Wert selbst erschauen zu
können. So sagt Scheler über ethische Werte:
„Daß ein Mensch oder eine Handlung
‚vornehm’ ist oder ‚gemein’, ‚mutig’ oder
‚feige’, ‚rein’ oder ‚schuldig’, ‚gut’ oder ‚böse’,
das wird uns nicht erst durch konstante
Merkmale an diesen Dingen und Vorgängen,
die wir angeben können, gewiß, noch besteht
es gar in solchen. Es genügt unter Umständen
eine einzige Handlung oder ein einziger
Mensch, damit wir in ihm das Wesen dieser
Werte erfassen können.“ (Ethik, S. 9)
oder abgeleitet oder sonstwie mittels logischer
Operationen bestimmt, sondern sie können
nur mittels der phänomenologischen Methode
zur Anschauung gebracht werden. Im
Gegenteil gilt: Dieser anschaulich gegebene
Wert ist die Voraussetzung der empirischen
Forschung und ihrer denkenden Bewältigung.
Werte sind deshalb materiale Qualitäten,
die sich an den Gütern (Wertdinge bzw.
Menschen, die Träger von Werten sind)
zeigen, die aber nicht mit den empirischen
Gegenständen zusammenfallen, sondern einen
eigenen Bereich des Seins ausmachen.
„Aus dem Gesagten geht hervor, daß es echte
und wahre Wertqualitäten gibt, die ein eigenes
Bereich von Gegenständen darstellen, die
ihre besonderen Verhältnisse und
Zusammenhänge haben und schon als
Wertqualitäten z. B. höher und niedriger usw.
sein können. Ist aber dies der Fall, so kann
zwischen ihnen auch eine Ordnung und eine
Rangordnung obwalten, die vom Dasein
einer Güterwelt, in der sie zur Erscheinung
kommen, desgleichen von der Bewegung und
Veränderung dieser Güterwelt in der
Geschichte ganz unabhängig und für deren
Erfahrung ‚a priori’ ist.“ (Ethik, S. 10)
Allgemein sind Werte materiale Qualitäten, die
einer eigenen Seinssphäre angehören. Dies gilt
auch für die ethischen Werte. „Alle Werte
(auch die Werte ‚gut’ und ‚böse’) sind materiale
Qualitäten, die eine bestimmte Ordnung nach
‚hoch’ und ‚nieder zueinander haben; und dies
unabhängig von der Seinsform, in die sie
eingehen, ob z. B. als pure gegenständliche
Qualitäten oder als Glieder von Wertverhalten
(z. B. Angenehm- oder Schönsein von etwas)
oder als Teilmomente in Gütern, oder als
Wert, den ‚ein Ding hat’, vor uns stehen.“
(Ethik, S. 12)
Die Schwierigkeit, die Schelerschen Werte zu
begreifen, liegt in ihrer Seinsweise. Dass
materiale Qualitäten an den Sachdingen und
Menschen feststellbar sind, ist eine geläufige
Vorstellung. Löst man diese materialen
Qualitäten von den Dingen, an denen sie
erscheinen, ab, dann sind dies nach der
philosophischen Tradition
Abstraktionsprodukte, die logisch der
Kategorie der Qualität unterstehen. Was aber
soll ein eigener Seinsbereich für diese
materialen Qualitäten als „Werte“ bedeuten?
Scheler sagt: „Auch die Bedeutung des
Nicht ein Mensch mit einer guten Eigenschaft
ist gut, sondern allein der Wert des Guten, der
sich an einem konkreten Menschen zeigt, kann
allein gut genannt werden. Werte werden aber
nicht aus den Gütern (einschließlich der
Menschen) erschlossen oder verallgemeinert
19
Gegenstandes, ‚was’ er in dieser Hinsicht ist
(ob z. B. ein Mensch mehr ‚Künstler’ oder
‚Philosoph’ ist) mag beliebig schwanken,
ohne daß uns dabei sein Wert mitschwankt. In
solchen Fällen offenbart sich sehr klar, wie
unabhängig im Sein die Werte von ihren
Trägern sind.“ (Ethik, S. 13) Die Ablösbarkeit
der Qualitäten von ihren Trägern lässt sich
auch zwanglos mit ihrer Geltung als
Abstraktionsprodukte oder als erschlossene
materiale Qualitäten vereinbaren, die dann als
Allgemeinbegriffe oder Ideen
(Vernunftbegriffe) unabhängig von den
empirischen Gegenständen sind, aus denen sie
erschlossen wurden oder für die sie regulativ
gelten sollen. Sie müssen deshalb noch nicht
als „unabhängig im Sein“, d. h. als
ontologische bestimmt werden.
würde, nämlich inhaltliche Werte zu besitzen,
ohne dem Wertrelativismus zu verfallen, kann
kein Argument sein. Denn ein
Begründungsbedürfnis ist selbst bereits relativ
zum Individuum, seiner Klasse oder zur
bürgerlichen Gesellschaft, aber keine objektive
Begründung, die Scheler angeblich anstrebt.
Seine eigentliche Begründung liefert Scheler
unter dem Begriff „Apriorismus“. Das
Apriorische ist nicht wie bei Kant das
Kategoriale, sondern ein seiendes
Apriorisches, ein „Unmittelbares“, eine
„intellektuelle Anschauung“, ein „intuitiver
Gehalt“ (Ethik, S. 47), der „weder verifiziert
noch widerlegt werden“ könne (a.a.O., S. 44).
„Phänomenologische Erfahrung in diesem
Sinne kann durch zwei Merkmale noch scharf
geschieden werden von aller andersartigen
Erfahrung, z. B. der Erfahrung der natürlichen
Weltanschauung und der Wissenschaft. Sie
allein gibt die Tatsachen ‚selber’ und daher
unmittelbar, d. h. nicht vermittelt durch
Symbole, Zeichen, Anweisungen
irgendwelcher Art. So z. B. ist ein bestimmtes
Rot auf die mannigfaltigste Weise zu
bestimmen. Z. B. (...) als in einer bestimmten
Ordnung, z. B. des Farbenkegels, bestimmt;
als Farbe, die ‚ich eben sehe’; als die Farbe
dieser Schwingungszahl und Form usw. (...)
Die phänomenologische Erfahrung aber ist
diejenige, in der die jeweilige Gesamtheit
dieser Zeichen, Anweisungen,
Bestimmungsarten ihre letzte Erfüllung
finden. Sie allein gibt das Rot ‚selbst’. Sie
macht aus dem x einen Tatbestand der
Anschauung. Sie ist gleichsam die Einlösung
aller Wechsel, welche die sonstige ‚Erfahrung’
zieht.“ (Ethik, S. 45)
Wie dieser eigene Seinsbereich gedacht werden
soll, da nach der traditionellen Ontologie
Qualitäten nicht für sich existieren können,
sondern nur an Substanzen oder
Wesensdingen, bleibt bei Scheler zunächst
schleierhaft. Könnte eine Qualität für sich,
also substanziell, existieren, dann gäbe es
Qualitäten von Qualitäten, aber keine
Wesensbestimmungen mehr – das aber will
Scheler nicht. Letztlich muss er auf
Denkmodelle des Rationalismus und einen
Gott zurückgreifen, dessen Modi die Werte
sind (siehe unten 2.11.).
Im ersten Kapitel seiner materialen Wertethik
findet sich keine Begründung, warum Werte
nicht Abstraktionsprodukte, sondern ein
ontologisches Sein darstellen sollen. Es wird
von Scheler immer nur die Differenz von
empirischen Qualitäten zum speziellen Begriff
der Qualität hervorgehoben. „So wenig die
Farbe Blau rot wird, wenn sich eine blaue
Kugel rot färbt, so wenig werden die Werte
und ihre Ordnung dadurch tangiert, daß sich
ihre Träger im Wert ändern. Nahrung bleibt
Nahrung, Gift bleibt Gift, welche Körper auch
für diese oder jene Organisation vielleicht
zugleich giftig und nahrhaft sind. Der Wert
der Freundschaft wird nicht angefochten
dadurch, daß sich mein Freund als falsch
erweist und mich verrät.“ (Ethik, S. 14) Auch
die an Platon erinnernde Formulierung, Werte
seien „ideale Objekte“ (S. 16), Nicolai
Hartmann spricht später vom „idealen Sein“,
ist zunächst nur behauptet. Ebenso der
Vorteil, den eine materiale Wertethik bieten
Die phänomenologische Erfahrung soll also
die seiende Bedingung für die Wahrnehmung
und die Realitätsbegriffe sein, die aus der
Wahrnehmung erschlossen werden. Sie ist die
seiende Bedingung der Möglichkeit, überhaupt
empirische Wirklichkeitserfahrung zu machen.
Scheler geht zurecht davon aus, dass unsere
empirisch gewonnenen Begriffe etwas an der
extramentalen Welt treffen müssen, wenn sie
ein wahres Bewusstsein sein sollen. Ob eine
aus empirischen Beobachtungen gebildete
Theorie über einen Gegenstandsbereich wahr
ist, kann aber letztlich nur ihre Anwendung in
der Praxis zeigen (Wertphilosophie II, S. 30 f.).
20
Was aber in diesem Zusammenhang das
Resultat der „phänomenologischen
Erfahrung“ leisten soll, bleibt schleierhaft,
zumal es jenseits der Zeichen und Symbole,
also der Sprache, sein soll und das Phänomen
„selbst“ geben soll – im Widerspruch zu
Scheler Beispielen, die ständig das Phänomen
benennen, wie z. B. Rot. Wenn gilt, dass
apriorische Seinsgehalte nicht wahrgenommen,
sondern nur „aufgewiesen werden“ (Ethik, S.
45) können, dann muss das
phänomenologische Verfahren letzte Auskunft
geben, ob die materiale Wertethik vor der
Vernunft bestehen kann (siehe dazu 2.3. 2.5.).
durch Beobachtung und Induktion weder
nachweisbar noch widerlegbar? Gibt es
materiale ethische Intuitionen?“ (Scheler:
Ethik, S. 42 f) Dass er diese Frage mit ja
beantwortet, ergibt sich bereits aus der
Seitenzahl seiner materialen Wertethik. Der
phänomenologisch begründete materiale Wert
ist dann das materiale Apriori für die ethischen
Urteile, das heißt ihr „Wahrheitskriterium“
(a.a.O., S. 44).
Werte sind „unreduzierbare Grundphänomene
der fühlenden Anschauung“ (a.a.O., S. 272).
Sie sind unabhängig von einem „Subjekt“ oder
„Ich“ (a.a.O., S. 273).
Scheler wendet sich gegen die neukantianische
Bestimmung, das noch nicht Erkannte oder
für uns Unerkennbare als „Chaos“ (Ethik, S.
78) zu bestimmen. Sondern die Wirklichkeit
ist an sich bestimmt. Und damit die
Wissenschaften eine ontologische Grundlage
hätten, müssten sie auf der
phänomenologischen Erfahrung beruhen. Sie
„vernimmt“ das materiale Apriori
wissenschaftlicher Sätze, selbst der formalsten:
„Apriori ‚material’ ist der Inbegriff aller Sätze“
(a.a.O., S. 49), die sich auf formal apriorische
Sätze beziehen wie z. B. auf rein logische.
Wenn das durch phänomenologische
Erfahrung „Erschaute“ die ontologischen
Tatsachen sind, die den begrifflichen
Konstruktionen der Wirklichkeit allererst zu
Grunde liegen, dann gilt dies analog auch für
die ethischen Werte.
2. 1.2. Vorläufige Kritik der irrationalen
Bestimmung materialer Werte
Wenn aber die materialen Werte durch
Intuition gewonnen werden, die nicht „durch
Beobachtung und Induktion“ nachweisbar
noch widerlegbar sind, dann wird die Gestalt
der Ethik mysteriös, irrational oder ist eine
bloße Behauptung. Scheler weist immer darauf
hin, dass bei der empirischen Induktion ein
deduktiv gewonnenes Urteil vorausgesetzt ist,
ohne dass gar keine Sammlung empirischer
Urteile auf eine Frage hin möglich wäre.
Dieses vorausgesetzte deduktive Urteil muss
aber kein apriorisch Wahres sein, denn dann
könnte man sich die empirische Verifikation
ersparen, sondern dazu genügt bereits eine
Hypothese, die zu überprüfen ist. Mit dieser
falschen Deutung der empirischen Induktion,
auf die er Wissenschaft (ohne materiales
Apriori) reduziert, begründet Scheler dann
seine „Wesensschau“ (vgl. Scheler: Ethik, S. 44
f. Und unten unter 2.3.).
„Was aber auf theoretischem Gebiete gilt, das
gilt in weitgehender Analogie auch für die
Werte und das Wollen.“ (Ethik, S. 55)
Die „Wertmaterie“ wie gut und böse müsse
ethischen Werturteilen, die induktiv empirisch
gewonnen werden, immer schon vorausgesetzt
sein, „sofern es ethische Wesenserkenntnis
überhaupt gibt“ (Scheler: Ethik, S. 40). Scheler
kritisiert an Kant, dass eine Moral aus reiner
Vernunft bloß konstruiert sei, also keinen
Grund im Seienden habe. Dieser sei durch
Erkenntnis materialer Werte zu geben, damit
sich die Ethik auf einen „Tatsachenkreis“
(a.a.O., S. 42) stützen könne, der durch
phänomenologische Erfahrung erkannt werde.
Schelers entscheidende Frage lautet: „Gibt es
eine materiale Ethik, die gleichwohl 'a priori'
ist in dem Sinne, daß Sätze evident sind und
Apriorische Gehalte können dementsprechend
auch nicht rational begründet, sondern nur
„aufgewiesen werden“ durch die
„Wesensschau“ (a.a.O., S. 45). Dahinter steht
die Ansicht, dass apriorische Begriffe,
Prinzipien, Axiome usw. nicht anders
einsichtig gemacht werden können (a.a.O., S.
45). Dies ist insofern richtig, als apriorische
Bestimmungen in jedem Beweis und jeder
Begründung immer schon enthalten sind,
sodass ein „Circulus in definiendo“ entsteht,
wollte man Apriorisches begründen. Schon
vor dem „kritischen Rationalismus“ von
21
Popper und Albert hat Scheler das
„Münchhausentrilemma“ angedeutet. Aber
dieses Dilemma oder Trilemma ist falsch (vgl.
Gaßmann: Logik, S. 244). Prinzipien lassen
sich apagogisch (indirekt) begründen aus der
Unmöglichkeit ihres kontradiktorischen
Gegenteils und sie werden begründet durch
die Stimmigkeit der Theorie bzw. Ethik, die
ihnen folgt.
ontologischen wird dann zusätzlich durch den
„Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno)
verschleiert. Materiale Werte haben nicht nur
einen apriorischen Gehalt, „der nie zu
'beweisen' oder in irgendeiner Form zu
'deduzieren' ist“, die phänomenologische
Erfahrung gebe „die Tatsachen 'selber' und
daher unmittelbar“, ihr Resultat sei
„asymbolisch“, also nicht sprachlich fassbar,
sondern nur in der „Anschauung“
aufzuweisen. Versprachlicht und in Sätzen
ausgesprochen müssen sie werden, wenn sie
denn überhaupt kommunizierbar sein sollen
(a.a.O., S. 58), versprachlicht fällt das Resultat
dieser Erfahrung als „Vermeintes“ mit dem
„Gegebenen“ zusammen. Es sei ein „intuitiver
Gehalt“, der im Apriorischen gegeben ist.
Schließlich sind derart gewonnene materiale
Werte „absolute“ Tatsachen (a.a.O., S. 47), die
allein „einsichtig“ wären. Diese „absoluten
Werte“ (a.a.O., S. 95) und ihr Zusammenhang
fundieren „als Strukturgesetze und als
Formgesetze“ die sinnliche Erfahrung und das
ethische Bewusstsein, das sich nach ihnen
richtet, weil es in seinem Wesen liege. „Jeden
vorgegebenen apriorischen 'Begriff' oder 'Satz',
der sich nicht durch eine Tatsache der
Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe,
weisen wir also ausdrücklich zurück.“ (A.a.O.,
S. 47)
Scheler will dagegen als Phänomenologe
materiale Werte als Wertqualitäten aus Gütern
und Menschen irrational mittels Wesensschau
„zur Anschauung“ bringen und ethische
Urteile ontologisch fundieren durch die
Wertstruktur des Seins, die als unbezweifelbar
ausgegeben wird. Materiale Werte wären ein
„unabhängiges Sein“ (Scheler: Ethik, S. 13),
das wir durch phänomenologische Erfahrung
„zur Gegebenheit bringen“ (a.a.O., S. 7)
würden. Als ontologisch bestimmte sind
Werte unabhängig von den denkenden
Subjekten. Scheler weist explizit die
Behauptung zurück, „daß das Sein der Werte
ein 'Subjekt' oder 'Ich' voraussetzte, sei es ein
empirisches oder ein sogenanntes
'transzendentales Ich', oder ein 'Bewußtsein
überhaupt' usw.“ (Scheler: Ethik, S. 273) Als
ontologische haben die Werte objektive
Geltung, der sich das Individuum beugen
müsse. Sie sind in einer Seinssphäre situiert,
von historischen Veränderungen
ausgenommen, und als Struktur gebende
haben sie eine objektive vom Denken
unabhängige Rangordnung und Beziehung
zueinander.
Scheler überbietet noch die problematische
phänomenologische Erfahrung Husserls,
indem er den Grund der phänomenologischen
Erfahrung der materialen Werte im „Fühlen“
ansiedelt. Er entwirft in seiner „Ethik“ einen
„Apriorismus des Emotionalen“ (a.a.O., S.
61). Scheler setzt dadurch das Emotionale und
das Rationale als zwei parallele Arten der
Erkenntnis, wobei jedoch das Emotionale für
die Bestimmung der materialen Werte allein
die Erkenntnisweise ist, eine Weise die nicht
rational, also irrational ist. „So aber sind auch
die Wertaxiome ganz unabhängig von den
logischen Axiomen und stellen mitnichten
bloße 'Anwendungen' jener auf Werte dar. Der
reinen Logik steht eine reine Wertlehre zur
Seite.“ (A.a.O., S. 60) Da das Emotionale
eine eigene Erkenntnisweise sein soll, sieht
Scheler seine materiale Wertethik nicht als
irrational an. Dass sie dennoch als irrational
anzusehen ist, wird die Analyse seiner
phänomenologischen Erfahrung im Detail
zeigen.
„Andererseits darf aber auch nicht gesagt
werden, das 'Höhersein' eines Wertes 'bedeute'
nur, es sei der Wert, der 'vorgezogen wird'.
Denn wenn auch das Höhersein eines Wertes
'im' Vorziehen gegeben ist, so ist dieses
Höhersein trotzdem eine im Wesen der
betreffenden Werte gelegene Relation. Darum
ist die 'Rangordnung der Werte' selbst etwas
absolut Invariables, während die
'Vorzugsregeln' in der Geschichte noch
prinzipiell variabel sind (eine Variation, die
von der Erfahrung neuer Werte noch sehr
verschieden ist). (Scheler: Ethik, S. 85 f.)
Tatsächlich findet hier eine Hypostase
geistiger Bestimmungen statt, deren wahrer
Grund dadurch nicht mehr erkennbar ist.
Diese Hypostase subjektiver Wertsetzungen zu
22
rationale und damit notwendig kritische
Begreifen einer antagonistischen Wirklichkeit
hat die bürgerliche Philosophie aus ihrem
Bedürfnis heraus nach ideologischer
Verbrämung der gesellschaftlichen
Antagonismen Gedankengebäude entwickelt,
die hinter den Stand der Vermittlung von
denkendem Subjekt und Objektivität
zurückfallen. (Vgl. hierzu insgesamt Haag:
Ontologie, passim, besonders S. 33 f.)
2. 2. Zur Ontologie
2. 2.1. Einleitung: Ontologie überhaupt
Der auf Aristoteles zurückgehende Realismus
hatte versucht, die Struktur des Seienden im
Denken zu reproduzieren. Der in der Welt
inkarnierte Logos sollte im menschlichen
Bewusstsein abgebildet werden: universalia sunt
in rem. Indem er aber bloße
Abstraktionsprodukte des Denkens zum
Wesen der Dinge erklärte, blieb dieser
Realismus an der Oberfläche der seienden
Dinge. Wird wie im späten Mittelalter die
Vorherrschaft des abstrakt Allgemeinen durch
die Aufwertung individueller Tätigkeiten,
Produktionen und Entdeckungen in der
Ökonomie, Gesellschaft und auch der Kunst
problematisch, dann ist dies ein Antrieb aus
den Aporien des Abbildrealismus auf das
denkende Subjekt zu reflektieren. Resultat
dieser Reflexion war die Erkenntnis der
konstitutiven Leistung des menschlichen
Denkens bei der Erkenntnis im
Nominalismus. Seither kann nichts mehr
als objektiv und wahr behauptet werden,
was nicht durch Denken vermittelt ist. Der
Nominalismus verfiel aber in das andere
Extrem der Einseitigkeit, indem er das
menschliche Denken als allein konstitutiv für
die Bestimmung der Dinge und ihr Wesen
ausgab, während sich die Wirklichkeit zu bloß
singulären Entitäten verflüchtigte, die nichts
Allgemeines mehr enthalten sollten: universalia
sunt nomina. Die Entwicklung der Philosophie
von Descartes bis Hegel ist das Bestreben, aus
dem Subjekt heraus die objektive
Allgemeinheit der Erkenntnisse zu begründen.
Aber erst auf dem Höhepunkt der
bürgerlichen Philosophie bei Hegel ist es
gelungen, sowohl die Objektivität wie die
Subjektivität dialektisch so miteinander zu
vermitteln, dass keine auf die andere reduziert
wird, so dass die systematische Entwicklung
der Begriffe der Struktur der Objektivität
entspricht – von Hegels idealistischen
Übertreibungen einmal abgesehen. Die
Marxsche Kapitalanalyse ist dann als
Anwendung der Dialektik auf einen konkreten
Gegenstandsbereich zu verstehen, um dessen
Wesen zu begreifen, aber auch dessen
Widersprüche und das Nichtidentische dieser
Ökonomie zu bestimmen. Gegen dieses
So vermischt Lotzes Erfindung der
philosophischen Werte ontologische,
theologische und gesellschaftstheoretische
Gedanken eklektizistisch zu dem, was seiner
durch Gratifikation und gesellschaftliche
Auswahl bestimmten Meinung nach das
theoretische Bedürfnis seiner Zeit erfordere.
Eine Philosophie aber, die nach einem
gesellschaftlichen Bedürfnis ausgerichtet ist,
produziert in einer antagonistischen
Gesellschaft, in der die herrschenden
Gedanken die Gedanken der herrschenden
Klasse sind, nicht Wahrheiten, sondern
Ideologie. Sie ist dadurch trotz des Geredes
von ontologischen Bestimmungen krasser
Nominalismus, willkürliches Denken. (Vgl.
Wertphilosophie I, S. 23 f.)
Der Neukantianismus von Windelband und
vor allem Rickert hat sich dagegen aller
ontologischen Begründung enthalten und aus
einer reinen Subjektphilosophie heraus
„Werte“ begründet. Auch hier konnte nur die
Willkür der letzte Grund für die
Bestimmungen der Werte sein, eine Willkür,
die durch die gesellschaftlichen Mechanismen
zwangsläufig zu ideologischen Wertsetzungen
führen musste. (Vgl. Wertphilosophie II, S. 20
ff. und 34 f.)
Dieser Willkür will Scheler entgehen, aber
nicht dadurch, dass er auf den avancierten
Stand der Vermittlung von Subjektivität und
Objektivität argumentiert, sondern indem er
seine Werte ontologisch (d. h.
subjektunabhängig) begründen will.
Ontologisch heißt aber in seiner auf Husserl
fußenden und abgewandelten
Phänomenologie nicht die Bestimmung der
Objektivität aus der Dialektik von Subjekt und
Objekt heraus, sondern durch Ausschaltung
und „Ausklammerung“ der Subjektivität des
Denkens zu eruieren. Damit fällt aber das
Schelersche Denken hinter die Einsicht des
23
Nominalismus in die konstitutive Leistung der
menschlichen Subjektivität bei der Erkenntnis
der Welt zurück. So wenig ich mir ein
materielles Ding in den Kopf pressen kann,
um einen direkten Zugang (intentio recta) zu
ihm zu haben, so wenig kann ich eine
Bestimmung über das Seiende denken und
aussprechen, die nicht zugleich auch durch
Denken vermittelt ist. Dies ist nun im
Einzelnen zu zeigen.
Scheler diesen Beweis nicht führt, sondern
stattdessen von seinem Leser die Aufgabe
seines Denkens abfordert, will der ihm folgen.
Am bloß behauptenden und deshalb
autoritären Gestus seines Philosophierens wird
die Schwäche der Begründung bereits
offensichtlich. Der behauptete Objektivismus,
der Schelers Ethik fundieren soll, entpuppt
sich als reiner Subjektivismus. Scheler kritisiert
scharf den Nominalismus (vgl. Ethik, S. 171) –
da sich aber seine als realistisch behaupteten
materialen Werte als bloße Setzungen des
Individuums Scheler erweisen werden, wird er
selbst zum – jetzt allerdings
selbstbewusstlosen – Nominalisten. Dieses in
der Methode implizierte falsche Bewusstsein
ist offen für jede Art der Begriffskonstruktion,
es eignet sich deshalb vorzüglich zur
Produktion von Ideologie. Als bürgerliche
Ideologie entpuppen sich denn auch die
Sachanalysen etwa zum I. Weltkrieg oder zur
Ökonomie seiner Zeit (vgl. unten 2.9.5.).
2. 2.2. Kritik an Schelers Ontologie
Scheler kritisiert an Kant, dass dessen
Apriorismus bloß im Subjekt angesiedelt ist.
Er sei eine „pure konstruktive Erklärung
des apriorischen Gehalts in den Gegenständen
der Erfahrung“ (Ethik, S. 62). Im Widerspruch
zu den Kant-Texten (vgl. Kant: Logik, S. 432),
aber mit den Augen des Neukantianismus sagt
er, die extramentale Sphäre werde angeblich
von Kant als „Chaos“ (z. B. Scheler: Ethik, S.
62, 63) angesehen. Ein bloßes Chaos kann
aber in uns keine begrifflichen Erkenntnisse
ermöglichen. Deshalb bedürfe es einer
ontologischen Fundierung wissenschaftlicher
Erkenntnisse durch Zugang zum
ontologischen, d. h. Subjekt unabhängigen,
Bereich des Seienden.
Ich habe die Kantische Kritik an jeder Art
Ontologie bereits gegen Lotze angeführt (vgl.
Wertphilosophie I, S. 23 f.). Auch Scheler
verfällt dieser Kritik, denn was er das
„Gegebene“, die „Wesenheit“, „Washeit“ usw.
nennt, kann er doch nur in der Sprache, also
mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen
ausdrücken, die den Kategorien des
Verstandes unterstehen, also kategorial
bestimmt sind, also bestenfalls
gattungssubjektive Deutungen der objektiven
Realität sind, d. h. wissenschaftliche Resultate
ergeben. Was diese „Gegebenheiten“ sonst
noch sind, bleibt im Schacht von Schelers
individuellem Bewusstsein stecken. Es ist an
seiner Werteschau zu zeigen, dass die so
gewonnenen Werte keine seienden sind, keine
ontologischen Aussagen über die objektive
Realität bzw. das extramentale Sein bzw. das
„ideale Sein“, sondern historische Werte einer
historischen Herrschaftsformation.
Richtig an diesem Gedanken von Scheler ist,
dass die menschlichen Bestimmungen immer
auch etwas an der ontologischen Sphäre
treffen müssen. Aber von ontologischen
Wesenheiten zu sprechen, ist ein Rückfall in
den aristotelischen Realismus, auch wenn die
Schelerschen Wesenheiten nur ein
ontologisches Apriori zu den
wissenschaftlichen Resultaten sein sollen. Wie
im aristotelischen Realismus so werden auch
bei Scheler nur Erscheinungen zur Wesenheit
erklärt und dann hypostasiert zu ontologischen
Gegebenheiten.
Die Folge dieser angeblichen Ansicht von
Kant, dass die ontologische Sphäre nur eine
chaotische Mannigfaltigkeit wäre, nicht aber
der ontologische Grund unserer
Weltauffassung, sei die Haltung „des
prinzipiellen Mißtrauens“ gegenüber den
empirischen Menschen und der Welt als
Ganzer.
Nach Karl Heinz Haag ist die entscheidende
Frage an die Ontologie: Was haben die
Phänomene, die als ontologische behauptet
werden, mit der extramentalen Welt zu tun?
(Vgl. Haag: Ontologie, S. 7) Seiendes, wie der
„materiale Wert“ bei Scheler, ist zunächst nur
ein Begriff, also eine Setzung des erkennenden
Subjekts. Ob ihm auch unabhängig von dieser
Setzung ein Bestehen zukommt, wäre zu
beweisen. Ich werde aber unten zeigen, dass
24
„Diese ‚Haltung’ kann ich nur mit den Worten
einer ganz ursprünglichen ‚Feindseligkeit’ zu
oder auch ‚Mißtrauen’ in alles ‚Gegebene’ als
solches, Angst und Furcht vor ihm als dem
’Chaos’ bezeichnen. ‚Die Welt da draußen und
die Natur da drinnen’ – das ist, auf Worte
gebracht, Kants Haltung gegen die Welt, und
die ‚Natur’ ist das, was zu formen, zu
organisieren, was zu ‚beherrschen’ ist – sie ist
‚das Feindliche’, das ‚Chaos’ usw. Also das
Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen,
von schauender und liebender Hingabe an
sie“. (Ethik, S. 63 f.)
theoretischer Begriff in der Philosophie, der in
einem systematischen Zusammenhang mit
einer Gesellschaftstheorie stehen muss, wenn
er nicht widersprüchlich sein will. Das
entscheidende Kriterium für die Rationalität
einer Gesellschaftstheorie sind ihre expliziten
oder impliziten ethischen Prämissen. Werden
die bereits falsch und widersprüchlich
konstruiert, dann gibt es überhaupt kein
Kriterium, nach denen tatsächliche
Gesellschaften und ihre Praxis zu beurteilen
sind. Der Schelersche Irrationalismus seiner
Wertephilosophie, der sich ergeben hat, ist
deshalb ein Aspekt der „Zerstörung der
Vernunft“ (Lukács), die geistig den
Faschismus ermöglicht hat, unter dem
zumindest Schelers Werk und Erbe selbst
gelitten hat. (Er selbst starb bereits 1928 und
war unter der Herrschaft des Faschismus
verpönt.)
Das Resultat der Liebe zur Welt wäre die
Erkenntnis der Wesenheiten des Seins. „Wie
die Wesenheiten, so sind auch die
Zusammenhänge zwischen ihnen ‚gegeben’
und nicht durch den ‚Verstand’
hervorgebracht oder ‚erzeugt’. Sie werden
erschaut und nicht ‚gemacht’. Sie sind
ursprüngliche Sachzusammenhänge, nicht
Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie
Gesetze der Akte sind, die sie erfassen.
‚Apriorisch’ sind sie, weil sie in den
Wesenheiten – nicht in den Dingen und
Gütern – gründen, nicht aber, weil sie durch
den ‚Verstand’ oder die ‚Vernunft’ erzeugt
sind. Was der das Universum durchziehende
Logos sei, das wird erst durch sie faßbar.“
(Ethik, S. 64)
2. 3. Phänomenologische
Anschauung/Wesensschau
Was „Wesensschau“ oder
„phänomenologische Erfahrung“ und das
ontologische Apriori ist, lässt sich am besten
durch ein längeres Zitat aus seiner "Ethik"
darstellen. Diese Darstellung ist noch nicht die
Wesensschau von „materialen Werten“,
sondern zunächst nur die Darstellung der
allgemeinen Wesensschau, wie sie auf Husserl
zurückgeht und wie sie dann analog auch für
das „Fühlen der Werte“ anzuwenden sei.
Ob der Philosoph und Wissenschaftler dabei
Hass gegenüber dem Gegebenen oder Liebe
zu ihm empfindet, ist eine
außerwissenschaftliche Problemstellung, wie
auch Scheler weiß (vgl. Kosmos, S. 38).
Erkennt man aber mit Kant die volle Leistung
der menschlichen Subjektivität bei der
wissenschaftlichen Erkenntnis an, dann
gewinnt man eine geistige Autonomie
gegenüber den Erkenntnissen der Realität, die
allererst die Voraussetzung für Kritik am
Gegebenen oder dessen Affirmation sein
kann. Schelers apriorisches Bekenntnis der
„Liebe zur Welt, von Vertrauen, von
schauender und liebender Hingabe“ an diese
Welt enthält in sich bereits das ideologische
Moment, die bürgerlichen
Herrschaftsverhältnisse als Teil der Welt zu
affirmieren (siehe unten 2.13.).
„Als ‚Apriori’ bezeichnen wir alle jene idealen
Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter
Absehen von jeder Art von Setzung der sie
denkenden Subjekte und ihrer realen
Naturbeschaffenheit und unter Absehen von
jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf
den sie anwendbar wären, durch den Gehalt
einer unmittelbaren Anschauung zur
Selbstgegebenheit kommen. Also von jeder
Art Setzung ist abzusehen. Sowohl von der
Setzung: ‚Wirklich’ wie ‚nichtwirklich’, ‚Schein’
oder ‚wirklich’ usw. Auch wo wir uns z. B.
täuschen in der Annahme, es sei etwas
lebendig, da muß im Gehalte der Täuschung
uns doch das anschauliche Wesen des
‚Lebens’ gegeben sein. Nennen wir den Gehalt
einer solchen ‚Anschauung’ ein ‚Phänomen’,
Letztlich muss sich die Wahrheit einer Theorie
in der Praxis (nicht einfach im Erfolg!) zeigen.
Aber „Praxis“ ist selbst ein immanent
25
so hat das ‚Phänomen’ also mit ‚Erscheinung’
(eines Realen) oder mit ‚Schein’ nicht das
mindeste zu tun. Anschauung aber solcher Art
ist ‚Wesensschau’ oder auch – wie wir sagen
wollen – ‚phänomenologische Anschauung’
oder ‚phänomenologische Erfahrung’. Das
‚Was’, das sie gibt, kann nicht mehr oder
weniger gegeben sein - so wie wir einen
Gegenstand genauer und weniger genau etwa
‚beobachten’ können, oder bald diese, bald
jene Züge seiner – sondern er ist entweder
‚erschaut’ und damit ‚selbst’ gegeben (restlos
und ohne Abzug, weder durch ein ‚Bild’ oder
ein ‚Symbol’ hindurch) oder es ist nicht
‚erschaut’ und damit nicht gegeben. Eine
Wesenheit oder Washeit ist hierbei als solche
weder ein Allgemeines noch ein Individuelles.
Das Wesen rot z. B. ist sowohl im
Allgemeinbegriff rot, wie in jeder
wahrnehmbaren Nuance dieser Farbe
mitgegeben. Erst die Beziehung auf die
Gegenstände, in denen eine Wesenheit in die
Erscheinung tritt, bringt den Unterschied ihrer
allgemeinen oder individuellen Bedeutung
hervor. So wird eine Wesenheit ‚allgemein’,
wenn sie identisch an einer Mehrheit sonst
verschiedener Gegenstände in die Erscheinung
tritt in der Form: alles, was dieses Wesen ‚hat’
oder ‚trägt’. Sie kann aber auch das Wesen
eines Individuums ausmachen, ohne dadurch
aufzuhören, eine Wesenheit zu sein.“
(Scheler: Ethik, S. 43)
Hypothese (will man nicht in ein trial and error
der Alchemisten zurückfallen (vgl. Bulthaup:
Soziale Funktion, S. 68)) aber ein objektives
Apriori, sogar noch ontologisch aufgebläht
und als unwiderlegbar behauptet. Nach
Scheler gilt: Dieses ontologische Apriori „kann
durch diese Art von ‚Erfahrung’ (nämlich die
empirische, BG) weder verifiziert noch
widerlegt werden.“ (Scheler: Ethik, S. 44)
Dies Annahme eines durch Wesensschau
gewonnenen ontologischen Apriori ist
zunächst nur eine Behauptung, der eine
kontradiktorische Gegenbehauptung mit
demselben Recht gegenüberstünde, d. h. bloße
dogmatische Behauptungen widersprechen
sich selbst. Daraus folgt, dass die bloß
behauptete Wesenheit Produkt einer
willkürlichen Setzung ist, entgegen ihrem
Anspruch, ohne Setzung zu sein.
In einer auf Tauschwert und Kapital
basierenden Ökonomie ist jedes ursprüngliche
"Phänomen" zunächst einmal bloßer Schein
(vgl. Marx: Kapital, S. 86 f.). Die Anschauung
der Phänomene, wenn sie überhaupt etwas
erfasst, gelangt nur zum Schein der
Wirklichkeit. Schein ist nicht nichts, sondern
die Oberfläche der Dinge (wie z. B. der
Sonnenaufgang, während sich in Wirklichkeit
die Erde dreht), zu dem Wesen der Dinge
kann ein Analytiker, der im Schein befangen
ist, nicht vordringen. Die wahre Wirklichkeit
ist nur durch die Anstrengung des Begriffs zu
fassen, dessen stringent entwickelte Genesis
die notwendige Bedingung seiner Wahrheit ist.
Die Wirklichkeit, die nicht Schein ist, lässt sich
also nur durch das begreifende Subjekt
hindurch erkennen. Insofern ist die
phänomenologische Methode eine Produktion
von Schein und enthält in sich bereits die
Anlage zur Produktion von Ideologien, denn
Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein
zur Herrschaftssicherung beruht auf diesem
realen Schein bzw. geht aus ihm hervor.
Zur Kritik der Wesensschau
Scheler sagt: Wenn ich etwas empirisch
beobachte, dann muss ich immer schon den
„vorgegebenen Gehalt“ „erschaut“ haben, um
der Beobachtung die gewünschte und
vorausgesetzte Richtung zu geben“ (a.a.O., S.
44). Ich muss also vor der Beobachtung z. B.
wissen, was „Rot“ ist, um es an den äußeren
Gegenständen wahrnehmen zu können. Darin
steckt die richtige Einsicht, dass jede
Induktion immer schon eine Deduktion, die
Sammlung empirischer Beobachtungen einen
gewussten Gegenstand, der durch die
Beobachtung bestätigt werden soll,
voraussetzt. Dies vorausgesetzte Urteil oder
der vorausgesetzte Gegenstand, der meiner
empirischen Beobachtung die Richtung weist,
ist in der Wissenschaft aber zunächst nur eine
Hypothese, die durch die empirische
Beobachtung bestätigt oder widerlegt wird. Bei
Scheler ist diese notwendig anzunehmende
Schaut man sich Beispiele an für die
Wesensschau, dann wird sofort deutlich, dass
deren Resultate widerlegbar sind: Wie
Husserl will Scheler die Wesensschau am
„Rot“ erläutern. Es soll die ontologische
Grundlage für den Allgemeinbegriff ‚Rot’ wie
für jede wahrnehmbare Nuance dieser Farbe
sein (siehe oben). Das „Wesen rot“ soll als
Gegebenes die Grundlage der Erscheinung
26
Rot und ihrer Nuancen sein. Zunächst kann
man fragen, warum nicht ein rötliches Violett
oder ein Rotbraunes Resultat der
„Wesensschau“ ist. Mit anderen Worten,
welchen Teil der Erscheinungen ich in der
Wesensschau auswähle durch Reduktion, ist
völlig willkürlich. Im Farbkreis jedenfalls ist
keine einzige Farbe ausgezeichnet als
Wesensgrundlage der anderen Farben in ihrer
Nähe. So benutzt z. B. mein Drucker Magenta,
um mit anderen Farben ein bestimmtes Rot
mit dieser oder jener Schattierung zu erzeugen.
2. 4. Begründung des
phänomenologischen
Wertfühlens
Weiter soll Rot ein „ideales Sein“ darstellen,
gemeint ist ein extramentales, kein inneres
psychisches Sein. Das ist aber schlicht falsch.
Schließt man wie Locke von den
wahrnehmbaren (sekundären) Qualitäten wie
„rot“ auf das dieser Qualität ontologisch
Zugrundeliegende, Locke nennt dies die
primären Qualitäten, dann ist „rot“ nach dem
heutigen Erkenntnisstand der Physik Licht,
das aus Masse (Photonen) und Bewegung
(Frequenz) besteht. Die Wirkung einer
bestimmten Lichtfrequenz in unserer
Wahrnehmung erzeugt in uns Rot. Was die
Wesensschau zum Resultat hat, ist also nichts
extramental Seiendes, sondern bestenfalls
psychisches Sein, das lediglich in unserem
Bewusstsein ist, eine gattungssubjektive
Empfindung. (Es ist z. B. experimentell
erwiesen, dass Rehe bestimmte Nuancen des
Rot nicht sehen, sondern nur Grautöne
wahrnehmen. Die Jäger nutzen dies aus,
indem sie signalfarbene Kleidung tragen, um
sich vor den Kugeln ihrer Jagdkameraden zu
schützen, die von den Rehen aber nur als
Grauton wahrgenommen werden kann.)
