Der Roman im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität von Daniela Rummel-Volderauer Die für Leitgeb typische umfangreiche Einbeziehung historischer und lebensgeschichtlicher Fakten in das literarische Gefüge verleitet zu dem Versuch, einzelne Erzählfragmente den jeweiligen Bereichen der Wirklichkeit und der Dichtung zuzuordnen. Diese reizvolle und zugleich spannungsreiche Aufgabe ist Bestandteil einer Untersuchung zu Leitgebs Roman Christian und Brigitte1, deren Beobachtungen im Folgenden übernommen und weitergeführt werden. Da der Roman in ein ebenfalls überwiegend autobiographisches Gesamtwerk eingebunden ist und keine isolierte Arbeit darstellt, lassen sich die effektivsten Querverweise auf reale autobiographische Bruchstücke in einigen weiteren Arbeiten Leitgebs finden. Dies gilt maßgeblich für die Läuterungen2, eine Sonettsammlung, deren Entstehung in dem Jahr anzusetzen ist, in dem Leitgeb die kleine Volksschule in Schwendt leitet. Diese Sammlung wird allerdings erst wesentlich später und in überarbeiteter Form veröffentlicht. Schon Max Tau, der Lektor des Cassirer-Verlags, sah in diesen lyrischen Aufzeichnungen die Möglichkeit, das Wesen des „Christian, den ich zwar kannte, aber doch nicht so subtil kannte, noch näher“3 zu erspüren. Der Junglehrer Leitgeb verarbeitet hier von bloßen Gefühlsschwankungen bis zu existenziellen Ängsten, von verlockenden Versuchungen vor Ort bis zu tiefempfundenen Sehnsüchten nach der zukünftigen Lebenspartnerin den Großteil seiner Erlebnisse und Erfahrungen, die er in dem abgeschiedenen Bergbauerndorf während des Schuljahres 1922/23 macht. Des weiteren gewährt der Autor in dem Band Das unversehrte Jahr. Chronik einer Kindheit4 tiefe Einblicke in die eigene Kindheit und Jugend, die sich in dieser Form auch häufig in den Rückblicken seiner Romanfigur Christian erkennen lassen. Mehrere Gespräche mit Zeitzeugen oder deren direkten Nachkommen verhelfen zusätzlich zu einem ‚lebendigen Zugang’, um das enge Geflecht autobiographischer und fiktiver Elemente zumindest stellenweise zu lösen. Die Unterkunft Es erscheint zunächst wenig wahrscheinlich, dass Leitgeb, wie die Figur des Christian, auf Straßpoint beherbergt wurde und ihm die Burgl das Essen auf seine Kammer trug5, er hat weit eher während seines Aufenthaltes in Schwendt beim örtlichen Wirt Kost und Logis erhalten. Dafür spricht (neben den gleichlautenden Angaben weiterer Gesprächspartner) auch die Aussage von Frau Stöckl, einer ehemaligen Schülerin Leitgebs in Schwendt, die sich in diesem Zusammenhang erinnert: 1 Ich weiß, dass er beim Schwendter Wirt gewohnt hat, weil die Lehrerwohnung, die hat ja noch die Dagn gehabt. Lehrer und Mesner, das war bis dahin immer dasselbe Fach. Und da haben die Junglehrer, alle Jahr ein anderer, ein Zimmer beim Schwendter Wirt gehabt und sind auch dort verpflegt worden.6 Doch obwohl dies die gängigere Praxis gewesen sein muss, lassen sich doch auch einige Anhaltspunkte für eine Unterbringung Leitgebs auf dem Straszpoint Hof (Originalschreibweise) anführen, der oberhalb des Dorfkerns in dem Ortsteil Schlecht liegt und zusammen mit dem Veidenbauer und dem Hacker-Hof unter dem Übernamen die drei Schlechterhöfe bekannt ist. In diesem Zusammenhang sei auf eine Notiz hingewiesen, mit der Leitgeb auf eben jene Höfe in seinem Tagebuch Bezug nimmt: Bis zu den Schlechterhöfen hat’s wieder heruntergeschneit, im Dorf ist’s grün geblieben. [...] Lisl ist in K. um die Post, so fühl ich keine Versuchung, zum Wirt zu gehen. [...]7 Die Tagebücher Leitgebs sind nur in einer Abschrift seiner Frau zugänglich. So können diese Zeilen hier lediglich als Anstoß dienen, scheinbar Eindeutiges doch zu hinterfragen – wo Leitgeb tatsächlich untergebracht war, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Der Schwendter Wirt So wie viele Höfe und Betriebe der Region litt auch der Schwendter Wirt unter der in den 20er Jahren angespannten wirtschaftlichen Situation. Nach der unvermeidlichen Versteigerung ging der Schwendter Wirt in den Besitz der Familie Schwaiger über, die den Betrieb bis heute erfolgreich führt. In dem im Roman erzählten Zeitraum lag wohl eher das Musizieren im Interessensmittelpunkt der damaligen Wirtsfamilie Leitner, was sie allerdings ausgezeichnet beherrschte.8 Da waren acht Kinder beim Wirt: fünf Mädchen und drei Buben, und jeder hat ein Instrument gespielt. Harfe, Gitarre und Zither. Die Harfe, die hat jeder spielen können. Wenn wir da vorbeigegangen sind, dann bin ich immer ganz langsam gegangen, damit ich auch was gehört habe von der Harfe und der Musik. Es hat ja in Schwendt nichts anderes gegeben.9 Mehrmals beschreibt Leitgeb im Roman die herzhafte Ausgelassenheit, mit der solche Zusammenkünfte, die oft auch gar keinen bestimmten Anlass benötigten, begangen wurden: Der neue Lehrer war nach dem Gottesdienst ins Wirtshaus mitgekommen, die Geige unter dem Arm. Die Stube war voller Leute; man hatte seit Jahren wieder die Orgel gehen hören, wie man sich’s wünschte; mit einem Marsch hatte Christian das Hochamt geschlossen. Durch die Kirche ging ein Strom von Sonne und Fröhlichkeit. Dann saß man beim Wirt. [...] Dann stand Christian neben ihm und riß nach einer winzigen Pause, in der er sich auf eine nur Musikanten geläufige Art mit ihm verständigte, den Bogen