Auch für Scheler ist die „phänomenologische
Reduktion“ ein „Akt der Ideierung“, deren
Ergebnis die Erkenntnis von apriorischen
Bestimmungen ist, die den
Einzelwissenschaften zur Grundlage dienen
würden: „Für die positiven Wissenschaften,
deren Feld durch die Prüfbarkeit ihrer
reduzierten Sätze vermittels Beobachtung und
Messung streng umgrenzt ist, bilden sie die
obersten Voraussetzungen, die Axiome, die in
den Grenzen der allgemeinsten
Gegenstandslogik für alle Gebiete je
besondere Gruppen ausmachen und die
Richtung einer fruchtbaren Beobachtung,
Induktion und Deduktion durch Intelligenz
und diskursives Denken allererst weisen.“
(Kosmos, S. 51) Das Grundmerkmal des
menschlichen Geistes, die „Trennung von
Wesen und Dasein“ (a.a.O., S. 52), setzt
„Distanz“ zu den Gegenständen und
Sachverhalten voraus, die bei einer
Werterkenntnis aber nicht entscheidend sein
kann, denn „Werte“ seien „nur im Fühlen
gegeben“ (Scheler: Ethik, S. 68). Bei der
Erkenntnis ethischer Werte, die ebenfalls ein
Apriori unserer tatsächlichen Wertungen seien,
reiche der rationale Zugang nicht mehr aus,
eine emotionale Epoché wird nach Scheler
notwendig. Man müsse sich auf die "alogischapriorische Seite des Geistes" beziehen, die
"Ordre du cœr oder logique du cœr " (Scheler:
Ethik, S. 59)
Scheler übernimmt die Methode der
eidetischen Reduktion von Husserl aber nur,
um sie charakteristisch abzuwandeln. Die
Husserlsche „phänomenologische Reduktion“,
um das Wesen der Gegenstände und
Sachverhalte zu schauen, soll eine rationale
Methode sein.
Also ist das Resultat der Wesensschau „Rot“
bei Husserl und Scheler weder eine
extramentale ontologische Wesenheit „Rot“
noch gehört es zum Wesen der menschlichen
Psyche, wenn seine Auswahl aus dem
Farbkreis bloß willkürlich ist. Angesichts
dieser Kritik wird die Aufblähung der
Wesensschau und ihrer Resultate zu apriori
wahren und nicht widerlegbaren zur
Hochstapelei. Alles und jedes ist von diesem
irrationalen Grund ableitbar: die ideale
philosophische Basis für Ideologie.
Scheler kritisiert deshalb Husserls Methode.
Die Abstraktion von der sinnlichen
Wahrnehmung meint auch "Edmund Husserl,
wenn er die Ideenerkenntnis an eine
‚phänomenologische Reduktion’ knüpft, d.h. eine
Durchstreichung oder ‚Einklammerung’ des
zufälligen Daseinskoeffizienten der Weltdinge
knüpft, um ihre ‚essentia’ zu gewinnen.
27
Freilich kann ich der Theorie dieser Reduktion
bei Husserl im einzelnen nicht zustimmen,
wohl aber zugeben, daß in ihr der Akt gemeint
ist, der den menschlichen Geist recht
eigentlich definiert.“ (Kosmos, S. 53) Die
Person, die sich bei Scheler als Zentrum
geistiger Akte (a.aO., S. 38, 43) bestimmt, hat
eine emotive und voluntative Seite. Deshalb
kann man Werte, wenn sie denn für das
Subjekt eine Bedeutung haben sollen, nicht
rein auf Sachen bezogen erkennen, wie es die
Husserlsche Methode nahelegen würde. Dazu
ist ein „Fühlen“ der Werte notwendig. Da die
Person „nur in ihren Akten und durch sie“ ist
(a.a.O., S. 48), nicht aber etwas Substanzielles,
kann der Geist auch nicht „selbst
irgendwelche Triebenergien erzeugen oder
aufheben, vergrößern oder verkleinern. Er
vermag nur je verschiedene Triebgestalten
hervorzurufen, die eben das den Organismus
handelnd vollziehen lassen, was er, der Geist,
‚will’.“ (A.a.O., S. 61)
der seelischen Geschehnisse geworden ist,
keineswegs nur das Gehirn. Von einer so
äußerlichen Zusammenbindung einer
Seelensubstanz mit einer Körpersubstanz, wie
sie Descartes annahm, kann gar nicht mehr
ernstlich die Rede sein.“ (Kosmos, S. 73)
Denkt man in der Descartesischen
Dichotomie, dann übersieht man „auf der
psychischen Seite die Selbständigkeit und
(sicher nachgewiesene) Priorität des gesamten
Trieb- und Affektlebens vor allen ‚bewußten’
Vorstellungsbildern“ (S. 73). Da nach Scheler
der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist
(dieser Begriff hat Karriere gemacht), der
„physiologische und der psychische
Lebensprozeß“ sei „ontologisch streng
identisch“ (S. 73), müsse es auch eine
emotionale Erkenntnisweise geben. "Es ist
nämlich unser ganzes geistiges Leben - nicht
bloß das gegenständliche Erkennen und
Denken im Sinne der Seinserkenntnis -, das
'reine' - von der Tatsache der menschlichen
Organisation ihrem Wesen und Gehalt nach
unabhängige - Akte und Aktgesetze hat. Auch
das Emotionale des Geistes, das Fühlen,
Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen
hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt,
den es nicht vom 'Denken' erborgt, und den
die Ethik ganz unabhängig von der Logik
aufzuweisen hat." (Scheler: Ethik, S. 59)
Der Geist kann deshalb auch nur „den
lauernden Trieben ideen- und
wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie
Köder vor Augen“ stellen, „um die
Triebimpulse so zu koordinieren, daß sie das
geistgesetzte Willensprojekt ausführen, in
Wirklichkeit überführen“ (a.a.O., S. 62). Wenn
dem so ist, dann müssen in den Trieben
bereits die Werte vorhanden sein, die der Geist
realisieren will; er muss sie also aus den
Trieben, dem Bereich des Emotionalen
erkennen - und das geht nach Schelers
phänomenologischen Methode nur im Akt des
Wertfühlens. Die „rationale“ Erfassung von
Werten durch die Husserlsche
‚phänomenologische Reduktion“ und
‚intellektuelle Anschauung’ ist nicht möglich.
Nur die Werte können das Individuum
steuern, die bereits in seiner Triebstruktur
angelegt sind. Der Geist oder der geistige Wille
oder das Aktzentrum, d. i. die Person, kann
den Menschen mit seinen Gefühlen, Trieben
usw. nur zu den Werten lenken, „mit denen
der Mensch sich je ‚identifiziert’“ (Kosmos, S.
64) Also müssen sie im Fühlen bereits
vorhanden sein.
Angelika Sander schreibt über Schelers
Deutung des Satzes Le cœr a ses raisons (mit dem
Herzen denken) von Pascal: „Für Scheler liegt
die Betonung der Aussage darauf, daß das
Herz seine eigene Vernunft besitzt. (...)
Dementsprechend haben Gefühle einen
eigenständigen, unableitbaren
Wirklichkeitsbezug. Sie bilden eine eigene
Erfahrungsart und sind weder als Trübungen
des Verstandes noch als bloße psychische
Niederschläge von Sinnesreizen zu verstehen.
Das Fühlen besitzt eine Eigengesetzlichkeit,
die von einer spezifischen Logik geprägt ist.
(...) Obwohl das Gefühl nicht logisch ist, ist es
doch nicht irrational und chaotisch. Das
Fühlen besitzt Intentionalität, Evidenz und
eine – wenngleich ‚alogische’ – apriorische,
dem theoretischen Erkennen gleichwertige
Gesetzlichkeit. Als eigenständige
Erfahrungsart hat das Gefühl seinen eigenen
spezifischen Objektbereich, für den der
Verstand ‚blind’ ist. Auch die Gesetzlichkeit
dieses Bereichs ist nur dem Gefühl
zugänglich.“ (Sander: Einführung, S. 44 f.) Da
Ein weiterer Grund für die Werteschau durch
Fühlen liegt in Schelers Unterscheidung von
„Wachbewußtsein“ und den unbewussten
Teilen der Seele. „Es ist der ganze Körper, der
heute wieder das physiologische Parallelfeld
28
jedoch das Fühlen immer nur das von je
einzelnen Individuen sein kann, wäre eine
solches Fühlen oder eine solche Art der
Erfahrung gar nicht für andere verstehbar, es
sei denn das Gefühl wird in Sprache und
damit rational dargestellt, dem widerspricht
aber die Aussage, dass der Verstand blind sei
für das Fühlen. Wäre dem so, dann wüssten
wir gar nichts davon. Bei Sanders kommt
hinzu, dass sie die Eigenständigkeit des
Fühlens betonen kann, weil sie wie Scheler
von einer festen Bestimmung des Menschen
ausgeht, die letztlich nur durch einen Gott
begründbar ist. Diese Nähe zur Theologie, die
sie mit Scheler verbindet, veranlasst sie
anscheinend zu dem folgenden Lob: „Indem
Scheler an der prinzipiellen Verschiedenheit
von Fühlen und Denken festhält, gelingt es
ihm, die Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit
der jeweiligen Erkenntnisweisen tatsächlich zu
bewahren.“ (Sander: Einführung, S. 44 f.)
sondern die Unmittelbarkeit im Gegebensein
des Gegenstandes meinen.“ (Ethik, S. 166)
Die Methode Schelers, materiale ethische
Werte zu bestimmen, besteht darin, sie aus
dem Fühlen zu erkennen. „Werte sind uns
zunächst im Fühlen gegeben.“ (Scheler: Ethik,
S. 30) Das Fühlen reicht in unser Bewusstsein
hinein. Im phänomenologischen Sinn ist der
„Empfindungsinhalt“ das, „was unmittelbar
als ein Inhalt eines ‚Empfindens’ gegeben ist“
(a.a.O., S. 53), er zählt dazu z. B. Hunger,
Durst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit,
Organempfinden (S. 53). „Auch das
Emotionale des Geistes, das Fühlen,
Vorziehen, Lieben, Hassen, Wollen (...)“
(Ethik, S. 59). Scheler veranschaulicht das
Gefühl als „Erkenntnisgrund“ an einer
Beobachtung bei Kindern: „(…) ein Kind
spürt der Mutter Güte und Sorge, ohne
irgendwie die Idee des Guten erfasst zu haben
und mit zu erfassen, - sei es auch so vag wie
immer. Und wie häufig fühlen wir an einem
Menschen, der unser Freund ist, eine schöne
sittliche Qualität, während wir in der
Bedeutungssphäre bei unserer alten negativen
Beurteilung seiner bleiben – so dass die
Erscheinung jener schönen Qualität, ohne
unsere intellektuelle Überzeugung über ihn zu
ändern, vorüberflieht. Gegenüber der Sphäre
der Nur-Bedeutungen sind also die sittlichen
Tatsachen Tatsachen der materialen
Anschauung, und zwar einer nicht sinnlichen
Anschauung, sofern wir mit ‚Anschauung’
nicht notwendig die Bildhaftigkeit des Inhalts,
Bei der Wesensschau unterscheidet Scheler
drei Arten:
Es gäbe wie bei der phänomenologischen
Anschauung von bildlichen Phänomenen wie
z. B. „Rot“ einen Apriorismus, und zwar einen
„Apriorismus des Emotionalen“ (Ethik, S. 61).
Auch dieser hätte „Evidenz“, hätte eine
„Exaktheit der phänomenologischen
Feststellung“ (a.a.O., S. 61) und sei „evident
gegeben“ (S. 66). Die phänomenologische
Methode müsse man in weitgehender Analogie
(S. 55) zu den Sachgehalten auch auf die
Empfindungsinhalte anwenden. „Nicht
anders, wie wir denselben Ton zu hören und
dieselbe Farbe zu sehen meinen, und auf sie
hinweisend über sie urteilen, genau so meinen
wir dieselben Werte zu fühlen und nach ihnen
die Sachen zu beurteilen, wenn wir von der
Güte, Tüchtigkeit eines Menschen, dem
schönen Charakter einer Handlungsweise
reden.“ (Ethik, S. 175)
1. Die Wesensschau, die auf Qualitäten
und Sachgehalte geht. (Noema)
2. Die Wesensschau, die auf Akte geht
(Noesis), und
3. Die Wesensschau, die auf
Wesenszusammenhänge zwischen
Akten und Sachwesenheiten gehe. Zur
letzteren gehöre das Wertfühlen.
(Ethik, S. 68).
Im Betrachten guter Dinge, also Dinge, an
denen Werte haften, blitzt dieser Wert durch
unser Fühlen auf, er tut sich uns im
Fühlen kund. Da Fühlen ein Akt ist, der sich
auf Gegenstände richtet, denen Werte
anhaften („Güter“), können Werte auch nur
im Akt des Fühlens dieser Güter „aufblitzen“.
Wie es auch nicht darauf ankomme, ob das
Rot an wirklichen Gegenständen erfahren wird
oder bloß erahnt oder geträumt ist, so komme
es auch für das Wertfühlen nicht auf die
Klarheit des Gefühlten an, solange nur
überhaupt der Wert vorhanden ist. „Der mit
der Werterfahrung verbundene
Gefühlszustand des Ich und sein Ausdruck
kann bis zur Zone der Indifferenz sich
vermindern, ohne daß hierdurch der Wert
oder auch nur der Grad des Auffassens und
Einlebens in den Wert sich mitvermindert; so
vermögen wir einen Wert, eine Tüchtigkeit,
29
auch einen sittlichen Wert an unserem Feinde
meist nur kühl – und ohne Enthusiasmus und
dessen Ausdruck – zu konstatieren. Und doch
ist jener Wert voll gegeben.“ (Ethik, S. 174)
Der Enthusiasmus, der dennoch angenommen
werden muss, wenn das Fühlen
ausschlaggebend sein soll, richtet sich also
nicht auf die Nebenumstände, sondern durch
die phänomenologische Reduktion allein auf
den Wertaspekt eines Geschehens oder eines
Gutes. Schnädelbach kommentiert den
Zusammenhang von intentionalen Akten, den
"Wertnoesen", und den Wertqualitäten
("Wertnoemata"): Die antisubjektivistische
Pointe des gesamten Ansatzes soll durch die
These erreicht werden, "daß die apriorischen
Weisen der Wertintentionen sich jeweils nach
der Wesensqualität der intentionalen Objekte
richteten und nicht umgekehrt: wie bei Platon
soll es das Liebenswerte und das Hassenswerte
sein, das Liebe und Haß bedingt, während die
empiristischen oder psychologischen
Werttheorien die subjektiven Dispositionen
des Liebens und Hassens zur Grundlage der
qualitativen Bestimmung des Geliebten und
Gehaßten erheben." (Schnädelbach:
Philosophie, S. 227 f.)
materiale Werte nicht mit dem Streben nach
ihnen gleichzusetzen, da es auch Werte gibt,
die wir nicht erstreben, wie z. B. die
Erhabenheit des Sternenhimmels.
Durch das Wertfühlen eröffne sich der
„absolute Seins- und Wertgehalt der Welt“
(a.a.O., S. 70). An anderer Stelle spricht
Scheler vom „Sein idealer Gegenstände“ in
Analogie etwa zu Zahlen (wodurch er der
neukantianischen „Geltungssphäre“ von
Rickert bedenklich nahe kommt, vgl.
Wertphilosophie II, S. 29). Alle Notwendigkeit
in ethischen Sätzen (wie etwa Kants
kategorischen Imperativ, den Scheler
allerdings als zu formal ablehnt) sei allein in
der Wesensschau begründet. Sie hebe auch
den Kantischen Unterschied von „Ding an
sich“ und Erscheinung auf, weil Scheler meint,
mit der Wesensschau bzw. dem Wertfühlen
die ontologische Sphäre erkennen zu können
(a.a.O., S. 70).
2. 5. Kritik der Wertbegründung
durch Wertfühlen
Das Wertfühlen ist zwar alogisch, kann nicht
mit logischen Denkmitteln bestimmt werden,
habe aber ebenfalls wie die logisch
bestimmbaren Gegenstände eine eigene
Gesetzlichkeit. Die Wertschau sittlicher Werte
hat eine „Exaktheit der phänomenologischen
Feststellung“ (S. 61), die „evident gegeben“ (S.
66) sei.
Die Kritik, die schon gegen Husserls
phänomenologische Methode vorgebracht
wurde, lässt sich ebenso auf Schelers Methode
des Wertfühlens anwenden. Dort wurde die
phänomenologische Methode als
Zirkelschluss erkannt. Dies gilt auch für
Scheler. Wenn ich aus dem Strom der Gefühle
abstraktiv ein Phänomen, also einen ethischen
Wert, isoliere („einklammere“) und für sich
betrachte und ihn dann als ontologischen
ausgebe, dann muss ich diesen Wert bereits in
mir zum Bewusstsein gebracht haben, also
kennen. Ich erkläre dann einen Begriff in
mir zur ontologischen Tatsache. In
Wahrheit sind alle ethischen Werte, die Scheler
als materiale Werte ausgibt, aus der
philosophischen Tradition entnommen, nicht
aber originär erkannt. Er müsste ein rationales
Kriterium (also für alle einsehbares) angeben,
um zu zeigen, welche Werte materiale und
damit ontologische sind. Dies Kriterium hat er
aber nicht, sondern er ersetzt es durch den
Verweis auf die Unmittelbarkeit, das
„Aufblitzen“ im Fühlen. Durch diesen Trick
kann man sowohl das eine wie sein
Gegenteil zum materialen Wert erklären –
Die phänomenologisch gefühlten sittlichen
Werte seien aber kein „Ideal“, nichts
„Vollkommenes“, denn „Vollkommenheit
setzt die Werttatsachen voraus“ (S. 170). „Der
Wert muß erblickt sein, wenn ich ihn
idealisieren will, und es ist gleichgültig, ob als
endliche oder unendliche Sache der
betreffenden Qualität.“ (Ethik, S. 167) Im
unwillkürlichen Äußerungen des Begehrens
und Fühlens findet eine „Kundgabe“ von
materialen Werten statt, die Tatsachen sind,
die existieren. Die Werterfahrung, die sich auf
das unmittelbare Aufblitzen der Werttatsachen
oder der materialen sittlichen Werte bezieht,
ist nicht zu verwechseln mit dem
Gefühlszustand, der mit den
phänomenologisch erfahrenen Werten
verbunden ist, wie das Wertfühlen an den
Feinden gezeigt hat. Auch sind ethische
30
eine gedankliche Leerstelle, die letztlich dazu
dient, ideologische Vorstellungen dem
Bedürfnis seiner Klasse entprechend zu
entwickeln. (Siehe unten Kapitel 2.13.)
des Wissens sachlich widerspruchsfrei zu
integrieren, gegebenenfalls dieses
Wissenssystem zu modifizieren oder das
intuitiv Bestimmte zu verwerfen.
Entscheidend ist aber immer das rationale
Denken. Bei Scheler ist es aber gerade
umgekehrt: Das bereits objektivierte Wissen
soll sich allein der intuitiven Erkenntnis
anpassen, die Logik unbeachtet lassen und sich
von dem Resultat intuitiver Wesensschau
ontologisch fundieren lassen. „Jeden
vorgegebenen apriorischen 'Begriff' oder 'Satz',
der sich nicht durch eine Tatsache der
Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe,
weisen wir also ausdrücklich zurück.“ (Scheler:
Wertethik, S. 47)
Kritik der Intuition und Irrationalität in
der phänomenologischen Philosophie und
bei Scheler
Die phänomenologische Erfahrung oder
phänomenologische Reduktion oder
Wesensschau beruht vor allem auf der
Intuition. Was ist damit gemeint?
Eislers „Handwörterbuch der Philosophie“
von 1913, also zu der Zeit, in der Scheler seine
„Ethik“ schreibt, definiert 'Intuition' als
„unmittelbare, nicht durch Erfahrung oder
Schlüsse vermittelte Erfassung des Wesens
einer Sache oder eines Verfahrens;
unmittelbare Einsicht in eine Wahrheit, in den
Wert einer Sache“ (Eisler: Handwörterbuch, S.
319).
Damit wird eine psychologische
Erkenntnisweise, die subjektiv, methodisch
und begrifflich nicht erklärbar ist, da sie ein
Moment von Spontaneität enthält, zum
Erkenntnisgrund ontologischer Bestimmung –
ein Widerspruch in sich. Dies widerspricht
nicht nur dem ontologisch Behaupteten, das
unabhängig von unserem Denken und unserer
Psyche sein soll, sondern auch Husserls und
Schelers Kritik an der Psychologie als
philosophische Grundlagenwissenschaft. (Vgl.
Scheler: Ethik, S. 406 f.)
Nach Vetters „Wörterbuch der
phänomenologischen Begriffe“, das neueste
Werk aus der phänomenologischen Schule, hat
Husserl diesen Begriff in seine Philosophie
eingeführt „als terminologischer Gegensatz
zur Signifikation, um die Differenz von
unbefriedigter (signifikativer)
Bedeutungsintension und (intuitiver) Erfüllung
zu kennzeichnen“ (Vetter: Wörterbuch, S.
299). Intention sei das „Vermögen der
Wesensschau“, dabei mache Husserl den
Unterschied von sensualer und kategorialer
Intuition. Die Intuition führe „zur adäquaten
bzw. 'eigentlichen Vorstellung' (...) des
Gegenstandes“. Intuition sei ein
„methodischer Grundbegriff der
phänomenologischen Wesenslehre“.
Wenn Rationalität auf den beiden Quellen der
Erkenntnis, sinnliche Erfahrung und
begreifendes Denken von Verstand und
Vernunft, beruht, dann ist die „unmittelbare“
Erfassung des Wesens ohne diese beiden
rationalen Erkenntnisquellen irrational. Da die
intuitive Erkenntnis das ontologische Apriori
der Wertphilosophie bei Scheler begründen
soll, ist diese also auf einer irrationalen
Grundlage fundiert. Schelers materiale
Wertethik beruht explizit auf diesen Begriff
der Intuition: „Auch das a priori Gegebene ist
ein intuitiver Gehalt, nicht ein den Tatsachen
durch das Denken 'Vorentworfenes', durch es
'Konstruiertes' usw. Wohl aber sind die
'reinen' (oder auch 'absoluten') Tatsachen der
'Intuition' scharf geschieden von den
Tatsachen, die zu ihrer Erkenntnis eine
(prinzipiell unabschließbare) Reihe von
Beobachtungen durchlaufen müssen. Sie
allein sind – sofern sie selbst gegeben sind –
mit ihren Zusammenhängen 'einsichtig' oder
'evident'.“ (Scheler: Ethik, S. 47)
Intuition als psychologischer Begriff wie
Spontaneität und Kreativität sind
Voraussetzungen der menschlichen
Erkenntnisfähigkeit, ohne die wir kein
Bewusstsein von der Welt hätten. Sie sind aber
auch Voraussetzungen der Kreierung von
Aberglauben, Blödsinn, Spinnerei und
ideologischem Bewusstsein. Was bei einem
Erkenntnisakt, bei dem immer Intuition,
Kreativität und Spontaneität mit hineinspielen,
wahr und was falsch ist, entscheidet das
rationale Denken, indem es die neue
Erkenntnis versucht in das bestehende System
Damit erweist sich auch die materiale
Wertethik als irrational bzw. auf einem
31
irrationalen Fundament beruhend. Scheler
bestätigt dieses irrationale Fundament seiner
Wertlehre, wenn er sie als alogisch bestimmt:
„So aber sind auch die Wertaxiome ganz
unabhängig von den logischen Axiomen und
stellen mit nichten bloße 'Anwendungen' jener
auf Werte dar. Der reinen Logik steht eine
reine Wertlehre zur Seite.“ (A.a.O., S. 60)
irrationales Denken, unverständliche
Behauptung, die daraus folgenden Sätze sind
Kommunikation von Nichts.
Das Logische, wie die in Sätzen darstellbaren
materialen Werte, wird durch das Alogische,
das Wertfühlen, begründet. Jede Begründung
setzt aber das Logische immer schon voraus,
sodass ein Zirkelschluss entstünde: Ich habe
Werte im Bewusstsein (meist traditionelle) und
interpretiere sie in das Fühlen hinein, um sie
dann in Form der Wesensschau wieder aus
dem Fühlen zu begründen. Scheler will diesen
Zirkel vermeiden und geht von einem
Unmittelbaren aus, das durch geistige
Anschauung gefunden werden soll. Dieses
unmittelbare Wertfühlen ist aber immer
schon vermittelt, insofern nur
Kulturmenschen die höheren Werte fühlen
können (vgl. 2.9.3. und 2.9.4.). Also ist das
Unmittelbare nicht unmittelbar, sondern durch
die Sozialisation des Wertfühlenden vermittelt.
Erkennt man dies, entsteht sofort die Frage
nach dem Kriterium, welche gefühlten Werte
hoch oder niedrig sind, ob überhaupt etwas
Gefühltes ein ideales Sein ist oder bloße
Einbildung des wertfühlenden Individuums.
Ein solches Kriterium kann Scheler nicht
angeben, denn hätte er eins, erübrigte sich
seine phänomenologische Werteschau, er wäre
wieder in die Aporien des Neukantianismus,
den er bekämpft, zurückgefallen. Was Scheler
tatsächlich als Kriterium für den Wert eines
materialen Werts angibt, sind rein formale
Bestimmungen (vgl. Scheler: Ethik, S. 79 und
unten 2.9.1.). Höhere und niedere Werte sollen
sich durch das „Vorziehen“ bestimmen, also
gerade dasjenige, was es zu begründen gälte,
für das ein rationales Kriterium gefordert
werden müsste, wenn es einsichtig begründet
sein soll. „Vorziehen“ aber ist selbst an einen
Akt des Fühlens gebunden und beruht auf der
Sozialisation des wertenden Individuums.
Scheler dagegen verabsolutiert das subjektive
Vorziehen zur „intuitiven 'Vorzugsevidenz'“
und dessen Resultat zur „Rangordnung der
Werte“, die ein „absolut Invariables“, also ein
Ontologisches sein soll. (Scheler: Ethik, S. 85
f.)
Dagegen muss sich jedes Bewusstsein, das auf
Wahrheit und objektive Geltung seiner Urteile
Anspruch macht, vor der reflektierten
Vernunft ausweisen. Diese aber enthält als ihr
Wesen die Logik. Die logischen Formen und
Gesetze sind formale Wahrheitskriterien, sie
sind zwar nicht hinreichend zur Begründung
der Wahrheit, dazu muss auch die Wahrheit
der inhaltlichen Bestimmungen erwiesen
werden, aber die logischen Regeln sind ein
negatives Wahrheitskriterium: Wer sie
beachtet, denkt zumindest widerspruchsfrei,
wer aber gegen sie verstößt oder sie gar
missachtet oder beiseite lässt bei seiner
Darstellung von Sachverhalten, der denkt auf
jedem Fall falsch; seine Rede wird
unverständlich und vieldeutig. Auch das
Argument, die intuitiven „Tatsachen“ wären
bloß als intellektuelle Anschauungen
vorhanden, als solche seien sie „alogisch“, ist
nicht stichhaltig. Denn als bloß „intellektuelle
Anschauung“ sind sie, wenn überhaupt, in
einem individuellen Bewusstsein und nicht für
andere vorhanden. Ohne auf die mit der
"intellektuellen Anschauung" verbundenen
Probleme im deutschen Idealismus
einzugehen, wo dieser Begriff bei Schelling
vorkommt (vgl. Bensch: Perspektiven, Kap. II,
B) 2.), so kann doch über die flapsige Weise,
wie Scheler diesen Begriff zur Begründung
seiner materialen Werte benutzt, gesagt
werden, dass die "intellektuelle Anschauung"
"indemonstrabel" (a.a.O., S. 77), "nicht
beweisbar" und deren Resultat "leer" ist
(a.a.O., S. 78).
Resultate der Intuition sind nicht
kommunizierbar, erst wenn sie in Urteilen
gefasst werden, sind sie auch für andere
existent. Dass zwei Denker die gleiche
Intuition haben, erwiese sich als bloßer Zufall.
Ich jedenfalls gehöre nicht zu denen, die
solche Intuitionen wie Scheler haben. Wenn
Scheler seine Wesensschau auf Intuition,
geistige Anschauung (eine contradictio in adjecto)
und Alogik gründet, dann ist das Fundament
seiner Philosophie falsches Bewusstsein,
Die Bedeutung des Irrationalen in Bezug
auf das Wertfühlen
Nach Scheler stehen empirisch in der
Gesellschaft Werte im Konflikt untereinander.
Eines seiner Werke trägt den Titel „Vom
32
Umsturz der Werte“. Die vorherrschende
Auffassung seiner bürgerlichen
Philosophiekollegen bestimmt Scheler als
Wertrelativismus, alles sei nur subjektiv:
„Diese moderne Grundansicht führt je
nachdem zu zwei Folgerungen, die beide
Ausgangspunkte der modernen Moral gebildet
haben: Entweder zu einer Rechtfertigung einer
völligen Anarchie in Fragen der sittlichen
Beurteilung – so daß hier überhaupt nichts
'Festes' auszumachen zu sein scheint -, oder zur
Annahme eines Surrogats für die echte
Wertobjektivität, eines sog. Allgemeingültigen
'Gattungsbewußtseins', das seinen Zwang auf
das Individuum in Form einer schlechthin
gebietenden Stimme 'du sollst' geltend macht:
die allgemeine Anerkennung oder
'Anerkennbarkeit' eines Wollens und Handelns
als 'gut' soll die fehlende Objektivität des
Wertes ersetzen.“ (Ressentiment, S. 88)
Angesichts meiner prinzipiellen Kritik an den
Subreptionen und Hypostasen von Schelers
phänomenologischen Methode, lässt sich diese
berechtigte Kritik am Neukantianismus (etwa
Rickerts) genauso gegen den Kritiker selbst
wenden: Scheler rechtfertigt seine Schau von
materialen Werten, die sich als irrational
erweist, indem er irrationale Wertsetzungen
anderer Philosophen, die ebenso unlogisch
begründet sind, als nicht haltbar denunziert.
Wesensschau mittels Fühlen – wie
problematisch auch immer - eine gewissen
Objektivität beanspruchen.
Da bei Scheler die „Gefühlslogik“ (Sander)
aber explizit nicht die Logik des menschlichen
Geistes ist (und eine andere gibt es nicht!), wie
sie von Aristoteles als notwendige Bedingung
der Möglichkeit menschlicher Verständigung
begründet wurde, ist diese Gefühlslogik nicht
für andere einsichtig, wenn sie nicht so Fühlen
wie Scheler. Denn verstehen kann man eine
Aussage nur, wenn sie unter der diskursiven
Logik steht, sonst spräche man aneinander
vorbei. (Vgl. Gaßmann: Logik, u.a. S. 19 f.)
Nun ist das Fühlen, das Emotionale
tatsächlich nicht etwas, das von vornherein
den logischen Gesetzen gehorcht. Wenn ich es
in seiner Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und
Eigengesetzlichkeit begreifen will, dann
versuche ich es, mit logisch stimmigen Sätzen
zu deuten. Erst dann kann ich etwas über das
Emotionale aussagen. Für Scheler dagegen soll
die Erkenntnis gerade aus dem Alogischen des
Emotionalen entspringen, er muss
entsprechend die Ambivalenz der Gefühle
bestreiten oder sie als nebensächlich abtun
und das Emotionale in einen ordo amoris, in
dem die Liebe zur Welt den Hass überwiegt,
ontologisieren. „Wertphänomenologie und
Phänomenologie des emotionalen Lebens ist
als ein völlig selbständiges, von der Logik
unabhängiges Gegenstands- und
Forschungsgebiet anzusehen.“ (Scheler: Ethik,
S. 60) Und in einer Anmerkung zu diesem
Satz fügt er hinzu: „(...) in letzter Linie ist (...)
der Apriorismus des Liebens und Hassens
sogar das letzte Fundament alles anderen
Apriorismus, und damit das gemeinsame
Fundament sowohl des apriorischen
Seinserkennens, als des apriorischen Wollens
von Inhalten. In ihm, nicht aber in einem
'Primat', sei es der 'theoretischen', sei es der
'praktischen Vernunft' finden die Sphären der
Theorie und Praxis ihre letzte
phänomenologische Verknüpfung und
Einheit.“ (Ethik, S. 60, Anm.) Die
ontologische Eigengesetzlichkeit, die nicht
logisch erfassbar sein soll und doch nur mit
logisch verstehbaren Sätzen ihre Resultate, die
materialen Werte, darstellen kann, gäbe dann
die materialen Werte als Richtlinien für unsere
Handeln kund.
Nun ist das Bedürfnis nach festen
Moralbestimmungen kein Erkenntnisgrund,
wie ich schon gegen Lotze gezeigt habe (vgl.
Wertphilosophie I, S. 47 f.). Wenn man also
mit Scheler zwischen „echten“ Werten und
„Scheinwerten“ (Ressentiment, S. 89)
unterscheiden will, dann muss man ein
rationales Kriterium angeben. Das einzige, was
Scheler aber angeben kann, ist die
Unmittelbarkeit des Gefühls, das „aufblitzen“
der Werte im Akt des Fühlens. Da dieses
Fühlen aber alogisch sein soll, kann immer nur
der seiner Methode folgen, der genau so fühlt
wie Scheler. Das Windelbandsche
„Normalitätsbewußtsein“, das selbst der Kritik
verfällt (vgl. Wertphilosophie II, S. 16 ff.),
wird bei Scheler noch einmal in seiner
Irrationalität übertroffen, indem er ein
Normalgefühl oder eine anthropologische
Gefühlskonstante unterstellt, die schon den
Einsichten seiner Zeit in die historische und
soziale Bedingtheit des Gefühlslebens krass
widersprach. Denn nur wenn es eine konstante
Gefühlsgesetzlichkeit gibt, könnte die
Das ist kruder Irrationalismus. Wie in jedem
Irrationalismus wird mit begrifflicher Sprache
33
etwas behauptet, das den Begriffen nicht
zugänglich ist, ein absolutes Jenseits sein soll.
Es sei nicht logisch fassbar, aber Scheler kann
es nur mit logischen Mitteln kommunizieren.
Es habe seine eigene „Logik“, aber entziehe
sich aller logischen Bestimmtheit. Seine
Werttheorie beruht auf einem ordo amoris, der
unserem Denken nicht zugänglich sei. Solche
irrationalen Begründungen drücken aber
tatsächlich nichts anderes aus als – Willkür.
Wenn der Grund irrational ist, dann kann ich
alles aus ihm herausklauben, was ich will.
Anschauung von vornherein unmöglich
gemacht wird.“ (Rickert: Aufsätze, S. 116)
„Das Unmittelbare wird als Gegenstand einem
Ich gegenüber gestellt, welches sich auf das
von ihm intuitiv Erfaßte richtet, und mit dieser
Konstruktion ist dann die Sphäre der
Unmittelbarkeit im Prinzip verlassen. So hat
der Intuitionismus unserer Tage mehr dazu
beigetragen, das Problem des Unmittelbaren
zu verdecken, als es zu klären. Er arbeitet mit
unbemerkten Vermittlungen.“ (A.a.O., S. 118)
Der unmittelbare Zugang zu den im Fühlen
sich kundgebenden Werten, die für das
Bewusstsein aufblitzen, ist in Wirklichkeit
vermittelt durch die Gesellschaft, die unsere
Psyche prägt. Scheler gesteht zwar zu, dass das
Milieu den Menschen und sein Fühlen
beeinflusst, aber er muss diesen Einfluss
herunterspielen, um seine Ontologisierung des
Emotionalen und um den psychischen
Apparat als anthropologische Konstante zu
retten (siehe nächstes Kapitel).
Hatte die Freudsche Psychoanalyse versucht,
das Unbewusste, Vorbewusste, die unerkannte
Stimme der Gesellschaft in der Psyche ins
Bewusstsein zu heben, dem begreifenden
Denken zugänglich zu machen, damit es uns
nicht ein Fremdes bleibe, das uns beherrscht
und krank macht, sondern als bewusstes dem
rationalen Umgang mit ihm ermöglicht, so
verherrlicht Scheler das Unbewusste als
unerklärbares und zugleich Grund unseres
Denkens und Handelns. Er stellt sich damit
auf die Seite der Antiaufklärung. Das
Unbewusste wird bei Scheler zum
unbestimmbaren Grund seiner Werte. Wollte
Freud die Psyche der Menschen heilen von
dem, was die Gesellschaft in ihr angerichtet
hatte, so ontologisiert Scheler das Desaster in
uns zum ordo amoris.
Meine Kritik an der Schelerschen materialen
Wertethik könnte hier abbrechen: Der Patient
erweist sich als innerlich tot, sein Herz schlägt
nicht, der darauf aufbauende Textkörper des
Vielschreibers Scheler ist dann ebenfalls eine
Totgeburt. Doch ein solcher Abbruch würde
die Funktion dieses Irrationalismus verkennen
und ein Stück Aufklärung über den heutigen
Werteunsinn verweigern. Da aus irrationaler
Rede alles Mögliche folgen kann, das eine wie
sein Gegenteil, eignet sich diese
ontologisierende Willkür hervorragend zur
Scheinbegründung von Ideologien. Es wird
also zu zeigen sein, wie aus dem falschen
Bewusstsein von Schelers materialer
Wertbegründung notwendig falsches
Bewusstsein zur Herrschaftssicherung, das ist
Ideologie, von ihm entfaltet wird.
In seiner Unmittelbarkeitsthese und deren
Resultat wird die Willkür seines Verfahrens
deutlich. Was die Psyche unmittelbar
empfindet, ist immer ein Vermitteltes. Das
hatte schon Rickert an der Phänomenologie
insgesamt kritisiert. Voraussetzung der
phänomenologischen Methode ist die
Trennung von erkennendem Subjekt und zu
erkennendem Gegenstand – dies gilt auch für
Scheler. Dadurch ist die Erkenntnis des
Gegenstandes aber immer schon vermittelt
durch das erkennende Subjekt. „man muss in
einer 'Phänomenologie', die diesen Namen
verdient, entweder die Erscheinungen oder das
Subjekt unmittelbar nennen und
dementsprechend entweder die Phänomene
oder das, wofür sie Phänomene sind, als
vermittelt bezeichnen. Insofern führt schon
der Begriff der Erscheinung (bei Scheler
eingeklammertes „Phänomen“, BG), falls dies
Wort seinen prägnanten Sinn behalten soll, ein
Element in die Betrachtung ein, wodurch das
Beharren beim Unmittelbaren des
ungebrochenen Erlebens und seiner
2. 6. Milieu und Anthropologie
Scheler gilt als einer der Begründer der
modernen philosophischen Anthropologie in
der bürgerlichen Philosophie. Anthropologie
wurde im Anschluss an Scheler zur
Ersatzwissenschaft für die traditionelle
Metaphysik, die wie diese anthropologische
Erneuerung der Philosophie das
gesellschaftliche Leben in Einklang mit
überzeitlichen Ideen bringen wollte. Das Neue
34
bei ihm ist, dass er neue Erkenntnisse der
naturwissenschaftlichen Anthropologie ins
Metaphysische überhöht und in seine
Wertphilosophie einbaut. Scheler weist
ausdrücklich auf die grundlegende Funktion
seiner Anthropologie hin: "Es ist Aufgabe
einer Philosophischen Anthropologie, genau
zu zeigen, wie aus der Grundstruktur des
Menschseins (…) alle spezifischen Monopole,
Leistungen und Werke des Menschen
hervorgehen: so Sprache, Gewissen,
Werkzeuge, Waffe, Ideen von Recht und
Unrecht, Staat, Führung, die darstellenden
Funktionen der Künste, Mythos, Religion,
Wissenschaft, Geschichtlichkeit und
Gesellschaftlichkeit." (Scheler: Kosmos, S. 87)
Aber auch aus dem
Begründungszusammenhang seiner
Wertphilosophie ist die Reflexion
anthropologischer Fragen zwingend.
S. 159) Die Milieugegenstände können nur die
Triebe erregen, soweit sie diesen Trieben
entsprechen. „Sie sind nicht Ursachen,
sondern Folgen dieser Erregung.“ (Ebda.)