über die Saiten, der Gasper fiel in derselben Sekunde ein und nun erst flogen die Paare durch die Stube.10 Der Hunger der Schwendter nach Musik mag sich in der oben zitierten Stelle widerspiegeln. Und so war das wieder neu aufgenommene, gelegentliche Orgelspiel für die Schwendter 2 Kirchengänger sicher eine willkommene Abwechslung und Grund genug, im Wirtshaus nachzufeiern. Der Straßpoint-Hof Ähnlich dem Schwendter Wirt blickt auch der Straßpoint-Hof auf eine bemerkenswerte Vergangenheit zurück. Die Beschreibung, die Leitgeb an den Leser weitergibt, lässt förmlich spüren, wie eindrucksvoll sich dieses mächtige Gebäude in einer unzertrennbaren Einheit mit dem Berg dem Betrachter präsentierte.11 Der Hof hat mittlerweile die Eigentümer gewechselt. „Zu den besten Zeiten waren auf Straßpoint vierzig Dächer zu decken“, so die Auskunft, die der heutige Besitzer auf Nachfrage gibt. Der damalige Hoferbe Hansi E. steht den charakterlichen Grundzügen der Figur des Jörg im Roman Pate. Er sei kein schlechter Mensch gewesen, wissen die Schwendter über ihn zu erzählen. Aber „unter ‚g’feite Leit’ sei er halt gekommen“.12 Die im Roman geschilderte Situation entspricht auf dem Straßpoint-Hof der bitteren Realität: Der erstgeborene Sohn kehrt aus dem Krieg nicht mehr heim. Die Stelle des Hoferben fällt somit an den jüngeren Bruder. Die Zukunft ist schon geplant: Die Heirat mit einer Bauerntochter aus gutem Nachbarshause ist bereits spruchreif, die vermeintliche Braut in guter Hoffnung13, da macht der Bräutigam die Bekanntschaft einer Kellnerin aus dem Salzburgischen, die für die Bauernschaft nur wenig Interesse aufbringt und es sich zum Ziel setzt, Wirtin zu sein.14 Mit dem Erlös aus dem Verkauf des Hofes erwerben die beiden jungen Leute ein Gasthaus, das sie allerdings nicht lange halten können. Nach steter ‚Talfahrt’ wird der vormalig stolze Jungbauer schließlich Senner auf der Alm, die seinem früheren Besitz angehört.15 Dem jungen Leitgeb muss der Hof wie eine gesetzgebende Instanz erschienen sein. Der scheinbar fließende Übergang zwischen dem von Menschenhand errichteten Gebäude in die vom Schöpfer geschaffene Natur unterstrich die ursprüngliche Kraft und Festigkeit, die den Hof umgab.16 Von seiner mächtigen Ausstrahlung, die ihm seine Jahrhunderte alte Geschichte verleiht, hat der Hof heute, etwa achtzig Jahre später, nichts eingebüßt. Er steht frisch renoviert, aber noch immer genauso beeindruckend, auf der Anhöhe über dem Ortskern. Durch bauliche Veränderungen wurde er an die ‚neue Zeit’ adaptiert. Der Wirtsgasper 3 Die von Leitgeb überaus eingehend geschilderten Charaktere des Romans können zum Großteil einer mehr oder weniger klaren realen Entsprechung zugeordnet werden. So ist auch die Figur des Wirtsgaspers einer im Schwendter Dorfleben allseits bekannten ‚leibhaftigen Vorlage’ entlehnt. Der Autor hebt aus der in Wirklichkeit weitaus komplexeren Gesamterscheinung des Mannes bewusst das Bild des Wilderers und des Abenteurers hervor. Innerhalb der ländlichen Bevölkerung hatte die Tatsache, dass jemand eindeutig als ‚Wildschütz’ ausgewiesen war, noch keine abwertende Konnotation. Wenn er sein Handwerk gut verstand und sowohl die Aufsichtsjäger als auch die Gendarmen und Grenzwächter austrickste, so hatte dies einen eigenen ‚Unterhaltungswert’ für die Dorfbewohner. Natürlich waren die zweifellos harten Zeiten mit ausschlaggebend dafür, dass verhältnismäßig viele junge Burschen und Männer illegal jagten, doch diese Art des direkten Wettstreits bot allemal auch die Möglichkeit, sich in der Hierarchie des Dorfes auf einen angemessenen Platz vorzuarbeiten. Auf Grund seines beharrlichen Fleißes fällt dem ‚Original’ zum Gasper in dieser ‚inoffiziellen Rangfolge’ ein auch über die Dorfgrenzen hinaus anerkannter Spitzenplatz zu. Darum galt er auch nicht als Straftäter an sich, sondern war letztlich unter den gehäuft auftretenden ‚Schwarzen Schafen’ nur das geschickteste – weswegen man ihm in späteren Jahren eine Anstellung als Jäger bei einem Primarius aus Rosenheim anbot. Die Ermordung des Gasper im Zuge eines Raufhandels unter den Wirtsgästen, die im Roman bis zum Schluss unaufgeklärt bleibt, ist reine Erfindung. Eine Wirtshausschlägerei mit tödlichem Ausgang hat (ebenso wenig wie der im Roman geschilderte Lawinenabgang und die Brandstiftung) in Schwendt nachweisbar nie stattgefunden.17 Der Valterer Hof Das Aufscheinen ihres Hofnamens in Christian und Brigitte dürfte sich für die Bewohner des Valterer Hofes weniger erfreulich dargestellt haben. In ihre Familie gliedert Leitgeb kurzerhand die literarische Figur des Wast ein, der sich im Laufe des Romans die Vergewaltigung der Regina zu Schulden kommen lässt.18 Direkt im unmittelbaren Dorfzentrum Schwendts gelegen, weist der Valterer Hof keine mit dem im Roman dargestellten Geschehen wie auch immer gearteten Berührungspunkte auf. Die umtriebige, reale Person des Wast ist einem völlig anderen Hof zuzuordnen. Dort wuchs er zusammen mit Regina, die als Ziehtochter der tatsächlichen Familie des Wast angehörte, auf. Regina, die von Leitgeb als vergeistigt und der Welt entrückt dargestellt wird, war in der Realität ein kindliches Mädchen, das im Dorf zwar als naiv, aber sehr tüchtig galt. In welchem Rahmen sich die geschilderte Gewalttat tatsächlich zutrug – darüber gibt es keine 4 genaueren Angaben. In späteren Ausgaben des Romans wird ein kompletter Absatz, in dem Leitgeb auf eben jene Szene näher eingeht, gestrichen. In Folge dieses zweifellos stattgefundenen Übergriffs kam der realen Entsprechung der Regina eine Art Außenseiterrolle unter den Gleichaltrigen zu. Jahre später verließ sie Schwendt und stand erfolgreich als Wirtin auf eigenen Füßen. Der Pfarrer In einer kirchen- und kunstgeschichtlichen Abhandlung über den „Tiroler Anteil des Erzbistums Salzburg“ aus dem Jahre 1956 hält der Verfasser, ein Geistlicher aus Going, zum Namen Josef Erlfelder, anschließend an die Angabe zum Dienstantritt, dem 21. Januar 1898, Folgendes fest: Geb. 10.11.1864 in Abtenau, resignierte 1921 und starb in Kitzbichl 20.8.1946. In Josef Leitgebs etwas tendenziösem Roman „Christian und Brigitte“, wo er für die Figur des Pfarrers das Urbild abgeben mußte, ist Erlfelders Wesen und Wirken nach mehreren Seiten ungerecht beurteilt.19 Leitgeb dürfte die Person, auf der die Beschreibung des Pfarrers beruht, persönlich nicht kennen gelernt haben, da sich die ‚Resignation’ des Geistlichen vor den Dienstantritt Leitgebs in Schwendt datieren lässt. Auf Grund seiner fast ein Vierteljahrhundert andauernden Herrschaft im Dorf besaß dieses Original zum damaligen Zeitpunkt aber zumindest in Wirtshausgesprächen, Anekdoten und ‚handfesten’ Erinnerungen eine bei den Bauern ungebrochene Präsenz. Auf diesem Wege muss auch Leitgeb Kenntnis von der beeindruckenden Persönlichkeit des Kirchenmannes bekommen haben, dem es Generationen von Schulleitern recht zu machen versuchten. Die bildhafte Darstellung des Pfarrers, die dem Lektor Max Tau in ihrer förmlich greifbaren Wucht viel zu herausragend gestaltet ist – Wenn es möglich wäre, müsste es so sein, dass der Pfarrer, der Hannes und viele andere nur Randfiguren bleiben müssen, von denen sich Christian und Brigitte, die Eltern und andere wichtige Personen abheben.20 – bleibt dem Leser in ihrer einzigartigen Anschaulichkeit unvergessen.21 So zutreffend Leitgeb das Charisma dieses Geistlichen vermittelt, so wenig stimmt der im Roman angedeutete Hang zur Wilderei inhaltlich mit der Realität überein. Der Pfarrer selbst war offizieller Jäger und, was im Roman nicht Erwähnung findet, auch Fischer. Sein Amt als Waidmann erfüllte Erlfelder mit Leib und Seele. Dass eine Taufgesellschaft warten musste, bis der Herr Pfarrer von der Jagd zurückkehrte und sich die Zeit für eine Taufzeremonie nahm, kam mehr als nur einmal vor.22 Zahllose ‚heikle Geschichten’ und Erzählungen ranken sich noch heute um die eigentliche, heimliche Liebe des Dorfgeistlichen: die Medizin. Die in Christian und Brigitte geschilderte Behandlung des Koidl, die in einer tödlichen Vergiftung des Erkrankten endet23 oder die 5 angeblich fragwürdige Art und Weise, weibliche Patienten zu untersuchen24, gründen auf eben diese Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt nicht wirklich erwiesen ist. Fest steht, dass – ähnlich seiner literarischen Entsprechung – Erlfelder kleinere und größere gesundheitliche Probleme seiner Pfarrgemeinde eigenhändig behandelte. Inwiefern ihm dabei grobe Fehler unterliefen, lässt sich im Nachhinein nicht zweifelsfrei klären. Eindeutig belegt sind hingegen die oft sehr persönlich und grob abgefassten Moralpredigten, mit denen der Geistliche von der Kanzel herab derart zielgerichtet während der Messe einzelnen ‚Sündern’ die Leviten las, dass auch die übrige Gemeinde einen aktuellen Einblick in den Stand der Dinge bekam. War ihm der Delinquent namentlich unbekannt, so verkündete er beispielsweise den versammelten Kirchgängern im Zuge einer Predigt, dass sich derjenige bei ihm zu melden habe, der ihm seine Fallen entwendet hätte – „und zwar vorrangig wegen der Buße; nicht etwa wegen der sofortigen Rückerstattung.“25 Auf das Orgelspiel und das Glockengeläut während der Messe schien der Geistliche jedenfalls keinen besonderen Wert zu legen: Und damals waren eine lange Zeit gar keine Glocken mehr zu hören. Die sind beim Krieg geholt worden. Und später haben dann andere Dörfer die Glocken wieder bekommen, aber er [der Pfarrer] hat ja kein Interesse daran gehabt. Keine Glocken, keine Uhr mehr, keine Orgel.26 Unter Pfarrer Erlfelder war es zu keiner Rückführung der wie in allen Kirchen wegen des Krieges abmontierten und abtransportierten Glocken gekommen. Die heutige Direktorin der Volksschule Schwendt, Adelheid Jauk, bezeichnet den von Leitgeb dargestellten, massiven Einfluss der örtlichen Pfarrer auf das damalige Schulwesen als authentisch. Die Dorfgeistlichen hatten laut Jauk früher sogar meist die Funktion des Schulinspektors inne: „Wer dem Pfarrer missfallen hat, ist nicht länger als ein Jahr geblieben...