Scheler begründet diese Auffassung mit dem
Argument, die Milieugegenstände sind nicht
einfach nur vorhanden, sondern werden erst
zu solchen, weil sie menschlichen Strukturen
entsprechen. Aus der Fülle des Existierenden
werde das zum Milieugegenstand, das auf
Grund der Struktur des Menschen ihn
beeinflussen kann. Also sei das Milieu durch
diese Struktur allererst gesetzt. „Die
Gegenstände, die auf das Handeln
bestimmend werden, die Milieugegenstände,
werden dies nur, sofern sie selbst schon auf
Grund der Wertrichtungen des leiblichen
Teillebens und der ihm immanenten
Vorzugsregeln aus der Ganzheit der
Welttatsachen herausgeschnitten sind. Das
jeweilige Milieu eines Wesens ist also das
genaue Gegenbild seiner Triebeinstellungen
und ihrer Struktur, d.h. Ihres Aufbaues.“
(Ebda.)
Wenn Werte durch das Fühlen erkannt
werden und dieses Erkennen objektiv sein soll,
dann muss das Fühlen durch anthropologische
Konstanz bestimmt sein. Scheler argumentiert
entsprechend, dass selbst bei „Perversion des
Triebes“ das sinnliche Gefühl eine Zeit der
Gewöhnung benötigt, um dieser Perversion zu
folgen und Lust dabei zu empfinden. (Vgl.
Scheler: Ethik, S. 159, Anm. 2)
„Perversionen“ kann es nur geben, wenn ein
konstantes Natürliches als Maßstab dient,
sonst sind es kulturell bestimmte moralische
Aversionen oder Verbote. Der natürlichen
Konstanz widerspricht die These, dass das
Milieu den Charakter prägt, wie sie
insbesondere in der Literatur des Naturalismus
und auch in der Folge von Darwins
Evolutionsdarstellung vorgebracht wurde.
Nun ist es richtig, dass nicht alles Existierende
ein Milieu für den Charakter ist. Mikroben
oder elektromagnetische Wellen außerhalb
unseres Sehbereichs nehmen wir nicht wahr.
Sie können also auch nicht unseren Charakter
oder unsere Triebstruktur prägen. Deshalb ist
aber noch lange nicht die Invarianz unserer
Triebstruktur begründet. Die Fülle möglicher
Milieugegenstände und ihrer Wirkung auf die
Charaktere lässt sich nicht mit dem Hinweis
abtun, dass Milieugegenstände immer schon
auf uns hin bezogen sein müssen, wenn wir sie
als solche erkennen. Ein Blick in die
Geschichte und der dort erkennbaren
Darstellung des Menschen zeigt, dass jedes
Jahrhundert seine eigene Bestimmung vom
Menschen hat. Wenn Scheler von der
anthropologischen Konstanz der Triebstruktur
ausgeht, sie als apriorische Basis für die
Wertbestimmung ausgibt, dann muss ihm mit
Hegel entgegnet werden: „das richtende
Prinzip für jenes Apriorische ist das
Aposteriorische“ (Hegel: Naturrecht, S. 445)
Schon Mandeville hat die verschiedenen
Moralvorstellungen der Völker verglichen und
deren Unverträglichkeit erkannt.
Schelers Antwort auf diese Entwicklungsthese
des Menschen ist seine eigene Milieuthese,
nach der das, was Milieu ist, immer schon auf
den Menschen und seine konstanten
„Triebeinstellungen“ bezogen werden müsse.
„Faktisch aber ist jedes Lebewesen ein
geordneter Stufenbau von Trieben mit
materialen Werteinstellungen und dies
unabhängig von der Wirkung der
Milieugegenstände – wohl aber bestimmend
für sie. Es bringt einen 'Plan' der möglichen
Güter schon in seiner Triebeinstellungsart mit
sich, der nicht erst seiner Milieuerfahrung
verdankt wird und dem seine leiblichkörperliche Organisation entspricht.“ (Ethik,
„Was die Menschen von Kindheit an gelernt
haben, davon werden sie beherrscht; die
Macht der Gewohnheit entstellt die Natur und
35
ahmt sie zugleich derart nach, daß es oft
schwierig ist, zu wissen, durch welche von
diesen beiden wir beeinflußt werden. Im
Orient verheirateten sich früher Schwestern
mit Brüdern, und es galt als verdienstlich für
einen Mann, seine Mutter zu heiraten. Solche
Ehebündnisse sind verabscheuenswert; bei
allem Grausen, das uns bei dem Gedanken
hieran erfaßt, gibt es aber sicher nichts in uns,
was sich von Natur dagegen auflehnte,
sondern nur etwas, was sich auf Mode und
Herkommen gründet. Ein frommer
Mohammedaner, der niemals Spirituosen
gekostet, aber häufig betrunkene Menschen
gesehen hat, kann leicht eine ebenso große
Abneigung gegen den Wein bekommen, wie
sie bei uns ein anderer von der geringsten
Moralität und Bildung gegen eine Verbindung
mit seiner Schwester hat, und beide können
sich dann einbilden, daß ihre Abneigung in
ihrer Natur begründet sei.“ (Mandeville:
Bienenfabel, S. 361)
'Kulturgütern' erstarrten sittlichen Normen –
als nicht mehr verwertbare Spekulation –
erreicht haben. 'Kultur, das heisst, die
ausserökonomischen Bezirke, läuft dabei
Gefahr, als feiertägliche Abteilung zu gelten
...'. Angesichts der wirtschaftlichen und
sozialen Unsicherheit, in die das Individuum
in einer sich verschärfenden
Konkurrenzgesellschaft geraten ist, möchte die
Schelersche Philosophie an der
überraumzeitlichen Gültigkeit der Werte
festhalten, um dem überall drohenden Zerfall
der Masstäbe wenigstens vom Denken her
Einhalt zu gebieten.“ (Lenk: Ohnmacht, S. 60)
Scheler kann sich bei der Fundierung seiner
Werte durch das Fühlen auf eine historisch
relativ vereinheitlichte Triebstruktur in den
Industriegesellschaften berufen, die sich von
der Uneinheitlichkeit früherer Epoche
unterscheidet. "Die Bourgeoisie, wo sie zur
Herrschaft gekommen, hat alle feudalen,
patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse
zerstört. Sie hat die buntscheckigen
Feudalbande, die den Menschen an seinen
natürlichen Vorgesetzten knüpften,
unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band
zwischen Mensch und Mensch übriggelassen,
als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare
Zahlung'. (...) Alle festen, eingerosteten
Verhältnisse mit ihrem Gefolge von
altehrwürdigen Vorstellungen und
Anschauungen werden aufgelöst, alle
neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern
können. Alles Ständische und Stehende
verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die
Menschen sind endlich gezwungen, ihre
Lebensstellung, ihre gegenseitigen
Beziehungen mit nüchternen Augen
anzusehen." (Marx/Engels: Manifest, S. 464 f.)
So entsteht bei Scheler das Paradox, dass er
sich - allerdings ohne Selbstbewusstsein davon
- auf das Gleichmacherische der
kapitalistischen Produktionsweise in seiner
Theorie des festen Emotionalen beruft, deren
Geist er scheinbar aus konservativer Position
bekämpft (siehe unten 3.12.).
Scheler, der die Nivellierung der Triebstruktur
durch die kapitalistische Industriegesellschaft
vor sich hat, kann dadurch die historischen
Differenzen abstrakt negieren und wie heute
die Verhaltensforschung (Eibl Eibesfeldt) von
einer konstanten Triebstruktur ausgehen. Da
auch für Scheler der Mensch kaum noch
Instinkte hat, die ihn leiten, sind alle
„Urtriebe“ (Freud) des menschlichen
Organismus und darauf beruhendes Fühlen,
keine Konstanten, sondern kommen immer
nur vor als kulturell geformte und deshalb
historisch modifizierte. Eine Begründung von
Werten aus der Treibstruktur des Menschen
und seinem Fühlen – falls es überhaupt
möglich wäre – könnte deshalb auch nur
historische Resultate hervorbringen.
Das scheinbar Unmittelbare des Fühlens ist
vermittelt durch Erziehung, soziales Milieu,
die vorherrschende Triebstruktur der
Gesellschaft, politische und rechtliche
Verhältnisse, gesellschaftlich vorherrschende
Ideen usw. Die Unmittelbarkeit des Fühlens
ist deshalb immer konservativ. Kommt der
Werttheoretiker aus dem Bürgertum, dann
entspringen auch die konservierenden Werte
seiner Klasse aus seinem unmittelbaren
Fühlen. „Dem in der 'Materialen Wertethik'
geforderten rezeptiven Verhalten gegenüber
den ewiggültigen Werten entspricht das Mass
der Unverbindlichkeit, welches die zu
Schelers Auffassung von Milieu mündet bei
ihm in einer philosophischen Anthropologie.
Er ist der Anreger für eine Hinwendung zum
„Wesen“ des Menschen, die nur verständlich
ist auf Grund ideologischer Bedürfnisse. War
Schelers Milieutheorie noch gekennzeichnet
durch die Abwehr von Einwänden gegen seine
Methode des Werteerfühlens, so ist seine
36
Anthropologie von vornherein als Fundierung
seiner gesamten Philosophie gedacht – eine
Begründungsweise, die dann Karriere
(besonders in der deutschen Philosophie)
gemacht hat.
videntia, Klugheit, Schlauheit, List).“ (Scheler:
Kosmos, S. 32 f.)
Diese Intelligenz bewege sich aber in engen
Bahnen, da sie nicht nur von der erfahrbaren
Wirklichkeit abhänge, sondern auch durch den
Trieb determiniert sei. „nicht feste, typisch
wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt
lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr
sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam
ausgewählte Sachbeziehungen der
wahrgenommenen einzelnen Umweltteile
zueinander, welche das Aufspringen der neuen
Vorstellung zur Folge haben: Beziehungen wie
gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur
Erreichung von etwas, Ursache von etwas.“
(A.a.O., S. 33) Scheler begründet hier
anthropologisch, was Max Horkheimer als
Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft
im Kapitalismus analysiert hat. Scheler
hypostasiert demnach kulturelle
Erscheinungen zum anthropologischen
Faktum, wie er historisch Entstandenes
enthistorisiert.
Der Mensch ist nach Scheler „als plastischer
Säugetiertypus“ durch seinen Körper nicht
wesentlich vom Tier unterschieden. Seine
Instinkte sind zurückgebildet, dafür hat er die
höchst entwickelte Intelligenz im Tierreich.
Allerdings versteht Scheler unter Intelligenz
nicht das diskursive Denken, sondern ein
„Zufallsprodukt“ des „instinktiven
Verhaltens“ (Scheler: Kosmos, S, 23). Die
Intelligenz besteht für Scheler in den
individuellen und variablen Reaktionen auf die
Herausforderungen der Umwelt. „Es dürfte
wohl auch nachweisbar sein, daß die
Intelligenz keineswegs erst auf einer höheren
Stufe des Lebens, wie z.B. Karl Bühler meint,
zum assoziativen Seelenleben (und seinem
physiologischen Analogon, dem bedingten
Reflex) hinzutritt; sie bildet sich vielmehr
streng gleichmäßig und parallel zum
assoziativen Seelenleben aus, und sie ist (...)
keineswegs erst bei den höchsten Säugetieren,
sondern schon im Infusorium vorhanden.“
(Scheler: Kosmos, S. 23)
Nicht minder sei beim Menschen das
assoziative Gedächtnis am höchsten entwickelt
(Scheler: Kosmos, S. 24). Allerdings
berechtigten diese entwickelten Vermögen des
Menschen nicht, ihn über die Tierwelt zu
erheben, da Intelligenz und assoziatives
Gedächtnis sowie auch Wahlvermögen bei
höheren Säugetieren vorhanden seien und der
Mensch sich von diesen Tieren wie etwa den
Schimpansen nur durch eine bloß graduell
höhere Entwicklung auszeichne. (A.a.O., S. 33
f.) Die Zurückbildung seiner Instinkte müsse
der Mensch durch „Übung“ ausgleichen (S.
25). Dennoch seien die Instinkte des
Menschen nicht völlig verschwunden. Sie
seien im vor- und unbewussten Fühlen
anwesend. „Ferner ist das Wissen, das im
Instinkte liegt, nicht sowohl ein Wissen durch
Vorstellungen und Bilder oder gar durch
Gedanken, sondern ein Fühlen wertbetonter
und nach Werteindrücken differenzierter,
anziehender und abstoßender Widerstände.“ (S.
24) Da Instinkte starr und artgebunden seien
(S. 23), wird von Scheler hier auch
anthropologisch seine Wertlehre mit ihrem
Apriorismus abgesichert.
Das Denken des Ichs ist für das assoziative
Gedächtnis, das zur Maßlosigkeit und
Dekadenz (wie angeblich im Hedonismus)
neigt (a.a.O, S. 31), die „prinzipiell noch
organisch gebundene praktische Intelligenz“
(S. 32). „Gehen wir auf die psychische Seite
hinüber, so können wir Intelligenz definieren
als die plötzlich aufspringende Einsicht in einen
zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt
innerhalb der Umwelt, der weder direkt
wahrnehmbar gegeben ist noch auch je vorher
wahrgenommen wurde, d.h. reproduktiv
verfügbar wäre. Positiv ausgedrückt: als
Einsicht in einen Sachverhalt (seinem Dasein
und zufälligen Sosein nach) auf Grund eines
Beziehungsgefüges, dessen Fundamente zu
einem Teil in der Erfahrung gegeben sind,
zum anderen Teile antizipatorisch in der
Vorstellung, z.B. auf einer bestimmten Stufe
optischer Anschauung, hinzu ergänzt werden.
Für dieses nicht reproduktive, sondern
produktive Denken ist also kennzeichnend
immer die Antizipation, das Vorher-Haben
eines neuen, nie erlebten Tatbestandes (pro-
Es gibt nach Scheler aber dennoch etwas im
Menschen, dass ihn nicht nur graduell,
37
sondern seinem Wesen nach über alle Tiere
erhebt und ihn dadurch zur Gottähnlichkeit
bringt. Dieses Etwas begründet die
„Sonderstellung“ des Menschen im Kosmos.
(A.a.O., S. 37) „Aber auch das wäre verfehlt,
wenn man sich das Neue, das den Menschen
zum Menschen macht, nur dächte als eine zu
den psychischen Stufen: Gefühlsdrang,
Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz
und Wahl noch hinzukommende neue
Wesensstufe psychischer und der Vitalsphäre
angehöriger Funktionen und Fähigkeiten, die
zu erkennen also in der Kompetenz der
Psychologie und Biologie läge.“ (A.a.O., S. 37)
Das Geistprinzip steht außerhalb der
Vitalsphäre, ist immateriell, „umweltfrei“ und
„weltoffen“. Der Geist ist frei, absolut (S. 38),
„übersingulär“, „pure Aktualität“ und seiner
selbst bewusst (S. 41). Er trennt das Dasein
vom Wesen (S. 32). „Schon die Griechen
behaupteten ein solches Prinzip und nannten
es 'Vernunft'. Wir wollen lieber ein
umfassenderes Wort für jenes X gebrauchen,
ein Wort, das wohl den Begriff 'Vernunft'
mitumfaßt, aber neben dem 'Ideendenken' auch
eine bestimmte Art der 'Anschauung', die von
Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner
eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler
Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht,
geistige Verwunderung, Seligkeit und
Verzweiflung, die feie Entscheidung
mitumfaßt -: das Wort 'Geist'. Das Aktzentrum
aber, in dem Geist innerhalb endlicher
Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als
'Person', in scharfen Unterschied zu allen
funktionellen Lebenszentren, die nach innen
betrachtet auch 'seelische' Zentren heißen.“
(Scheler: Kosmos, S. 38)
Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit
(die ja auch Phantasiertes hat), nicht die fixe
Stelle im Raume in der Bewegung der
Aufmerksamkeit usw., - sondern der erlebte
Widerstandseindruck gegen die unterste,
primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze
noch zukommende Stufe des seelischen
Lebens, den 'Gefühlsdrang', gegen unser nach
allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch
im Schlafe und in den letzten Stufen der
Bwußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum.“
(Scheler: Kosmos, S. 53) Der Geist ist „von
Hause aus ohnmächtig“, er benötigt eine
„Energisierung“ durch den Drang. „Aber als
solcher ist der Geist in seiner 'reinen' Form
ursprünglich schlechthin ohne alle 'Macht', 'Kraft',
'Tätigkeit'.“ (Scheler: Kosmos, S. 57; siehe auch
2.10.)
Diese Vorstellung von Geist ist
wissenschaftlich nicht haltbar, wie unten
gezeigt wird. Sie rechtfertigt sich allein aus
Schelers – selbst wieder falschen –
Wertbegründung durch das Fühlen als deren
anthropologische Absicherung. In der
assoziativen Darstellungsweise von Scheler,
bei der man oft nicht zwischen (willkürlichen)
Thesen und den Argumenten unterscheiden
kann, ergibt sich dieser Begriff des Geistes
auch nicht als historische Erfahrung einer
sozialen Wirklichkeit, in der tatsächlich eine
übergreifende zwecksetzende Vernunft als
intellectus agens kaum eine Rolle spielt, weil der
Automatismus der Kapitalproduktion alle
gesellschaftlichen Zwecke bestimmt. Diese
anthropologische Absicherung der materialen
Werttheorie lässt sich selbst nur soziologisch
begreifen. Es ist ein ideologisches Bedürfnis
nach festen Werten, nach philosophischem
Eskapismus, der sich selbst noch in Schelers
Übernahme neuer naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse äußert.
Diese Feier der Sonderstellung des Menschen
durch seinen (göttlichen) Geist kontrastiert
aber auffällig mit der Reduktion des Geistes
auf mehr oder weniger bloße Kontemplation.
Nicht der Geist gibt uns das Dasein der
Dinge, indem er wie bei Kant aus den
Wahrnehmungen die Dinge konstruiert,
sondern das „Erlebnis des Widerstandes“, das
es nur „für unseren zentralen Lebensdrang“
geben kann. Dieser Drang allein speist den
Geist mit Energie, von sich aus fehlt ihm diese
völlig. „Nicht ein Schluß führt etwa zur
Realsetzung der Außenwelt (die als Sphäre z.B.
auch im Traum besteht), nicht der
anschauliche Gehalt der Wahrnehmung (wie
die 'Formen', 'Gestalten') gibt uns das
Über die Rolle dieser Art Anthropologie
schreibt Max Horkheimer: „Die moderne
philosophische Anthropologie entspricht
demselben Bedürfnis, das die idealistische
Philosophie der bürgerlichen Epoche von
Anfang an zu befriedigen sucht: nach dem
Zusammenbruch der mittelalterlichen
Ordnung, vor allem der Tradition als
unbedingter Autorität, neue absolute
Prinzipien aufzustellen, aus denen das
Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll.
Diese Anwendung des Denkens, begriffliche
38
Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen
das ganze menschliche Leben sinnvoll zu
begründen, die geistige Anstrengung, das
Schicksal jedes Einzelnen und der ganzen
Menschheit in Einklang mit einer ewigen
Bestimmung zu bringen, gehört zu den
wichtigsten Bestrebungen der idealistischen
Philosophie. Sie wird vor allem durch den
widerspruchsvollen Umstand bedingt, daß in
der neueren Zeit die geistige und personale
Unabhängigkeit des Menschen verkündet
wird, ohne daß doch die Voraussetzung der
Autonomie, die durch Vernunft geleitete
solidarische Arbeit der Gesellschaft,
verwirklicht wäre. Unter den gegenwärtigen
Verhältnissen tritt einerseits die Produktion
und Reproduktion des gesellschaftlichen
Lebens, das 'Wertgesetz', nicht als Motor der
menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie
sich vollzieht, hervor. Der ökonomische
Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als
beherrschende Naturmacht aus. Die
Notwendigkeit der Formen, in denen die
Gesellschaft sich erneuert und entwickelt und
die ganze Existenz der Individuen sich
abspielt, bleibt im Dunkeln. Andererseits
haben diese Individuen es gelernt, für die
gesellschaftlichen Lebensformen, die sie durch
ihr tägliches Handeln aufrecht erhalten und
gegebenenfalls beschützen, also für die
Verteilung der Funktionen bei der Arbeit, für
die Art der hergestellten Güter, für die
Eigentumsverhältnisse, Rechtsformen, die
Beziehungen der Staaten usw. Gründe zu
fordern. Sie wollen wissen, warum sie so und
nicht anderes handeln sollen, und verlangen
eine Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser
Ratlosigkeit durch metaphysische Sinngebung
zu steuern. Anstatt dem Anspruch der
Individuen nach einem Sinn des Handelns
durch Aufdeckung der gesellschaftlichen
Widersprüche und durch Hinweis auf ihre
praktische Überwindung zu genügen,
verklären sie die Gegenwart, indem sie die
Möglichkeit des 'echten' Todes zum Thema
wählt und dem Dasein tiefere Bedeutung zu
geben unternimmt.“ (Horkheimer:
Anthropologie, 96 f.)
Fremdbestimmung der Menschen als
anthropologischen „Drang“, der, als „Einheit
aller reich gegliederten Triebe und Affekte des
Menschen“, „das Subjekt“ im Menschen sei,
ohne den er kein Bewusstsein von der
Wirklichkeit hätte. Und er verklärt das
Bestehende als „objektive Stufenordnung“
(a.a.O., S. 17 f.), die auch das seelische Leben
bestimme, sodass jeder Widerstand gegen
diese Ordnung als sinnloser Widerstand gegen
die eigene Natur erscheint.
2. 7. Der Ordo amoris
Es ist typisch für die bürgerliche Philosophie
nach Hegel - also nachdem sie den
systematischen Dialog mit der Geschichte der
Philosophie abgebrochen hat, diese nur noch
als Steinbruch von Gedanken, aber nicht mehr
als Entfaltung von Wahrheit ansieht -, dass sie
das vorhandene „Begriffsmaterial“ willkürlich
nach ihren jeweiligen Interessen ordnet,
Systeme aufbaut, deren Halbwertzeit
bestenfalls so lange dauert, wie der Philosoph
seinen Lehrstuhl inne hat, und mehr oder
weniger neue Erkenntnisse der
Einzelwissenschaften einbezieht, jedenfalls
soweit sie in das System passen. Ein solches
System mag auf den ersten Blick in sich eine
gewisse Stimmigkeit erlangen, weil alle
relevanten Phänomene darin ihren Platz
haben, aber bei genauer Analyse wird die
Willkür, die Widersprüchlichkeit, das bloß
Behauptete, jedoch nicht Bewiesene solch
einer Konstruktion deutlich. Und regelmäßig
blamiert sich die meist idealistische
Konstruktion an der empirischen Wirklichkeit.
Solch eine irrationale Konstruktion ist Schelers
Aufblähen der Phänomenologie zu einem
metaphysischen (wenn auch noch
unvollendeten) System: dem Ordo amoris,
analog zum mittelalterlichen ordo rerum
gedacht.
Wenn Scheler davon ausgeht, dass die
Menschen ein festes anthropologisches Wesen
haben, auf das sich auch eine Ethik gründen
kann, wenn die Werte phänomenologisch aus
dem Fühlen erschlossen werden können und
wenn sich auch eine objektive Rangordnung
der Werte durch Vorziehen und Nachsetzen
(siehe nächstes Kapitel) aus dem Fühlen
ergeben soll, dann setzt das eine
Bei Scheler heißt diese Sinngebung der
sinnlosen Produktion um der Produktion
willen, der sich die Menschen mit ihren
Glücksansprüchen opfern müssen, der „Tod“
sei „der Urdrang alles Lebens“. (Scheler:
Kosmos, S. 14) Er verklärt die
39
anthropologische Gefühlsstruktur voraus, auf
der eine gleichwertige Erkenntnisweise des
Gefühls beruht, wie sie das rationale Denken
darstellt. Diese Gefühlsstruktur (mein Begriff
für das, was Scheler meint) gehorche ähnlich
dem Prinzip des ausgeschlossenen
Widerspruchs in der diskursiven Logik einem
emotionalen Widerspruchsprinzip (vgl.
Sanders: Scheler, S. 44 und Scheler: Ethik, S.
82)), sodass unser Gefühl – in Schelers Sinn
verstanden – ebenfalls eine widerspruchsfreie
Struktur hätte. Soll es diese geben, dann muss
es ein oberstes Gefühl geben, dem alle
anderen Gefühle zugeordnet sind. Dieser
„Urakt“ des Fühlens ist die Liebe (a.a.O., S.
61). Ihr steht als negatives Gefühl der „Haß“
gegenüber. Liebe und Hass sind aber nicht nur
faktische Gefühle, sondern werden bei Scheler
als „geistige Akte“ überhöht. Die Liebe ist
dann ein „geistig-emotionaler Akt“ der
Anziehung, eine spontane geistige Bewegung
als Welterlebnis (a.a.O., S., 52). Während der
Hass als geistiger Akt uns blind mache, führe
uns die Liebe zum Sehen, sie erschließt uns die
Welt. Auf der Liebe gründe die ganze
Ordnung unseres Fühlens und damit der
dadurch erkannten ontologischen Werte.
„Während das 'Fühlen von' ein eher passives
Aufnehmen von Qualitäten ist und das
Vorziehen, obwohl ein intentionales geistiges
Geschehen, auf die im Fühlen gegebenen
Qualitäten als sein Material verwiesen ist,
besitzt die Liebe eine aktive
Erschließungsfunktion.“ (Sander: Scheler, S.
51) Scheler unterscheidet nach Sander, deren
affirmativen Darstellung ich hier bei der
Wiedergabe des Ordo amoris folge, zwischen
einem faktischen Ordo amoris, der „aus
zielmäßig wirksamen", aber nicht „aktiven, frei
bewußten (...), sondern „automatischen (...)
Vorgängen des psychovitalen Subjekts im
Menschen“ hervorgeht, und dem „idealen“
Ordo amoris, der eine „an sich zeitlose
Wertwesenheit in der Form der Personalität“
darstellt und die „individuelle Bestimmung“
einer Person beinhaltet (zitiert nach
Gesammelte Werke Bd. 10, S. 353; Sander:
Scheler, S. 63). Dieser ideale Ordo amoris
werde von dem Menschen nicht „gesetzt“,
sondern nur erkannt, durch Selbsterfahrung
entschleiert. Er bestehe nur für die geistige
Persönlichkeit in uns. Die Art des Aufbaus der
Liebes- und der Hassakte bestimme dann den
Kern des Menschen als Geistwesen. Ja, der
Ordo amoris bestimme sogar das Milieu des
Menschen, wie z.B. ein Jäger in der Landschaft
ein anderes Milieu vorfindet als ein
unbedarfter Spaziergänger an dem gleichen
Ort. Es versteht sich von selbst, dass der
Mensch seinen faktischen Ordo amoris dem
idealen Ordo amoris annähern sollte, um den
Wert seiner Persönlichkeit zu steigern.
Wie die Werte apriorisch seien, so enthalte
auch das Lieben und Hassen einen
Apriorismus, der das „letzte Fundament alles
anderen Apriorismus, und damit das
gemeinsame Fundament sowohl des
apriorischen Seinserkennens, als des
apriorischen Wollens von Inhalten“ ist
(Scheler: Ethik, S. 60). Der Ordo amoris ist
damit der letzte Einheitsgrund alles
menschlichen Erkennens und Verhaltens. Wie
Freud, den Scheler sonst kritisiert, den
Lebenstrieb (Eros) und den Todestrieb
(Tantalos) zum Erklärungsgrund für
menschliches Verhalten schlechthin überhöht
(vgl. Lohmann: Freud, S. 47 ff., und Freud:
Unbehagen, S. 102), sodass sich mit diesen
Prinzipien sogar noch Kriege erklären ließen,
so macht Scheler „Liebe“ und „Haß“ zu
universellen letzten Erklärungsgründen für
alles historische Geschehen. (Vgl. zum
„Haß“ etwa Scheler: Pädagogische, S. 305 ff.,
zu Liebe und Krieg etwa: a.a.O., S. 68 f. und
unten 2.9.4.) Ökonomische Mechanismen
und ihre gesellschaftlichen und politischen
Auswirkungen werden anthropologisiert, zum
40
Wesen des Menschen umgedeutet und
dadurch zu natürlichen erklärt.
solchermassen unternommenen
Rettungsversuchs ist aber der Rückfall in einen
Subjektivismus, der sich darin zeigt, dass
Scheler aus der Analyse des von der
objektiven, historischen Vernunft
abgespaltenen menschlichen Seins die
Kategorien für das Begreifen der
geschichtlichen Wirklichkeit zu gewinnen
meint. Losgelöst 'von den materiellen
Momenten der Existenz hat Denken sich' bei
ihm 'zum metaphysischen Prinzip verklärt und
als Grundlage des geschichtlichen Prozesses
ausgelegt'.“ (Lenk: Ohnmacht, S. 57 f.; die
Zitate im Zitat sind von Horkheimer)
Seit es Wissenschaft und psychologische
Fragestellungen gibt (z.B. Aristoteles Buch
über die Seele), war man bestrebt, den
zunächst chaotisch erscheinenden Fluss von
Vorstellungen, Gefühlen, Assoziationen und
begrifflichen Gedanken zu ordnen und
Prinzipien darin zu erkennen. Bekannt sind zu
Schelers Zeit die Freudschen Begriffe des Es,
Ich und Über-Ich. Sind diese aber empirisch
erschlossen und mehr oder weniger
begründete Hypothesen, die Freud sein Leben
lang an seinen Beobachtungen von seelischen
Krankheiten präzisierte, so übernimmt Scheler
Behauptungen der Psychologie seiner Zeit
(z.B. von Franz Brentano) und macht
„Selbstbeobachtungen“, die er dann zu seiner
phänomenologischen Ontologie hypostasiert.
Wie diese Ontologie ist aber auch sein Ordo
amoris nichts als eine subjektive
Konstruktion, Willkür, die sich als
Objektivität aufspreizt. Der Anspruch der
klassischen Philosophie von Kant bis Hegel,
unbedingt nach Objektivität und Wahrheit zu
streben, ist bei Scheler – trotz anderslautender
Beteuerungen – verschwunden, ähnlich wie in
seinem philosophischen Umfeld in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn Schelers
gesamte Konstruktion verfällt wie seine bisher
dargestellte Wertphilosophie der Kritik: Die
Gefühle eines spätbürgerlich geprägten
„Kulturmenschen“ werden absolut gesetzt,
seine Wertbegründung aus dem „Fühlen“
heraus ist ein grandioser naturalistischer
Fehlschluss, die phänomenologische Methode
irrational, die behauptete ontologische
Fundierung der „Werte“ eine Hypostase
subjektiver Bestimmungen. Abgesehen von
seinem höchsten Wert des Heiligen ist der
Ordo amoris der Höhepunkt Schelerscher
Irrationalität.
2. 8. Die materialen ethischen Werte
im Konkreten
2. 8.1. Rangordnung der Werte
Eine Intention Schelers ist es, alle Werte in
einer Rangordnung zu fundieren. Da alle
unsere Handlungen auf Werte bezogen sind,
selbst wenn diese Handlungen unmoralisch
sind, sich also an „negativen Werten“ (passim
u. z.B. Ethik, S. 20) orientieren, kann Scheler
die gesamte gesellschaftliche und natürliche
Ordnung in einer Werteordnung fundieren.
Dazu gehört z.B. auch das Rechtssystem, denn
„alles Sein eines positiven Gesollten ist recht“
(Ethik, S. 79, siehe auch 2.9.3.). Dies ist das
Programm der mittelalterlichen Philosophie,
die alles Sein in eine hierarchische Ordnung
bringen wollte, sodass vom Stein bis zu Gott
eine seinsmäßige göttliche Rangordnung
gebildet wird, die sich dann im Kopf der
Menschen als bewusste Seinsordnung
widerspiegelt – zu der es keine vernünftig
denkbare Alternative geben soll. Bei Scheler ist
diese Rangordnung aber keine, die aus den
Erscheinungen des Seienden abstrahiert wird,
wie in der mittelalterlichen Philosophie,
sondern, wie bereits gezeigt, soll sie
ontologisch durch das Wertfühlen uns
„gegeben“ sein.
Was Kurt Lenk allgemein formuliert, gilt
insbesondere für den Ordo amoris:
„Gegenüber den skeptischen Positionen, die
alles philosophische Erkennen mit dem Makel
der Ideologiehaftigkeit belegen, möchte
Scheler die Autonomie des Denkens 'retten'.
Er glaubt, dass dies nur in der Weise zu leisten
sei, dass das Philosophieren sich auf eine von
der Geschichte unberührte Sphäre, auf ein
objektiv gültiges Ideen- und Wertreich
zurückziehe. Die Konsequenz eines
Das Erkennen der Rangordnung geschieht wie
beim Erkennen der einzelnen Werte durch das
Fühlen. Der Rang eines Wertes wird durch
Vorziehen erfühlt. Dieses „Vorziehen“ „findet
statt ohne jedes Streben, Wählen, Wollen“
(Ethik, S. 85). Es ist vom empirischen
41
Vorziehen zu unterscheiden, das sich auf die
Güter bezieht, das „apriorische Vorziehen“
dagegen geht auf die Werte selbst. So wie wir
diese phänomenologisch fühlen, so fühlen wir
auch ihre Rangordnung durch das
„Vorziehen“. Die Kritik am Fühlen, wie sie
oben gemacht wurde, gilt auch für das Fühlen
als Vorziehen. Da dieses irrational ist, würde
jeder eine andere Rangordnung konstruieren.
Doch diese „Täuschung des Vorziehens“
verkenne die „intuitive Vorzugsevidenz“, die
nicht mit der logischen Deduktion von
Werten, wie sie etwa Kant betreibe, zu
verwechseln sei. „Vielmehr findet alle
Erweiterung des Wertbereiches (eines
Individuums z.B.) allein 'im' Vorziehen und
Nachsetzen statt. Erst die in diesen Akten
ursprünglich 'gegebenen' Werte können
sekundär 'gefühlt' werden. Die jeweilige
Struktur des Vorziehens und Nachsetzens
umgrenzt also die Wertqualitäten, die wir
fühlen. Es ist hiernach klar, daß die
Rangordnung der Werte niemals deduziert
oder abgeleitet werden kann.“ (Ethik, S. 87)
Der „höhere Wert“ soll uns „wie von selbst“
entgegentreten, sodass uns die Rangordnung
sich enthüllt. Das setzt wie beim einfachen
phänomenologischen Wertfühlen eine
anthropologische Ordnung voraus, die
zugleich als ontologische gedacht wird.
zurückführen, sodass auch in der Täuschung
die Werte „notwendig erfüllt" werden.
Diese Argumentation hätte nur dann eine
gewisse Berechtigung, wenn seine materialen
Werte tatsächlich ontologisch im Menschen als
Apriori verankert wären. Da die Begründung
dieses Apriori sich als irrational erwiesen hat,
ist auch die Rangordnung der Werte bei
Scheler, soweit sie auf der „intuitiven
Vorzugsevidenz“ beruht, irrational (siehe oben
2.5.). Wenn das Vorziehen intuitiv ist, dann ist
es auch nur Eingeweihten zugänglich, die eine
ähnliche Sozialisation hinter sich haben wie
Scheler. Es läuft dann letztlich wieder aufs
gesellschaftliche Bedürfnis hinaus wie bei
Lotze, dessen philosophische Konstruktion
die eines konservativen Edelspießers im 19.
Jahrhundert ist.
Scheler kommt denn auch nicht umhin, damit
man auch nur seine Intention verstehen kann,
diskursive Kriterien für die Rangordnung
seiner Werte anzugeben, die er aus der
idealistischen Tradition der Philosophie
entnimmt, ohne sie auch nur ansatzweise zu
begründen. (Das wäre dann nämlich wieder
eine „Deduktion“ wie bei Kant, von der er
sich ständig distanziert.) Der Idealismus der
Rangordnung ergibt sich bereits aus den
höchsten Werten, nämlich den „ewigen“
Werten (Ethik, S. 91) und dem „Heiligen“, die
dann letztlich als Emanation des Göttlichen
behauptet werden. „So scheinen die Werte um
so 'höher' zu sein, je dauerhafter sie sind;
desgleichen um so höher, je weniger sie an der
'Extensität' und Teilbarkeit teilnehmen; auch
um so höher, je weniger sie durch andere
Werte 'fundiert' sind; um so höher auch, je
'tiefer' die Befriedigung ist, die mit ihrem
Fühlen relativ ist auf die Setzung bestimmter
wesenhafter Träger des 'Fühlens' und
'Vorziehens'.“ (Ethik, S. 88) Im Einzelnen
sind dies:
Scheler weiß selbstverständlich, dass uns
Gefühle täuschen können, aber da dies in
Bezug auf die Güter, an denen Werte haften,
geschieht, kann er das Wertfühlen und das
Vorziehen in der Rangordnung der Werte –
wenn es der phänomenologischen Methode
folge - als widerspruchsfrei hinstellen. „Daß
wir nicht denselben Wertverhalt begehren und
verabscheuen können, ist ein evidenter Satz.“
(Ethik, S. 82) Dem Gesetz vom zu
vermeidenden Widerspruch in der Logik
korrespondiere die Widerspruchsfreiheit des
„reinen Fühlens“ in unserer ontologisierten
Gefühlswelt. (Vgl. Sander: Scheler, S. 44)
Obwohl dies allen historischen Erfahrungen
widerspricht und auch den Ergebnissen der
Völkerkunde (vgl. Strauss: Traurige Tropen,
passim), muss Scheler offenkundige
Widersprüche und Gegensätze menschlicher
Gefühle ablehnen und widersprechende
Wertungen zu „Täuschungen über ihr
Anwendungsgebiet“ umdeuten. Und noch die
Täuschungen muss er auf den bösen Willen
1. Das Kriterium der Teilbarkeit: Ein
ökonomischer Wert wie etwa Tuch ist
teilbar und deshalb weniger Wert als
ein Kunstwerk, das nur als Ganzes
seinen Wert habe.
2. Das Kriterium der Fundierung: So
fundiert der Wert des Angenehmen
den Wert des Nützlichen, sodass der
42
Wert des Angenehmen höher in der
Rangordnung steht.
3. Das Kriterium der Dauer: Ewige
Werte sind höherrangig als Werte mit
einer Dauer, die begrenzt ist, und
diese wertvoller als kurzlebige Werte.
Das ewige Heilige ist demnach höher
als vitale Werte wie Gesundheit und
diese höher als der von
Verbrauchsgütern.
4. Das Kriterium der Tiefe des Gefühls:
Der Wert eines geistigen Produkts ist
höher, erzeugt eine größere
Befriedigung als etwa die Lust an
einem guten Essen.
konkreten Werten, dem Angenehmen und der
Gerechtigkeit, das ideologische Moment seiner
ethischen Konstruktion aufzeigen.
2. 8.2. Der Wert des Angenehmen
Nach Eislers „Handwörterbuch der
Philosophie“ von 1913, also der
Entstehungszeit der Schelerschen Ethik,
erscheint „angenehm“ als etwas Subjektives:
„Angenehm ist, was dem fühlendbegehrenden Wesen in der Empfindung
willkommen ist, das sinnlich Gefallende, was
lustbetonte Empfindungen hervorruft. Wenn
auch das Angenehme vom Schönen zu
unterscheiden ist, so ist doch das Angenehme
von Sinneseindrücken (z.B. von Farben,
Tönen) an dem Zustandekommen ästhetischer
(s. d.) Gefühlen beteiligt. - Nach KANT ist a.,
'was den Sinnen in der Empfindung gefällt'
(Krit. der Urteilskraft, § 3). Das A. ist
individuell-subjektiv, es reizt das Begehren
und ist daher vom Ästhetischen (s. d.) scharf
zu sondern.“ (S. 30) Auch lässt sich über das
Angenehme nach Kant keine Regel aufstellen.
Auch hier zeigt sich wieder die idealistische
christliche Tradition, die ontologisch verklärt
wird, indem gegen den „Hedonismus“, als das
„unbefriedigende“ rastlos Suchen nach
„Genußwerten“, die geistige Befriedigung
gesetzt wird, als ob nicht geistige Befriedigung
immer auch mit körperlicher Lust verbunden
ist, wie schon Aristoteles wusste (vgl.
Nikomachische Ethik, S. 249), und als ob
nicht das geistige Streben nach Erkenntnis
auch ein „rastloses Suchen“ ist oder sein kann.
Die „gefühlte Absolutheit“ (Ethik, S. 98) von
Werten, ihre Erkenntnis durch „unmittelbare
Intuition“ (Ethik, S. 97) und „reines Fühlen“
(Ethik, S. 95), das "nicht erst durch
Überlegung“ zustande kommt, sondern man
sagen muss: „sie gehen auf“ (Ethik, S. 97),
diese ontologische Hybris erweist sich als das
falsche idealistische Bewusstsein eines
bürgerlichen Philosophen, der den Weg seiner
Kollegen zum Irrationalismus um eine
Variante bereichert hat. (Das hindert nicht
daran, oder genauer: gerade deshalb ist
Schelers oberster Wert: das Heilige, in
Niedersachsen zum Kursthema für die
Oberstufe im Fach „Werte und Normen“ von
der konservativen Regierung bestimmt
worden.)