“27 Das Verhältnis zwischen Erlfelder und seiner Gemeinde war ein durchaus angespanntes. Es gipfelte in einem regelrechten Kirchenboykott der Schwendter, die zur Messe demonstrativ den weiten Weg bis in die Nachbargemeinde gingen. Auch die im Roman erwähnte Unterschriftenaktion gegen den grobschlächtigen Pfarrer entspricht den realen Vorkommnissen. (In diesen Zusammenhang gehört auch die tatsächlich vollzogene ‚Verschönerung’ des pfarrhäuslichen Türschmucks mit Jauche...).28 Während im Roman der Taxer für das Aufbringen der Unterschriften zuständig war, organisierte dagegen in der realen Entsprechung die ehemalige Schulleiterin, Frau Ambrozic, verh. Dagn die Aktion: „Und die Dagn, die eine sehr intelligente Frau war, die ist dann von Haus zu Haus gegangen und hat die Unterschriften gesammelt“29, kann sich Frau Stöckl, die als Kind in Schwendt von Leitgeb unterrichtet wurde, noch genau erinnern. Das vom Autor dargestellte Streitgespräch zwischen Christian und dem Pfarrer30 kann in dieser Form, zumindest zwischen Leitgeb und Erlfelder, nicht stattgefunden haben, da dieser, wie erwähnt, in dem Jahr vor Leitgebs Schulantritt in Schwendt ‚resignierte’.31 6 Der Taxer Für den zeitlichen Rahmen, in den Leitgeb seinen Roman stellt, lässt sich aufgrund mündlicher Überlieferung in Schwendt die Existenz eines Mannes annehmen, der tatsächlich ‚der Taxer’ genannt wurde. Ob es sich hierbei um einen Schreib- oder Hausnamen handelt, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Der reale Taxer war ein alleinstehender Käser, der sich, was das Dorfgeschehen betraf, eher abseits hielt und seiner eigenen Wege ging. Von diesem Mann entlieh sich Leitgeb in erster Linie den Namen, der den Leser schon rein klanglich auf die Bodenständigkeit und die innige Verbindung der Figur mit dem Land und seiner Tradition hinweist. Auch die angedeutete mystische Aura, mit der Leitgeb die Figur umgibt, dürfte der Ausstrahlung dieses Mannes entsprochen haben, der „etwas ganz anderes, etwas unheimlich Ruhiges, Altes, Kluges“32 verkörperte. Der charismatische, überlegene Charakterzug, das zielorientierte Handeln und die zentrale Rolle der Romanfigur in der Dorfpolitik lassen sich hingegen eindeutig der Person des Georg Widauer zuordnen, der in Gemeindebelangen das eigentliche Sagen hatte, und somit im örtlichen Machtgefüge den weltlichen Gegenpart zu Erlfelder bildete. Das Motiv der Brandstiftung ist indessen rein fiktiv. In diesem Kontext soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die diesbezüglichen Textpassagen33 jeder realen Grundlage entbehren. Das Kreuz Die eingehende Wegbeschreibung, mit der der Autor die Ankunft Christians im Dorf einleitet, sowie die bildhafte Darstellung des mächtigen Wegkreuzes lassen den Schluss zu, dass der Junglehrer nicht über Kössen anreiste. Zu seinem Dienstantritt musste Leitgeb demnach die rund fünfzehn Kilometer von St. Johann nach Schwendt, das über keine eigene Postbushaltestelle verfügte, zu Fuß zurücklegen. Am Ortseingang wurde Leitgeb von der außergewöhnlich gearbeiteten Christusfigur, die nicht nur durch ihre gewaltige Größe besticht, empfangen. Die unübliche Gestaltung eines kräftigen, von schwerer körperlicher Arbeit gezeichneten Leibes unterscheidet sich völlig von der gängigen Abbildung des ausgemergelten Gottessohnes.34 Auch die realistische Darstellungsweise der Kreuzigung sei hier erwähnt: Die Nägel wurden dem Gekreuzigten durch das Handgelenk getrieben und nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, durch die Handflächen. 7 Das Kreuz, das nichts von seiner überwältigenden Wirkung verloren hat, stammt ursprünglich aus Fieberbrunn, wo es bis 1850 an der Außenseite der Pfarrkirche angebracht war.35 Von einer Händlerin, die durch Schwendt zog, erfuhren drei ansässige Bauern, dass dieses auffallend schöne Kreuz schon abgeschlagen sei und ,wegkommen' solle. Die Männer fuhren daraufhin nach Fieberbrunn und erstanden vor Ort den gekreuzigten Herrgott.36 Seitdem ist das Kruzifix an der Durchgangsstraße von St. Johann nach Schwendt zu bewundern. Der Thoma Die Figur des naturverbundenen Thoma setzt sich aus mindestens zwei verschiedenen ‚leibhaftigen Vorlagen’ zusammen. Da war zunächst ein Hirte in der Umgebung von Schwendt, der mit einer beispiellosen Sicherheit seine Tiere im Griff hatte. Die Schafe folgten ihm ‚auf Pfiff’. Weil sie trotz Verwarnung wiederholt in fremden Gebieten weideten, wurde die Herde mehrmals beschlagnahmt und in sichere Verwahrung gebracht. Auf unerklärliche Weise verschwanden die Tiere dann immer über Nacht und waren am darauffolgenden Tag wieder gemeinsam mit ihrem Hirten unterwegs.37 Auf die zweite Person, die ebenfalls mit in die Figur des Thoma einfließt, weist das „abgebissene Ohr“ hin, das Christian an dem verschrobenen Hirten auffällt.38 In Schwendt gab es tatsächlich einen Mann, der sich in jungen Jahren vor allem durch Raufereien einen Namen machte und sich der Mädchen kaum erwehren konnte. Eine der häufigen Handgreiflichkeiten endete damit, dass ein eifersüchtiger Bursche, der ihn zur Rede stellte, einen Teil seines Ohres abbiss, was ihn zwar nicht unbedingt ansehnlicher, zumindest aber interessanter für die Damenwelt und gefürchteter bei den Herren machte.39 Die Burgl Dem lebenshungrigen Kriegsheimkehrer erscheint die Burgl als quasi personifizierte Versuchung vor Ort. Ihre provokante und unkomplizierte Art kommt dem noch unsteten Wesen des Junglehrers sehr entgegen. In den tagebuchähnlich aufgebauten Gedichten aus der Schwendter Zeit hält Leitgeb Empfindungen fest, die auf die reale Vorlage zu dieser Figur verweisen könnten: Abseitig ist Gefahr, ein Tier zu werden. Ein Bauernweib ist da mit schöner Stirn und Augen voller Macht mich zu verwirrn, 8 und manchen mütterlichen Lockgebärden. Ihr blondes Kraushaar riecht nach jungen Pferden, sein Duft steigt mir wie Branntwein ins Gehirn. Die schwüle Nacht, die heiße Bauerndirn und heftig drängender April auf Erden. [...] Wie dürste ich nach diesem Bauernkinde, denn alles Blut erliegt dem süßen Wahn: [...] Ach, läge ich bei meinem Bauernkind!40 Die angeführten Verse aus den Läuterungen legen die Vermutung nahe, dass die Figur der Burgl in ihren hauptsächlichen Zügen einer Tochter des damaligen Schwendter Wirtes entspricht. Somit beruht ihre Darstellung zwar auf einer realen Person des Schwendter Dorflebens, sie verkörpert aber nicht wirklich eine konkrete Rivalin, sondern ist vielmehr stellvertretend für die vielen kleinen oder auch größeren Verlockungen zu verstehen, von denen eine unbeschwerte Leichtigkeit ausgeht, da sie nie einem ‚Ewigkeitsstatus’ unterliegen, sondern ihre Gültigkeit nur aus dem Moment erfahren. Dass sich Leitgeb von dieser jungen Dame inspirieren ließ, ist naheliegend. Ob jedoch die Begegnung Christians mit der Burgl – die so wie im Roman geschildert durchaus auch in einer Biographie Leitgebs stehen könnte – tatsächlich in dem Leben des Junglehrers eine solche Rolle spielte, muss an dieser Stelle nicht wirklich geklärt werden. Die Herren der Zementfabrik In den Jahren zwischen 1900 und 1912 wurden in Schwendt und Umgebung vermehrt Höfe von ihren Besitzern an Zementfabriken veräußert. Von Bedeutung waren hier vor allem die Firmen Perlmoser-Zement und Lechner-Zement. Die Hofkäufe waren bereits in einem erheblichen Umfang getätigt, sodass von den zuständigen Stellen sogar ein Ausbau der Eisenbahnlinie in dieses Gebiet in Erwägung gezogen wurde. Es blieb bei Spekulationen. Der faktische Hintergrund für den Besitzerwechsel auf dem Straßpoint-Hof stand mit einiger Sicherheit in keinem Zusammenhang mit derartigen Transaktionen.41 Die Brechelstube Der Leser mag die Szenerie, mit der Leitgeb den ‚Überfall’ auf den Junglehrer durch die ausgelassene Gruppe junger Bauernmädchen beschreibt, befremdend und überzogen empfinden.42 Die Schilderung Leitgebs entspricht aber durchaus den damals in den ländlichen Regionen üblichen Gepflogenheiten. 9 Das Brecheln des Flachses war eine schwere körperliche Arbeit, die fast ausschließlich von Frauen erledigt wurde. Männer bemühten sich vielmehr, dem näheren Umkreis der sogenannten Brechelstuben fern zubleiben, um nicht Gefahr zu laufen, dem Frust der von der mühseligen Arbeit erhitzten Frauen ausgesetzt zu sein. Bei Missachtung dieser stillschweigenden Übereinkunft waren je nach Landstrich die unterschiedlichsten Demütigungen zu befürchten, wobei die von Leitgeb beschriebene Variante noch zu den harmloseren ihrer Art gezählt werden kann. (Für die zahlreichen unehelichen Kinder findet sich in Anlehnung an diesen Brauch nicht selten der Ausdruck ‚Brechelkinder’). Die Sitte dieser speziellen Wegzollerhebung ist bis in das Jahr 1932 eindeutig belegt und hat sich nur sehr zögernd zurückentwickelt.43 Die Spinnstube Ähnlich der Brechelstube galt auch die Spinnstube als ein Ort des gemeinsamen Arbeitens, von dem die Männer meist ausgeschlossen wurden.44 Die Frauen versammelten sich jedoch nicht nur wegen des gemeinschaftlichen Spinnens. Es boten diese Zusammenkünfte gleichzeitig die Gelegenheit, in gemütlicher Atmosphäre sowohl altüberlieferte Erzählungen über die merkwürdigsten und unerklärlichsten Geschehnisse weiterzugeben als auch den neuesten Tratsch und Klatsch zum Besten zu geben. So war die Spinnstube nicht nur ein beliebter Ort „der erzählerischen Tradition“ 45, sondern sie fungierte auch als eine Art gesellschaftliche Überwachung. In einigen Regionen war es aber auch durchaus üblich, Spinnabende abzuhalten, zu denen die Männer zugelassen waren, und die „zu einem wesentlichen Teil als Ersatz für die zahlreichen Feste [...], die im Winterhalbjahr entfielen“46, verstanden wurden. Obwohl für diese Jahreszeit von der christlichen Liturgie eher Zurückhaltung empfohlen wird: „Kathrein stellt Tanz und Räder ein“, lebte man im ‚Heiligen Land Tirol’ hierzu eine andere Auffassung.47 In den ländlichen Gebieten waren gerade in der Zwischenkriegszeit die Vergnügungsmöglichkeiten rar gesät. Daher ist es nur verständlich, dass die Bauern sich alter Traditionen besannen und diese wieder aufleben ließen. Dass Leitgeb in Schwendt an vergleichbaren Abenden teilgenommen hat, ist als wahrscheinlich anzunehmen. Die Schulsituation Mit Christian lässt uns der Autor an der schleichenden Zermürbung teilhaben, an der in den abgelegenen Bergdörfern viele der eingesetzten Lehrer zerbrochen sind. Sie scheiterten an 10 diesen ‚Strafposten’, endeten oft als Alkoholiker und waren unfähig, ihren Schülern zumindest wesentliche Grundlagen zu vermitteln. Dieses traurige Bild entspricht der Schilderung, mit der Maria Stöckl ihre zurückliegenden Schultage charakterisiert: Ich war eine, die lesen hat können. Viele andere haben durch den vielen Lehrerwechsel nicht einmal lesen können. Mein Cousin ist ein großer Bauer gewesen, aber seinen Namen, den hat er nicht schreiben können. Das haben sie nicht gelernt.48 Josef Leitgeb gibt uns selbst den Lebensentwurf eines ‚traditionellen’ Volksschullehrers der Zwischenkriegszeit zur Kenntnis, wenn er der Figur des Pfarrers nachstehende Beschreibung in den Mund legt: Er wußte es nicht anders, als daß es landauf, landab der Brauch war und zu Recht bestand, dem Lehrer