Diese Subjektivität wird im Utilitarismus
wichtig zur moralischen Orientierung. Nach
Jeremy Bentham ist das Prinzip der
Nützlichkeit oberstes Prinzip der Moral, und
die Nützlichkeit fußt auf der Vermeidung von
Leid und dem Erstreben von Freude, wobei
diese beiden Begriffe mit dem Vermeiden des
Unangenehmen und dem Erstreben des
Angenehmen bei Scheler cum grano salis
verglichen werden können. „Die Natur hat die
Menschheit unter die Herrschaft zweier
souveräner Gebieter – Leid und Freude –
gestellt.“ (Bentham: Prinzipien, S. 16)
„Freuden und das Vermeiden von Leiden sind
also die Ziele, die der Gesetzgeber im Auge hat;
ihm obliegt es somit, ihren Wert zu erkennen.“
(Bentham: Prinzipien, S. 17)
Es kann hier nicht der Ort sein, die
Schelersche Wertscholastik weiter zu treiben.
Wer etwas über seine Personen- und
Sachwerte, Eigen- und Fremdwerte, Aktwerte,
Funktionswerte und Zustandswerte lesen
möchte, der kann in seiner materialen
Wertethik die entsprechenden Kapitel
nachlesen. Stattdessen möchte ich an zwei
Nach Scheler liegt der Fehler im Utilitarismus
nicht darin, dass es in dieser Interessenmoral
kein sittliches Prinzip gäbe oder dass er keine
„sozial geltende Moral“ wäre (Scheler: Ethik,
S. 179), ja sogar Ideale sieht er in ihm, sondern
der Fehler liege in der Unfähigkeit des
Utilitarismus, seine Prinzipien objektiv
43
herzuleiten. „Der Irrtum des Utilitarismus liegt
also darin, daß er eine Theorie des Guten und
Bösen selbst zu geben meint, während er nur
eine (wahre) Theorie vom sozialen Lob und
Tadel des Guten und Schlechten faktisch
gibt.“ (Scheler: Ethik, S. 181) Damit aber alle
Menschen eine Moral akzeptieren, muss sie
fundiert sein. Fundiert wäre sie aber nur nach
der phänomenologischen Methode. Für eine
Moral, die ein Sollen aufstellt, müsse gelten:
„Vielmehr gründen auch alle Normen,
Imperative, Forderungen usw. - wenn sie nicht
willkürliche Befehlssätze sein wollen – in
einem selbständigen Sein, im Sein der
Werte.“ (Scheler: Ethik, S. 179)
„absoluten Unterschied“: „Mag derselbe
Vorgang für einen Menschen angenehm sein,
der für einen anderen unangenehm ist (resp.
für verschiedene Tiere), so ist doch der
Unterschied der Werte angenehm –
unangenehm selbst ein absoluter Unterschied,
der vor der Kenntnis dieser Dinge klar ist.“
(Ethik, S. 104) Wenn aber für den einen etwas
angenehm ist und für den anderen dasselbe
unangenehm, dann kann dies den Inhalt des
Begriffs „angenehm“, den Scheler allerdings
nicht direkt definiert, nicht unberührt lassen –
er löst sich auf. Entweder ist das Angenehme
und Unangenehme bloß ganz formal
unterschieden, dass es also nur überhaupt
diesen Unterschied gibt, ohne jeden
bestimmten Unterschied, bloß die Tatsache,
dass wir etwas faktisch vorziehen, dann kann
das Angenehme kein materialer Wert sein, es
wäre rein formal. Genau das behauptet
Scheler: Es bleibt bei ihm als einzige
Bestimmung, dass das Angenehme dem
Unangenehmen vorgezogen wird. Das aber ist
für das philosophische, d.h. allgemeine,
Denken ein Unterschied von Nichts. Nur die
empirische Anschauung könnte zeigen, dass
etwas für diesen Menschen angenehm, für
einen anderen dagegen unangenehm ist.
Danach ist der Begriff des Angenehmen ein
reiner Formalismus, den Scheler ständig Kant
vorwirft, aber kein apriorischer materialer
Wert.
Andererseits lobt er den Utilitarismus aber
auch, insofern er die Scheinobjektivität vieler
sich absolut gebender Moraltheorien
ausspricht, indem er ihr Interesse geleitetes
Bestreben offen legt.. Ob aber Schelers
ontologischer Apriorismus mehr trägt, lässt
sich am „absoluten“ Wert des Angenehmen
zeigen.
Das Angenehme wird bei Scheler zu einem
Wert ontologisiert und von dem Angenehmen
konkreter Dinge streng unterschieden. Das
Angenehme als Wert ist apriori, das konkrete
Angenehme als Gut ist empirisch und kann
dementsprechend schwanken in seinem Wert.
Das Angenehme ist kein besonders hoher
Wert in der „Rangordnung der Werte“, es ist
abhängig von den vitalen Werten wie
Gesundheit, Mut, Edlem und Tüchtigen
(Ethik, S. 105). Andererseits sei das
Angenehme ein „Selbstwert“, kein
„Konsekutivwert“ (Folgewert). Vom
Angenehmen ist z.B. der Konsekutivwert des
Nützlichen abhängig, der ein bloßes Werkzeug
des Angenehmen sei. Scheler selbst ordnet den
Rang des Angenehmen als apriorischen Wert
wie folgt ein: „Die Werte des Edlen und
Gemeinen sind eine höhere Wertreihe als die
des Angenehmen und Unangenehmen; die
geistigen Werte eine höhere Wertreihe als die
vitalen Werte, die Werte des Heiligen eine
höhere Wertreihe als die geistigen Werte.“
(Ethik, S. 109) Der Wert "Angenehm" gehört
nach Scheler zur Wertreihe der vitalen Werte.
Oder dem Angenehmen und Unangenehmen
käme ein inhaltlicher Unterschied zu, wie er
etwa rot und blau zukommt, dann wäre das
Angenehme auch kein objektiver Wert,
sondern vom subjektiven Empfinden der
Individuen, die etwas als angenehm
bestimmen, abhängig – entgegen der
Schelerschen Bestimmung des Angenehmen
als objektiven Wert. Die dritte Möglichkeit,
dass das Angenehme als Wert eine
anthropologische Konstante sei, also
ontologisch im Menschen verankert wäre,
widerspricht den empirischen Tatsachen, die
gerade bei diesem immer auch sinnlich
Empfundenen eine große Bandbreite an
Vielfalt dessen zeigen, was angenehm oder
unangenehm für die Individuen ist, von
historischen und geografischen Unterschieden
ganz zu schweigen. Wenn z.B. Wein in Maßen
genossen in Westeuropa durchaus als
„angenehm“ empfunden wird (nicht dieser
konkrete Wein, sondern guter Wein überhaupt
Kritik am Wert des Angenehmen
Scheler macht zwischen dem „Angenehmen“
als Wert und angenehmen Dingen einen
44
als das „Angenehme“), so empfinden andere
Kulturen Wein mit Abscheu, also als das
Unangenehme, sodass sie sogar religiöse
Verbote dagegen aussprechen. Man muss
schon sehr von dem „Edlen“ (Ethik, S. 105) in
sich und seiner „Tiefe“ (Ethik, S. 98)
überzeugt sein, um seine Vorstellung des
„Angenehmen“ als apriorischen materialen
Wert aufzuspreizen. Das macht Scheler
ebenfalls im Widerspruch zu seiner bloß
formalen Bestimmung des Unterschieds vom
Angenehmen und Unangenehmen, wenn er
z.B. von „Perversion der Begierden“ spricht,
„vermöge deren sie (die Perversen, B.G.)
lebensschädliche Dinge 'als angenehm'
erleben“ (Ethik, S. 104). Dass diese
„lebensschädliche(n) Dinge“ an dem
eurozentristischen und bürgerlichen Werten
gemessen werden, versteht sich von selbst.
Dieser Maßstab im Verhältnis zu anderen
Kulturen, den der Edelspießer Scheler hat,
wird dann nicht nur zum Maß „apriori“
„historischer Wertschätzung“, sondern auch
zum Maßstab „aller ethnologischen
Erfahrung“ für „fremde Lebensäußerungen“
(Ethik, S. 104).
bürgerlich europäischen Kultur soll sie noch
einmal als objektive bestimmt und dadurch
gerettet werden. Schelers Intention ist die
Konservierung der „Werte“ einer
untergehenden sozialen Schicht innerhalb der
herrschenden Klasse. Was Thomas Mann in
seinem Roman „Die Buddenbrooks“ mit
Wehmut geschildert hat, will Scheler durch
Ontologisierung retten. Die willkürliche
Erklärung bürgerlicher Werte zu
ontologischen, um sie als ewige zu bewahren,
beschleunigt aber nur ihren Untergang. Das
willkürliche Verfahren der Bestimmung
apriorischer Werte, noch dazu in einem
Bereich, in dem es kein Apriori geben kann,
untergräbt jede Dignität des behaupteten
Inhalts.
2. 8.3. Der sittliche Wert Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist ein geistiger Wert bei Scheler.
Gerechtigkeit steht deshalb über den vitalen
Werten (und dann auch über den Wert des
„Angenehmen“), aber unter den obersten
Wert des „Heiligen“. Eine genaue Definition,
was dieser geistige Wert ist, wird nicht
gegeben, man muss sie aus den
Textzusammenhängen erschließen. Der
geistige Wert „Gerechtigkeit“ steht über dem
positiven Recht (vgl. Scheler: Ethik, S. 212,
Anm. 2), Scheler wendet sich damit gegen jede
Art der Begründung, die positives Recht allein
aus einer „Setzung des souveränen Subjekts“
(Monarch oder Parlament) erschaffen sein
lässt (a.a.O., S. 566 Anm. 1). Ein Recht, das
dem geistigen Wert der Gerechtigkeit genügt,
kann allein aus einer Gesamtperson als
Zentrum geistiger Akte kommen, das ist der
Staat, die Kirche oder eine andere
Gemeinschaft (nicht aber der Gesellschaft als
bloßes Agglomerat). Eine Gemeinschaft
besteht aus Personen im Schelerschen Sinne,
die sich zu einer „Gesamtperson“ vereinigt
haben. Als Gesamtperson darf sie nicht von
zufälligen Mehrheiten abhängen, sondern sich
allein an den Werten orientieren. Das ist die
antidemokratische, gegen den Gedanken der
Volkssouveränität gerichtete Stoßrichtung der
Gerechtigkeit bei Scheler.
Gerade am Begriff des Angenehmen zeigt sich
die Unmöglichkeit materiale Werte als
allgemein gültige zu bestimmen. Allgemein
kann nur - wie Kant wusste - die Form sein:
Hier der logische Unterschied von angenehm
und unangenehm. Einen allgemeinen
materialen Wert des Angenehmen kann es
nicht geben, da es eine praktisch unendliche
Variabilität der Empfindungen des
Angenehmen gibt. Ein materialer Wert des
Angenehmen ließe sich noch nicht einmal für
eine besondere Kultur bestimmen, geschweige
denn für eine Kultur, die auf einer
kapitalistischen Warenproduktion mit ihrer
permanenten Revolutionierung der sinnlichen
Reize basiert.
Diese Widersprüchlichkeit in der Bestimmung
des Angenehmen, das einmal bloß formal sein
soll und dennoch ein materialer Wert sein soll,
das apriori gelten soll und dem tatsächlich sehr
unterschiedliche bis widersprüchliche
inhaltlichen Empfindungen des Angenehmen
entsprechen, das eine historische Epoche, die
europäische Kultur, zum Maßstab macht und
doch überhistorisch absolut sein soll, macht
die objektiven Interessen Schelers deutlich: In
der Zeit des Untergangs und Versagens der
Das Verhältnis des „ethischen“ Wertes
„Gerechtigkeit“ zur Rechtssphäre ist nicht
monokausal zu sehen. Der Unterschied zum
45
Recht liegt einmal in der Freiwilligkeit, da
Gerechtigkeit ein sittlicher Wert ist und
deshalb nur auf Freiwilligkeit beruhen kann;
das positive Recht dagegen ist immer mit
Zwang verbunden, kann also auch gegen den
sittlichen Willen einer Person stehen.
Allerdings solle der Wert Gerechtigkeit der
Maßstab für das positive Recht sein – wie
vermittelt auch immer sie in Beziehung stehen.
Nach Scheler gehören Privat- und Strafrecht
zur vitalen Sphäre. Werte und Rechtsformen
wie „Vergeltung“, „Strafe“, „Sühne“ oder gar
„Rache“ sind keine Formen der Gerechtigkeit,
sondern sollen das Überleben der Gesellschaft
sichern. Im Extremfall der Todesstrafe gibt es
keine sittliche Rechtfertigung, wohl aber
könne die Gesellschaft auf Grund ihres
Lebensinteresses „Vergeltung“ dieser Art
fordern. Lediglich aus dem Leben und
Überleben, also den vitalen Werten, lässt sich
die Bestrafung von Gesetzesbrechern
rechtfertigen.
'Vergeltung' je abzuleiten oder durch Analyse
zu gewinnen.“ (Scheler: Ethik, S. 374 f.) Der
sittliche Wert wird durch diese Konstruktion
rein gehalten und kann doch als der höhere
und bestimmendere angesehen werden,
insofern das Äquivalenzprinzip beachtet wird.
Diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit
und Recht drückt Scheler auch so aus: „Nur
aus einem Teil des Wesenskernes der
Gerechtigkeit, nach dem es gut ist und sein
soll, daß unter gleichem Wertverhalten (!) auch
gleiches Verhalten wollender Personen stattfinde,
folgt – wenn es Vergeltung gibt -, daß diese
auch Gleichwertiges gleich zu treffen habe.
Nicht aber folgt aus ihr die Forderung einer
'Vergeltung' selbst.“ (A.a.O., S. 377) Der
Wesenskern der Gerechtigkeit widerspricht
aber auch nicht der Vergeltung!
Als wesentliche inhaltliche Bestimmung des
geistigen Wertes „Gerechtigkeit“ bleibt dann
die abstrakte Regel: „daß unter gleichem
Wertverhalten auch gleiches Verhalten
wollender Personen stattfinde“ (ebda.). Die
Pointe dieser Bestimmung liegt in dem implizit
geforderten unterschiedlichen Recht, je nach
dem Wertverhalten einer Person. Eine
wertvollere Person muss in der Konsequenz
Schelerscher Gerechtigkeit nach einem
höheren Recht beurteilt werden als eine
weniger wertvolle Person. Das "Höhere" im
Wertrang ist für Scheler immer auch das
Höhere in der sozialen Stellung. (Vgl. Bd. 8, S.
21) Das aber ist die elitäre Überhöhung der
wertvolleren Persönlichkeiten gegenüber den
weniger wertvollen, denn Gleiches gilt nur für
Wertgleiches, Einzelpersonen oder
Kulturpersonen wie die Nation mit einem
höheren Wert stehen dann über Personen mit
einem niederen Wert oder niederen Nationen
und können auch ein höheres Recht für sich in
Anspruch nehmen. Da das "Wertverhalten"
bei den Menschen unterschiedlich ist, folgt aus
dieser Bestimmung die unterschiedliche
Behandlung der Personen: Jedem das Seine,
aber nicht als Ziel für alle auf Basis einer
allgemeinen Befriedigung der Bedürfnisse,
davon ist bei Scheler nirgends die Rede,
sondern je nach Rangordnung der Personen in
der Klassengesellschaft oder im
Konkurrenzkampf der Nationen. Konsequent
wird von Scheler eine Wertdifferenzierung der
Personen auch im Recht gefordert. Dies ist die
Umkehrung der bürgerlichen Gleichheit vor
dem Recht, wie sie seit der
Damit aber tut sich ein Widerspruch zwischen
der Rangordnung der Werte und ihrer Praxis
auf. Der geistige und sittliche Wert
Gerechtigkeit steht höher in der Rangordnung
als die vitalen Werte, diese können aber nach
Scheler gegen den höherrangigen Wert
verstoßen, wenn es vital opportun ist,
wodurch die Ranghöhe des sittlichen Werts
keine Bedeutung mehr hätte, er wäre
ranghöher und nicht ranghöher – oder er wäre
im Geist ranghöher und in der Praxis nicht
ranghöher: Und die Schelersche Konstruktion
erweist sich als abstrakter Idealismus.
Wenn dann der sittliche Wert der
Gerechtigkeit der positiven Rechtssphäre und
ihrer Praxis den moralischen Maßstab liefert,
dann kann dies nur sehr vermittelt sein.
Scheler macht diesen Zusammenhang an dem
Beispiel der Vergeltung deutlich. „(...) es ist
nicht die sittliche Sphäre, sondern die von ihr
grundverschiedene Rechtssphäre, in deren
Umkreis die Vergeltungsidee zu suchen ist.
'Vergeltung' als solche ist darum auch
keineswegs eine Folgeforderung davon, daß
Gerechtigkeit sein solle. Die Gerechtigkeit
ordnet und regelt nur den Impuls der
Vergeltung, indem sie die Idee der Proportion,
des Gleichen für Gleiches, der Forderung
nach Vergeltung (auf irgendeine näher
bestimmte Weise) hinzufügt. Nicht aber ist aus
der Idee der Gerechtigkeit jene der
46
Aufklärungsperiode im 18. Jahrhundert
gefordert, zum "Vorurteil" geronnen (Marx)
und schließlich auch in den meisten
westeuropäischen Ländern als positives Recht
durchgesetzt wurde. Die gleichen sozialen
Chancen für alle, die sozialistische
Erweiterung der formalen bürgerlichen
Gleichheit, hätte in Schelers Wertphilosophie
überhaupt keine Basis zur Begründung. Auf
den Krieg bezogen ergibt sich, dass eine
höherwertige Kulturpersönlichkeit (Nation)
gegenüber einer minderwertigen alles
moralische Recht auf ihrer Seite hat (s. u.
2.9.4.).
Brutalitäten darstellt. (Siehe abschließende
Kritik 3.1. ind 3.2.) Dies lässt sich an seiner
Apologie des Krieges zeigen.
2. 8.4. Die Apologie des „echten“
Krieges und Gerechtigkeit
Im Frühjahr 1918, als die deutsche Niederlage
für Prinz Max von Baden, dem späteren
Reichskanzler für kurze Zeit, noch nicht
abzusehen war, forderte er eine „ethische
Fundamentierung unserer äußeren Politik zur
Fruktifizierung (Nutzbarmachung, B.G.)
unserer materiellen Macht“ (Prinz Max von
Baden: Denkschrift, S. 419). Ob dieser
„ethische Imperialismus“ (ebda.) durch
Schelers Ethik des Krieges philosophisch
begründet wird, und wenn ja, auf welche
Weise eine Legitimierung mit seinem
Gerechtigkeitsbegriff zu tun hat, gilt es nun zu
untersuchen.
Andererseits kann der Staat, die Gemeinschaft
oder die Nation zwar das Leben einer Person
im Krieg fordern, nicht aber die Aufgabe ihres
Personseins, als ob mit dem Tod eines
Menschen nicht auch sein Personsein
verschwindet. (Dem Tod der Person steht
auch nicht das Argument entgegen, dass man
das Andenken eines Toten ehren sollte oder
seine Taten ihn zurechnen sollte, denn Person
ist bei Scheler ein Aktzentrum und das besteht
nur aus einzelnen Akten, Tote aber können
keine geistigen Akte mehr ausführen - es sei
denn, man nimmt ein imaginiertes Jenseits an).
Es ist für Scheler selbstverständlich, den
Krieg, „zu rechtem Ziele und auf rechte Weise
geführt“, „vor dem sittlichen Gewissen und
dem religiösen Sinne des Daseins und Lebens
unseres Geschlechts“ zur rechtfertigen.
(Scheler: Bd. 4, S. 55) Deshalb wendet er sich
auch gegen die bloße Legitimation des Krieges
durch Nutzen, Interessen, Militarismus oder
der Aggressionsneigung, die sich in der
„brutal, biologischen blonden Bestienmoral“
(a.a.O., S. 66) ausdrückt. Da er den Krieg um
des Krieges willen ablehnt, ebenso wie „die
einseitige und rohe Fassung des kriegerischen
Ethos als bloßes Draufgängertum, bloßes
'Mutethos' und wohl gar noch irdisches, nur
auf die eigene Gruppe bezogenes
Herrschaftsethos", ist Scheler von den
deutschen Faschisten abgelehnt worden (seine
Bücher durften nach 1933 nicht mehr verlegt
werden).
In der widersprüchlichen Konstruktion, die im
Verhältnis des geistigen Wertes der sittlichen
Gerechtigkeit und der vitalen Werte des
positiven Rechts besteht, zeigt sich der
Idealismus der gesamten Wertphilosophie
Schelers. Einigermaßen schlichten ließe sich
der Widerspruch nur, wenn man den geistigen
Wert Gerechtigkeit als unverbindliches Ideal
ansieht – dann wäre er aber bloße Propaganda
oder Manipulationsmittel, in Schelers
Kriegsapologie würde er dann zur Ideologie.
Zwar liegt hinter diesem Widerspruch das
objektive Problem jeder Stände- oder
Klassengesellschaft, dass ihre Moral sich
regelmäßig an den gesellschaftlichen
Verhältnissen blamiert, aber Scheler will diese
Tatsache gar nicht rational durchdringen,
sondern er verschleiert sie durch irrationale
und widersprüchliche Konstruktionen seiner
ontologisierenden Axiologie. Bezieht man die
sozialen und ökonomischen Verhältnisse der
kapitalistischen Gesellschaft ein, dann zeigt
sich, dass die Schelersche Konstruktion seines
sittlichen Wertes „Gerechtigkeit“ ein
Ideologem ist, dessen objektiver Zweck die
Legitimation der Klassengesellschaft mit ihren
Seiner Kriegsapologie entsprechend wendet
sich Scheler andererseits gegen den Pazifismus
jeder Couleur. Der Pazifismus geht nach
Scheler von der falschen Voraussetzung aus,
dass alle Menschen und ihre jeweiligen
Gesellschaften gleiche Rechte hätten und
gleichwertig wären – unabhängig von ihrem
individuellen sittlichen Wert. Nur dann könne
man internationale Institutionen fordern, die
einen „ewigen Frieden“ als Schiedsrichter,
47
Gerichtshof oder Organisator herstellen und
überwachen. Diese Ideen des Pazifismus
beruhten auf einer Verkennung des Begriffs
der Gerechtigkeit, die bei ihnen rein formal
sei. Diese bloß formale Idee der Gerechtigkeit
führe „nie und nimmer hinaus über eine bloß
logisch-formale Ordnung und
Systematisierung von Willenszwecken: "Es
werde Gleichwertiges Gleichwertigem unter
gleichen Umständen. Was aber zu wollen und
zu tun sei und was nicht, davon sagt uns diese
Idee nichts. Sie scheint uns nur dann etwas
Derartiges zu sagen, wenn wir
Verhaltensweisen, wie Achtung, Liebe,
Wohlwollen in den Subjekten heimlich schon
voraussetzen, um deren 'Gerechtigkeit' es sich
handelt, bestimmte inhaltlich wertvolle
Eigenschaften aber in denen, auf die sie zielt.
'Systematisch' können die Ziele des Teufels
ebenso sein, wie die Ziele Gottes! Nennt man
z.B. Gleiche stark hassen, quälen, bestehlen,
berauben unter gleichen Umständen, sinnvoll
keine 'gerechte' Handlung, so gibt man selbst
zu, daß man alles 'gerechte' Verhalten gegen
jemand bereits in irgendwelcher Form einer
auf die Anschauung positiver Werte in ihm
gegründeten Liebe verwurzelt hatte.“ (Scheler:
Bd. 4, S. 59)
Der Verlauf des I. Weltkrieges zeigt jedenfalls
keine besondere Ritterlichkeit, die nach
Scheler zu einem derartig höher stehenden
Wesen gehört. Aus den geistigen oder
sittlichen Unterschieden der Menschen folgen
auch nicht unterschiedliche Rechte der
Individuen und ihrer Gemeinschaften. Denn
die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz ist
nicht nur eine rationale Forderung auf Grund
der Bestimmung aller Individuen als
Selbstzweck (Kant), sondern auch eine
Bedingung für einen möglichen „ewigen
Frieden“. Denn die Schelersche „Liebe“ liefe
auf eine Weltdiktatur des höchsten Volkes
hinaus (die philosophische Verbrämung des
deutschen Griffs nach der Weltmacht), die fast
automatisch den Widerstand der beherrschten
Völker herausfordern müsste, also einen
ewigen Krieg erzeugte. Überhaupt liefe die
Schelersche Konstruktion auf das Paradoxon
hinaus, dass die Liebe zum Krieg führt, um
einen Zustand zu erreichen, der in „einem
Maximum von Liebe auf Erden das höchste
Ziel aller menschlichen Bestrebungen erblickt“
(Scheler: Bd. 4, S. 58).
Danach ist Gerechtigkeit das Verhalten, das
ein Maximum an Liebe auf Erden als höchstes
Ziel anstrebt. Tatsächlich führt diese Art der
Liebe zum Massenmord durch
Materialschlachten und Giftgaseinsätze, und
das alles, damit die Menschen mehr Liebe in
die Welt bringen können. Solche
Verrücktheiten kann sich auch nur ein
idealistischer Philosoph ausdenken!
Daraus ergibt sich auch der spezifisch
Schelersche Begriff der Gerechtigkeit:
„'Gerechtigkeit' ist eben keine neben oder gar
über der Liebe stehende sittliche Grundidee,
sondern nur die logische Ordnung in der
Betätigung irgendeiner Art und Form von
Liebe, resp. eines von Liebes-Gesinnung noch
irgendwie umspannten inneren Verhaltens.“
(Scheler: Bd. 4, S. 59) Gerecht kann sich nach
Scheler immer nur auf die Unterschiede der
Menschen und ihrer „Gemeinschaften“ (nicht
Gesellschaften) beziehen. Aus dieser
teilweise schlüssigen Kritik an einer bloß
formalen Gerechtigkeit folgt aber noch
nicht die Schelersche Wertsetzung (oder
wie er ontologisierend sagt: Wertgegebenheit)
der menschlichen Unterschiede, denn diese an
der Höhe des Geistes ausgerichteten
Rangstufungen stehen nicht nur im
Widerspruch zu Schelers Abwertung des
Geistes (s. u.), sondern sind auch in sich
falsch, als ob der höher stehende geistige
Mensch nicht ebenso zu Brutalitäten fähig
wäre wie eher geistig schlichte Menschen.
Scheler leitet seine Apologie des Krieges
allgemein aus seiner Wertlehre ab. Dabei wird
einmal der Krieg aus der „Liebe“ bzw. aus
dem Ordo amoris begründet, zum anderen aus
der Gerechtigkeit.
Aus der Bestimmung der Gerechtigkeit, „daß
unter gleichen Wertverhältnissen (!) auch
gleiches Verhalten wollender Personen
stattfinde“ (Scheler: Ethik, S. 377), folgt, wie
oben gezeigt, nicht, dass alle Personen gleich
seien – auch wenn sie alle vor dem positiven
Recht faktisch als gleich gelten -, sondern die
Person, die im Schelerschen Sinn höherwertig
ist, kann sich auch auf ein höheres (geistiges
fundiertes) Recht im Umgang mit den
Personen berufen, denen weniger Recht
zusteht oder die weniger wertvoll sind. Da das
48
Personsein nicht nur das menschliche
Individuum kennzeichnet, sondern auch die
Nation, sie ist als Kulturgemeinschaft „geistige
Gesamtperson“ (Scheler: Bd. 4, S. 62), von der
das Individuum abhängt und geprägt wurde,
gäbe es zwischen Nationen oder Staaten
Rangunterschiede in ihrer Wertqualität. Nach
Scheler rechtfertigt allein dieser
Rangunterschied bereits einen Krieg. Er macht
dies an einem Beispiel deutlich. „die
Eroberungen Roms wurden auch zu
Eroberungen eines Teiles der Welt für das
höhergeartete römische Recht.“ (A.a.O., S. 64)
Ähnlich legitimiert Scheler die Besetzung
Polens durch Preußen.
einem Plebiszit der Elsässer Bevölkerung
abhängig machten. Aber die Zugehörigkeit zu
einer Nation bestimmt sich nicht nach
Wunsch und 'Nationalbewußtsein' der in
Frage kommenden Subjekte. Sie bestimmt sich
nach Art und Richtung der Arbeit, der
Formung, die dieser Boden in sich
aufgenommen hat und nach jenen tieferen
Lebens-Schaffens-Werttraditionen, die jenseits
der Oberfläche des 'Urteilsbewußtseins' und
des 'Wunsches' in dieser Bevölkerung leben.“
(Scheler: Bd. 4, S. 59) Die Fehler der
Schelerschen Wertphilosophie zeigen in ihrer
Anwendung ihre wahren Konsequenzen: Eine
autoritäre, undemokratische und elitäre
Ideologie des deutschen Imperialismus. Was
die legitimierten Werte sind, wird der
rationalen Diskussion entzogen (ganz
abgesehen von dem Anachronismus, als hätten
1871 die Politiker schon gewusst, was "Werte"
im Schelerschen (oder Lotzeschen) Sinn
überhaupt sind) und nur der Eingeweihte kann
über Länder und Menschen verfügen.
Scheler rechtfertigt den Krieg ebenfalls aus der
Liebe. Für Scheler ist die „Liebe“, wie sie oben
im Kapitel über den „Ordo amoris“
charakterisiert wurde, die „Wurzel aller echten
'Objektivität' im Verhalten“, sie ist das „letzte
Agens, das unseren Geist aus dem Umkreis
unseres Leibes und seiner Begierdeimpulse
sich heraus ins Freie, zu Dingen und Werten
hinbewegen läßt“ (Scheler: Bd. 4, S. 61). Diese
Liebe aber, die unsere Werterkenntnis in Gang
setzt, ist nicht wertneutral, sondern wertet die
Person in den Individuen wie in den
Gemeinschaften. Sie ist deshalb auch keine
„Disposition, anderen wohlzutun, sondern
stellt „die Forderung des höheren Wertes im
Gegenüber“ sowie „die Bewahrung der
Geisteswürde des Anderen“, deshalb muss sie
auch fähig sein zu züchtigen – bis hin zum
Krieg. „Die echte Liebe aber, die nicht auf die
Wünsche, sondern die Werte und die Würde
des anderen Teiles und auf sein wahres 'Heil'
gerichtet ist, kann auch hier nach dem
Vorbilde Gottes verfahren, der weise 'züchtigt,
die er liebt'. Das gilt auch noch im
Völkerleben.“ (Scheler: Bd. 4, S. 60)
Überhaupt ist diese Wertideologie von Scheler
gegen jede Art der philosophischen Tradition
gerichtet, die kosmopolitisch auf den
Standpunkt der Menschheit wie jede wahre
Wissenschaft argumentiert. Scheler muss
diesen Standpunkt schon deshalb ablehnen,
weil er die Geschichte der Philosophie
zurückgedreht hat, indem er das (gattungs)subjektive Moment in jeder Erkenntnis
zugunsten seiner phänomenologischen
Ontologisierung ersetzt hat. Da diese
Ontologisierung falsch ist, sind auch alle
darauf aufbauenden Rangunterschiede im
Wert falsch bzw. irrational. Nur deshalb kann
er die prinzipielle Gleichheit aller Menschen
kritisieren: Gesellschaft und Menschheit sind
keine Gemeinschaften, weder Kultur- noch
Wertegemeinschaften, sondern bloß eine
äußerliche Addition atomisierter Menschen.
Gäbe es keinen Rangunterschied unter den
Nationen, dann hätte jede Nation eine
Stimme, die niederen Nationen könnten die
höheren dominieren. „Eine auch wert- und
liebesblinde Gerechtigkeit aber wäre auch
blind und ohnmächtig für – die Gerechtigkeit
selbst.“ (Scheler: Bd. 4, S. 61) Der Standpunkt
der Menschheit dagegen wird ihm zur
„Entziehung eines Liebesquantums“ für die
Nation. Daraus folgt für Scheler, „daß
gleichzeitig eben die Sphäre dieser höheren,
alle 'Wohlfahrt' weit überragenden Werte, von
Auf die realen Beziehungen der Nationen
angewandt, erläutert Scheler seine Apologie
des Krieges aus der Liebe am Beispiel der
Annexion von Elsass-Lothringen. Diese wird
nicht durch den Sieg, also durch pure Macht,
gerechtfertigt, auch nicht durch eine mögliche
Volksabstimmung, sondern durch die Werte,
die diese Kulturlandschaft so geprägt haben,
dass sie auch ohne Begründung mit der
Volkssouveränität deutsch wären. „Man hat
uns z.B. den Vorwurf gemacht, daß wir 1871
unsere Erwerbung der uns von Ludwig XIV.
entrissenen Landesteile des Elsaß nicht von
49
Hause aus nicht allen Menschen 'gemeinsam'
sind, sondern nur völkisch national oder nach
Kulturkreisen differenzierten Eigenschaften,
Werken und Kräften der Menschen
zukommen können.“ (Scheler: Bd. 4, S. 62)
erreicht, dann streben die Kapitale über den
Binnenmarkt hinaus auf den Weltmarkt. Dies
war vermehrt in Deutschland spätestens nach
1884 der Fall. Dort treffen sie aber auf
fremdes Kapital und einen „Naturzustand“,
wie er analog bei Hobbes beschrieben wurde,
das heißt einen ungeregelten Krieg aller gegen
alle. Deshalb kann ein Einzelkapital auf dem
Weltmarkt nur agieren, wenn es die geballte
Macht der ganzen Gesellschaft (bei Scheler
„Nation“ genannt) hinter sich weiß. Der
Konkurrenzkampf der Kapitale wird zum
Konkurrenzkampf der Staaten. Dies setzt
andererseits die Durchdringung der
Staatsinteressen durch das Kapital voraus. Der
höhere Rang eines Staates bemisst sich nicht
nach irgendwelchen sittlichen Werten, sondern
nach der Größe seiner Produktion, die sich in
der Höhe der Kapitalien ausdrückt. Der
sittliche Wert der Nation, wie Schelers ihn
sieht, ist faktisch nur der illusionäre Schein des
ökonomischen Werts, der bei ihm unter den
niederen Werten der „Nützlichkeit“ rangiert.
Können die Staaten ihre ökonomische
Konkurrenz nicht mehr mittels Verträgen und
anderen friedlichen Mitteln regulieren, kommt
es zum Krieg unter ihnen. Im kapitalistischen
Wirtschaftssystem sind deshalb Kriege als
Fortsetzung des ökonomischen
Konkurrenzkampfes mit anderen Mitteln eine
ständig Möglichkeit, die zwangsläufig immer
mal wieder in die Realität umschlagen muss.
Kommt in Deutschland noch die
Verschwisterung der Kapitalbesitzer mit dem
Adel, dessen Identität durch das Militärische
bestimmt wird, hinzu, dann entsteht faktisch
eine besonders aggressive Tendenz, die dann
zum Ersten Weltkrieg geführt hat, den Scheler
moralisch als „echten Krieg“ (a.a.O., S. 56)
legitimiert.
Gibt es dagegen Krieg zwischen ungefähr
gleichrangige Nationen, dann sind nach
Scheler ihre Rivalität und der Krieg ein
„Gottesgericht“ (GW Bd. 4, S. 59). Die Höhe
der Personenwerte und den Rang, den eine
Gemeinschaft einnehmen kann, zeigt sich im
Bereich des Sittlichen in ihrem Kriegsethos.
Dieses beschreibt Scheler so: „Kriegerisches
Ethos ist aber ebenso ursprünglich, wie es
Mutethos ist, auch Ethos ritterlicher
Selbstbeherrschung der eigenen Triebe und
Opferethos; kriegerisches Ethos ist gerade
nicht rohes Säbeltum, sondern ritterliches und
großherziges Degenethos, das mitten im
Kampf den Feind bejaht und achtet und 'Haß'
und 'Neid', d.h. die spezifischen Haltungen der
'Ohnmacht ' nicht kennt; ist nicht nur Ethos
des guten Befehlens, sondern auch des guten
echten Gehorchens (im Gegensatz zu
sklavischer, meist mit dem Bewußtsein
äußerster 'Selbständigkeit' gepaarten
Beeinflußbarkeit und Ansteckbarkeit durch
fremdes Wollen); nicht nur Ethos der
Siegesfreude, sondern auch Ethos ruhigen und
stillen Duldenkönnens einer Niederlage; nicht
nur irdisches Herrschaftsethos, sondern auch
der Unsterblichkeit zugewandtes
Ruhmesethos.“ (Scheler: Bd. 4, S. 66) Zum
Ziel des Krieges kann deshalb auch nicht die
Vernichtung des Gegners gehören, sondern
gut Clausewitzschisch: die „Wehrlosmachung
des fremden Staates“. (A.a.O., S. 56)
Vergleicht man dieses ritterliche Ideal mit der
typischen Wirklichkeit, dann wird das
Illusionäre, Don Quixotische und Ideologische
offenbar.
Das Schelersche Ethos, das es in den
historischen Kriegen bestenfalls vereinzelt gab,
die Ritter, nach denen diese Ritterlichkeit
benannt wurde, entsprachen nie ihrer eigenen
Propaganda, hat auch mit den Tatsachen des I.
Weltkrieg nichts zu tun. Die „geistige
Willenspersönlichkeit des Gegners“ wurde
nicht geachtet, sondern er wurde vergast, ohne
dass er sich wehren konnte, ohne dass sein
Wille irgendeine Bedeutung hatte. Dass dieser
Massenmord ein „Töten ohne Haß“ sei, mag
vielleicht auf den einzelnen Soldaten zutreffen,
nicht aber auf die Kriegspropaganda, die
geradezu auf den Hass setzte (was sich u.a. in
2. 8.5. Die tatsächlichen Kriegsgründe
und Schelers Kriegsideologie
In der kapitalistischen Gesellschaft ist die
Konkurrenz der Kapitalien erzwungen durch
ihr Aufeinandertreffen auf dem Markt. Ein
Kapital kann nur bestehen, wenn es seine
Produktivität erhöht und sich vermehrt, d.h.
ausweitet, seinen Profit wieder reinvestiert.
Hat die Produktion eine gewisse Größe
50
banalen Sprüchen wie diesen äußerte: „Jeder
Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder
Tritt ein Britt“).
Moral basierenden Umgangs der Menschen
miteinander, in der die Menschen Selbstzweck
sind, durch innere individuelle Dispositionen
und äußere gesellschaftliche Zwänge gehemmt
wird. Dennoch müsse diese moralische
Anstrengung von den Menschen gefordert
werden, um einen „ewigen Frieden“ zu
schaffen, auch wenn die entscheidende
Triebkraft für einen Fortschritt zur Moralität
die Widersprüche im Wesen des Menschen
und seiner Gesellschaft sind. Hegel hat diese
Position kritisiert als „Ohnmacht der Tugend
vor dem Weltlauf“. Nur die moralischen
Forderungen seien akzeptabel, die eine Basis
haben in der objektiven Sitte der Gesellschaft.
Allerdings sah Hegel die Moralität in der
Gesellschaft seiner Zeit als objektive Tendenz
angelegt, sodass Moral als ein Moment der
Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat) ihren
Platz habe. (Vgl. zum Verhältnis von Kant
und Hegel den Essay von Pelzer: Studien.)
Dagegen hat Marx gezeigt, dass in der
kapitalistischen Gesellschaft tendenziell die
Menschen zum bloßen Mitteln der Produktion
von Mehrwert, der Akkumulation von Kapital
gemacht werden. (Marx: Kapital I, S, 167 f.,
189 f.; vgl. auch meinen Aufsatz über „Kapital
und Ethik“ in „Erinnyen“ Nr. 4, 1989, S. 19 –
78) Die Geschichte bei Hegel als „Bewusstsein
vom Fortschritt der Freiheit“ entpuppt sich als
ein blinder Mechanismus, der von
Katastrophe zu Katastrophe schlittert.
Dadurch erhält die Kantische
Entgegensetzung von moralischem Gesetz
und sozialer Wirklichkeit wieder Bedeutung,
freilich nicht in einer unmittelbaren
Aufforderung, dem moralischen Gesetz in der
kapitalistischen Gesellschaft zu folgen, was
meist unmöglich ist, sondern als moralisches
Motiv, die kapitalistischen Verhältnisse zu
beseitigen, die Moralität, d.h. ein friedliches
Zusammenleben, verhindern (vgl. Gaßmann:
Widerstand, S. 58 f. u. 112-114).
Durch den Stand der Produktivkräfte hatten
auch die entwickelten Destruktivkräfte ein
Niveau erreicht, das solche Begriffe wie
„ritterliche Selbstbeherrschung“,
„Opferethos“, „großherziges Degenethos“
obsolet machten. Im Dauerbombardement auf
die Schützengräben spielte die Kampfmoral
kaum eine Rolle: Wer getroffen wurde,
entschied allein der blinde Zufall. Auch den
"guten echten Gehorsam" gab es kaum: Selbst
wenn es diesen bei einigen kriegssozialisierten
Offizieren anfangs gab, die Masse der Soldaten
aus Lohnabhängigen legte eher den
"Sklavengehorsam" an den Tag, indem sie sich
für die Interessen ihrer Ausbeuter
abschlachten ließ; bei ihnen trifft Schelers
Formulieren des Sklavengehorsams zu: „meist
mit dem Bewußtsein äußerster 'Selbständigkeit'
gepaarten Beeinflußbarkeit und Ansteckbarkeit
durch fremdes Wollen“. Und die in diesem
Kriegsethos geforderte Tugend des „ruhigen
und stillen Duldenkönnens einer Niederlage“
war nach der wirklichen Niederlage bei den
Kriegstreibern nur eine der Dolchstoßlegende
und eine der Forderung nach einem
Revanchekrieg.
Wenn aber zwischen dem Schelerschen
Kriegsethos und der typischen Wirklichkeit ein
konträrer Gegensatz besteht, wenn der
Schelersche Idealismus nichts mit der brutalen
Realität moderner imperialistischer Kriege zu
tun hat, dann stellt sich überhaupt die Frage
nach dem Verhältnis zwischen den Werten
und der Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wird in
der Ethik unter dem Begriff des Sollens
abgehandelt.
2. 9.
Das Sollen und die materiale
Wertethik
2. 9.2. Das Sollen in Schelers
ontologischem Idealismus
2. 9.1. Das Sollen in der bürgerlichen
Philosophie bei Kant und Hegel
Werte sind nach Scheler vom äußeren Sein
unabhängig. „Werte sind in bezug auf
Existenz und Nichtexistenz prinzipiell
indifferent gegeben.“ (Ethik, S. 210) Alles
Sollen dagegen ist auf die Existenz von
Kants kategorischer Imperativ fordert eine
moralische Anstrengung von den Menschen,
weil er gesehen hat, dass der Zustand der
Moralität, d.h. ein Zustand des friedlichen auf
51
Werten bezogen. Die Diskrepanz zwischen
den Werten und dem Seinsollen von Werten
(d.h. nicht allen Werten) kann aber nicht das
letzte Wort der materialen Wertethik sein,
denn dann wäre sie bloßer idealistischer
Schein. Scheler muss also angeben, wie Werte
durch Menschen zum Sein gebracht werden
können bzw. sollen. Scheler geht dabei von
drei „Axiomen“ aus, die das Verhältnis von
Sein und Sollen bestimmen müssten.
äußeren Gütern sind oder nicht sind, insofern
sie nur an diesen Gütern sein könnten.
Materiale Werte sind seiende in Bezug auf das
menschliche geistige Fühlen.
Das Kapitel über das Sollen aus der
„materialen Wertethik“ hat nun weniger die
Verwirklichung der Werte zum Gegenstand,
sondern den Aufweis der Belanglosigkeit des
Sollens für diese Ethik. So bestimmt Scheler,
dass das Sollen ursprünglich niemals das Sein
des Guten meint, sondern das Nichtsein des
Übels. Nur das „Nichtsein des Guten“
erzwingt ein Sollen. Damit aber unterstellt
Scheler implizit die soziale Wirklichkeit als
insgesamt gute, ohne dass seine Ethik die
soziale Wirklichkeit als Bedingung der
Wertethik und des Sollens systematisch
einbezieht bzw. einbeziehen kann. Im
Gegenteil, die soziale Wirklichkeit wird nach
den Werten konstruiert (siehe 3.1.), sodass
Scheler immer schon seine Werte in der
sozialen Wirklichkeit verwirklicht sieht. Der
Zirkelschluss seiner phänomenologischen
Methode (siehe 2.3. – 2.5.) wird zum Zirkel
seiner gesamten Weltkonstruktion: Die Werte
werden (ontologisierend) aus dem
vermeintlichen Sein genommen und aus den
Werten wird das Sein wieder konstruiert.
Dieser Zirkel, der schon bei Rickert von mir
nachgewiesen wurde, unterscheidet sich vom
bewusstseinsimmanenten Neukantianismus
nur durch die angebliche ontologische
Fundierung. In diesem Zusammenhang lobt er
Hegels Kritik an Kants scheinbar abstrakter
Gegenüberstellung von moralischem Sollen
und sozialer Wirklichkeit, kritisiert aber die
„Aufhebung und Rechtfertigung des
Historischen“ bei Hegel, weil dieser seine
„Werte“ aus Fakten, Menschen, Handlungen
und Gütern der Geschichte angeblich
abstrahiert habe. Demgegenüber werden
Schelers Werte als überhistorische, absolute
angesehen und aus anthropologischen
Konstanten bestimmt (siehe oben 2.7.).
1. Das Sein des positiven Wertes ist
selbst ein positiver Wert (a.a.O., S.
210). Damit wird von ihm
ausgedrückt, das zumindest bestimmte
Werte in Existenz überführt werden
sollen.
2. Alles positiv Wertvolle soll sein, alles
negativ Wertvolle soll nicht sein
(ebda.). Dieses „Axiom“ ergibt sich
aus dem ersten (nach meiner
Reihenfolge) und betont den
Übergang vom bloßen Wert zu den
Gütern, also Dingen, an denen
positive Werte haften.
3. „Alles Sollen ist fundiert auf Werte“
(ebda.), denn ein Sollen ohne
Wertbezug wäre ein leeres Sollen, da
alle Handlungen des Menschen einen
Wertaspekt (und sei es den der
Nützlichkeit) haben. Umgekehrt gilt:
Werte sind nicht auf ein ideales Sollen
fundiert, sondern, gemäß der
phänomenologischen Methode, uns
aus dem Wertfühlen gegeben. Bei
jedem Sollen könne man immer
fragen, auf welchen Werten es basiert,
das Sollen kann niemals von sich aus
angeben, was ein positiver Wert ist
(a.a.O., S. 212).
Da der Inhalt des Sollens in die Existenz
überführt werden müsse, also noch nicht
existiert, kann ein Sollen auch misslingen. Dies
mögliche Scheitern des Sollens tangiert aber
nicht den Wert, der in die Existenz überführt
werden soll. Es soll hierbei das Kantwort
gelten, dass „das Gute sein soll, auch wenn es
niemals und nirgends geschehen wäre“ (a.a.O.,
S. 210). Dies ist kein Widerspruch zu der
materialen Wert- und Güterethik, die von
seienden Werten spricht, denn – wie oben
belegt – kann der seiende Wert auch aus einem
Traum erschlossen sein, Werte sind immer
„ideales Sein“, unabhängig davon, ob sie an
Seiner heteronomen Ethik entsprechend
könne das Sollen auch keine
„Selbstverpflichtung“ wie bei Kant sein,
sondern beruhe auf einem Befehl, den der
„Wert eines Nichtseienden“ dem Sollen
aufzwingt. Aus dem Nichtsein eines Wertes
folgt ein Streben, das sich als ideales Sollen
manifestiert, dieses wiederum wird zum Befehl
für das Streben nach einem bestimmten
52
Sollen. Eine Ethik aber, die sich imperativisch
gibt, unterstelle ein „konstitutives Mißtrauen
in die menschliche Natur“ (Ethik, S. 216), ja in
das Wesen sittlicher Akte überhaupt. Ein
moralischer Befehl ist geradezu
kontraproduktiv, weil er „sittlichen Trotz“
(a.a.O., S. 218) hervorruft, der sich auch gegen
den Inhalt des Sollens, also gegen den Wert
richtet, der verwirklicht werden soll. Das
Sollen intendiert geradezu „Böses“, wenn der
Befehl auf „Einsichtigkeit“ trifft und dadurch
diese Art Trotzreaktion auslöst (a.a.O., S. 217).
fremder Einsicht folgt; er ist aber auch ein
einsichtiger Akt, wenn wir einsehen, der
Befehlende habe ein höheres Maß von
sittlicher Einsicht als wir selbst.“ (Ethik, S. 78
Anm. 2)) Geistige Autonomie ist demnach
Einsicht in die materialen Werte und in die
Ranghöhe wertvoller Personen, geistige
Autonomie ist Gehorsam in diese Personen,
also in Scheler. Autonomie des sittlichen
Handelns ist Gehorsam dem Sein der
materialen Werte gegenüber, die Scheler
definiert. Autonomie hingegen im Sinne
Kants, die Selbstgesetzgebung des
Moralgesetzes, kann es für Scheler gar nicht
geben, da die materialen Werte keine Produkte
der Vernunft sind, sondern des irrationalen
Fühlens, also des "einsichtigen" Gehorsams
dem Sein gegenüber.
Aus diesen Implikationen des Sollens ergibt
sich für Scheler die Aporie jedes Sollens:
„Sollen setzt voraus, daß ich wisse, was gut ist.
Weiß ich aber unmittelbar und voll, was gut
ist, so bestimmt auch dieses fühlende Wissen
unmittelbar mein Wollen, ohne daß ich durch
ein 'ich soll' einen Durchgang nehmen
müßte.“ (a.a.O., S. 213) Da die Werte durch
das Fühlen erkannt würden, seien sie immer
schon (ähnlich bei Windelband) im
Individuum verankert und unmittelbar
handlungsbestimmend. Faktisch führt diese
Aporie des Sollens zur Anpassung an die
bestehende Sittlichkeit, die immer schon als
gut vorausgesetzt ist und aus einer angeblich
fixen anthropologischen Struktur des
Menschen begründet ist. Werte sind als
materiale seiend und das Sein ist immer schon
durch die Werte geprägt. Die Ethik besteht
dann lediglich darin, sich dieser Werte bewusst
zu machen, sich den Sitten seines Volkes
anzupassen und – wie das Kapitel über
Gerechtigkeit und Krieg gezeigt hat -, wenn es
sein muss, für die Werte der Nation zu
sterben. War in der Kantischen Idee der
Pflicht als innere Nötigung noch eine
Spannung zwischen der Autonomie der
Person und ihrer sozialen Wirklichkeit
impliziert, so bügelt Scheler diese Spannung
weg und reduziert Autonomie auf die Einsicht
ins Bestehende, das apriori als gut gesetzt
wird. Die richtige Einsicht, dass man Liebe
nicht gebieten kann, wird bei Scheler zur
Behauptung, dass die Liebe zu seinen Werten
allgemeine Strebenstendenz sei. „Autonomie
des sittlichen Erkennens und Autonomie des
sittlichen Wollens und Handelns sind daher
grundverschiedene Dinge. So ist der Akt des
Gehorsams ein autonomer Willensakt (im
Umterschiede vom Unterliegen einer
Suggestion, Ansteckung oder
Nachahmungstendenz), der aber gleichzeitig
Abgesehen von seiner modernen (falschen)
phänomenologischen Begründung seiner
materialen Werte fällt Scheler in der
Konsequenz seiner Ethik nicht nur hinter den
Stand des ethischen Denkens von Kant
zurück, sondern auch hinter Hegel, dem er nur
scheinbar näher steht, denn bei Hegel war die
Sittlichkeit nicht einfach im preußischen Staat
seiner Zeit verwirklicht, sondern bestenfalls in
seiner Potenz, in seiner Entwicklungsrichtung
(vgl. Pelzer: Hegel, S. 27). Da sich nun
faktische Verstöße gegen die behaupteten
herrschenden (illusorischen) Werte nicht
verschweigen lassen, werden sie als
Ausnahmen abgetan. „Das Medikament des
Gebotes und Verbotes zu unserer normalen
sittlichen Nahrung zu machen – ist
Widersinn.“ (Ethik, S. 218)
Sollensforderungen gehen nur an die
verbohrten Uneinsichtigen oder Unbedarften.
Imperative des Sollens und Normen des
Handelns sind historisch variabel, während die
Werte überhistorisch sind und absolut gelten.
Als historisch variable können Imperative bei
„Anerkennung derselben Werte“ (S. 219)
sogar „entgegengesetzt“ sein, je nach der
„ursprünglichen Wertrichtung des Strebens“.
So müsse man beim „krankhaften Opfermut“
den Imperativ der Eigenliebe, beim krassen
Egoismus den Imperativ der Fremdliebe
betonen. Diese Variabilität der Imperative (des
Sollens) ändere aber nichts an der allgemeinen
Sittlichkeit des Bestehenden, der „Liebe zur
Welt“, im Gegensatz zu einer Pflichtethik wie
der von Kant, die „Mißtrauen“ und
„Feindseligkeit“ „in alles 'Gegebne'
53
unterstelle“ (Ethik, S. 63) und die „Haltung
des prinzipiellen Mißtrauens von Mensch zu
Mensch einnehme“ (a.a.O., S. 63/Anm. 2).
einigen in die Augen treibt. Was es mit dieser
Verklärung auf sich hat, ist nun zu zeigen.
Einschätzung der Schelerschen Ethik in
Bezug auf das Sollen
2.10. Der Geist bei Scheler
Der obige Widerspruch zwischen seinem
Kriegsethos und den wahren moralischen
Tatsachen des Krieges ist kein zufälliger
Einzelaspekt in Schelers Konstruktion, keine
zufällige Fehleinschätzung, sondern seiner
ethischen Konstruktion als schlechter
Idealismus immanent. Seine Kriegsapologie ist
nicht nur aus der Situation Deutschlands nach
1914 zu erklären, sondern konsequenter
Ausfluss seiner materialen Wertethik. Da seine
Werte nicht mit der Wirklichkeit vermittelt
sind, sondern ähnlich wie im Neukantianismus
die Wirklichkeit nach den Werten gedeutet
wird, kann er das „Sollen“ herunterspielen im
Medium seiner wirklichkeitslosen Ethik.
Scheler konstruiert die Welt, wie sie sein soll,
indem er das Sollen als nebensächlich für seine
Ethik abtut.
Die traditionelle Bestimmung des Geistes
Was ist rational betrachtet Geist?
Menschliches Bewusstsein, das sich als
allgemeines bestimmt, wird zum Geist. Das
Ich transzendiert sich und wird zum „Wir“
(Hegel: Phänomenologie, S. 145). Denkt ein
singuläres Bewusstsein z.B. 5+7=12, dann
akzeptiert auch ein anderes Ich diese
Rechenoperation, letztlich alle rational
denkenden Menschen – es sei denn, es sind
Dostojewskische Spinner. Bei Kant gründet
der menschliche Geist auf dem
transzendentalen Bewusstsein, als
transzendentales ist es aber immer nur real in
einem empirischen Bewusstsein, dessen
objektives Wesen es ist oder doch sein sollte.
Das wahre menschliche Bewusstsein ist dann
der Schnittpunkt von empirischem und
transzendentalem Bewusstsein oder wie Hegel
es nennt, der individuelle Geist. Als Geist
enthält das Bewusstsein ein autonomes oder
absolutes (unbedingtes) Moment, insofern es
die Welt auf sich hin interpretiert, Ziele und
Zwecke setzt, die nicht in der Natur
vorkommen – auch nicht in seiner eigenen,
wie z.B. moralische Zwecke. Hätte es nicht
dieses absolute Moment, sondern wäre es
durch einen Gott, die Materie, die natürliche
und gesellschaftliche Umwelt oder durch das
Gehirn vollständig bestimmt, dann wäre es an
die Naturzwänge gebunden, hätte noch nicht
einmal die Freiheit, diese Zwänge zu erkennen,
um in sie einzugreifen und sie antizipierend zu
überschreiten, etwa wenn es sich z.B. Zwecke
setzt, die noch nicht realisiert sind.
Die Abwertung des Sollens folgt aber nicht
nur aus der Idealisierung der sozialen
Wirklichkeit, sondern ist zugleich Produkt
seiner abstrakten Vernunftethik, die sich als
ontologische ausgibt. Die „materiale
Wertethik“ wird scheinbar zur bloßen
Deskription der Realität, während sie
tatsächlich als Wunschethik das bürgerliche
Bedürfnis nach geistiger Sicherheit und die
Sehnsucht nach einem rückwärtsgewandten
Zustand, den es doch nie gab, ausdrückt. Die
willkürlich konstruierten Werte führen bei
Scheler zu einer Verklärung der tatsächlichen
Verhältnisse. Diese Verklärung ist nicht nur
Blindheit gegenüber der wirklichen Welt,
sondern beschleunigt wegen des schlechten
Idealismus noch den Untergang der
bürgerlichen Kultur im Geistigen, wie diese
Kultur infolge des I. Weltkrieges real ihrem
Ende zugeht.
Dennoch ist der Geist auf das Andere des
Geistes als seine Voraussetzung bezogen. Er
hat das Allgemeine der Welt zum Gegenstand,
ohne die er ein Geist von Nichts wäre, also
kein Geist; er ist auf die Biologie des Gehirns
als seine naturale Basis angewiesen und bedarf
der menschlichen Sinne, um einen Zugang zu
dem zu haben, was er nicht ist: der äußeren
materiellen Welt. Wäre der Geist nur das
Bewusstsein objektiver Resultate des Denkens,
Das kann nicht ohne Auswirkungen auf den
Begriff des Geistes selbst sein. Jeder „Werte
und Normen“-Lehrer weiß, dass Scheler den
Menschen als Geistwesen bestimmt hat; dieser
Begriff gehört deshalb zur
Standardbestimmung des Unterrichts in den
Schulen, der die Tränen der Entzückung bei
54
dann wäre er rein kontemplativ. Und selbst als
kontemplativer kann er nur Gegenstände
denken, indem er sie in sich erzeugt oder
nacherzeugt, z.B. einen Würfel in allen seinen
Dimensionen, die niemals alle zugleich
sichtbar sind oder gesehen werden können.
Der Geist muss also als aktiver bestimmt
werden und als aktiver ist er nur bestimmbar
als mit einer vitalen Basis, dem Gehirn,
verbunden gedachter.
Geist ist charakteristisch verändert gegenüber
dieser Tradition. Einmal weitet er den Geist
aus, wenn er auch das Fühlen als nicht
rationale Erkenntnisweise des Geistes ausgibt.
Er definiert den Menschen als Geistwesen und
überhöht dabei den Geist als das radikal
andere der Natur. Zum anderen engt er ihn
drastisch ein, wenn er ihm abspricht, seine
Begriffe zu setzen und ihn zum bloßen
Moderator des gefühlsmäßigen Dranges
macht. Der Geist verliert bei Scheler
gegenüber der Tradition die Einsicht in die
konstitutive Leistung der menschlichen
Subjektivität bei jeder Erkenntnis, die er im
frühen Nominalismus gewonnen hatte, und er
wird zugleich irrational und in seinen
Fähigkeiten restringiert.
Als produktiver Geist ist er aktiv-produktiv,
als rezipierender Geist ist er passivaufnehmend, oder wie die metaphysische
Tradition sagte, er ist intellectus agens und
intellectus possibilis (vgl. Mensching: Allgemeine,
S. 225). Der menschliche Geist konstruiert
sich seine Welt immer auf sich zu, setzt sich
Zwecke und dringt über den Willen auf deren
Verwirklichung. Die Umgestaltung der
Erdoberfläche in den letzten 300 Jahren legt
genügend Zeugnis davon ab. Er kann aber
nicht nur aktiv-produzierend sein, dann wäre
er eine reine Aktualität und könnte keine
neuen sinnlichen Eindrücke in sich
aufnehmen. Da er aber auch Neues sich
aneignet, Wahrnehmungen aufnimmt, um
neue Begriffe zu bilden, muss er auch als
passiv-aufnehmend, als Potenz, als ein
Mögliches und Bestimmbares gedacht werden.
Der intellectus possibilis ist nach Thomas von
Aquin das Gedächtnis (vgl. Mensching,
Allgemeine, S. 225).
Dieses Charakteristische wird erst vor dem
oben angedeuteten traditionellen Hintergrund
deutlich. „Geist“ ist nach Scheler „alles, was
das Wesen von Akt, Intentionalität und
Sinnerfülltheit hat – wo immer es sich finden
mag“ (Scheler: Ethik, S. 404). Dabei sind
„Akte“ nichts Psychisches, sondern allein
geistig. Sie sind auch kein Physisches, sondern
„Akte entspringen aus der Person in die Zeit
hinein“ (a.a.O., S. 403), sie sind vom Ich, das
allein psychisch gedacht wird und dessen
Funktionen in der Zeit sind, streng zu
unterscheiden. „Funktionen sind Tatsachen in
der phänomenalen Zeitsphäre und indirekt
durch Zuordnung ihrer phänomenalen
Zeitverhältnisse auf die meßbaren Zeitdauern
der in ihnen gegebenen Erscheinungen selbst
meßbar. Zu den Funktionen gehören z.B. das
Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, alle Arten
des Aufmerkens, Bemerkens, Beachtens (nicht
nur die sog. sinnliche Aufmerksamkeit), des
vitalen Fühlens usw., nicht aber echte Akte, in
denen etwas 'gemeint' wird.“ (Scheler: Ethik,
S. 403)
Keines dieser Momente des Geistes darf
verabsolutiert oder hypostasiert werden, wenn
man einen rationalen Begriff vom Geist haben
will. Weder ist er nur ein Absolutes noch bloß
eine Gehirnfunktion, weder ist er nur Aktivität
noch alleinige Passivität, weder ist er
vollkommen frei noch vollkommen
determiniert, weder ist er bloß kontemplativ
noch allein als Produzierendes zu bestimmen.
Welche dieser dialektisch vermittelten
Gegensätze überwiegt, ist jeweils an der
konkreten Gestalt des Geistes in der
Geschichte zu studieren.
Den Zusammenhang von Akt des Geistes und
den Funktionen des Ichs erklärt Scheler so:
Funktionen können Gegenstände von Akten
sein, „wie z.B., wenn ich mir mein Sehen
selbst zu anschaulicher Gegebenheit zu
bringen suche“ (a.a.O.), das heißt ontologisch
fundiere. „Sie können aber auch das sein,
'wohindurch' ein Akt sich auf ein
Gegenständliches richtet. (...) So z.B. wenn ich
einmal einen Gegenstand sehend, das andere
Mal hörend, 'denselben' Urteilsakt vollziehe
(d.h. einen Urteilsakt identischen Sinnes und
Der Geist bei Scheler
Indem Scheler den Menschen als
„Geistwesen“ bezeichnet, scheint er in der
Tradition des gerade angedeuteten Begriffs des
Geistes zu stehen. Doch seine Vorstellung von
55
über denselben Sachverhalt)“ (a.a.O., S. 403).
Das „Zentrum“ der geistigen Akte nennt
Scheler „Person“. „D.h. zum Wesen der
Person gehört, daß sie nur existiert und lebt im
Vollzug 'intentionaler' Akte.“ (Wertethik, S.
405). Aus dem Gesagten folgt notwendig die
strickte Unterscheidung von Ich-Funktionen
und geistigen Akten.
Wert zur Anschauung gebracht haben. „Nicht
also an die Sätze (oder gar an die Urteilsakte,
die ihnen entsprechen) ist das Apriori
gebunden, etwa als Form dieser Sätze und
Akte (...); sondern es gehört durchaus zum
'Gegebenen', zur Tatsachensphäre, und ein
Satz ist nur insofern apriori wahr (resp. falsch),
als er in solchen 'Tatsachen' sich erfüllt. (...)
Was als Wesenheit oder Zusammenhang
solcher erschaut ist, kann also durch
Beobachtung und Induktion niemals
aufgehoben, nie verbessert oder
vervollkommnet werden.“ (Scheler: Ethik, S.
44)
„Daß aller Geist dann auch wesensnotwendig
'persönlich' ist und die Idee eines
'unpersönlichen Geistes' 'widersinnig' ist, folgt
dann ohne weiteres aus dem früher Gesagtem.
Keineswegs aber gehört ein 'Ich' zum Wesen
des Geistes; und darum auch keine Scheidung
von Ich und Außenwelt. Vielmehr ist Person
die wesensnotwendige und einzige
Existenzform des Geistes, sofern es sich um
konkreten Geist handelt.“ (A.a.O., S. 404) Ich
und Person „sind mithin nicht aufeinander
zurückzuführen“ (a.a.O., S. 404, Anm. 2).
Aber auch der Schelersche Geist selbst ist
restringiert in seinen Funktionen im Verhältnis
zur erkannten Leistung des Geistes in der
Tradition. Der Geist kann eigentlich nur
passiv zusehen, wie der Drang in uns arbeitet,
aber selbst nur minimal den Drang steuern.
Das Gegebene wirkt in uns, kaum der Geist.
Scheler macht an der Leistung großer
Persönlichkeiten in der Geschichte deutlich,
was der Geist selbst leistet. „Alles
leidenschaftliche Wollen schon – erst recht
noch höheren Formen des Wollens – lassen
die gleichzeitigen oder zu erwartenden
sinnlichen Gefühlszustände vollends außer der
Gegebenheit. Diese Tatsachen machen es auch
verständlich, daß gerade bei den mächtigsten
Willenspersonen der Geschichte oder
besonders energischen Gruppen schon das
Bewußtsein des Ausgehens des Wollens von
ihrem 'Ich' – erst recht seiner Rückwirkung auf
das Ich – am wenigsten entwickelt war.
Entweder sie erlebten ihre Willenswirksamkeit
als 'Gnade' (z.B. die tatkräftigen englischen
Puritaner wie Cromwell und sein Kreis) oder
fühlten sich ganz als Werkzeuge Gottes (wie
Calvin als sein 'Rüstzeug'), oder die Stadien
ihres Lebens als 'Schicksal' (z.B. die
tatkräftigen Araber und Türken; Wallenstein,
Napoleon); oder sie fanden, daß sie nur
'Entwicklungstendenzen' gefördert oder
ausgelöst hatten (wie Bismarck).“ (Scheler:
Ethik, S. 57) Nun ist der Gedanke, dass in der
Geschichte Führende immer auch objektive
Tendenzen folgten, nicht falsch. Für Scheler
ist das aber ein Beleg für die Unwichtigkeit des
geistigen Wollens, er vergisst dabei, dass diese
Tendenzen nur durch die Individuen hindurch
wirken und deren entschiedenen Willen
voraussetzen, auch wenn sie darüber kein
entwickeltes Selbstbewusstsein haben.
Das Ich könne keine Einheit in das
wissenschaftliche Denken bringen, dies gehe
nur durch die ontologischen
„Wesenszusammenhänge“, wie sie in der
phänomenologischen Erfahrung gegeben
seien. Wenn der Geist aber nur „persönlich“
ist, dann entsteht zusätzlich das Problem, wie
seine Resultate verallgemeinerbar, auch für
andere objektiv einsehbar sind. Dies ist eine
Leerstelle bei Scheler, die er nur durch die
Autorität der wertvollen Persönlichkeit füllen
kann, als Gehorsam in den Besseren (Ethik, S.
78, Anm. 2).
Scheler versucht die „Kopernikanische
Wendung“ Kants, welche die konstitutive
Leistung des menschlichen Denkens bei der
Erkenntnis nachweist, zurückzudrehen zu
einer ontologischen Fundierung, die er nicht
rational begründen kann, wie die Kritik an der
phänomenologischen Methode gezeigt hat.
Damit negiert er die produktive Leistung des
menschlichen Geistes und restringiert das
Denken auf das irrationale Erfassen von
Gegebenheiten. Diese Restringierung ist eine
Negation dessen, was bei Kant Vernunft heißt,
sodass das menschliche Denken, soweit es
immer auch psychisch ist, auf den Verstand
beschränkt wird, der dann nur Hilfsfunktion
für den ontologisierten Schelerschen Geist hat.
Er hat nur in Sätzen und Urteilen das
auszusprechen, was wir uns im Fühlen als
56
eine größere Anstrengung des Willens zu
benötigen und ohne eine originäre Leistung
des Geistes zu erfordern.
In seiner Spätschrift „Die Stellung des
Menschen im Kosmos“ hat Scheler dann seine
Auffassung von der Begrenztheit des Geistes
auf den Begriff gebracht. „Der Geist ist, wie
wir bereits sagten, in letzter Linie ein Attribut
des Seienden selbst, das im Menschen
manifest wird in der Konzentrationseinheit der
sich zu sich 'sammelnden' Person. Aber als
solches ist der Geist in seiner 'reinen' Form
ursprünglich schlechthin ohne alle 'Macht',
'Kraft', 'Tätigkeit'. Um irgendeinen noch so
kleinen Grad von Kraft und Tätigkeit zu
gewinnen, muß jene Askese, jene
Triebverdrängung und gleichzeitige
Sublimierung hinzukommen.“ (Scheler: Kosmos,
S. 55) „(...) von Hause aus und ursprünglich hat der
Geist keine eigene Energie“ (a.a.O., S. 66). „Geist
und Wollen des Menschen kann (...) nie mehr
bedeuten als 'Leitung' und 'Lenkung'. Und das
bedeutet immer nur, daß der Geist als solcher
den Triebmächten Ideen vorhält, und das
Wollen den Triebimpulsen – die schon
vorhanden sein müssen – solche
Vorstellungen zuwendet oder entzieht, die die
Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren
können. (...) Ein direkter Kampf des reinen
Willens gegen die Triebmächte, d.h. ohne
solche Vorhaltungen von Ideen bzw.
Zuwendung oder Entziehung von
Vorstellungen, ist eine Unmöglichkeit.“
(Scheler: Kosmos, S. 69) Gegen die Freudsche
These, dass die Triebversagung zur
Sublimierung und zum Geist führe, wendet er
ein: „Eben der Geist ist es, der bereits die
Triebverdrängung einleitet, indem der idee- und
wertgeleitete geistige 'Wille' den ideewertwiderstreitenden Impulsen des
Trieblebens die zu einer Triebhandlung
notwendigen Vorstellungen versagt,
andererseits den lauernden Trieben idee- und
wertangemessene Vorstellungen gleichsam wie
Köder vor Augen stellt, um die Triebimpulse
so zu koordinieren, daß sie das geistgesetzte
Willenprojekt ausführen, in Wirklichkeit
überführen. Diesen Grundvorgang nennen wir
'Lenkung', die in einem 'Hemmen' (non fiat)
und 'Enthemmen' (non non fiat) von
Triebimpulsen durch den geistigen Willen
besteht, und 'Leitung' die Vorhaltung –
gleichsam – der Idee und des Wertes selbst,
die dann je erst durch die Triebbewegungen
sich verwirklichen.“ (Scheler: Kosmos, S. 62)
Da Schelers „Werte“ Teil der Gefühlswelt
sind, können sie nach diesem Schema
zwanglos zur Verwirklichung kommen, ohne
Die Reduzierung des Geistes auf bloße
Steuerungsfunktion des Dranges in uns wird
von Scheler nicht systematisch begründet, er
kann nur Beispiele zur Erläuterung anführen,
aber keine Gründe, die über seine (bereits
widerlegte) phänomenologische
Grundposition hinausgehen. Gegen solche
überredende Beispiele lassen sich immer auch
Gegenbeispiele anführen, etwa ein wohl
überlegter Selbstmord, bei dem der (geistige)
freie Wille gegen den Lebensdrang im
Individuum dieses und sich selbst als Teil des
Individuums beseitigt.
Auch immanent ist die These von der bloßen
Steuerungsfunktion des Dranges in uns durch
den Geist nicht haltbar. Der Geist und seine
Akte, der so radikal von dem psychischen Ich
getrennt wird, steht vor dem Problem, wieso
er überhaupt etwas tun, etwas bewegen kann.
Bereits das Vorhalten von Ideen, damit der
Drang in eine Richtung gelenkt werden kann,
setzt eine Eigenenergie des Geistes voraus, der
doch energielos sein soll. Da der Geist an die
Person gebunden ist und diese nur im Vollzug
ihrer Akte als deren Zentrum ist, müsste die
Person und mit ihr der Geist ständig
verschwinden und beim nächsten Akt ständig
wieder auferstehen. Das aber wäre kruder
Mystizismus, irrationale Behauptung, die sich
in die Aporien des Okkasionalismus
verstricken würde.
2.11. Schelers Theologie
Scheler löst dies Problem dogmatisch mit der
Behauptung, dass der menschliche Geist ein
Attribut Gottes wäre, dass ein substanzieller
Gott in uns wirke und dadurch den Geist
erhalte. Das einzige Argument, das er dafür
anführen könnte, wäre dies: diese Behauptung
folgt notwendig aus seiner Konstruktion des
Geistes. Solch ein Argument lässt sich immer
auch umdrehen: Da man Gott nicht beweisen
kann, ist dann eben die Konstruktion falsch!
Obwohl Scheler Descartes Dualismus von
Seele und Körper kritisiert, lobt er ihn in
Bezug auf seine Substanzialisierung des
Geistes. „Wertvoll an der Lehre Descartes ist
57
nur eines: die neue Autonomie und
Souveränität des Geistes“ (Scheler: Kosmos, S.
72). Zugleich kritisiert er aber auch Descartes,
indem er ihm vorwirft, dass bei ihm der Geist
„auf Ratio reduziert“ sei. (A.a.O.) Dieser
Vorwurf impliziert, wie gezeigt, die Abwertung
der Ratio, indem das geistige Fühlen als
gleichwertig hingestellt wird.
'Vernunft' 'erzeugt' sind. Was der das
Universum durchziehende Λογος sei, das wird
erst durch sie faßbar.“ (Ethik, S. 64)
Und wie im Menschen das „Geistwesen“ als
Attribut des Seienden gedacht und durch Gott
abgesichert werde, so seien auch die Werte
göttlich. „Alle möglichen Werte aber sind
'fundiert' auf den Wert eines unendlichen
persönlichen Geistes und der vor ihm
stehenden 'Welt der Werte'. Die Werte
erfassenden Akte sind selbst nur die absolut
objektiven Werte erfassend, sofern sie 'in' ihm
vollzogen werden, und die Werte nur absolute
Werte, sofern sie in diesem Reiche
erscheinen.“ (Scheler: Ethik, S. 94)
Eine Konsequenz aus dieser Konstruktion des
Geistes ist seine Vergöttlichung, die Scheler
dann in seinem Buch „Die Stellung des
Menschen im Kosmos“ (1928) noch einmal
überhöht, indem er den menschlichen Geist
zum Gott erklärt. Wenn der Geist als
substanziell bestimmt wird, aber radikal von
der Psyche getrennt wird, dann ist die
Erhaltung dieser Substanz „Geist“ auf einen
Gott angewiesen. Der Mensch kann nicht zu
seiner Bestimmung gelangen, "ohne sich als
Glied jener beiden Attribute des obersten
Seins und dieses Seins sich selbst einwohnen
zu wissen“ (Scheler: Kosmos, S. 92). Das ist
der Mensch natürlich nur, wenn er die
Schelersche Philosophie akzeptiert und drauf
hat und seine „absoluten Werte“ (Ethik, S. 95)
glaubt, denn sonst würde er ja falsch denken
und kein Gott sein.
Kritik der Schelerschen Theologie
Scheler geht richtig davon aus, das unser Weltund Selbstbewusstsein ein Absolutes impliziert
(vgl. Bensch: Perspektiven, S. 27 f.). Aus der
notwendigen Bestimmung des Absoluten für
das Selbstbewusstsein macht Scheler ein
Seiendes. Er hypostasiert das Absolute des
Geistes zum ens a se, zum Sein durch sich.
„Man erfasse die strenge Wesensnotwendigkeit
dieses Zusammenhangs, der zwischen dem Welt-,
dem Selbst- und dem formalen
Gottesbewußtsein des Menschen besteht –
wobei ‚Gott’ hier nur als ein mit dem Prädikat
‚heilig’ versehenes ‚Sein durch sich selbst’
erfaßt wird, das tausendfältige bunteste
Ausfüllungen annehmen kann. Die Sphäre aber
eines absoluten Seins überhaupt, gleichgültig,
ob sie dem Erleben oder Erkennen zugänglich
ist oder nicht, gehört ebenso konstitutiv zum
Wesen des Menschen wie sein
Selbstbewußtsein und sein Weltbewußtsein.“
(Scheler: Kosmos, S. 88) Das Absolute ist aber
nur als Bewusstsein existent, wie z.B. die
transzendentale Einheit der Apperzeption, die
die distributive Einheit des Erfahrungsganzen
zusammenfügt. Von dieser auf die Einheit der
Welt als positive Erkenntnis oder als
ontologische Erkenntnis zu schließen, also die
reale Einheit der Welt als „kollektive Einheit
des Erfahrungsganzen“ zu behaupten, ist nach
Kant eine Hypostase des Denkens. (Vgl. Kant:
Kr.d.r.V., B 610 f. u. B 708) Lediglich als
regulative Idee ist dieser Gedanke rational.
Scheler macht aus dem Absoluten des
Bewusstseins nun ein „absolutes Sein“, sogar
seine „Gottheit“, ohne triftige Argumente
Dieser grandiosen Überhöhung des
menschlichen Geistes zum Göttlichen, zu
Gott in uns, korrespondiert eigenartig seine
durchgängige Abwertung des Geistes. Die
menschliche Ratio und die real existierende
Wissenschaft werden auf bloße
Hilfsfunktionen des Geistes restringiert. Ihre
Resultate hätten keine eigenständige
Bedeutung, sondern seien ein bloßes
„Meinen“, wenn sie nicht durch die
„Gegebenheiten“, die nur der
phänomenologischen Methode sich
verdankten, abgesichert würden. Auch
ethische Werte seien keine „Setzungen“ der
Vernunft oder des Verstandes, sondern seien
gegeben. „Wie die Wesenheiten, so sind auch
die Zusammenhänge zwischen ihnen 'gegeben'
und nicht durch den 'Verstand' hervorgebracht
oder 'erzeugt'. Sie werden erschaut und nicht
'gemacht'. Sie sind ursprüngliche
Sachzusammenhänge, nicht Gesetze der
Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der
Akte sind, die sie erfassen. 'Apriorisch' sind
sie, weil sie in den Wesenheiten – und nicht in
den Dingen und Gütern – gründen, nicht aber,
weil sie durch den 'Verstand' oder die
58
anführen zu können, wie überhaupt seine
Philosophie von nicht beweisbaren Aussagen
strotzt. Von der Denknotwendigkeit eines
Absoluten im Bewusstsein auf eine Gottheit
zu schließen, ist der Trick aller idealistischen
Philosophie, die das Bestehende rechtfertigen
und philosophisch absichern will. Bei Scheler
wird sein Gott der ontologische Grund seiner
Werte – ähnlich der Behauptung von Lotze
und Rickert, wenn auch anders begründet.
Phantasieüberschusses“ offenbart sich Scheler
dann eine eigene „Seinssphäre“, eine Idee von
einem obersten „Grund-Sein der Dinge“ (S.
90). Aus dem gleichen Grund könnte man an
den noch heute weit verbreiteten Aberglauben
vom Schicksalsschlag, den eine schwarze
Katze bewirkt, die einem über den Weg läuft,
auf eine Seinssphäre des Schicksals schließen,
das uns lenkt und eine Gottheit repräsentiert.
Auch wenn Scheler die christlichen
Vorstellungen von Gott ablehnt und sich auf
Hegels Pantheismus bezieht, den er noch
einmal versubjektiviert zur „Selbstvergottung“
des individuellen Menschen (vgl. S. 91), bleibt
die Hypostase eines Bewusstseinsbegriffs wie
des Absoluten ein
Kindergeburtstagsweihnachtsmärchen. Scheler
scheut sich auch nicht offensichtliche
Widersprüche einzugehen, wenn er über das
oberste Sein schreibt: „So wenig der Mensch
zu seiner Bestimmung gelangen kann, ohne
sich als Glied jener beiden Attribute des
obersten Seins und dieses Seins sich selbst
einwohnend zu wissen, so wenig das Ens a se
ohne Mitwirkung des Menschen.“ (Kosmos, S.
92) Wenn die Gottheit der Mitwirkung des
Menschen bedarf, so ist sie kein Ens a se (Sein
aus sich), sondern abhängiges Sein wie der
menschliche Geist von seinem körperlichen
Fundament, dem Gehirn, abhängt, auch wenn
er der Idee des Absoluten fähig ist.