anzuschaffen, was er zu tun habe. [...] der Lehrer hatte die Orgel zu schlagen, die Glocken zu läuten, Bienen zu züchten, zwölf Kinder zu zeugen und ein demütig heiterer Hungerleider zu sein; seine Vorbildung konnte nicht genügen, um ihn mit einem lateingebildeten Geistlichen auf die gleiche Stufe zu stellen.49 Dieser Textstelle ist ebenfalls zu entnehmen, dass ,der Lehrer’ üblicherweise neben der Unterrichtsverpflichtung auch das Amt des Mesners und das des Organisten zu erfüllen hatte. Leitgeb war laut Stöckl in Schwendt der erste Schulbedienstete, der dies ablehnte und nur bei Bedarf in der Kirche die Orgel spielte.50 Josef Hellwig, der Leitgeb in Schwendt als Schulleiter folgte, ist es zu verdanken, dass die dortige Schulsituation auch für die Zeitspanne, in der der Roman handelt, eingehend nachvollzogen werden kann. Mit seiner dreiteiligen Abfassung „Amtsschriften der einklassigen allgemeinen Volksschule in Schwendt“ gibt er einen detaillierten Einblick in die bescheidene und vor allem frustrierende Lage vor Ort, die ihn zu der Einsicht führte: Einzig und allein die Persönlichkeit des Lehrers bestimmt hier also Blühen oder Niedergang der Schule. Ich bin zu wenig energisch, sie zum Blühen zu bringen.51 Für das Schuljahr 1922/23 verzeichnen diese Aufzeichnungen unter dem Schulleiter Josef Leitgeb 60 Schüler. Die Momentaufnahme, die Hellwig für das darauffolgende Schuljahr festhält, verdeutlicht die ungeheuerliche Frustration, die Leitgeb angesichts der untragbaren Situation vor Ort befallen haben muss. Das Klassenzimmer wird als „mangelhaft“ bezeichnet, die Fenster werden mit dem Zusatz „schlecht schließbar“ bedacht und die Bänke als wesentlich zu schmal geschildert. Mit einem „Holzgeländer primitivster Art“ versuchte man, den abzusehenden Einsturz des Ofens zu verhindern. Um nicht mehr auf den „Roßhaaren“ sitzen zu müssen, bezog Hellwig eigenhändig den ihm zur Verfügung stehenden Stuhl neu.52 Anhand der einsehbaren Unterlagen wird deutlich, dass dem „Ortsschulrat“ noch am besten mit „Spott“ ein Entschluss abgerungen werden konnte, der jedoch dann in der Folge selten umgesetzt wurde: Der neue Ofen wurde vor 18 Jahren für die Schule gekauft. Seitdem stand er verpackt im Nadlhäusl – aus Sparwut der Gemeinde. Er wird wohl dort aufgehoben bleiben noch 100 Jahre? Oder wird die Gemeinde endlich eine internationale Anleihe bekommen und den Beschluß des Ortsschulrates ausführen?53 11 Auch Leitgeb steht in reger Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen auf Gemeindeebene: (vom Ortsschulrat konnte ich Dinge erreichen, um die von meiner Vorgängerin jahrelang umsonst gekämpft wurde). [...] Diese Woche sind noch Ferien, weil das Schulzimmer gründlich erneuert wird (bisher regnete es noch immer auf das Pult herab!)54 teilt er seinem Freund Ludwig von Ficker einen ersten Zwischensieg mit. Tatsächlich scheint Leitgeb seine Renovierungswünsche in unmissverständlichem Ton bei der Gemeinde eingefordert und auch durchgesetzt zu haben. Die Schulchronik hält dazu fest: Es hat im vorigen Jahr noch ins Schulzimmer bei schlechtem Wetter hineingeregnet, heuer nicht mehr. Das Dach wurde auf Befehl J. Leitgebs repariert.55 Um das unerhörte Desinteresse der Bevölkerung am Lernfortschritt der Kinder aufzubrechen, wird zweimal wöchentlich eine Art Erwachsenenschule angeboten, in der auch Leitgeb zehn bis vierzehn Teilnehmern das Versäumte nachzuholen hilft.56 Im Briefwechsel von Leitgeb an Ficker findet sich ein weiterer Hinweis auf die Existenz einer Erwachsenenschule zu Zeiten Leitgebs.57 Hier ist schrecklich viel zu tun – soviel bin ich gar nicht gewohnt. Am Montag beginnt die Winterschul u. am Dienstag der Wiederholungskurs für Erwachsene. So bin ich die meiste schulfreie Zeit durch die Vorbereitungen aufs Schulhalten angehängt und für die „Kunscht“ bleibt nix übrig.58 Im letzten Abschnitt der Amtsschrift über die Volksschule Schwendt hält Hellwig akribisch genau den Inventarstand zum Zeitpunkt seiner Übernahme fest. „Einrichtungsgegenstände“ werden genauso Stück für Stück aufgelistet und in ihrer Brauchbarkeit bewertet wie die „Lehrmittel und Sammlungen“, und die „Anschauungsbilder“. Tief in die Tiroler Seele lässt jedenfalls die Zusammenstellung der vier Bilder blicken, die unter Punkt „I. Einrichtungsgegenstände“ neben dem offensichtlich sehr kargen Mobiliar (zwei Schreibtische, einer alt, ein Stuhl, alt, 16 alte Bänke, usw.) erwähnt werden: Ein Kreuzigungsbild, zwei Heiligenbilder und ein Bildnis von Andreas Hofer.59 Diese ausführliche Darlegung der örtlichen Gegebenheiten ermöglicht es, Leitgebs Roman in einen direkten Bezug zu seiner Entstehungszeit zu stellen. Weniger vollständig erweisen sich die Unterlagen der Schulbehörde über die im betreffenden Jahr durchgeführten Inspektionen. Es lassen sich keine eingehenden Dokumente mehr sicherstellen, aus denen sich zweifelsfrei beweisen ließe, dass Leitgeb in Schwendt einer Inspektion standhalten musste; noch weniger, wie das geschilderte Aufeinandertreffen von Innovation und Institution dann verlaufen wäre. Prinzipiell war eine Überprüfung der Junglehrer und ihrer Unterrichtsmethoden eher der Regelfall als die Ausnahme. Das Nichtvorhandensein einer entsprechenden Bemerkung im Klassenbuch schließt den Vorfall nicht obligat aus, denn „eine solche Notiz sei für den Lehrkörper nicht verpflichtend gewesen.