„Im selben Augenblicke, da jenes ‚Nein, Nein’
zur konkreten Wirklichkeit der Umwelt eintrat,
in welchem sich das geistige aktuale Sein und
seine ideellen Gegenstände konstituierten;
genau in demselben Augenblicke, da das
weltoffene Verhalten und die nie ruhende
Sucht entstand, grenzenlos in die entdeckte
Weltsphäre vorzudringen und sich bei keiner
Gegebenheit zu beruhigen; genau im selben
Augenblicke, da der werdende Mensch die
Methoden alles ihm vorhergehenden tierischen
Lebens, der Umwelt angepaßt zu werden oder
ihr sich anzupassen, zerbrach und die
umgekehrte Richtung einschlug: die Anpassung
der entdeckten Welt an sich und sein organisch
stabil gewordenes Leben; in genau dem selben
Augenblicke, da sich der ‚Mensch’ aus der
‚Natur’ herausstellte und sie zum Gegenstand
seiner Herrschaft und des neuen Kunst- und
Zeichenprinzips machte, - in ebendemselben
Augenblicke mußte der Mensch auch sein
Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der
Welt verankern. Konnte er sich doch nicht
mehr als einfachen ‚Teil’ oder als einfaches
‚Glied’ der Welt erfassen, über die er sich so
kühn gestellt hatte!“ (Scheler: Kosmos, S. 89)
Da es für Scheler letztlich „nie theoretische
Gewißheiten“ (Kosmos, S. 93) in der
Gottesfrage gibt, ist das Absolute im
menschlichen Geist auch eventuell keine
Gottheit, d.h. man braucht diese
Begriffskrücke gar nicht, weil sich Gott und
Mensch in seiner pantheistischen
Konstruktion gar nicht unterscheiden. Einen
Unterschied benötigt Scheler aber dennoch,
um seine Wertlehre irrational abzusichern. Er
braucht die Gottheit in ihrer Differenz zum
menschlichen Geist, um seine „Werte“ auch
theologisch zu legitimieren (vgl. das Zitat oben
in diesem Abschnitt, Ethik, S. 94). Zwar hat
Scheler seine persönliche Theologie mehrmals
abgewandelt, nicht aber die Gottheit selbst
und ihre legitimierende Funktion aufgegeben.
Er fällt mit dieser theologischen Konstruktion
hinter seine Behauptung zurück: „Zur
Stützung des Menschen, zur bloßen
Ergänzung seiner Schwächen und Bedürfnisse,
die es immer wieder zu einem ‚Gegenstande’
Mit diesem quasi historischen „Gottesbeweis“
wird lediglich von der Absolutheit als Aspekt
des menschlichen Geistes auf einen Gott
geschlossen, der andererseits wieder die Werte
Schelers legitimieren soll. Was Scheler für
diese Hypostase des geistig Absoluten zum
ontologischen Absoluten anführen kann, ist
der „Drang nach Bergung“ (Kosmos, S. 90),
also wie bei Lotze bereits ein Bedürfnis, das
die Konstruktion bestimmt. Zwar sei dies
zunächst individuell, dann auf die Gruppe
bezogen worden „mit Hilfe des ungeheuren
Phantasieüberschusses“, den der Mensch hat.
Diese „Seinssphäre“ sei mit beliebigen
Gestalten bevölkert, „um sich in deren Macht
und Ritus hineinzubergen“ (S. 90). Und aus
diesen falschen Gestalten des „ungeheuren
59
machen wollen, ist das absolute Sein nicht da.“
(Kosmos, S. 93)
durch die phänomenologische Methode
bedürfen, schottet sich in Wahrheit diese
Geistmonade von der gründlichen
Durchdringung der wahren natürlichen und
gesellschaftlichen Allgemeinheiten ab, an
deren Abarbeitung doch erst seine Substanz
sich bilden könnte, und bleibt im Bereich der
Konstruktion von Welt, der dem bürgerlichen
Ideologiebedürfnis entspringt. Die irrationale
Konstruktion der Schelerschen Philosophie
erweist sich als sublimierter Ausdruck der
Widersprüche in der herrschaftlich verfassten
Gesellschaft. (Siehe 2.8.4.) Da Schelers
phänomenologische Methode als irrational
erkannt wurde, sind seine gegebenen Werte
tatsächlich willkürliche Setzungen, die sich als
gottgegebenes Seiendes tarnen. Schelers
Ontologie entpuppt sich wie die seines
Zeitgenossen Heidegger als kruder
Nominalismus, ohne ein Selbstbewusstsein
von seiner Willkür zu haben (vgl. Haag:
Ontologie, S. 83). Die Abwertung des
menschlichen Geistes, der angeblich nur das
Seiende zur „Gegebenheit“ bringen könne,
wird zum Politikum in Schelers Apologie des
imperialistischen Krieges, den er aus dem
Wesen des Menschen fließen lässt.
Gott offenbare sich "nur durch Mitvollzug,
nur durch den Akt des Einsatzes und der
tätigen Identifizierung" (a.a.O., S. 93). Da
viele, wie auch der Autor dieser Kritik, den
"Akt des persönlichen Einsatzes des
Menschen für die Gottheit" (ebda.) ablehnen
und mit diesem Akt die ganze Wertlehre, ist
der derart subjektivierte Gott gestorben, bevor
er sich hat durchsetzen können. Hat sich seine
materiale Wertethik auch in der Praxis
desavouiert, z.B. in seiner Apologie des
Massenmordes, dem I. Weltkrieg, dann stirbt
mit seiner Wertlehre auch sein Gott, der
lediglich dazu da ist, diese zu legitimieren. Die
Aporien eines mal transzendenten mal
immanenten Gottes, die mangelnde
Vereinbarkeit dieses Gottes mit den
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, haben
auch Theologen wie R. Bultmann dazu
bewogen, Gott in den Menschen zu verlegen
(vgl. Haag: Metaphysik, S. 64 ff.) - und Scheler
wie Bultmann folgen diesem Trend. Durch
diese Subjektivierung, die zugleich eine
Entmythologisierung sein soll, wird aber der
einst als objektiv und unabhängig vom
Menschen gedachte Gott, der menschlichen
Willkür preisgegeben: Er ist nur noch solange
eine Macht und ein Wirken, wie die Menschen
an ihn glauben. Da bei Scheler am Ende seines
Lebens die gesamte Axiologie auf den
subjektivierten Gott fundiert ist, hängt sie
letztlich allein von der suggestiven Wirkung
seiner philosophischen Rhetorik ab.
Auch das ideologische Bedürfnis nach
moderner theologischer Absicherung im
Bürgertum hat diese in der Theologie
immanente Tendenz befördert und
popularisiert bis hinein in katholische
Predigten in den Kirchen. W. F. Haug erklärt
diese Tendenz folgendermaßen: "Der
wissenschaftliche Sozialismus der modernen
Arbeiterbewegung und die Fortschritte in
Naturwissenschaften und Technik hatten im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die
philosophische Spekulation in eine tiefe Krise
gestürzt. Die alte Verjenseitigung griff nicht
mehr, war nicht mehr geeignet für den Status
einer herrschenden Ideologie, und zwar weder
in der direkt theologischen Form noch in der
Form verschämter Theologien, die ein
abstrakt-ideelles Jenseits postulierten. Im
'Diesseitigen' mußte die Philosophie
ansetzen." (Haug: Philosophen, S. 184) Dieses
ideologische Bedürfnis ist die soziologische
Bedingung für die Wandlung der Schelerschen
Gottesideologie von der Transzendenz zur
Immanenz.
Diese Konstruktion von Scheler, die alle
restaurativen Motive des frühneuzeitlichen
Rationalismus wiederholt (vgl. Mensching:
Totalität, S. 15-26), aber zugleich das rationale
Moment eliminiert, um es durch eine
emotionale Monade zu ersetzen, stellt eine
gefährliche Abwertung des menschlichen
Geistes dar, der hinter die erkannte Leistung
der menschlichen Subjektivität bei der
Konstitution der Erkenntnis zurückfällt und
das Denken wieder an ein scheinobjektives
Gegebenes bindet, wie es einst der
mittelalterliche ordo rerum darstellte. Durch die
radikale Trennung von Geist als göttlich
fundierter Monade, der die Werte fühlt und
gründet, und dem empirischen Ich, das sich
den Erfahrungen aussetzt, die aber beschränkt
sein sollen, also der geistigen Fundierung
60
3.
Humanität, zur Emanzipation der Menschheit
von heute überflüssiger Herrschaft des
Kapitals. Scheler nimmt eine transitorische
Haltung ein, allerdings nicht in Richtung einer
Emanzipation des Menschen von Herrschaft
überhaupt, sondern zu überwundenen Stufen
der Herrschaft: Scheler will die
Klassengesellschaft überwinden, nicht indem
durch Sozialisierung soziale Gleichheit
hergestellt, sondern eine (neue)
Ständegesellschaft eingeführt wird. Schelers
Haltung zum Fortschritt ist reaktionär.
Bereits in seiner Bestimmung der
"Gerechtigkeit" hatte er den Wertrang der
Personen zum Kriterium der Gerechtigkeit
gemacht. Konsequent folgt daraus, dass
höherrangige Personen auch einen höheren
Stand in der Gesellschaft bilden. Vorbild für
diese angestrebte Ständegesellschaft ist die
mittelalterliche Ständehierarchie.
Die materiale
Wertphilosophie als
Ideologie
Aus dem Irrationalismus der
phänomenologischen Methode folgt scheinbar
nicht zwangsläufig bürgerliche Ideologie.
Denn man könnte, weil die Methode irrational
ist, auch das Gegenteil, z. B. eine
kommunistische Weltanschauung ableiten.
Doch dem ist nicht so. Die willkürliche
Entscheidung zur irrationalen
Phänomenologie ist selbst bereits eine
Entscheidung zur bürgerlichen Ideologie,
nicht nur, weil diese Methode auch zur
Begründung von Ideologie erfunden wurde,
sondern vor allem deshalb, weil nur eine
Klasse, die überflüssige Herrschaft
verschleiern muss, will sie mit ihrem
ökonomischen System überstehen, auf
Irrationalismus angewiesen ist. Eine
verändernde soziale Bewegung braucht keinen
Irrationalismus, sie kann sich gründlich selbst
kritisieren, sie vertritt die objektiven Interessen
der großen Mehrheit der Bevölkerung, letztlich
auch die wahren Interessen der Mitglieder des
Bürgertums selbst. Jede Art Irrationalismus
einer solchen Bewegung würde diese nur
schaden – oder sie wäre Ausdruck einer neuen
Art Herrschaft wie im bürokratischen
Kollektivismus der Sowjetunion und der von
ihr beeinflussten Länder. Die Entscheidung
zum Irrationalismus impliziert – wenn auch
nicht theoretisch zwingend, so doch in der
praktischen Konsequenz – die Festlegung auf
einen ideologischen Standpunkt.
Am Kapitalismus kritisiert Scheler, dass "die
Idee der Solidarität und Gegenseitigkeit" "aller
Individuen und aller menschlichen
Untergruppen in Schuld und Verdienst,
Schicksal und Wert zerbrochen am Boden"
liege (Scheler: Bd. 4, S. 297). "Im
Wirtschaftsleben siegte im Laufe der letzten
zwei Jahrhunderte mehr und mehr der Geist
grenzenloser Pleonexie (Habsucht,
Unersättlichkeit, B.G.) und ungehemmter
freier Konkurrenz, sei es zwischen Individuen,
sei es zwischen Staaten; ein Geist, der jeden
mit jedem um so stärker zu neiderregenden
Vergleich zwingt, als steigende bürgerliche
Gleichheit vor Verfassung und Gesetz resp. der
Staaten vor dem nur formal verstandenen
modernen Völkerrecht zu diesem Vergleich
einladet; der alle 'Stände' in 'Klassen'
(Interessengruppen) verwandelte, alle Liebe
zum Werke und seiner Qualität auflöste und
alles nach dem Geldgewinn bemessen ließ."
(ebda.) Der dem Kapitalismus immanente
Klassenkampf und der Widerstand der
Lohnabhängigen gegen ihre Ausbeutung und
den imperialistischen Krieg kann Scheler auf
Grund seiner Gefühlstheorie nur als Neid und
Ressentiment begreifen. "In jedem der
europäischen Großstaaten samt Rußland aber
war ein freilich sehr verschieden starker
revolutionärer Geist und Wille der
Unterschichten tätig - überall geladen von Haß,
Neid, Ressentiment gegen Oberschichten, die man
herrschen und genießen sah, und die man
doch als herrschaftswürdig schon wegen ihres
3.1. Reaktionärer Fortschrittsbegriff,
konservative Kapitalismuskritik
und Legitimation der Ausbeutung
Wie jemand zum Fortschritt steht, ob er die
kapitalistische Herrschaftsform verteidigt, sie
überwinden will oder gar eine rückwärts
gewandte Entwicklung anstrebt, ist ein
Kriterium meiner Beurteilung der
Wertphilosophien, was ihre Wirkung in der
Gesellschaft betrifft. Nur eine transitorische
Haltung zum Kapitalismus kann einen
Fortschritt anstreben, der nicht nur technisch
ist, sondern einen Fortschritt zu mehr
61
historischen Ursprungs aus demselben Stand,
aus dem die revolutionären Unterschichten
sich abdifferenziert hatten, nicht anerkennen
konnte." (Ebda.) Verhaltensweisen wie
Konkurrenz, Gewinnstreben, die durch das
Wirtschaftssystem erzwungen werden, macht
Scheler zum Ausfluss des "kapitalistischen
Geistes", weil er an einer intellektuellen
Durchdringung dieses Wirtschaftssystem gar
nicht interessiert oder nicht in der Lage ist.
angefressenen, d.h. radikal-konservativen
Kulturelemente, daß sich der germanische und
gleichzeitig christlich-kirchliche
Korporationsgedanke, der Geist unseres
Gesinnungs-Militarismus und das formale
deutsche monarchische Staatsethos einerseits
und die innerlich neugeformte
Arbeiterbewegung, soweit sie nicht durch den
Geist des bürgerlichen Liberalismus angesteckt
und nur sein etwas radikalerer Schleppträger
geworden ist (gemeint ist der Marxismus,
B.G.), zu einer moralischen Macht
zusammenschlössen - um nicht nur in
unserem Staate, sondern in einem gewissen
Maße in ganz Europa das Zeitalter gründlich
zu bestatten, das man nicht mit Unrecht das
'bürgerlich-kapitalistische' genannt hat."
(Scheler: Bd. 4, S. 304) Die so bestimmte
Volksgemeinschaft, die später von den
deutschen Faschisten in abgewandelter Form,
aber grundsätzlich nach der Konzeption der
Korporation, wie auch Scheler sie sich
wünscht, eingeführt wurde, ist nach Scheler
auch der Grund für den Hass auf Deutschland
im I. Weltkrieg, weil die anderen Völker den
Deutschen um diesen
"Korporationsgedanken", der auch schon im
Kaiserreich wirkte, beneideten.
Scheler "korporatistisches Staatsideal"
Neben der sozialistischen Arbeiterbewegung
ist die bürgerliche Demokratie der
Hauptgegner seiner politischen Philosophie.
Er entwickelt dabei nationalistische und
antidemokratische Vorstellungen, die
unmittelbar aus seiner materialen Wertethik,
besonders seiner Rangordnung der Werte
folgen. Die Ranghöhe der Deutschen, die den
Hass der Feinde im I. Weltkrieg auf sich
gezogen hat, ist für Scheler eine ontologische
Größe: "Solange Deutsche Deutsche bleiben,
wird niemals der Geist des westlichen
Demokratismus und Parlamentarismus bei uns
herrschen und niemals werden seine Abarten
von Freiheitsidee die unseren sein können;
wird niemals auch der gemeinsame
Grundglaube dieser in ihren Freiheitsideen
sonst so verschiedenen Völker in uns
einkehren, daß die Wahrheit und das Gute vor
allem und in erster Linie durch die Form des
Dialoges möglichst vieler erreicht werde, d.h.
jener parlamentarischen Streitkunst, welche
englische und amerikanische Studenten schon
in den Colleges, ja die Kinder in der Schule
üben." Die Zurückgebliebenheit Deutschlands
in der Entwicklung, die "Verspätete Nation"
(Plessner) wird von Scheler hypostasiert zum
Wesen der Deutschen, wenn er unmittelbar
fortfährt: "Immer wird für uns der
evangelische Satz gelten: Die Wahrheit (und
das Gutsein) wird euch frei machen - nie der
umgekehrte: Die Freiheit wird euch zur
Wahrheit und zum Guten führen." (Scheler:
Bd. 4, S. 357 f., letzteres forderte dagegen
Kant in seiner Schrift: Was ist Aufklärung?)
Wie alle Schreibtischkrieger in der Zeit von
1914 bis 1918, die er ansonsten in ihrer
primitiven Ausführung bekämpft, macht
Scheler seine Gesellschaftskonzeption am
Siegfrieden der Mittelmächte fest, nämlich:
"daß sich das Älteste und das Jüngste, daß sich
die vom kapitalistischen Geiste noch nicht
Die politische Position, die sich in Schelers
praktischer Philosophie abzeichnet, ist die des
konservativen und reaktionären
Kleinbürgertums, das gegenüber der
kapitalistischen Dynamik Ängste entwickelt
und sich nach einem autoritären und
patriarchalischen Staat sehnt, der sich im
"organischen Staatsideal" ausdrückt
(Hobsbawm: Zeitalter, S. 149) Dieses
Staatsideal, das so oder ähnlich auch in
anderen europäischen Ländern propagiert
wurde, will die Prinzipien des traditionellen
Systems der Ständegesellschaft wieder
erstarken lassen, ohne eine völlig reaktionäre
Wiederherstellung mittelalterlicher
Verhältnisse anzustreben. Es reagiert auf die
Herausforderungen des liberalen
Individualismus ebenso wie auf die der
Arbeiterbewegung und des Sozialismus, indem
diese neuen Erscheinungen des Kapitalismus
anerkannt werden (bei Scheler das wagende
Unternehmertum und die begrenzten
"Standesinteressen" der Arbeiter), aber nur im
Rahmen eines autoritären Staates, der die
jeweiligen Gruppeninteressen
obrigkeitsstaatlich vermittelt. "Dahinter steht
62
die nostalgische Ideologie einer bestimmten
Vorstellung vom Mittelalter oder von einer
Feudalgesellschaft, in der die Existenz von
Klassen oder wirtschaftlichen
Interessengruppen zwar anerkannt wurde, die
schreckliche Vorstellung eines
Klassenkampfes jedoch durch den
bereitwilligen Konsens der gesellschaftlichen
Hierarchie gebannt war, weil akzeptiert wurde,
daß jeder gesellschaftlichen Gruppe oder
jedem 'Stand' in einer konstitutionellen und
allumfassend-dirigistischen Gesellschaft eine
spezifische Rolle zukommt und jede Gruppe
als kollektive Entität beachtet wird."
(Hobsbawm: Zeitalter, S. 149)
Wirtschaftssystem so um, dass sie mit seiner
Wertphilosophie zusammen passen bzw.
seine Werte werden zu
Organisationskriterien der ökonomischen
Tatsachen.
Kapital ist nach Scheler nicht "Mehrwert
heckender Wert" (Bd. 4, S. 617), der "durch
die Dauer der Arbeitszeit", durch den
"durchschnittlichen Arbeitsaufwand"
bestimmt würde, wie Marx sage, sondern
Kapital sei "ein Inbegriff von Wertungsweisen
und -formen", ein Gesinnungsethos und eine
damit verbundene "Triebstruktur des
Menschenleibes" und eine historische Denkund Anschauungsform eines bestimmten
Menschentyps, Kapital sei "an erster Stelle (...)
ein sozialethischer oder doch axiologischer
Begriff". "Kapital ist nicht ein soziales
Verhältnis, sondern Gegenstand des
kapitalistischen Geistes" (Bd. 4, S. 624). "jedes
Wirtschaftssystem ist ein 'kapitalistisches', in
dem der kapitalistische Geist die Führung und
Leitung alles Wirtschaftslebens, aller
Produktion, Distribution und Konsumtion
besitzt. (...) 'Kapitalistischer Geist' ist sozialethisch gutgeheißene und als gut und
vorbildlich geltende 'Vorherrschaft'
unbegrenzten Mehrerwerbsstrebens in der
Sphäre ökonomischer Wertträger über alle
anderen gleichzeitigen menschlichen Triebund Bedürfnisformen.
Selbstverwertungstendenz." (Bd. 4, S. 620)
Was bei Max Weber nur die Konsequenz
seiner Untersuchung über den "Geist des
Kapitalismus" war, nämlich dass dieser Geist
das Wirtschaftssystem erzeugt habe, für Weber
selbst nur eine Hypothese (vgl.
Wertphilosophie II, S. 42), wird bei Scheler
zur unumstößlichen Gewissheit.
Die Diktaturen von Salazar in Portugal, von
Pilsudski in Polen und Franco in Spanien
waren geschichtliche Emanationen dieses
"organischen Staatsideals". Auch Schelers
widersprüchliche Haltung zum Kapitalismus,
einerseits eingeschränkte Sozialisierungen
zuzugestehen und andererseits das
Privateigentum an Produktionsmitteln und die
freie Unternehmerinitiative zu verteidigen
(siehe nächstes Kapitel), ist typisch für diese
konservativ kleinbürgerliche und klerikale
Politik.
Über die Beziehung dieser konservativ bis
reaktionären Staatsdiktaturen und ihrer
Ideologien zum Faschismus schreibt
Hobsbawm: "Obwohl die Ursprünge und
Vorstellungen solcher reaktionären Regime
älter und manchmal auch völlig anderes
geartet waren als der Faschismus, gab es keine
klare Trennlinie zwischen ihnen, denn beide
hatten dieselben Feinde, wenn nicht sogar
dieselben Ziele." (A.a.O., S. 149) (Zu Schelers
Bezug zum Faschismus siehe auch weiter
unten.)
Durch diese Subjektivierung des Kapitals, das
in Wirklichkeit ein objektives gesellschaftliches
Verhältnis ist, kann Scheler und mit ihm alle
bürgerlichen "antikapitalistischen" Kritiker
den Kapitalismus kritisieren, ohne ihn antasten
zu müssen. Es genügt scheinbar eine bessere
Ansicht an den Tag zu legen, eine andere
Wertgesinnung zu haben, um den
Kapitalismus abgeschafft oder in seine
Schranken verwiesen zu haben. Es genügt eine
"Umwertung der Werte" (ein Buchtitel von
Scheler) und alle Probleme dieses
Wirtschaftssystems wären gelöst. Wenn man
die Gesinnung des kapitalistischen Geistes
Schelers Haltung zur sozialistischen
Arbeiterbewegung
Wenn Marx den Kapitalismus kritisiert und
auch Scheler dieses Wirtschaftssystem für die
Zersetzung der konservativen Werte
verantwortlich macht, dann scheinen sie sich
in dieser Kritik geistig zu berühren. Dem ist
jedoch nicht so. Scheler kann kein Interesse
haben, den Kapitalismus zu verstehen, denn
würde er ihn begreifen, müsste er seine
Wertphilosophie aufgeben. Stattdessen
konstruiert er die Erscheinungen dieses
63
ändert, dann wird alles gut, obwohl das
Kapital weiter die Lohnabhängigen ausbeutet.
"Nur Ursachen, die den kapitalistischen Geist
beseitigen, könnten den Kapitalismus
beseitigen. (...) Nur der christliche Sozialismus
der 'neuen Gesinnung', des 'neuen Geistes und
Herzens', ist also der wahrhafte und einzige,
geschworene Feind des Kapitalismus, der
hinter seinen tausend Masken und Rollen in
der Geschichte sein wahres Wesen, seinen
teuflischen, widergöttlichen Kern zu erkennen
weiß." (Scheler: Bd. 4, S. 635) Entsprechend
dieses steilen Idealismus muss er den
marxistischen Sozialismus abwerten und
verfälschen: "Der marxistische Sozialismus ist
dagegen in allen seinen Formen nur eine
Interessenideologie der Handarbeiter innerhalb des
Kapitalismus." (Ebda.) Es gehe ihm nur darum,
die "unbegrenzte Lohnsucht" der
Handarbeiter zu fördern (a.a.O., S. 635).
Gäben die Arbeiter diese "Lohnsucht"
tatsächlich auf, dann erhöhten sie automatisch
die Profitrate ihrer Ausbeuter, aber diesen
Mechanismus kennt Scheler nicht.
Ideal vom Verhältnis von Kirche und dem
Staat - nur um des Kampfes gegen den
Kapitalismus willen. Die christliche Seele lebt
im Ewigen, Dauernden, Stabilen (...)" (Scheler:
Bd. 4, S. 663) Entscheidend für eine
materialistische Position ist die für Scheler
"untergeordnete Frage": Was will Scheler
ökonomische verändern, wenn er den
Kapitalismus überwinden will (nicht
abschaffen, das geht schon wegen seiner
Drang-These nicht!)? Diese Frage zu
beantworten, greift Scheler in die Diskussion
um die Sozialisierung der Produktionsmittel
nach 1918 in Deutschland ein. Er ist für die
Sozialisierung aus ethischen Gründen und weil
in der "Anarchie des freien Marktes" das
„Bedarfsdeckungsprinzip“ nicht den Vorrang
hat. Allerdings sei Sozialisierung nur sinnvoll
"unter Wahrung der freien Initiative der
Unternehmer und unter rechtlicher Abfindung
und Schadloshaltung bezüglich alles dessen,
was sie an Eigentumsrechten und
Verfügungsgewalten verlieren" (a.a.O., S. 665).
Nimmt man die Gründe und die
Einschränkungen zusammen, dann ist dies
Gesellschaftsideal kein Sozialismus im
Gegensatz zum Kapitalismus, sondern ein
gelenkter Kapitalismus wie er im ersten totalen
Krieg zwischen 1916 und 1918 in Deutschland
bestand. Arbeiter und Unternehmer sollen
"dieselbe Zurückstellung des puren
Selbstinteresses zugunsten des solidarischen
Gesamtwohls" leisten, "da wir an sittliche
Mächte auch im ökonomischen Leben
glauben" (a.a.O., S. 665). (In der
ökonomischen Realität liefe die
Einschränkung des Konsum der Arbeiter und
der Unternehmer auf eine Erhöhung der
Investitionsquote des Kapitals hinaus, also
gerade jener Pleonexie, die Scheler am
Kapitalismus kritisiert.) Schaut man sich seine
Liste der Ausnahmen (a.a.O., S. 667) an, die
nicht sozialisiert werden dürfen, dann bleibt
eigentlich nur das anonyme Kapital der
Konzerne und Trust' übrig, und selbst diese
Enteignung müsse sich noch aus "technischen
Gründen" rechtfertigen. Wendet man Schelers
eigene Wissenssoziologie auf ihn selbst an,
dann ist dies der Standpunkt des Kleinbürgers,
der die Konkurrenz des Großkapitals fürchtet
und seine Kritik an deren Übermacht als
"christlichen Sozialismus" drapiert.
Bei Scheler läuft sein "christlicher Sozialismus"
in seinem neuen Ständestaat auf ein Erhöhung
der Ausbeutung der Lohnabhängigen hinaus,
aber derart, dass dieses implizierte Ziel nicht
mehr wie Kapitalismus aussieht, da der
ausgedrückte kapitalistische Geist seiner
verblasenen Ideologie gewichen wäre. Da
Scheler nur die Erscheinungsformen, genauer:
den Schein, des Kapitalismus zur Kenntnis
nimmt, nicht aber seine Gesetze wie etwa das
Wertgesetz, er ihn also nicht begreift, will er
mit seinem "christlichen Sozialismus" den
kapitalistischen Geist abschaffen, ohne den
Kapitalismus zu beseitigen. In der
Konsequenz läuft die Schelersche
Kapitalismuskritik auf die Sonntagsgesinnung
des Bourgeois hinaus, der Werktags sich mit
gutem Gewissen wieder den harten
Bedingungen des Geschäftslebens stellt.
Schelers Vorstellung von "Sozialisierung"
Dass es Scheler nicht ernst ist mit seinem
"christlichen Sozialismus" zeigt folgende
Äußerung: Bei der Überwindung des
Kapitalismus gelte das Prinzip: "Kein
erkanntes Sittengesetz und natürlich
Rechtsgesetz zu verletzen, keinen erkannten
positiven Kulturwert preiszugeben; erst recht
keinen religiösen Wert -, z.B. auch nicht unser
64
Der entscheidende Unterschied zwischen
Sozialismus und Kapitalismus ist die auch
ethisch bestimmte Frage nach der Ausbeutung
der Lohnabhängigen mit dem darin
inkarnierten Gewaltverhältnis versus
Gewaltfreiheit durch Selbstverfügung der
Produzenten über ihre Ökonomie. Dieser
Unterschied gibt Aufschluss über Schelers
Verhältnis zur Marxschen Mehrwerttheorie.
Nach der Arbeitswertlehre von Marx wird der
Neuwert aufgeteilt in Profit (bzw. Mehrwert)
und Lohn. Da es keine Regel für die
Aufteilung des Neuwerts gibt, entscheidet die
Gewalt, d.h. das Kräfteverhältnis im
Klassenkampf über die Aufteilung des
Neuwerts (vgl. Marx: Kapital, S. 247 ff.).
Scheler, der einmal die Arbeitswertlehre aus
katholischer Sicht anerkennt, zum anderen alle
Argument gegen die Mehrwerttheorie der
bürgerliche Ökonomie vorbringt, ohne auf
Marx Widerlegung dieser Argumente
einzugehen (vgl. a.a.O., S. 636 ff. und
Gaßmann: Ökonomie, S. 30 ff.), erkennt
letztlich an, dass der Lohnabhängige einen Teil
seines produzierten Wertquantums abgibt,
indem er diese Abgabe als "Opfer" deutet.
"Das Opfer ist eben ein Grundbegriff
menschlicher Besitzung. Nur in einer rein
individualistischen Welt (Robinsone) gäbe es
darum auch ein Recht auf den vollen
Arbeitsertrag. Der Begriff mitverantwortlicher
Kooperation an gemeinsamen Werken schließt
logisch dieses Recht aus." (A.a.O., S. 638)
Dass dieses "Opfer" nicht nur in Form von
Steuern z.B. für Schulen ausgegeben wird,
sondern in seinem wesentlichen Teil kostenlos
vom Eigentümer der Produktionsmittel
angeeignet wird, verschweigt Scheler
wohlweislich oder moralisiert diesen
Sachverhalt mit dem Begriff der
Verantwortung, den die anonymen Aneigner
gar nicht mehr haben. Stattdessen werden alle
Forderungen der Arbeiter nach mehr Lohn als
verwerfliche Ausbreitung des Strebens nach
Lust oder als "unbegrenzte Lohnsucht" oder
als Neid auf die Wohlhabenden diffamiert.
Scheler vertritt also eindeutig die Kapitalseite
gegenüber den Lohnabhängigen.
„Okkupation“ zurückgehe (Scheler:
Ressentiment, S. 84). Da er den Sachverhalt
von seiner willkürlich konstruierten
Wertphilosophie aus betrachtet, kann er in
einer Forderung nach Änderung der
Eigentumsordnung nur das Ressentiment am
Werke sehen, das sich als Neid äußert. „Wer
sähe es dieser 'Theorie' nicht an, daß sie
bereits durch den Neid der arbeitenden
Klassen auf die nicht durch Arbeit zu ihrem
Besitz gelangten Gruppen gebildet ist, und
eben darum das Eigentumsrecht dieser für
prinzipiell illusorisch oder nur für die Folge
eines Gewaltzustandes erklärt, den
abzuschütteln man ein 'Recht' habe?“ (Scheler:
Ressentiment, S. 84) Wie aktuell diese
Ideologie Schelers ist, zeigen die Reden von
Konservativen im Bundestag, die regelmäßig
Kritik an der Eigentumsdifferenz bzw. von
Forderungen nach deren Zurückdrängung als
Neid oder „Neidkampagne“ diffamieren. Man
kann das Werk Schelers heute lesen als eine
Phänomenologie von Vorurteilen und
Ideologemen zur Abwehr sozialistischer
Forderungen und zur Sicherung der
kapitalistischen Eigentumsverhältnisse.
Selbst dort, wo Scheler sich kritisch gegenüber
dem Kapitalismus gibt, läuft alles auf dessen
Apologie hinaus.
3.2.
Die "Zerstörung der Vernunft"
und Schelers Irrationalismus
In den beiden ersten Teilen meiner Kritik der
Wertphilosophie habe ich gezeigt, wie nach
Hegel der bürgerliche Geist zum
Irrationalismus tendiert. Lotze als der erste
Philosoph, der das weltanschauliche und
ideologische Bedürfnis zum Grund seiner
Philosophie gemacht hatte, erzeugte gerade in
dieser Hinsicht eine neue Tradition, die über
Scheler bei Theodor Lessing und der
Buddhismus-Welle der Zwanziger Jahre ihren
ersten Höhepunkt findet. Der Grundsatz
dieses Irrationalismus ist von Lessing so
formuliert worden: „Daß die ältesten Mystiker
und Väter immer und immer wieder das
Denken bezeichnen als die Pest, den Krebs,
die Hölle des menschlichen Geschlechts; daß
sie den Gott des Geistes gleichsetzen dem
Satan und die Vernunft eine Hure nennen,
man kann alle diesen Widersinn der
Entsprechend seines Gerechtigkeitsbegriffs,
wonach die höherrangige Person auch mehr
Rechte beanspruchen darf als die
niederrangige, rechtfertigt er das
Privateigentum ebenso wie das Erbrecht,
selbst wenn das Eigentum ursprünglich auf
65
christlichen Jahrhunderte nur dann aus der
Tiefe begreifen, wenn man groß ward im
Irrgarten der europäischen Philosophie, in
welchem (seit Descartes) das Seiende als ein
im Bewußtsein Gegebenes, das Erleben als
denkendes Erleben betrachtet wird und die
Worte: Leben, Anschauung, Erfahrung usw.
unaufhörlich zum Mittelpunkt völlig blutlosen
Philosophierens gemacht werden, ohne
Gefühl für die oberste Wahrheit, welche
Indien nie verloren ging: daß der sicherste
Totschläger des Lebens – der Begriff: Leben
ist, daß ein Wissen vom Leben nicht möglich
ist; ... maßen alles Wissen immer nur sein
kann: das nachträgliche Sinngeben.“ (Lessing:
Kultur, S. 36 f.)
weil die Zwänge der Kapitalökonomie ein
solches nicht benötigten, um zu funktionieren,
dazu genüge ein ökonomisches und fachliches
Funktionieren. Aber die kapitalistische
Ökonomie braucht schon lange eine politischökonomische Steuerung, die zumindest ein
Minimum von Totalitätsbewusstsein verlangt.
Das Klima des Irrationalismus, das die
bürgerliche Philosophie in fast allen ihrer
Schattierungen geschaffen hatte, war denn
auch eine geistige Voraussetzung des
deutschen Faschismus, der dieses Bürgertum
in seiner Existenz zu vernichten drohte.
Diese Kritik an Vernunft und diskursivem
Denken kann Theodor Lessing aber nur
darstellen in Form von diskursivem
Denken und vernünftiger Rede; Lessing
widerspricht sich mit seinem literarische
Werk selbst. Wäre er konsequent, dann
müsste er schweigen. Scheler, dessen materiale
Wertethik und Phänomenologie für Theodor
Lessing nur ein „Modewahn“ ist (a.a.O., S.
37), hat dagegen noch einen
wissenschaftlichen Anspruch, der bei ihm aber
in einen offenen Irrationalismus mündet.
Selbst die streng sich wissenschaftlich gebende
Philosophie des logischen Positivismus von
Mach, Carnap und Neurath fördert den
Irrationalismus, indem sie die Vernunft nicht
nur auf technische reduziert, sondern auch
ihren Gegenstand, wie er in der
philosophischen Tradition überliefert ist,
abstrakt zugunsten eines formalistischen
Scientismus negiert. Ähnliches gilt für den
Neukantianismus vor allem von Rickert,
dessen Wertbegründung und Fundierung
letztlich ebenfalls in irrationalen Setzungen
mündet.
Schelers Bezug zum Faschismus, dessen
Gegner er in einigen oberflächlichen Aspekten
ist, liegt tiefer begründet als in seinem
konservativen Staatsideal, das Anklänge an das
faschistische hat. Mit seiner materialen
Wertlehre auf phänomenologischer Basis hat
Scheler die "Zerstörung der Vernunft"
gefördert, den Irrationalismus unter dem
Schein von wissenschaftlicher Objektivität
weiter als normale geistige Haltung
bürgerlicher Philosophen populär gemacht
und mit seinen philosophischen Anregungen
wie der philosophischen Anthropologie als
Grundlagenwissenschaft die Ideologisierung
des gesellschaftlichen Bewusstseins gesteigert.
Der deutsche Faschismus konnte sich auf
diesen Irrationalismus stützen, und da keine
anerkannte praktische Rationalität den
Ideologemen Einhalt gebieten konnte, war es
gleichgültig, ob man wie Scheler einen
hierarchischen Gerechtigkeitsbegriff einsetzte
oder das Führerprinzip, ob man einen
diesseitigen Gott zur letzten Begründung
inaugurierte oder die Hitlersche Vorsehung,
ob man das Heilige als obersten Wert annahm
oder die Nation (Hitler) oder den Krieg als
Gottesdienst (Scheler und Goebbels)
propagierte.
Irrationalismus Schelers und der
Faschismus
Wenn die vorherrschende Philosophie einer
Klasse in ihren entscheidenden Partien die
Wirklichkeit, wie sie in ihrer Ökonomie vor ihr
liegt, verdrängt und stattdessen in
Irrationalismen abgleitet, dann verliert diese
Klasse und mit ihr die, welche geistig von ihr
partizipieren, ihr Realitäts- und
Selbstbewusstsein. Sie hat dann kein
Totalitätsbewusstsein mehr über ihre Welt und
muss zu Grunde gehen. Dagegen könnte man
einwenden, dass das Bürgertum kein
Selbstbewusstsein über sein Dasein brauche,
Motive der irrationalen Philosophie von
Scheler kehren im ideologischen Eklektizismus
des deutschen Faschismus wieder. Hitler
bedient sich in seiner Propaganda der von
Scheler und anderen Wertphilosophen
erzeugten Ideologeme. So ist ihm die "Welt
des Gefühls" von außerordentlicher Stabilität,
so dass Propaganda daran anknüpfen müsse.
(S. 20; diese und die folgenden Zitate aus
66
Hofer: Dokumente) Der Schelersche Ordo
amoris erscheint bei Hitler als Vorlage für die
Propagandastrategie: "Der Glaube ist schwerer
zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliegt
weniger dem Wechsel als Achtung, Haß ist
dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft
zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser
Erde lag zu allen Zeiten weniger in einer die
Masse beherrschenden wissenschaftlichen
Erkenntnis als in einem sie beseelenden
Fanatismus und manchmal in einer sie
vorwärtsjagenden Hysterie." (a.a.O., S. 20; aus:
"Mein Kampf") Und wenn es gegen den
Bolschewismus geht, greift Hitler auf die
Werte zurück: "Ich zittere für Europa bei dem
Gedanken, was aus unserem alten,
menschenüberfüllten Kontinent werden soll,
wenn durch das Hereinbrechen dieser
destruktiven und alle bisherigen Werte
umstürzenden asiatischen Weltauffassung das
Chaos der bolschewistischen Revolution
erfolgreich sein würde." (S. 231 f.; Hitler in
einer Rede 1936) Gegen diesen Umsturz aller
"bisherigen Werte" müsse man als höchsten
Wert die Nation setzen. Dies begründet Hitler
mit der - wenn auch verflachten Schelerschen Trieblehre: "Ich bin Deutscher.
Ich liebe mein Volk und hänge an ihm. Ich
weiß, daß es nur dann glücklich sein kann,
wenn ihm das Leben nach seinem Wesen und
seiner Art möglich ist." (A.a.O., S. 231) Selbst
die Situierung der Gottheit im Menschen
kommt bei Hitler vor, wenn er als Ziel der
Jugenderziehung anstrebt: "In meinen
Ordensburgen wird der schöne, sich selbst
gebietende Gottmensch als kultisches Bild
stehen (...)" (a.a.O., S. 88). Und zuletzt, aber
nicht am unwichtigsten: Scheler und der
Faschismus haben die gleichen Gegner: den
Liberalismus einschließlich der bürgerlichen
Demokratie und die sozialistische
Arbeiterbewegung.
unzufrieden. Er haßte es, sich von Hugenberg
vorführen zu lassen und sich in seiner
Abhängigkeit von den Großindustriellen zu
erkennen zu geben. Er mußte auf seinen
antikapitalistischen Appell bedacht sein, wenn
auch gänzlich auf dem kapitalistischen Boden,
aber so, daß immer beide Seiten des
Widerspruchs zugegen waren, damit dort, wo
alle rationale Überlegung abtrat, die Mystik
seines Führertums wirksam werden konnte.
Ich erinnere mich an eine
Redaktionskonferenz der Führerbriefe (ein
unabhängiges Organ der Bourgeoisie) zu
einem späteren Zeitpunkt, wo gerade dieses
Phänomen zu Sprache kam, weil Franz Reuter
schockiert von einer Unterredung mit Schacht
zurückkehrte, in der gerade dieser, an dem sein
ganzes Vertrauen hing, an die Grenze des
ratlosen Achselzuckens geraten, in den Ruf
ausgebrochen war: 'Der Führer wird’s schon
machen!' Das hatte Reuter um so tiefer
betroffen, als er dasselbe bereits bei SchwerinKrosigk, Hitlers Finanzminister, beobachtet
hatte.“ (Sohn Rethel: Faschismus, S. 71)
Diese „Ohnmacht des Geistes“ (Lukaćs,
Lenk), eines Geistes, der sich an der
Garderobe zur Macht aufgibt und nicht mehr
zur Analyse seiner Situation, noch nicht einmal
seiner (langfristigen) Interessen fähig ist,
wurde in der bürgerlichen Philosophie
systematisch vorbereitet. Die Wertphilosophie
von Lotze, über Rickert bis zu Scheler als ein
wesentlicher Teil der bürgerlichen Philosophie
lässt sich als Abstieg in den Irrationalismus
begreifen, in die „Zerstörung der Vernunft“
(Georg Lukaćs). Demnach war Hitler und
seine kriminelle Mannschaft kein
„Betriebsunfall“ der durch den verlorenen
Krieg, die Revolution und die
Weltwirtschaftskrise verunsicherten
herrschenden Klasse, sondern neben den
objektiven ökonomischen Ursachen, die es
ebenfalls in Frankreich oder den USA gab,
ohne dass er sich dort durchsetzte, auch die
notwendige Folge der Selbstaufgabe des
bürgerlichen Denkens in Deutschland. Wenn
die bürgerliche Ideologie, die ja als Ideologie
immer auch reales Bewusstsein enthält, zur
„Lebenslüge“ und zur irrationalen
Weltanschauung wird, dann gibt das
herrschende Bewusstsein seinen Geist auf und
wird zur Spinnerei oder zur bloßen
Propaganda, die von sich aus prinzipiell kein
Selbstbewusstsein haben kann, denn dieses
Kein Zweifel, Scheler war kein Faschist, doch
sein Beitrag an der Zerstörung der
gesellschaftlichen Vernunft, vor allem im
Bürgertum, hat zweifellos den Erfolg des
Faschismus gefördert. Wie sich diese
Zerstörung praktisch auswirkte, hat Alfred
Sohn Rethel registriert. Er berichtet aus dem
Jahre 1933 wie die Manager großer Betriebe,
bürgerliche Politiker und die Vermögenden die
Machtübernahme der deutschen Faschisten in
der Weltwirtschaftskrise geistig begleiteten.
„Hitler war mit seiner Rolle in Harzburg sehr
67
setzt ein Minimum an Realitätsbewusstsein
voraus. Schelers Philosophie stellt eine
Verunglimpfung des Geistes dar, der letztlich
auch den letzten Schritt zum offenen
Irrationalismus in seiner theologischen
Fundierung hinab schreitet. Die Abwertung
des Geistes in Form seiner Verherrlichung bei
Scheler benötigt zur völligen Exekution des
Geiste bei Theodor Lessing nur einen kleinen
Schritt. Diesen Abwärtstrend des Geistes zu
seiner Vernichtung teilen die
philosophierenden bürgerlichen Nazigegner
mit den Faschisten (siehe Lukaćs: Zerstörung),
deren Erscheinungsformen sie teilweise
äußerst scharfsichtig zu analysieren wissen –
jedenfalls was Theodor Lessing betrifft. Dass
Lessing von den deutschen Faschisten
ermordet und Schelers Werk unter deren
Herrschaft verpönt war, ist kein Argument für
ihren akademischen Irrationalismus. Die
Resultate ihrer Philosophie, das Wertegeraune,
hat der Führer und seine
Propagandamannschaft übernommen, weil es
schon damals populär war, indem er als
höchsten Wert die deutsche Nation ansah, der
er dennoch 1945 den Untergang wünschte.
Gegenwart zunächst nur im Bewusstsein.
Dieser Idealismus ist nur vernünftig
legitimierbar, wenn eine Analyse der sozialen
Bedingungen vorliegt, die sich mit den idealen
Aspekten der Moral in historischer
Perspektive vermitteln lässt. (Eine solche
Vermittlung des rationalen Gehalts der
Moralbestimmungen habe ich in meiner
„Ethik des Widerstandes“ versucht, vgl.
insbesondere S. 129-158.)
Bei Scheler dagegen ist seine materiale
Wertethik irrational, um nicht von Schwindel
zu reden, wie seine Wirklichkeitsauffassung
bereits die Geltung dieser Wertethik fälschlich
unterstellt. Scheler materialisiert seine idealen
Werte und idealisiert dadurch zugleich die
soziale Wirklichkeit. Was die kapitalistische
Gesellschaft realiter gewaltförmig erzeugt,
sekundiert Scheler durch geistige
Legitimierung. Was bleibt, ist die
Brutalisierung der Menschen mit ihren
enttäuschten Wertflausen durch den
Weltkrieg, die Erkenntnis der „Sinngebung des
Sinnlosen“ und der heilsame ästhetische
Zynismus von „Da Da“, dem Lallen, das
schließlich die Werte ersetzt. Die gesamte
Schelersche Philosophie reiht sich dadurch in
den Verfall des bürgerlichen Geistes ein, einen
Verfall, den sie beschleunigt.
Philosophie schlägt bei Scheler nicht erst in
der Konsequenz seines Denkens in Ideologie
um, sondern die ganze Konstruktion seiner
materialen Wertethik ist auf ihre
ideologische Funktion angelegt,
insbesondere durch die phänomenologische
Methode, die irrational und willkürlich ist. Er
unterscheidet sich von Lotze, der das
bürgerliche Bedürfnis nach geistiger
Absicherung und ideologischer Verklärung der
Wirklichkeit direkt zum Programm erhebt (vgl.
Wertphilosophie I, S. 47) dadurch, dass er
sich auf Objektivität und Fundierung der
Ethik im ontologisch Seienden beruft, ohne
dies allerdings anderen einsichtig machen zu
können. Durch Schelers Hypostase von
ethischen Bestimmungen, die der Tradition
entnommen wurden, wird seine Philosophie
zum schlechten Idealismus, der sich nicht nur
vor dem Stand des Denkens, etwa Kants
Kritik der Ontologie, blamiert, sondern als
„Modephilosophie“ (Theodor Lessing) die
Verfallszeit solcher Moden noch beschleunigt.
3.3. Schlussbemerkung
Mit der Kritik an der Erfindung der
Wertphilosophie (Lotze), an der subjektiven
(Windelband, Rickert) und der objektiven
Wertphilosophie (Scheler) ist diese
Aufsatzsammlung abgeschlossen. Insgesamt
stellt sich die moralische Axiologie dar als
bürgerlicher Versuch, den objektiven
Schwierigkeiten einer Vernunftmoral ins
irrationale auszuweichen. Wenn eine
vernünftig bestimmte Moral an den
unvernünftigen ökonomischen und
gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert, dann
kann das Denken entweder mit dieser Moral
die soziale Wirklichkeit kritisieren oder in
irrationale Konstruktionen ausweichen, um
den Widerspruch zwischen autonomer Moral
und antagonistischen Verhältnissen im Schein
aufzulösen. Letzteres macht die Wertlehre, sie
erweist sich dadurch als falsches Bewusstsein.
Ihre Begründung aus dem menschlichen
Eine autonome Moral, die nicht mit der
heteronomen Wirklichkeit übereinstimmen
kann, hat immer einen idealen Aspekt, sie ist
als bessere Möglichkeit der schlechten
68
Bewusstsein im Neukantianismus hat sich
ebenso als falsch erwiesen wie ihre Fundierung
in einer scheinbar objektiven ontologischen
Sphäre. Damit sind prinzipiell die Wege zur
Begründung der Werte ausgeschritten, wie
immer man die einzelnen falschen
Philosopheme noch differenzieren und
modifizieren mag.
In der Gegenwart gibt es keine ernst zu
nehmende Wertphilosophie mehr, die Abfolge
der „Modephilosophien“ und anderer
ideologischer Formen des philosophischen
Denkens ist über diese hinweggegangen.
Paradoxerweise wird der Wertbegriff in der
Politik und der bürgerlichen Publizistik
dennoch immer populärer. Das zeugt vom
geistigen Niveau des Führungspersonals der
herrschenden Klasse. Der Irrationalismus der
Wertphilosophie, als ein Teil der Zerstörung
der Vernunft, hatte schon einmal 1933 zum
Abtreten der Macht an Abenteurer geführt; bei
einer ähnlich schwerwiegenden Krise der
Ökonomie hat die herrschende Klasse auch
heute keine geistigen Mittel, dem zu
widerstehen.
In allen Varianten der Wertphilosophie wurde
nachgewiesen, dass sie auf den Schein, den die
kapitalistische Ökonomie erzeugt, hereinfällt,
weil sie die Werte abstrakt zum
Konstruktionsprinzip für diesen Schein macht,
nicht aber auf einer wahren Analyse der
Erscheinungen beruht, die zum Gesetz der
Erscheinungen vordringt. Das falsche
Bewusstsein wird dadurch zum notwendig
falschen Bewusstsein. Da die Denker der
Werte alle aus dem Bürgertum kommen, deren
Vorurteile tragen und das Bedürfnis dieser
Klasse nach geistiger Absicherung befriedigen,
dient dieses notwendig falsche Bewusstsein
zur Herrschaftssicherung – es erfüllt exakt den
Begriff der Ideologie. Hinzu kommt noch die
besondere Situation des geistigen Lebens in
Deutschland, das durch die ökonomische und
politische Zurückgebliebenheit bedingt ist: die
sozialen Ängste durch die unbeherrschbare
Dynamik der kapitalistischen
Produktionsweise äußern sich in reaktionärer
Sehnsucht nach überwundenen scheinbar
sicheren Zuständen. Die Wertphilosophie ist
deshalb konservativ (bei Lotze und Rickert)
und reaktionär (bei Scheler). Sie schafft
zusammen mit offen irrationalen Strömungen
in Deutschland ein Klima der Abwertung der
Vernunft, auf das sich der deutsche
Faschismus verlassen konnte.
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anderen philosophischen Strömungen
vorkommt, läuft letztlich auf den Skeptizismus
hinaus. So will die „Metaethik“ des
Positivismus gar nicht mehr irgendwelche
Werte einsichtig begründen, sondern nur
deren Anspruch reflektieren. Alles Gerede von
westlichen Werten, Grundwerten oder gar
deutscher Leitkultur, ist deshalb von
vornherein eine subjektive Setzung, die sich
bestenfalls durch Überredung oder
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Ethische Einsichten müssen in die Praxis
hineinwirken. Dem will diese Publikation
dienen. Das Buch will allen Journalisten, vor
allem aber den Berufsanfängern den
moralischen Aspekt ihrer Tätigkeit näher
bringen. Nach einer mehr grundsätzlichen
Einleitung folgen Erfahrungsberichte von
namhaften Journalisten. Der Hauptteil enthält
Fallbeispiele, denen jeweils eine Beschwerde
zu Grunde gelegen hat, und ihre moralische
Beurteilung durch den Deutschen Presserat.
Der Presserat ist eine moralische Instanz und
kann einen „redaktionellen Hinweis“, eine
„Missbilligung“ und als härteste Konsequenz
eine „öffentliche Rüge“ aussprechen (S. 19),
die eine Zeitung auch tunlichst abdrucken
sollte, will sie nicht ihre Reputation verlieren.
Juristische Konsequenzen hat die Beurteilung
von Verstößen durch den Presserat nicht, es
sei denn, ein Geschädigter verklagt die
Zeitung. Obwohl Journalisten sorgfältig mit
ihren Begriffen umgehen sollten, wird in dem
Buch durchgängig von „Ethik“ gesprochen,
obwohl es eigentlich um Moral geht und die
Verstöße gegen diese. Anscheinend klingt
„Ethik“ besser als „Moral“, wie schon
Fontane im 19. Jahrhundert bemerkte.
Lediglich die ersten Artikel enthalten Ansätze
zur Reflexion der Moral, also Ethik, ansonsten
wird der Pressekodex des Deutschen
Presserates als moralische Norm
vorausgesetzt, ohne diese Norm selbst noch
einmal ethisch zu reflektieren.
Scheler, Max (Kosmos) (2002): Die Stellung
des Menschen im Kosmos. Hrsg. v. Manfred
S. Frings, Bonn.
Scheler, Max (Umsturz) (1972): Vom Umsturz
der Werte. Abhandlungen und Aufsätze.
Gesammelte Werke Band 3, Bern und
München.
Scheler, Max (Bd. 8) (1960): Die
Wissensformen und die Gesellschaft.
Gesammelte Werke Band 8. 2. durchgesehene
Auflage, Bern und München.
Schnädelbach, Herbert (Philosophie) (1999):
Philosophie in Deutschland 1831 - 1933.
6.Aufl., Ffm.
Sohn-Rethel, Alfred (Faschismus) (1973):
Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen
Faschismus. Vorwort von Johannes Agnoli,
Bernhard Blanke, Niels Kadritzke, Ffm.
Stegmüller, Wolfgang (Hauptströmungen)
(1978): Hauptströmungen der
Gegenwartsphilosophie. Eine kritische
Einführung. Band I, Stuttgart, 6. Aufl.
Vetter, Helmuth (Wörterbuch) (2004):
Wörterbuch der phänomenologischen
Begriffe. Unter Mitwirkung von Klaus Ebner
und Ulrike Kadi herausgegeben von Helmuth
Vetter, Hamburg.
Der Hauptteil mit den Fallbeispielen ist so
gegliedert, dass er der Entstehung eines
Artikels folgt: Vor der Veröffentlichung –
Veröffentlichung – Nachbereitung. In dieser
Gliederung nimmt der Teil
„Veröffentlichung“ wieder den weitesten Platz
ein, er enthält Unterthemen wie
„Sorgfaltspflicht und Augenmaß“,
72
„wirtschaftliche Interessen“, „Achtung der
Persönlichkeit“, „Vor Gericht“, „Sensation
und Gewalt“ u.a. Im Anhang werden die
„Publizistischen Grundsätze (Pressekodex)“
im Zusammenhang abgedruckt, nachdem sie
bereits in Bezug auf die Fallbeispiele ausgiebig
zitiert wurden. Außerdem enthält der Anhang
“Verhaltensgrundsätze für Presse/Rundfunk
und Polizei“ sowie ein kommentiertes
Literaturverzeichnis, das allerdings außer
Susan Sonntag mit einem Essay über Bildethik
keinen namhaften Philosophen aufweist.
Abgeschlossen wird das Buch durch ein Sachund Personenregister.
Medienmarkt positiv ergänzt haben. (Letzteres
kommt kaum vor.)
Diese prinzipielle Einleitung von Protze ist in
vielerlei Hinsicht falsch. Der Markt hat nie
existiert, ohne staatliche Normierung, welche
die Konkurrenten zur Einhaltung dauerhafter
Marktbeziehungen zwangen bis hin zur
Durchsetzung von Menschenrechten – es sei
denn, der Markt uferte aus zum Raubzug
weniger gegenüber schwächeren
Konkurrenten. Rechtliche und moralische
Regeln wie der Zwang zur Einhaltung von
Verträgen, wie zur moralischen Anerkennung
der anderen Personen als freie und gleiche in
den Marktbeziehungen gelten auch schon für
die einfache Marktwirtschaft der Antike und
des Mittelalters. Das sind keine „Werte“ oder
gar „Grundwerte“, sondern ideelle
Existenzbedingungen einer dauerhaft
funktionierenden Marktwirtschaft. Wenn für
das Buch der „Pressekodex“ des Deutschen
Presserates „(…) die verbindliche ethische
Qualitäts-Zusage“ der ganzen Branche ist,
dann geht es in diesem Buch nicht um
ethische Prinzipien von Ideologen wie Protze,
sondern um „Anregungen für die Umsetzung“
des verbindlichen Verhaltenskanons, um
überhaupt den Medienmarkt in seiner
Funktion als „vierte Gewalt“ aufrecht erhalten
zu können.
Dieses Sachbuch über die Moral im
Redaktionsalltag beginnt mit einer Apologie
der freien Marktwirtschaft in der
Presselandschaft. Zunächst kritisiert Manfred
Protze das „Organisationsprinzip des
Marktes“: „Fragen der Gerechtigkeit und der
Humanität kann der Markt nicht
beantworten.“ (S. 14), er liefere keine
Maßstäbe „für die Schutzwürdigkeit“.
„Barmherzigkeit kennt er ebenso wenig wie
Nächstenliebe oder Solidarität.“ Da der Markt
„darwinistisch“ funktioniere, blieben
journalistische „Werte“ wie „Wahrhaftigkeit“,
„Achtung von Würde und Privatsphäre,
Schutz vor kollektiver und personaler
Diskriminierung“ oftmals auf der Strecke.
Doch diese scheinradikale Kritik entpuppt sich
schnell als konservatives Denkschema zur
Rechtfertigung der Marktwirtschaft im
Medienwesen und seiner
Eigentumsverhältnisse. Als Alternative zum
Markt in der Medienlandschaft kann sich
Protze nur ein „obrigkeitsstaatlich reguliertes
und bürokratisch exekutiertes Verfahren“ wie
in der ehemaligen DDR vorstellen, als
„Zuteilungsverfahren“, als ein „staatlich
organisierte(s) Verteilungsverfahren“, das
keine „Garantien für Grundwerte“
gewährleiste. Nach dieser konservierenden
Kritik des Marktes und ihrer gleichzeitigen
Zurücknahme, indem die heutige
Marktwirtschaft zur besten aller Welten erklärt
wird, kommt er zur Lösung der moralischen
(„ethischen“) Probleme des Journalismus:
„Wir sollten die Marktregeln durch soziale und
humane Regeln ergänzen“ (S. 14). Der
Hauptteil des Buches besteht dann darin, Fälle
aufzuzeigen, in denen die journalistische Moral
versagt hat oder die „ethischen Regeln“ den
Dass anscheinend solch eine moralische
Anleitung notwendig ist, zeigt dem Leser, wie
brüchig selbst die Marktstandards angesichts
großer Medienkonzerne geworden sind. Dass
es für die Autoren dieser „Ethik“ wie für
Protze keine Alternative zur Marktwirtschaft
(„Ein Kapitalist schlägt viele tot“ – Marx) gibt,
zeigt nicht nur die mangelnde soziale Fantasie
bürgerlicher Journalisten, sondern auch die
ideologisierende Wirkung des Marktes. Kaum
jemand wird in einer bürgerlichen Zeitung
Journalist, der sich offen gegen die
kapitalistische Marktwirtschaft ausspricht oder
dies gar in seinen Artikeln kundtut. Die
Eigentumsverhältnisse allein reichen aus, um
eine soziale Auslese ideologischer Art bei der
Einstellung von Journalisten durchzusetzen.
Die Ideen der Herrschenden, d. h. der
Kapitaleigner der Medien, sind die
herrschenden Ideen, weil sie allein die Mittel
zur massenhaften Verbreitung ihrer Ideen
haben, wie immer auch sie in diesem Rahmen
den Meinungsstreit pflegen. Von der „Zeit“
73
bis zur „Bildzeitung“ wird kein prinzipieller
Kritiker des Kapitals mit sozialistischer
Perspektive geduldet. Dieses ethische Problem
kommt aber in der „Ethik im
Redaktionsalltag“ nicht vor. Es ist aber zum
Verständnis der Fälle, die gegen den
„Pressekodex“ verstoßen, ein notwendiges
Analysekriterium. Marx hat deshalb schon im
19. Jahrhundert gefordert, dass die erste
Freiheit der Presse sein muss, kein Gewerbe
zu sein.
der Tatsache, dass es oft für Journalisten
schwierig ist, die Wahrheit herauszufinden, der
Begriff „Wahrheit“ in allgemeiner Skepsis
aufgelöst. Dann ist es leicht die
sprichwörtlichen Lügen der Bildzeitung im
Nachhinein zu rechtfertigen: „(…) bei aller
Vorsicht ist es immer wieder passiert, dass
dann doch die falsche Geschichte in der
Zeitung stand.“ (S. 54 f.) Wer das Buch von
Wallraff „Der Aufmacher“ gelesen hat oder
das Anti-Bild-Blog verfolgt
(http://www.bildblog.de/) weiß, dass es oft
nicht mangelnde Vorsicht, sondern bewusste
Lüge ist, um die „Sensationsgier“ (ebda.) zu
stillen und damit hohe Auflagen, also Profit zu
sichern.
Aber auch bei seriösen bürgerlichen Zeitungen
schlägt das Geschäftliche negativ auf den
„Informationsauftrag“ der Zeitungen durch.
W. Schneider, Nachrichtenchef der
„Süddeutschen Zeitung“, schreibt über
erfundene Aufmacher und das Hochpeitschen
von Kampagnen in den „60 Tagen“, in denen
die Zeitungen kein Topthema haben: „Die 60
ereignislosen Tage trieben eine Tendenz, eine
Versuchung auf die Spitze, die dem
Nachrichtenjournalismus immer innewohnt: die
Suche nach dem Ungewöhnlichen,
Regelwidrigen, Bedrohlichen, Dramatischen.
Wenn ein Hinterbänkler im Bundestag in die
Zeitung kommen will, dann muss er
bekanntlich entweder krassen Unsinn
vorschlagen (wie die Empfehlung, Mallorca
zum 17. Bundesland zu machen) oder die
eigene Partei beschimpfen; lobt er sie und
leistet er einfach nützliche Arbeit, so ist er für
Journalisten ein Niemand, ein Nichts.“ (S. 32)
Diese Einsicht stellt überhaupt die Frage nach
den Auswahlkriterien. Sind diese hauptsächlich
an der Verkäuflichkeit ausgerichtet, dann kann
die bürgerliche Presse noch nicht einmal ihren
„demokratischen Auftrag“ erfüllen, den
„mündigen Bürger“ zu informieren, und zwar
mit Nachrichten, nach denen man sich richten
kann. Schneider hat für die Missinformation
der Leser ein treffendes Beispiel angeführt:
„Welcher Schaden also wäre entstanden, wenn
BSE niemals zum Aufmacher oder zur ersten
Nachricht der Tagesschau geworden wäre?
Keiner! Es gab ja in Deutschland nicht einen
Toten und nicht einen Kranken durch den
Rinderwahn. Dagegen kommen auf
Deutschlands Straßen jeden Tag 17 Menschen
um, 120 jede Woche, mehr als 6000 im Jahr.
In dem Buch geht es also nicht um die Moral
der Journalisten überhaupt, sondern um die
Moral von bürgerlichen Journalisten in den
Medien, die als Geschäftsbetrieb geführt
werden und Gewinn abwerfen müssen, wenn
sie nicht eingehen wollen. Das muss nicht
heißen, dass die moralischen Prinzipien für
seriösen Journalismus per se falsch sind, wer
könnte etwas gegen die „Achtung der
Wahrheit“ haben (Ziffer 1 des Pressekodex).
Die Tatsache aber, dass Ziffer 1) bis 3) (und
noch einige Unteraspekte) von 16 sich mit der
„Wahrheit“ beschäftigen müssen, deutet
darauf hin, wie prekär diese Forderung in der
journalistischen Praxis ist. Denn ex negativo
entstand aus der Praxis dieses Regelwerk.
Selbst aus einigen Reflexionen kann man auch
in diesem Werk erkennen, wie prekär das
Wahrheitsproblem ist, etwa wenn ein
ehemaliger Chefredakteur der Bildzeitung
schreibt: „Hinter jeder Geschichte steckt nicht
nur eine Wahrheit. Und dahinter vielleicht
noch eine andere und hinter dieser wieder eine
andere: Oder die Wahrheit ist eine Mischung
aus vielen Wahrheiten.“ (S. 54) Hier wird aus
74
Wann hätte man darüber je einen Aufmacher
gelesen? 6000 Tote durchs Auto, was ist das
schon – verglichen mit null Toten durch den
jüngsten Umweltskandal!.“ (S. 33)
Kritik üben, „wo sich das Mobile des
gesellschaftlichen Lebens zu verhaken droht“
(S. 23). Das aber ist unter den bestehenden
Verhältnissen die Anpassung der Gesellschaft
an die Bedürfnisse des Kapitals, die
Anpassung an die permanente Produktion von
Produktivität, die ständige Kulturrevolution
ohne wirklich Neues zu erzeugen. Die zugleich
geforderte „Fairness“ erweist sich dann als
eine unter Manipulateuren, die gar nicht
wissen, dass sie manipulieren, weil ihnen das
theoretische Rüstzeug fehlt, ihre Verhältnisse
zu durchschauen, und der Wille, dies zu tun.
Solche Schieflagen entstehen automatisch, d.
h. ohne Schrifttumskammer oder
Interessenlobby, allein aus Verpflichtung auf
das Geschäft, dem bürgerliche Journalisten
dienen, und ihrer affirmativen
Grundeinstellung, sodass sie von sich aus
niemals die Autoindustrie und den
durchgesetzten Individualverkehr prinzipiell
kritisieren können. Folgenschwer war diese
Tendenz zur Affirmation des Bestehenden im
Jugoslawienkrieg zu sehen, als auf einem
Schlag alle größeren Zeitungen auf
Kriegspropaganda umgeschwenkt sind.
Bedenkt man dies, dann sind auch die
Fallbeispiele in diesem Buch durchaus mit
Erkenntnisgewinn zu lesen. Zwei Beispiele
mögen die dargestellten Fälle belegen. Ein
Nachrichtenmagazin veröffentlicht einen
Artikel über neue Medikamente gegen Aids. In
den Titelschlagzeilen wird vom „AidsWunder“, vom „Ende des Sterbens“, von
einem neuen Wirkstoff, der „80% der
Patienten retten“ könne, gesprochen. Eine
Leserin kritisiert diese Schlagzeilen, weil sie
„unberechtigte Hoffnungen“ machten, den
„Nicht-Infizierten falsche Sicherheit“
vorgaukelten, und beschwert sich beim
Presserat. „Diese Form von Journalismus, der
es unter dem Deckmantel der Seriosität nur
um Effekthascherei gehe, hält die
Beschwerdeführerin für unverantwortlich.“ (S.
91) Die Redaktion erwidert gegenüber dem
Presserat, dass die sorgfältige Berichterstattung
nicht Aufgabe eines Titelblattes sei, dort
könne man „die Dinge plakativ darstellen,
zuspitzen und ‚auf den Punkt bringen’,
während in den Artikeln der Stand der
Behandlungsmöglichkeit „richtig und
differenziert dargestellt“ sei..
Der Beschwerdeausschuss des Presserates
sah die Beschwerde als begründet an und
sprach der Zeitschrift eine Missbilligung aus.
„Nach Ansicht des Ausschusses kann die
Erwartungshaltung, die bei den Patienten
durch die Schlagzeile entsteht, durch die
Realität nicht untermauert werden. In diesem
Zusammenhang berücksichtigt der
Beschwerdeausschuss auch die suggestive
Wirkung, die von der TitelblattVeröffentlichung ausgeht. Dem dadurch
erzeugten Erwartungs- und Hoffnungsdruck
werden die tatsächlichen
Forschungserkenntnisse nicht gerecht.“ (S.
109)
Ein anderes Beispiel ist die neoliberale
Gleichschaltung der Medien, davon zeugt
inzwischen jeder Kommentar zu
Wirtschaftsthemen und jeder Artikel, der sich
mit der Lohnfrage im weitesten Sinne befasst.
Obwohl in Deutschland auf Grund seiner
ständigen Produktivitätssteigerung immer
mehr Reichtum in immer kürzeren Zeiten
produziert wird, beschneiden in einer
konzertierten Aktion das Kapital, die Politiker
aus SPD, CDU und FDP sowie die
Massenmedien den Lohnabhängigen seit 10
Jahren die Kaufkraft. Wo ist die bürgerliche
Zeitung, die diese Schieflage grundsätzlich
zum Thema macht? Sie kann es nicht, weil sie
sonst keine bürgerliche Zeitung mehr wäre.
Wer sich also über die sozialen Wahrheiten
informieren will, der darf nicht die gewerbliche
Presse lesen, sondern sollte sich etwa im
Internet bei Labournet, Indymedia oder
ähnlichen Seiten informieren.
Diese Schieflage der bürgerlichen Presse, der
eigentliche ethische und moralische Skandal,
kommt in der „Ethik im Redaktionsalltag“
nicht vor. Ihre Berichterstattung, soweit sie
seriös ist, d. h. nicht Fakten fälscht, bewegt
sich prinzipiell im affirmativen Raum
prokapitalistischer Information. Die
Darstellung und Auswahl von Fakten ohne
durchdachte Gesellschaftstheorie ist von
vornherein ideologisch, weil die Oberfläche
dieser Gesellschaft nur das Quidproquo der
wahren Verhältnisse spiegelt. Worum es bei
der „Freiheit des Journalismus“ wirklich geht,
sagt A. Baum: Die Zeitungsmacher sollen
75
Die Texte mit den Fallbeispielen sind so
angeordnet, dass erst der Fall dargestellt, mit
Zusatzinformationen versehen und mit
Anregungen und Fragen abgeschlossen wird,
um anschließend einige Seiten weiter das
Urteil des Beschwerdeausschusses
abzudrucken. Das mag einigen zu didaktisch
erscheinen, erzeugt aber eine gewisse
Spannung beim Lesen, die den
Unterhaltungswert des Buches fördert – was
nicht ironisch gemeint ist. Im Übrigen passt
dieser pädagogische Aufbau in die Buchreihe,
in der es erscheint, die der Förderung des
journalistischen Nachwuchses dienen soll.
kochen solche Leute wie der
Bundesinnenminister Schäuble oder sein
bayrischer Kollege Bechstein ihr Süppchen,
um immer neue Sicherheitsgesetze zu erlassen
oder, wie Schily, rechtswidrig selbst
Redaktionsräume durchsuchen zu lassen (vgl.
das Cicerourteil des BVG) – darüber steht
nichts in dem Buch.
Die „Ethik des Redaktionsalltags“ zeigt die
Notwendigkeit auf, den gewerblichen Medien
moralische Schranken zu setzen, sie
thematisiert aber kaum das grundsätzliche
Problem eines auf Gewinn angewiesenen
Medienwesens, sondern behandelt nur die
unmittelbaren Folgen und Auswüchse.
Ein anderer Fall steht unter dem Kapitel
„Sensation und Gewalt“. Da das
Analysevermögen vieler Journalisten nicht oft
betätigt werden kann, das Blatt täglich gefüllt
werden muss und „Kinderschänder und
Mörder“ nach „den Aufmerksamkeitsgesetzen
der Medien willkommene Quotentreiber“ sind
(S. 178), werden einzelne Kriminalfälle oder
Tötungsdelikte oft aufgeputscht und zur
Sensation stilisiert. So verstieß ein Mitarbeiter
einer Boulevardzeitung gegen den
Pressekodex, als er sich durch polizeiliche
Absperrmaßnahmen zu einem
Selbstmordopfer schlich, um ein Bild von der
verkohlten Leiche einer jungen Frau zu
schießen. Der Pressekodex fordert auf, über
Selbsttötungen mit „Zurückhaltung“ zu
berichten, und stellt fest:
Sensationsbedürfnisse können ein
Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht
begründen.“ (S. 183) Entsprechend wurde der
Zeitung eine „öffentliche Rüge“
ausgesprochen, die sie an gleicher Stelle wie
das beanstandete Foto abdrucken musste.
Die Kritik an der bürgerlichen Presse darf für
eine linke Gegenöffentlichkeit, will sie nicht
gettoisiert werden, auch kein Grund sein, sich
nicht auch der bürgerlichen Medien zu
bedienen oder mit bürgerlichen Journalisten
zusammenzuarbeiten. Und was wären wir
ohne die Informationen der bürgerlichen
Medien! An deren Seriosität muss auch die
Linke Interesse haben. Gegen staatliche
Eingriffe in die Pressefreiheit oder gegen die
Zerfallsformen der bürgerlichen Öffentlichkeit
wehren sich auch bürgerliche Journalisten. Sie
sind dabei zu unterstützen. Was die neueste
Tendenz im Geschäftsgebaren der
Medienkonzerne ist, hat jüngst Heribert Prantl
von der „Süddeutschen Zeitung“ dargestellt.
Unter der Überschrift: „Sind wir Journalisten
oder Trommelaffen? Früher war die
Pressefreiheit vom Staat bedroht. Heute
besorgen die Medien das selbst“, schildert er
die Zukunft des „Manchester-Journalismus“.
Der Verleger der Ruhr-Nachrichten hat eine
komplette Lokalredaktion vor die Tür gesetzt
und sie durch schlechter bezahlte und weniger
qualifizierte Leute ausgetauscht. Der Verleger
Lensing-Wolf drückt dies so aus:
„Outsourcing ist Teil einer Flexibilität, die wir
zur Modernisierung brauchen.“
(www.sueddeutsche.de vom 1.3.07) Prantl
kommentiert diese neoliberale
Modernisierung: „Der Manchester-Journalist
ist demnach ein Trommelaffe: Mit den
Händen patscht er die Tschinellen zusammen,
mit den Ellbogen schlägt er die Trommel auf
seinem Rücken, an die Füße kriegt er ein paar
Klappern und Rasseln. So kehrt der
Journalismus zurück zu seinen
Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch, dass
eine Presse, die auf Sensationen angewiesen
ist, systematisch in Versuchung gerät, den
Pressekodex ihrer Standesorganisation zu
missachten. Die gesellschaftlichen Folgen der
Sensationspresse werden zwar in dem Buch
teilweise genannt, aber ohne auf die
langzeitlichen Konsequenzen einzugehen.
„Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung
glauben laut einer TNS Infratest-Umfrage,
dass die Kriminalität in den vergangenen zehn
Jahren massiv angestiegen sei.“ (S. 178)
Tatsächlich sei die Kriminalität in weiten
Bereichen laut Statistik gesunken. Aber auf
diese „gefühlte Kriminalitätsentwicklung“
76
marktschreierischen Ursprüngen auf den
Marktplätzen des Mittelalters.“ (Ebda.)
Opfer hat es der Amokschützen gebracht.
Wenn so etwas Scheußliches passiert, dann
werden alle möglichen Erklärungen
abgegeben, die meist an den eigentlichen
Ursachen vorbeigehen. Da wird auf einen
Aggressionstrieb verwiesen, den niemand
nachweisen kann und der in dem Moment
nicht gelten soll, wenn staatlich erlaubte
Gewalt angewandt wird. Da wird ein Verbot
von Gewaltspielen gefordert, um die
Aktionsfähigkeit der Politik zu beweisen, als
ob solche Spiele Ursachen wären, wo doch
Millionen Spieler nicht morden, wo doch
tausend Entscheidungen zwischen solchen
Spielen und einem Gewaltakt liegen. Da
werden verschärfte Waffengesetze gefordert,
obwohl sich die Täter meist auf dem
Schwarzmarkt bedienen.
Dass diese oder ähnliche Konzeptionen im
derzeitigen „Medien-Management große
Sympathien“ genießen, macht er an anderen
Beispielen deutlich. Der Pressekodex
unterstellt als Aufgabe der Presse, dass sie das
Informationsbedürfnis der Bürger befriedige,
dagegen tendiert das „redaktionelle
Zeitungsbüro“ des „Journalist als
Trommelaffe“ zum Gegenteil. „Schon heute
sagt jeder dritte Journalist, dass die Zeit fehle,
‚um sich über ein Thema auf dem Laufenden
zu halten’. Dadurch ist – und das mitnichten
nur bei vielen kleinen lokalen Blättern – eine
zentrale journalistische Aufgabe gefährdet: das
Aufspüren von Entwicklungen, das Sammeln,
Bewerten und Ausbreiten von Fakten und
Meinungen.
Es besteht wie noch nie seit 1945 die akute
Gefahr, dass der deutsche Journalismus
verflacht und verdummt, weil der
Renditedruck steigt; weil an die Stelle von
sach- und fachkundigen Journalisten
Produktionsassistenten für Multimedia gesetzt
werden, wieselflinke Generalisten, die von
allem wenig und von nichts richtig etwas
verstehen. Aus dem Beruf, der heute Journalist
heißt, wird dann ein multifunktionaler
Verfüller von Zeitungs- und Webseiten.
Solche Verfüllungstechnik ist allerdings nicht
die demokratische Kulturleistung, zu deren
Schutz es das Grundrecht der Pressefreiheit
gibt.“ (Ebda.)
Der Autor ist laut Klappentext von 1971-2006
Professor an der Universität Bremen mit dem
Schwerpunkt Politische Ökonomie des
Ausbildungssektors gewesen. Bei VSA ist
ebenfalls eine Studie über den „PISA-Schock“
und über das Thema Nationalsozialismus im
Unterricht von dem Autor erschienen, auch
sein Hauptwerk ist dort veröffentlicht: „Die
Erziehung im Kapitalismus“.
Das Buch „Über die Unregierbarkeit des
Schulvolks“ von Freerk Huisken will über die
wahren Ursachen von Gewaltausbrüchen bei
Jugendlichen aufklären, obwohl die von der
herrschenden Klasse und ihres publizistischen
Mainstreams nicht gehört werden wollen,
denn sonst müssten sie „Einsicht in die
Irrationalismen“ ihres Überbaus gewinnen,
ihre herrschende Stellung aufgeben und ein
anderes sozialpolitisches System etablieren.
Die Schrift ist aus Vorträgen hervorgegangen,
die der Autor über „Rütli-Schulen“,
„Jugendgewalt“ und Ideologie, „Killerspiele“
und über „Erfurt, Emsdetten…- der nächste
Amoklauf kommt bestimmt“ gehalten hat.
Dabei darf der Leser nicht erwarten, eine
psychologische Individualanalyse etwa über
den Amokschützen Sebastian B. zu
bekommen. Huisken geht es um die
objektiven Gründe für solche Taten, auch
wenn der Rechtfertigungsbrief von Sebastian
B. im Anhang abgedruckt wird und einige
Aussagen in den Texten analysiert werden.
„Zufällig ist allenfalls die Verbindung dieser
bestimmten Gewalttaten mit den besonderen
Individuen, nicht aber die brutale Logik der
„der nächste Amoklauf kommt
bestimmt“
Freerk Huisken: Über die Unregierbarkeit
des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt,
Emsdetten usw., Hamburg 2007 (VSAVerlag).
Die Überschrift meiner Rezension (zugleich
eine Kapitelüberschrift bei Huisken) hat sich
auf makabere Weise bestätigt, während ich
diesen Text formuliere, hat in den
USA/Virginia gerade wieder ein Student
andere Studenten und Lehrer erschossen – die
Medien melden einen neuen Rekord: Auf 32
77
Amokläufe selbst. An diesen besonderen
Fällen etwas Allgemeines aufzuzeigen, nämlich
dass diese Jugendlichen die in dieser
Gesellschaft ziemlich systematisch
vermittelten Touren, sich mit
Konkurrenzniederlagen abzufinden, drauf
hatten, und dass diese zugleich einen
hübschen Sprengstoff enthalten, darum ging
es mir.“ (S. 143)
fortsetzt. (…) Die Schüler haben dann den
Rest der Schulpflicht in der Hauptschule
abzusitzen. Sie wissen, was ihnen blüht und
bereiten sich mit Resignation, Gleichgültigkeit
oder einem Arsenal von Selbstbetrügereien auf
ihre ‚Zukunft’ vor.“ (S. 19) Da diese Schüler
nicht über brauchbare, „sprich: kapitalistisch
nachgefragter Qualifikationen“ verfügen,
landen sie in der „wachsenden Masse der
Gesellschaftsverlierer“ (S. 19). Die Schule
produziere also Konkurrenzverlierer, und zwar
ist dieses Resultat gewollt.
Selbstverständlich ist die Zensurengebung, das
Sitzenbleiben usw. das Mittel dieser
Einstufung, Sortierung und Ausgrenzung in
der Schule. Die „Fehlersuchmaschine“ Schule
(H. Prantl) schafft es, dass besonders Kinder
armer Familien kaum Chancen haben, Abitur
zu machen. „Jedes Kind, egal welcher
Herkunft, soll beim groß angelegten
Leistungstest die gleichen Chancen haben, muss
also gleich behandelt werden. Bei der
gnadenlosen Durchsetzung dieses Prinzips, die
jede ungerechte Bevorzugung der Kinder aus
‚bildungsfernen Schichten’ vermeidet, kann es
nicht ausbleiben, dass all jene Kinder, die in
ihrem ‚bildungsnahen und
einkommensstärkeren’ Elternhaus moralisch
und theoretisch erfolgreich auf die Schule
eingeschworen werden, sich im
chancengleichen Test als die Schulsieger
herausstellen.“ (S. 21) Gesetzt den Fall, alle
Schüler würden derart gleich vorbereitet, dann
werde das Schulsystem dennoch Schulverlierer
produzieren, weil es gar nicht anderes kann
und soll. Werden dazu noch Immigranten
durch zusätzliche politische Sortierung und
mindere Rechtsstellung am Schulerfolg
gehemmt, dann ist das Resultat der Schule:
„Der chancengleich organisierte
Ausleseprozess reproduziert nicht nur die
Herkunftslage mit ihren ungleichen
Voraussetzungen, er verstärkt diese.“ (S. 22)
Die Frage an einen Hauptschüler, was er
werden möchte, beantwortete dieser mit: „Ich
will Hartz IV werden“ (S. 41).