“60 Rein amtlich lässt sich somit die Schulinspektion nicht zweifelsohne einem biographischen Geschehen zuordnen. In ihrer schriftstellerischen Gestaltung trägt sie jedoch unverkennbar die Züge Leitgebs, der jeder Obrigkeit – gleich 12 welcher Erscheinungsform – mit spöttischem Zynismus begegnete. Der Verlauf der Auseinandersetzung folgt klar der charakterlichen Linie Leitgebs: In seinem zunehmenden Ärger über das für ihn unzumutbare Auftreten des Inspektors sucht Christian die Lösung anfangs in der Flucht. Zumindest gedanklich klinkt er sich hier aus dem eigentlichen Vorgang aus und schaut – den Störenfried ignorierend – sinnierend aus dem Schulfenster. Erst als Christian emotional ausgereizt ist, reagiert er aktiv auf sein Gegenüber, wobei er nun sein Handeln nicht nach den üblichen Konventionen oder eventuellen Folgen ausrichtet. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass auch in der abgetippt vorliegenden Fassung des Tagebuchs Leitgebs einige Zeilen einen solchen Vorfall schildern. Da die Textstelle jedoch nicht im Original eingesehen werden kann, ist eine tatsächliche Parallele nicht verifizierbar. Christian und Brigitte Die Verflechtung beider Titelfiguren mit ihren realen Gegenstücken ist derart intensiv, dass sie grundsätzlich als literarische Spiegelbilder Josef und Grete Leitgebs verstanden werden müssen. Oft kann nur mit einiger Mühe zwischen Original und literarischer Entsprechung unterschieden werden. Nicht zuletzt wegen dieser engen Verknüpfung der realen Charaktere und stattgefundenen Ereignisse mit den im Roman handelnden Personen und dargestellten Geschehnissen muss jedoch unbedingt vermieden werden, dass beide Ebenen miteinander gleichgesetzt und so die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufgehoben und missachtet werden. In wesentlichen Punkten seines Werks weicht Leitgeb von der realen Vorlage ab und er bereichert die biographische Grundlage um rein fiktive Versatzstücke. Zentrale Figur des Romans ist der junge Lehrer Christian, dessen geschilderter familiärer Hintergrund fast bis ins Detail dem Leitgebs entspricht.61 Der Autor lässt den eigenen Waisenhausaufenthalt zwar unerwähnt, verändert aber ansonsten nichts Wesentliches und gewährt einen tiefen Einblick in seine sowohl von Geborgenheit als auch von schweren Schicksalsschlägen geprägte Jugend. Obwohl oder gerade weil ihn der Tod der Mutter in seiner Entwicklung wohl nachhaltiger beeinflusst hat als der seines Vaters, ‚übergeht’ Leitgeb dieses Ereignis förmlich und belässt es bei der schlichten Erwähnung. Die Darstellung der naturverbundenen Vaterfigur erfolgt hingegen weitaus ausführlicher und ist in liebevoller Erinnerung eng an die eigene Vergangenheit gearbeitet. Wie nah Leitgeb sich hier an der erlebten Realität bewegt, verdeutlicht der Rückblick, in dem Christian den Tod seines Vaters schildert.62 Ein Vergleich mit der entsprechenden Passage in Das unversehrte Jahr, 13 den Kindheitserinnerungen Leitgebs, lässt erkennen, dass von ein und demselben tief prägenden Ereignis die Rede ist: Als sich der Onkel aufrichtete, sah der Vater mit unsäglich flehendem Blick zu ihm auf und – er mußte plötzlich seines nahen Todes gewiß worden sein – die Hände falteten sich wie die eines betenden Kindes, er streckte sie stumm empor, Tränen füllten seine Augen, […], ich trat zögernd und bangen Herzens ans Bett, zu keinem Worte fähig. Er nahm meine Hand und behielt sie lange in der seinen; er schwieg. Nur seine Augen sprachen; sie klammerten sich an die meinen, und wenn es einem Vierzehnjährigen auch fast unerträglich ist, mit Hand und Blick so festgehalten zu werden, es war nicht möglich, dem zwingenden Anspruch des Augenblicks zu entrinnen. [...] Ich fühlte, er nahm Abschied, aber in seinem Blick war nicht nur unendliche Trauer, unendliches Weh, sondern auch der beschwörende Anruf: sei und bleib, der du sein sollst! Ich verstand ihn genau, er war Manns genug, zu fordern, daß man das Bild, das er vom Menschen hatte, als Vorbild achte und ihm nachlebe, wie er es zeitlebens getan hatte.63 Auch die Charakterzüge bei dem gegen Ende des Romans auftauchenden Landstreicher sind deutlich an den Vater Alfred Leitgeb angelehnt. Mit einemmal durchzuckte ihn das Gefühl, der Alte habe seinem Vater geglichen. In beiden das gleiche Vertrauen zu einer Hand, die sie hielt, das gleiche Jasagen zu allem, was ihnen begegnete. Er rechnete nach, sie müßten gleich alt sein, wenn der Vater noch lebte. Nur einfältiger war dieser gewesen, seine Augen hatten den gütigeren Blick gehabt, seine Worte waren stets ohne Schärfe, sein Lachen ohne Spott geblieben.64 Zusätzlich lässt sich noch eine weitere konkrete Person aus dem Umfeld Leitgebs in dieser Figur erkennen. Auffallende Ähnlichkeiten und die Symbolik rund um den ,Alten', der das Recht lebte, zu kommen und zu gehen, wann und wohin er wollte, legen die Vermutung nahe, dass das Bild des Landstreichers stark vom Charisma und der Weltanschauung des Schriftstellers Carl Dallago beeinflusst ist. Mit dem weiteren Werdegang Christians umreißt Leitgeb in kurzen Sätzen die Spanne seiner eigenen Entwicklung über die Gymnasialzeit und den Kriegsdienst an der Front hinaus bis zu seinem Dienstantritt in Schwendt.65 Christian, der während des Ersten Weltkrieges so wie Leitgeb in seinem jungen Leben mit grauenhaften Bildern konfrontiert wird, steht zwischen seiner Sehnsucht nach dem Leben an sich und seinem Anspruch auf Sinn und Wahrhaftigkeit. Er flüchtet nach Abschluss seiner Lehrerausbildung aus der Oberflächlichkeit der Stadt in das kleine, abgelegene Bergdorf Schwendt und sucht dort „den Bereich des Lebens, in welchem wieder die strengste Notwendigkeit herrschte wie an der Front.