Im ersten Teil „Rütli-Schulen“ beantwortet
Huisken die Frage, warum bis zu 50 % der
Schüler in Hauptschulen nicht beschulbar
sind, warum der Unterricht durch eine „totale
Ablehnung des Unterrichtsstoffes“ (S. 11)
geprägt ist. Dabei geht er von den
Erfahrungen des Kollegiums der Rütli-Schule
(Berlin-Neuköln) aus, deren Brandbrief im
Anhang abgedruckt wird. Seine Antwort ist,
dass diese Problematik „ein Produkt
kapitalistischer Sortierung und Ausgrenzung“
(S. 17) und des Rassismus gegenüber Kindern
aus Migrationsfamilien ist. „Diesem
Sortierungsauftrag kommen die Lehrer fleißig
nach. Er ist ihr Job. Die Paradoxie dieses
Auftrags, ausgerechnet die schlechten Schüler,
die mehr Unterweisung brauchen, von
besserer Unterweisung auszuschließen, kommt
ihnen nicht in den Sinn; eher schon all jener
erziehungswissenschaftliche Unfug, mit dem
begründet wird, dass es angesichts der
Begabung und/oder der sozialen
Lebensumstände für ‚ihr Kind das Beste ist’,
wenn es ‚seinen Weg’ auf der Hauptschule
Was Huisken ausführlich darstellt, kann in
dieser Rezension nur im Grundsätzlichen
angedeutet werden. Er kritisiert aber nicht nur
die kapitalistische Konkurrenzökonomie, die
ihre Ansprüche auf die Schule überträgt,
sondern auch das Verhalten der Schüler, die
zwar ihren Unmut über diese Art Schule
78
äußern, aber selbst den „Wertvorstellungen“
(S. 40) einer Gesellschaft anhängen, die sie
systematisch zur Armutskarriere verdammt.
Sie machen die Schule und ihre Umgebung zur
„Bühne ihrer Selbstdarstellung“, als ob sich
durch „jugendliche Coolness“ etwas an ihrer
Lage änderte. Damit ist auch bereits ein
Grund für Gewalt von Jugendlichen genannt.
Die Begriffe „Jugendgewalt“ und
„Jugendkriminalität“ lehnt Huisken aber ab,
weil damit „nichts als eine Verbeugung vor
außerwissenschaftlichen, nämlich vor
juristischen Kriterien“ stattfindet (S. 55), aber
die wahren Ursachen aus der Normalität der
bürgerlichen Gesellschaft verdrängt werden.
Die Gewalt ist keine jugendspezifische
Eigenschaft, sondern konstitutiv für die
Konkurrenzgesellschaft, wie Militär, Polizei,
Gerichte und psychiatrische Anstalten deutlich
machen.
nicht, besser: Es bräuchte sie nicht“ (!) (S. 66 f.)
Da die führenden Politiker dies nicht zugeben
können oder wollen, weichen sie auf
Pseudoerklärungen aus wie den oben
erwähnten „Aggressionstrieb“ oder auf die
scheinaufgeklärte Kritik an „Killerspielen“.
„Kritikabel an den Gewaltspielen ist also
gerade nicht eine innewohnende geheime
Qualität, die den Spieler zu wirklicher Gewalt
anstiftet. Kritikabel ist das in ihnen steckende
Angebot, sich vermittels der gespielten
Imagination blutrünstiger Massaker mit den
tatsächlichen, aber auch mit eingebildeten
Niederlagen des alltäglichen Daseins zu
versöhnen.“ (S. 84)
Angesichts der Gewaltgründe in der
Gesellschaft lässt sich dann auch der
Amoklauf von Erfurt, Emsdetten oder der
von Virginia erklären – soweit es um die
allgemeinen gesellschaftlichen Gründe geht.
Bei diesen Konkurrenzverlierern kommt aber
noch der Selbstbewusstseinskult hinzu. Die
durch Aussortierung gekränkte Ehre führt
nicht zur Anpassung (etwa das Abitur im 2.
Bildungsweg nachzuholen) oder zum Weg in
die Kriminalität (mit der Maxime, sich nicht
erwischen zu lassen) oder zum
„Gerechtigkeitsfanatiker“ und linken Kritiker
(S. 72), sondern zur demonstrativen Rache. So
schreibt Sebastian B.: „Mein Leben lang war
ich der Dumme“, und fordert Beachtung, weil
er ein Mensch sei, der es „wert ist beachtet zu
werden“. Da er diese Beachtung nicht
bekommen habe, hat er deswegen „Rache
geschworen“ (S. 100). Diese Anerkennungsund Selbstbestimmungsprobleme, die dann
zum Amoklauf führen, kommentiert Huisken
so: „Der zum Schulversager erklärte
Schulverlierer, der sich einerseits für seine
Misserfolge für zuständig erklärt bzw. erklärt
wird und doch andererseits auf sich selbst
ziemlich große Stücke hält bzw. halten
möchte, ist damit meilenweit davon entfernt,
eine vernünftige Bilanz seiner Lebenssituation
zu ziehen. Anstelle der Frage, wie er seine
prekäre Lage ändern kann, treibt ihn die Sorge
um, wie er als Versager vor sich selbst und in
der Welt dasteht.“ (S. 113)
Das Besondere an der Gewalt von
Jugendlichen ist es oft, dass sie kein „Mittel für
gebilligte oder nicht gebilligte Zwecke“ ist,
sondern: „Auch Unterlassungen sind Gründe für
den Gewalteinsatz, sogar solche, von denen
das Gewaltopfer gar nichts weiß. Exakt so
verhält es sich z. B. bei dem angerempelten
Jungen, der dem ‚Schlägertyp’ nicht nur nichts
getan, sondern es auch nicht einmal bewusst
unterlassen hat, dem Rohling per
Unterwerfungsgesten mitzuteilen, dass er ihn
für den Größten, Coolsten und Stärksten hält.
Er wusste nämlich gar nicht, was da für ein
Anspruch personifiziert auf ihn zukommt und
fiel deswegen aus allen Wolken. Das ist kein
Zufall, denn um ihn und seine Person ging es
dabei gar nicht. Es hätte jeden anderen
genauso treffen können. Er selbst war nur
gleichgültiges Material für den Zweck des
Schlägers, der für sich selbst und für andere
per Einsatz seiner überlegenen Physis den
Beweis antreten wollte, dass es sich bei ihm
einfach um einen coolen Siegertyp handelt.“
(S.58)
Das Verbot und die Ächtung von Gewalt, gar
ein Versuch diese abzuschaffen, müssen in der
kapitalistischen Gesellschaft scheitern, solange
die Ursachen der Gewalt bestehen, diese aber
sind dieser Gesellschaft systemimmanent.
Ohne „chronische Konflikte und prinzipielle
Gegensätze“ bedürfe es nicht „die
grundgesetzliche Verbrieftheit der
Unverletzlichkeit der Person. Es gäbe sie
Selbstbewusstsein, eigentlich ein Begriff aus
der Philosophie, nimmt Huisken so wie er ihn
im Massenbewusstsein dieser Gesellschaft
vorfindet, nämlich als „Einbildung über sich
selbst“ (S. 114), obwohl er durchaus ein
79
„rationales Bewusstsein seiner selbst“ (S. 113)
kennt. Der Selbstbewusstseinskult ist dann das
illusionäre Selbst- und Wunschbild, das mit
der Tatsache im Widerspruch steht, dass er ein
von der Schule produzierter Verlierer ist.
Jugendliche, die diesen Widerspruch nicht
ertragen können, versuchen dann
Anerkennung zu erzwingen. Dabei ist es dann
gleichgültig, wer ihre Opfer sind. Steigert sich
dieser Anerkennungswahn, dann führt er zur
demonstrativen Rache aus gekränkter Ehre. In
seiner Rache aber folgt er noch den Prinzipien
der Gesellschaft, gegen die er ansonsten
revoltiert. Indem der Rächer „- tatsächlich
oder vermeintlich – Schuldigen ein Leid antut,
ist für ihn die Schadensbilanz ausgeglichen.
Deswegen ist ‚Rache süß’: Es kommt dem
Rächer auf den Genuss des Schadens an, den er
jenen zufügt, die er für sein erlittenes Unrecht
haftbar macht. So gesehen befinden sich die
Amokläufer in guter Gesellschaft: Dass am
Schaden nur die Unrechtmäßigkeit interessiert,
und dass ein Unrecht allein durch Strafe aus
der Welt kommt, das haben sie den Prinzipien
des Rechtsstaates entnommen. Nur über ein
Dogma haben sie sich hinweggesetzt: Dass die
Realisierung solcher Prinzipien nicht in private
Hände, sondern allein in die von staatlich
befugten Gewalttätern gehört, haben sie für
sich nicht gelten lassen wollen.“ (S. 128)
der Jugendverwahrlosung über die
Arbeitslosigkeit bis hin zur Umweltzerstörung
propagieren, dann müssen sie sich klarmachen,
dass sie einer Umwälzung der dafür
zuständigen Produktionsverhältnisse das Wort
reden.“ (S. 163)
Damit hat der Autor jedoch eine positive
Einsicht formuliert, die aus seinen Vorträgen
folgt, die aber im Alltag der Lehrer nicht hilft,
bestenfalls „Einsicht in die Irrationalismen“
des gesellschaftlichen Bewusstseins
ermöglicht.
Der Rezensent stimmt dem Autor im
Grundsätzlichen seiner Argumentation zu,
möchte aber einige kritische Anmerkungen zu
diversen Aspekten machen:
Huisken will nicht den Lehrern helfen, weil er
das Schulsystem apriori für falsch hält. Durch
diese abstrakte Negation fallen dann auch alle
Alternativmodelle von Schule aus seinem Blick
oder sind bloß Gegenstand der Kritik, die sie
zur Illusion erklärt. Eine Vorstellung von
Schule jedoch, wie sie in einer sozialistischen
Gesellschaft sein soll, muss bereits im
Bestehenden entwickelt werden, soll nicht die
Idealisierung der schlechten Zustände durch
die angepassten Lehrer andererseits der
abstrakte Idealismus des ganz Anderen folgen,
der sich historisch meist als reaktionär
entpuppt.
Der letzte Teil des Buches ist mit „Debatte“
überschrieben, in ihm beantwortet Huisken
Fragen, die nach seinen Vorträgen gestellt
wurden. Auf die Frage eines Lehrers, was er
nun für positive Lehren aus dem Vortrag
mitnehmen könnte, antwortet Huisken: Keine,
die Schule ist selbst das Problem, das es zu
lösen gelte. „Wer die Tauglichkeit von
‚Alternativen’ an den Verhältnissen bemisst,
die da gerade kritisiert werden, verweigert sich
einer ernsthaften Befassung mit der
vorgelegten Kritik.“ (160) Aus dem
berufsbedingten Idealismus der Lehrer, die
Huisken als „Berufslüge“ ansieht, folgt für ihn
das Dilemma der Lehrer: „Immer wieder
geben sie einerseits in ihrem pädagogischen
Tun zu Protokoll, dass sie für die bürgerliche
Gesellschaft viel übrig haben und ihr die
tauglichen Nachwuchsmannschaften liefern
wollen. Andererseits führen sie sich als
Kritiker der jugendlichen Verwahrlosung auf,
die eben dieser Kapitalismus hervorbringt.“
(162) „Wenn sie - anders gesagt – die
Abschaffung aller aufgelisteten Ärgernisse von
Analog gilt dies auch für seine
Moralvorstellungen. Moral ist ihm durchweg
Anlass zur Denunziation: „Moralbolzen“ (S.
44), „Moralfront“ (S. 67) und „Ehrpussel“
sind nur einige Beispiele für seine sarkastische
Aversion gegen Moral überhaupt. Auch hier
ist bei Huisken bloß abstrakte Negation zu
erkennen. Angenommen, es wäre eine
Gesellschaftsordnung etabliert, die keine
konstitutive Gewalt mehr benötigte, dann
bedarf es nach Huisken keiner Moral und
keiner Menschenrechte mehr, wie er im bereits
oben zitierten Satz andeutet: „Es bräuchte sie
nicht“ - „die grundgesetzliche Verbrieftheit
der Unverletzlichkeit der Person“ (S. 66). Das
aber ist ein steiler Idealismus, eine
Romantisierung des Menschen, die
kontradiktorisch seiner Kritik an jedem
Idealismus und seiner teilweise zynischen
Darstellungsweise (vgl. 144 ff.) entgegensteht.
Diese Aussage widerspricht auch direkt seiner
80
allgemeinen Bestimmung des Individuums als
nie völlig Erklärbares. So gesteht er zu, dass
den Amokläufern auch ein Moment des
Zufalls zukommen kann: „ Würde sich der
Sachverhalt ganz in individuellen
Besonderheiten der Täter auflösen – und so
etwas gibt es durchaus -, dann wäre Zufall am
Werk gewesen, aus dem sich keine
Konsequenzen ziehen lassen. Zufall ist Zufall.
Dann wäre die Tat einmalig und kein Mensch
müsste sich Sorgen vor ihrem systematischen
Auftreten machen: wie es ebenso keinem
Menschen möglich wäre, solche Gewalttaten
zu verhindern.“ (S. 143) Man muss kein
Anhänger eines Aggressionstriebes oder
anderer sogenannter anthropologischer
Konstanten sein, um zu wissen, dass
Menschen aus individuellen Gründen asozial
handeln können – auch in einer möglichen
Zukunftsgesellschaft. Und da sollten noch
nicht einmal Handlungsprinzipien (Moral)
gelten? Allein schon um zu verhindern, dass
eine zukünftige Gesellschaft zurück in
Gewaltverhältnisse fiele, ist Moral – wenn
auch eine andere als die heute herrschende –
notwendig. Das ist keine bloße Spekulation,
die mit diesem Thema nichts zu tun hätte,
denn strebt man eine Gesellschaft an, in der
vernünftige Moralprinzipien gelten sollen,
dann hat das auch Auswirkungen auf die
gegenwärtigen Mittel, die man gegen die
Gewaltverhältnisse bereit ist anzuwenden.
(Vgl. dazu die „Ethik des Widerstandes“ von
Bodo Gaßmann)
„Nach dem bewaffneten
Kampf“
Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige
Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni
sprechen mit Therapeuten über ihre
Vergangenheit. Mit Beiträgen u.a. von Monika
Berberich, Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts,
Roland Mayer, Ella Rollnik, Irene Rosenkötter
sowie Volker Friedrich, Angelika Holderberg
und Lothar Verstappen. Mit einem Vorwort
von Davis Becker, Gießen 2007 (PsychosozialVerlag)
Als der Rezensent das Buch das erste Mal in
einer Buchhandlung durchblätterte, dachte er
sofort: Aha, Psychologisierung der RAF, also:
Wenn nicht Verrückte, so doch psychisch
Gestörte, also Individualisierung des Konzepts
„Stadtguerilla“, also ideologische Bewältigung
des Problems. Manchmal geht man aber auch
mit seinen linken Vorurteilen in die Irre. Das
Buch ist keine ideologische Bewältigung des
Themas linker Terror, auch wenn falsches
Bewusstsein vorkommt, und das Buch
behandelt tatsächlich auch den
psychologischen Aspekt der „Roten Armee
Fraktion“. Einige Psychotherapeuten und
ehemaligen Mitgliedern der „Rote Armee
Fraktion“ stellen ihre Erfahrungen mit diesen
Gesprächen in dem Buch dar.
Von allgemeinem Interesse sind aber weniger
die Individuen, die eine falsche politische
Strategie gewählt haben, sondern die Frage:
Wie geht man mit Niederlagen um? Und da
trifft sich die Problematik der ehemaligen
RAF-Leute mit den Niederlagen der Linken
überhaupt in den letzten 30 Jahren. Will man
nicht in der unendlichen Mannigfaltigkeit
psychischer Aspekte, persönlicher
Erfahrungen und situativer Bedingungen sich
verlieren – dieser Gefahr verfällt das
vorliegende Buch teilweise -, dann muss man
die prinzipiellen Fragen klären.
Huisken selbst kommt nicht umhin – trotz
seiner Moralaversion - plötzlich moralisch zu
argumentieren: „Gewalt ist immer und in
jedem Fall verwerflich.“ (S. 64) Das heißt
doch wohl, unabhängig davon, wer sie
anwendet: ob das der Staat macht, ein
Amokläufer, ein Mensch in Notwehr oder ein
Weltveränderer. Dem aber widerspricht die
abstrakte Negation jeder Moral bei unserem
Autor.
Nun sollte aber kein Leser dieser Rezension
meine kritischen Anmerkungen als Ausrede
nahmen, die richtigen Einsichten Huiskens in
die Klassengesellschaft, ihr Schulsystem und
ihre Gewaltstruktur zu verdrängen.
Guerillakrieg kann eine Option sein, um gegen
eine erdrückende Fremdherrschaft, den Terror
einer verbrecherischen Despotie, die
Unerträglichkeit der Verhältnisse zu kämpfen.
Die Unerträglichkeit der Situation allein führt
bestenfalls zur individuellen Revolte. Als
hinreichende Bedingung für einen
Guerillakrieg müssen weiter hinzukommen:
81
-
Der überwiegende Teil der
Bevölkerung muss hinter einem stehen
(Die Kämpfer schwimmen im Volk
wie die Fische im Wasser (Mao)).
- Die Kämpfer müssen Unterstützung
mit Waffen, Geld usw. von außen
haben (Clausewitz).
Sind diese beiden pragmatischen Bedingungen
nicht erfüllt, ist ein Guerillakonzept bloßes
Abenteuertum oder Verzweiflungstat. Daraus
folgt notwendig, dass die „RAF“, als sie mit
ihrem Kampf begann, diese Bedingungen
nicht vorfand.
Die Aussagen von Marx und Che Guevara
haben moralische Implikationen. Wenn das
ökonomische System die Menschen
beherrscht, anstatt dass die Menschen ihre
Wirtschaft unter ihre vernünftige Kontrolle
bringen; wenn in der bestehenden
kapitalistischen Produktionsweise Gewalt qua
Eigentumsverhältnissen inkarniert ist, die 90
% der Menschen zwingen, von Lohnarbeit zu
leben, d.h. sich ausbeuten zu lassen, dann kann
es nicht im Interesse der abhängigen
Menschen liegen, dieses Gewaltverhältnis
durch ein anderes Gewaltverhältnis zu
ersetzen, sondern solche herrschaftlich
verfassten Verhältnisse überhaupt
abzuschaffen. Der Zustand der Gewalt würde
dann abgelöst durch einen Zustand der
Moralität („Emanzipation der Arbeiterklasse“).
Eine vernünftige Moral regelte dann die
Beziehungen der Menschen untereinander, sie
wäre das Gesetz ihrer Freiheit – das Gegenteil
von Gewaltverhältnissen. Wer gegen das
Moralgesetz verstößt, schädigt andere
Menschen. Gewalt gegen andere, das Töten
von Menschen überhaupt, ist – abgesehen von
dem jeweilig geltenden Recht – immer ein
Verstoß gegen die Moral, also unmoralisch, ob
dies ein individueller Terrorist tut oder der
Staat.
In Bezug auf die bürgerliche Demokratie sagt
Marx zum Problem der Gewalt:
„Das Ziel (…) ist die Emanzipation der
Arbeiterklasse und die darin enthaltne
Umwälzung (Umwandlung) der Gesellschaft.
‚Friedlich’ kann eine historische Entwicklung
nur so lange bleiben, als ihr keine gewaltsamen
Hindernisse seitens der jedesmaligen
gesellschaftlichen Machthaber in den Weg
treten. Gewinnt z. B. in England oder in den
Vereinigten Staaten die Arbeiterklasse die
Majorität im Parlament oder Kongreß, so
könnte sie auf gesetzlichem Weg die ihrer
Entwicklung im Weg stehenden Gesetze und
Einrichtungen beseitigen, und zwar auch nur,
soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies
erfordre. Dennoch könnte die ‚friedliche’
Bewegung in eine ‚gewaltsame’ umschlagen
durch Auflehnung der im alten Zustand
Interessierten; werden sie (wie der
Amerikanische Bürgerkrieg und die
Französische Revolution) durch Gewalt
niedergeschlagen, so als Rebellen gegen die
‚gesetzliche’ Gewalt.“ (MEW 34, S. 498 f.)
Insofern ist jeder Krieg, jeder Guerillakampf
unmoralisch. Nun kann es durchaus
Verhältnisse geben - wie oben beschrieben -,
wo man zur Gewalt greifen muss, um
Schlimmeres zu verhindern (z. B. Widerstand
gegen ein faschistisches Regime). Aber auch
dann gilt die Marxsche Einschränkung:
„soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies
erfordre“, oder mit den Begriffen von Zweck
und Mittel ausgedrückt: Wenn der Zweck die
Emanzipation der Menschen ist, dann können
nicht Unschuldige oder Unbeteiligte getötet
werden. Karl-Heinz Dellwo hat dies erkannt,
wenn er schreibt: „Im Gefängnis war mir
irgendwann klar geworden, dass wir von
keiner Gegengesellschaft oder Gegenmoral
reden können, wenn dies die Möglichkeit von
Geiselerschießungen und damit die
vollständige Verdinglichung von Menschen
beinhaltet. Es wäre nur eine barbarische
Gesellschaft. Heute akzeptiere ich, dass unsere
Handlungen verurteilt worden sind und
Folgen für uns haben mussten. Es wird keine
Legitimität konstruiert, wenn das eine Unrecht
mit dem anderen aufgerechnet wird. Es zeigt
Ähnlich hatte später der junge Che Guevara
argumentiert, indem er auch den
entscheidenden Grund gegen den
Guerillakampf in der bürgerlichen Demokratie
nennt. „Dort, wo ein Unterdrückerregime auf
mehr oder weniger demokratischem Wege an
die Macht gelangt ist (…) und wo wenigstens
dem Anschein nach die verfassungsmäßige
Gesetzlichkeit gewahrt wird, kann keine
Guerillabewegung entstehen, weil die
Möglichkeiten des Kampfes mit friedlichen
Mitteln noch nicht ausgeschöpft sind.“ (Zitiert
nach Gaßmann: Ethik des Widerstandes, S.
199)
82
nur zwei Situationen, die abzulehnen sind.“ (S.
108)
Falschheit des RAF-Konzeptes erst auf 1977,
als es nicht mehr um die politischen Ziele
ging, sondern um die Freipressung der
Gefangenen der 1. Generation, welche
Geiselnahme und Tötung Unschuldiger
involvierte. Ähnlich argumentiert Roland
Meyer: „Das Projekt RAF ist gescheitert, vieles
daran war falsch, manches unentschuldbar.
Dennoch war der Versuch in dieser Welt
richtig.“ (S. 156)
Auch andere argumentieren so in diesem
Buch, ein ehemaliger RAF-Angehöriger „NN“
übertreibt diesen Gedanken bis hin zur
moralischen Rigidität. „Ich bin davon
überzeugt, dass aus Strukturen, die nicht
stimmen, keine richtige Politik kommen kann.
Sobald man anfängt, faule Kompromisse zu
machen, Menschen zu benutzen, sobald es
Hierarchien, Befehle und Gemauschel gibt
usw., mit der Begründung, dass das halt
notwendig sei, um – aus einer Position der
Schwäche – ein höheres Ziel zu erreichen,
kann man’s besser lassen. Es lohnt die Mühe
nicht, da unter dem Strich auch nichts anderes
herauskommen wird als wir bereits haben. Je
mehr im täglichen Prozess das
Abstraktionsvermögen bemüht werden muss,
um für die Scheiße, die man macht, den
höheren Kontext und die rechtfertigende
Begründung zu suchen, desto gründlicher
verrutscht die Sache.“ (S. 163)
Als rationale Begründung für den als „richtig“
eingestuften Versuch gibt Dellwo an: „Die
RAF ging davon aus, dass der Prozess in Gang
zu setzen ist, aus dem der Minderheitenwille
nach Befreiung gesellschaftlich allgemein
werden kann.“ (S. 128) Wie man durch
Attentate auf Führungspersonen, also Morde,
aus den Minderheitenwillen eine Mehrheit
macht, ist schleierhaft. Die Erfahrungen der
gewalttätigen Anarchisten im 19. Jahrhundert
zeigen, dass ihr Terror der Reaktion genützt
hat. Die Ermordung Kotzebues durch einen
Studenten hat die Karlsbader Beschlüsse
legitimiert, die Attentate auf den ersten
deutschen Kaiser hat Bismarcks
Sozialistengesetze durchsetzen helfen. Nur die
deutschen Faschisten hatten Erfolg mit ihrer
Propaganda der Tat, sie konnten Teile des
deutschen Volks einschüchtern und ihnen
Angst machen und diese Angst in Wahlerfolge
ummünzen. Aber deren Anspruch war auch
nicht die „Emanzipation“ (vgl. u.a. S. 147),
sondern politische Macht mittels Terror,
Gleichschaltung und offener Diktatur zur
Sicherung der Eigentumsverhältnisse und
zum zweiten Versuch des deutschen Kapitals,
nach der Weltmacht zu greifen.
Warum kann man nicht aus der Geschichte
lernen? Warum musste man Fehler
wiederholen? Warum brachen die „linken
Kinderkrankheiten des Kommunismus“
(Lenin) wieder durch? Warum hat die
Selbstreflexion der linken Bewegung bei den
Leuten von der RAF versagt, warum wurde
die Marxsche Forderung, sich gründlich selbst
zu kritisieren, nicht beachtet, bevor man in die
Illegalität ging? Diese Fragen eines vernünftig
denkenden Menschen beantwortet das Buch
nicht und beantworten die ehemaligen
Terroristen nicht. Stattdessen werden zwei
absurde Gründe angedeutet:
Antiintellektualismus und die Sehnsucht des
unfertigen, kleinbürgerlich sozialisierten
Solche Einsichten kamen aber zu spät, haben
nicht verhindert, das Konzept der RAF
anzufangen und durchzuziehen. Selbst im
Nachhinein wird die Strategie einer
Stadtguerilla in einer bürgerlichen Demokratie
gerechtfertigt. So schreibt Karl-Heinz Dellwo:
„Unser Aufbruch war richtig. Es war ein
Versuch, ‚das Kontinuum des Bestehenden’
aufzusprengen.“ (S. 129) Er datiert die
83
Individuums nach Geborgenheit, dem
befreiten Leben, dem ganz Anderen.
Fast alle ehemaligen Mitglieder der „RAF“
und der Bewegung 2. Juni klagen über die
Sprachlosigkeit in den Gruppen, sowohl im
illegalen Kampf wie im Gefängnis und der
Zeit danach. „Wir (…) konnten Kritik
schlecht ertragen. Die Therapeuten machten
es möglich, jede Sichtweise zuzulassen und
sich damit auseinander zu setzen.“ (Rollnik, S.
151 f.) In der Illegalität wurde nicht über
Aktionen usw. gesprochen, sondern die
jeweilige Leitfigur bestimmte als Autorität, der
sich die anderen kritiklos unterordnen
mussten. Wer auch nur andeutungsweise
andere Meinung war, wurde als Verräter
ausgegrenzt. Im Gefängnis artet diese
Entfremdung untereinander zum politischen
Machtkampf aus. Dellwo beschreibt die
Zustände untereinander ähnlich „den
krankmachenden Zustand der
Säuberungsprozesse der 30er Jahre in der
Sowjetunion“, allerdings als „Farce“ (S. 119).
Weitere Stichworte sind „Selbsthass“,
„Selbstnegation“, „rasender Subjektivismus“,
„Verunsicherung“, „Dichotomie des
Entweder–oder“, „stumpfsinniger
Militarismus“.
Den Irrationalismus und Antiintellektualismus
drückt NN aus, wenn er von
„kaltverstandlichen Historikern“ redet, die
einmal die Auswirkungen der „RAF“
darstellen werden. Oder wenn Elke Rollnik
schreibt: „Die Diskussion musste auch den
Beziehungsbereich, Emotionen, Verletzungen
ansprechen, weil unsere Politik niemals rein
theoretisch, intellektuell bestimmt war,
sondern von Anfang an die ganze Existenz mit
einbezog.“ (S. 150) Vor allem aber die
Absurditäten mancher Argumentationen
zeigen den Irrationalismus dieser Leute auf. So
schreibt Roland Meyer: „Ein zentraler Punkt
für die Gruppenstruktur war die Maxime, dass
nur im Bruch mit der Legalität und den
bisherigen Beziehungen der Keim für neue
Beziehungen entsteht und eine neue Intensität
der Beziehungen innerhalb der Gruppe. Damit
verbunden war das Gefühl eines umfassenden
Aufbruchs; es ging nicht (nur) um eine dem
Bestehenden diametral entgegengesetzte
Politik, sondern es sollte ein umfassender
Aufbruch hin zu neuen Strukturen,
Verhältnissen und Beziehungen in allem
werden.“ (154)
NN, der aus der „Unterstützerszene“
(offizielle Sprache) kam, fasst die psychische
Gemengelage der „RAF“ zusammen:
„Wahrscheinlich kann man sich die
zugehörigen politischen Strukturen vorstellen,
in denen Leute rumlaufen, die mit sich selber
nicht zurechtkommen, nicht kritisch
reflektieren, Fragen stellen usw. Hinter
konspirativem Gehabe, zu dem es natürlich
immer auch Anlässe gab, da die Observation
einen fast erdrückte, und die politische
Bewegung, an der man teilnahm, durchgängig
kriminalisiert war, wurde auch vieles versteckt,
was man nicht zur Diskussion stellen wollte.
In diesem Nebel konnten elementare
menschliche Eigenschaften wie Aufrichtigkeit
und Offenheit schlecht gedeihen; für Intriganz
und Heuchelei gab es im Gegensatz dazu
ausreichend Raum. Die Kompensation
persönlicher Unfähigkeiten auf dem Rücken
anderer war gang und gäbe; es gab unzählige
Tabus, Dinge, die man nicht denken,
aussprechen und empfinden durfte.“ (S. 164)
Wie man im Kampf gegen einen
hochgerüsteten Staat ohne Rückhalt in der
Bevölkerung und unter ständiger Angst,
verhaftet zu werden, von „Aufbruch hin zu
neuen Strukturen“ sprechen kann, ist ein
Rätsel – oder grenzt an Wahnvorstellungen.
An dieser Stelle nun setzt der Erkenntniswert
des Buches ein. Wenn es keine rationalen
Gründe für die Politik der „Roten Armee
Fraktion“ gibt, dann lässt sich diese nur
psychologisch begreifen. Hier haben damals
junge Menschen einen persönlichen Ausweg
aus ihrer beschränkten Sozialisation, den
spießigen Verhältnissen ihrer Kleinfamilie, den
verknöcherten Strukturen der BRD und der
Betroffenheit durch die ungeheuerliche
Brutalität des Vietnamkrieges gesucht, aber
nur indem sie diese Strukturen negativ
abbildeten. Sie haben die Gewaltverhältnisse
bekämpft, indem sie selbst die Gewalt zum
Selbstzweck gemacht haben. Sie haben das
kleinbürgerliche Ressentiment bekämpft,
indem sie es in ihrer Gruppe reproduziert
haben.
Die Gespräche, die von Therapeuten jahrelang
mit den Ehemaligen über ihre Erfahrungen
mit der „RAF“ und dem Staat geführt wurden,
waren die Alternative zum „verbitterten
84
Rückzug in das individuelle Leben“ (S. 160).
Die Sprachlosigkeit, psychische Deformation
und die politische Resignation stehen aber
symptomatisch für einen Teil der Linken nach
1989.
Wahrheit integrieren. Der Gang der
Entwicklung zur Wahrheit gehört zur
philosophischen Wahrheit notwendig dazu.
Ein avancierter Stand des philosophischen
Bewusstseins hat dann im Idealfall prinzipiell
alle Argumente (geistigen Phänomene), die je
zu einem Problem und seiner Lösung gedacht
wurden, in die Theorie, die dieses Problem
klären will, aufgenommen.
Zu der Erkenntnis, dass ein Konzept wie das
der Stadtguerilla in einer bürgerlichen
Demokratie von vornherein ein Fehler war,
dazu ringt sich allerdings keiner der
Ehemaligen durch – trotz der Arbeit der
Therapeuten. Die lange Haft, Isolationsfolter
und Schikane durch den Staat, der ihnen eine
Sonderbehandlung verpasste, hat sie derart
deformiert, dass sie schon aus Selbstachtung
zu einer radikalen Kritik ihrer Strategie unfähig
sind. Sie verkraften die Niederlage ihrer
Militarisierung der Politik mit dem Hinweis
auf die Unreife der Zeit (Dellwo, S. 128 u.a.).
Wenn aber die Zeit reif ist, dann ist eine
Stadtguerilla erst recht überflüssig, wie Marx
im obigen Zitat angedeutet hat – es sei denn
die proslavery revolution (MEW 23, S. 40) siegt
mal wieder wie 1933.
Die moderne Phänomenologie, die auf
Husserl zurückgeht, hat kaum etwas mit
dieser Tradition des Begriffs
„Phänomenologie“ zu tun. Sie will die
vorhandenen Erkenntnisse, insbesondere die
der Naturwissenschaften ontologisch
begründen. Durch die Methode der Reduktion
und Wesensschau (siehe in diesen
„Erinnyen“ den wissenschaftlichen Beitrag:
1.1.) sollen alle psychischen und situativen
Aspekte einer Vorstellung „ausgeklammert“
werden, um das Phänomen „rein“ zu
erkennen. So sollen von etwas Rotem in der
Wahrnehmung oder in der Vorstellung alle
Nebenaspekte wie die Helligkeit, die
Schattierung wie Weinrot, die Situation, in der
ich das Rot sehe, usw. ausgeklammert werden,
um das Phänomen ‚rot’ rein zu erkennen.
Diese reinen Phänomene werden dann zum
Ontologischen erklärt und sollen die
phänomenologische Grundlage der
entsprechenden Wissenschaft sein.
Glossar
Stichwort: Phänomenologie
Dabei spielt der Begriff „Intuition“ eine
wichtige Rolle: Die Phänomene sollen uns
intuitiv gegeben sein, sodass keine logische
Argumentation daran rütteln könne. Nun
spielt bei jeder neuen Erkenntnis die Intuition
als spontane Erkenntnis eine Rolle, ob aber
das intuitiv Erkannte wahr ist oder nur
Blödsinn, muss sich im systematischen
Zusammenhang der Erkenntnisse erweisen,
während bei Husserl der systematische
Zusammenhang auf dem intuitiv Gewonnenen
als dem Apriori basieren soll. Die
Phänomenologie mündet dadurch im
Irrationalismus.
Der Begriff „Phänomen“ bedeutet ein
Wahrnehmbares, das ohne Bezug auf das
Wesen einer Sache Schein ist, als
Wahrnehmbares eines Wesen ist es
Erscheinung. Die Erkenntnis beginnt mit dem
Schein (z. B. sehen wir die Bewegungen der
Sterne am Nachthimmel), daraus wird das
Wesen (die Rotation der Erde) erkannt, sodass
der Schein sich zur Erscheinung aufklärt (wir
drehen uns mit der Erdoberfläche, während
die Sterne dazu relativ fest stehen).
Diesen allgemeinen Gang der Erkenntnis hat
Hegel für die Philosophie als den spezifischen
Weg ihrer Erkenntnisse entwickelt. Da die
Philosophie im Gegensatz zu den
Naturwissenschaften ihre allgemeinen
Aussagen nicht durch Experimente belegen
kann, muss sie den Gang der Argumentation
(die Phänomene der philosophischen
Entwicklung) als notwendige Momente ihrer
Diese phänomenologische Methode, die das
Unmittelbare erkennen will, widerspricht sich
selbst: Als Unmittelbares, das durch die
Methode der Reduktion gewonnen werden
soll, ist es immer schon durch das erkennende
Subjekt und seine Methode vermittelt, also
85
nicht unmittelbar. Wird dieses durch das
erkennende Subjekt Vermittelte zum
Ontologischen (Extramentalen) erklärt, dann
ist dies eine Hypostase von Denkinhalten. So
ist etwa „Rot“ nach dem heutigen Stand des
Wissens eine Lichtfrequenz (also Masse und
Bewegung). Was wir als rot wahrnehmen, ist
allein unserem Wahrnehmungsapparat
geschuldet, also etwas Gattungssubjektive, das
durch entsprechende Lichtfrequenz in uns
angeregt wird. Das Phänomen „Rot“ ist
deshalb gerade kein Extramentales. Welches
Phänomen ich für die Reduktion zum reinen
und ontologischen Phänomen auswähle, liegt
in meiner Willkür: Die Erklärung eines
solchen Phänomens zum Ontologischen, das
die Grundlage der Wissenschaften sein soll, ist
ein Zirkelschluss: Ich bestimme ein Phänomen
meiner Wahrnehmung als ontologisches und
gründe darauf wieder meine Wissenschaft von
dieser Art der Phänomene, analog mit der
Wesensschau. Mit diesem Zirkelschluss lässt
sich etwas und sein Gegenteil begründen.
Was bei den anderen Nachfolgern Husserls
von der ursprünglichen irrationalen
Phänomenologie bleibt, ist die reduktive
Methode („Wesensschau“), die Intuition als
Basis der Erkenntnis und der Anspruch,
Ontologisches (bei Heidegger „Ontisches“)
durch direkten Zugriff erfassen zu können.
Gegenüber dem um 1900 vorherrschenden
Neukantianismus, der jede Korrelation von
Denken und extramentalem Sein ablehnte, war
es der Anspruch der Phänomenologie, „zu den
Sachen selbst“ vorzudringen, eine Korrelation
von Denken und Sein herzustellen. Dieser
Anspruch war für viele bürgerlichen Denker
attraktiv, er hat diese Richtung der Philosophie
bis heute am Leben erhalten. Aber auf der
Grundlage eines Irrationalen Philosophie und
Wissenschaft betreiben zu wollen, ist ein
Widerspruch in sich und wohl ideologischen
Motiven zu verdanken: Man kann sich mit den
Sachen befassen, ohne sie wirklich in ihrem
Wesen erkennen zu wollen. So hat Hanna
Arendt die Phänomene des „Totalitarismus“
treffend beschrieben und analysiert, sie bewegt
sich aber im Bereich des Scheins, der
politischen Oberfläche, weil sie die
wesentlichen Unterschiede des bürokratischen
Kollektivismus („Stalinismus“) mit staatlichem
Eigentum an Produktionsmittel und
Planwirtschaft, und des Faschismus, der eine
Diktatur mit kapitalistischer Produktionsweise
darstellt, nicht systematisch als
Wesensbestimmungen dieser Gesellschaften
einbezieht. Derartige Wesensbestimmungen
sind dann auch keine beobachtbaren
Phänomene oder deren Wesen, sondern
Gesetze der Erscheinungen, an welche die
Phänomenologie nicht heranreicht.
Max Scheler hat nun diese falsche
Philosophie noch einmal irrational
übersteigert, indem er seine „materialen
Werte“ der Moral dem Fühlen entspringen
lässt. Material sollen seine moralischen Werte
deshalb sein, weil sie nicht dem Bewusstsein
oder der Vernunft entsprungen seien, sondern
an den Gütern (und Menschen) als deren
moralische Qualität im Fühlen „aufscheinen“.
Seine zirkuläre Bestimmung der Werte liegt
darin, dass er den Kulturbürger der Kaiserzeit
absolut setzt, sein Fühlen zum menschlichen
Fühlen überhaupt erklärt und zum Maßstab
und Auswahlkriterium seiner materialen Werte
macht. Diese als apriori bestimmten
materialen Werte sind jedoch aposteriori aus
der historischen Epoche einer bestimmten
sozialen Klasse gewonnen. Sie sind deshalb
auch nicht objektiv und ontologisch unserer
Gefühlsstruktur inkarniert (bei ihm zum ordo
amoris übersteigert), sondern Ausdruck eines
sowohl von der Arbeiterbewegung wie durch
den modernen Kapitalismus in die Defensive
gedrängten kleinbürgerlichen
Kulturmenschen. Indem diese historischen
„Werte“ willkürlich zu ontologischen erklärt
werden, um sie dem Lauf der Geschichte zu
entziehen, verfallen sie erst recht qua ihrer
Willkür dem Zeitlauf.
Primärliteratur:
(Genauere Angaben siehe Literaturverzeichnis zum
wissenschaftlichen Beitrag.)
Kant: Kritik der reinen Vernunft
Hegel: Phänomenologie des Geistes
Moderne Phänomenologie:
Husserl: Logische Untersuchungen
Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die
materiale Wertethik
Sekundärliteratur:
Fellmann: Phänomenologie zur Einführung
Stegmüller: Hauptströmungen der
Gegenwartsphilosophie Band I
Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe
Und in diesen „Erinnyen“:
Gaßmann: Kritik der Wertphilosophie III
86
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