“66 Die hier erwähnten Stationen entsprechen somit der persönlichen Entwicklung Leitgebs, in dessen Alter Christian in etwa anzunehmen ist. Im Gegensatz zu seiner literarischen Entsprechung quält sich Leitgeb jedoch nicht nur ‚einige Semester ab’, sondern er wechselt nach begonnenem Germanistikstudium das Fach und studiert Rechtswissenschaften. Ganz frei in seiner Entscheidungsfindung hiezu ist er aber nicht: Der Vater Grete Ritters macht seinem Schwiegersohn in spe den erfolgreichen Jura-Abschluss zur Bedingung für die Zustimmung zu einer Eheschließung mit seiner Tochter.67 Leitgeb akzeptiert und absolviert 14 das Studium neben seiner vollen Lehrertätigkeit. Sein erfolgreicher Abschluss im Jahr 1925 zeugt von einer ausdauernden Zielstrebigkeit, die man bei Christian vergeblich sucht. Die Beweggründe, die ihn in das kleine Dorf trieben, verarbeitet Leitgeb in Sonetten: Wie hast du dich in dieses Dorf gesehnt, als dich die Stadt mit ihrem Nichts bedrängte, als ihre Blendung deinen Blick versengte, daß er erblindet war und fast enttränt. Da hat der Mensch sich in dir aufgelehnt. Es wuchs das Herz, das in den Pferch gezwängte, es wuchs ein Schrei, bis er die Kehle sprengte, von Gottes deutlichem Befehl durchtönt. Da lag die Erde offen deinem Schritt, den du aus tötendem Gemäuer tatest. Nichts als den guten Willen nahmst du mit, als du in den Bezirk des Bauern tratest, das mitzuleiden, was er selber litt. Mehr war es nicht, worum du herzlich batest.68 In einer verantwortungsvollen Aufgabe die Antwort nach dem Sinn des Daseins zu finden, das ist die Hoffnung, mit der Leitgeb dem Amtsschimmel, der nach dem Krieg wie eh und je in die Büros eingezogen war69, entgehen wollte: „Mein Einstand in Schw. ging über alles Erwarten gut vonstatten. Sehr schöne Bude, vorzügliche Verpflegung, treffliches Auskommen mit den Leuten.“70 Diese Zeilen an den Freund und Mentor Ludwig von Ficker geben einen Eindruck von dem Eifer, mit dem er sich in die neue Herausforderung stürzt. Am Bild Christians zeigt Leitgeb deutlich, wie er sich vorstellte, aus den alten Lehrmethoden auszubrechen und „den Moder, der aus Büchern, Vorschriften und Amtsstuben stäubt, nicht aufkommen zu lassen“.71 Leitgeb ist bemüht, frischen Wind in die Unterrichtsmethoden zu bringen: Selbst verfasste, lyrische Diktattexte72 und Unterrichtseinheiten im Freien sind nur einige seiner unkonventionellen Lehrmethoden73, mit denen er sich wie sein literarisches Pendant den Ärger sozusagen vorprogrammiert. Das Verleihen spannender Jugendromane, wie etwa Robinson Crusoe von Daniel Defoe an die kleine Nothegger Moidl74, war nicht ganz ungefährlich. Da weder der Vater noch der Pfarrer Literatur dieser Art geduldet hätten, musste alles heimlich geschehen; das erhöhte zusätzlich den Reiz der Lektüre. Die anfängliche Begeisterung für die neue Aufgabe verlor sich angesichts der abstumpfenden Verhältnisse und der auffallenden ‚Schulunfreundlichkeit’75 eines Großteils der Bevölkerung recht schnell und so empfand Leitgeb seine Situation schon bald als sehr bedrückend. Die starke Enttäuschung, mit der er nach der ersten Euphorie zu kämpfen hatte, lässt sich anhand seiner lyrischen Arbeiten dieser Zeit nachvollziehen: Mit seinen Kindern täglich umzugehen in Liebe und Geduld, schien dir genug, da manches Herz dir bald entgegenschlug; 15 das deine aber blieb allmählich stehen.76 am gleichen Tisch mit faulen Bauernknaben, von ihrem Lächeln schonungslos entehrt, das sie für Gaukler heimlich übrighaben. Denn wo du mittust, ist es Gaukelei, beim Branntweintrinken und beim Kartenspielen. Du bleibst der Ungesellte unter vielen, innerlich Stumme mitten im Geschrei.77 Die im Roman beschriebenen aufkommenden Zweifel Christians sind vermutlich die literarisch umgesetzten Erfahrungen Leitgebs, der sich seine Aufgabe weitaus heroischer und effektiver vorgestellt hatte und sie nun grundlegend hinterfragen muss: Lehrer zu sein ist auch ein Selbstbetrug. Was drängst du dich ins Werden und Vergehen und läßt das Leben nicht mehr so geschehen, wie es geschehen will nach Brauch und Fug? Glaubst du dem Leben modernder Geschlechter mehr als dem eigenen und dem der Kinder? Selbst nicht ganz wach, spielst du dich auf zum Wächter78 Inmitten einer schlauen Bauernrotte, die von dem Salze meiner Bildung leckt, daß ihr die bittre Bibel besser schmeckt, so leb ich da und füge mich dem Trotte. Weiß nicht, wozu ich lebe und mich plage, und welcher Geier mir am Herzen frißt. Ich gebe doch den Kindern alle Tage den Teil von mir, der noch der beste ist. Was ist es, daß ich dennoch so verzage, als lebt’ ich nichts als eine Galgenfrist?79 Auf der Suche nach seinem eigentlichen Ich treibt Christian den unterschiedlichsten Frauengestalten zu, die jeweils vollkommen verschiedene Bereiche seines Charakters reflektieren und erkennen lassen. Neben der im Vorfeld schon erwähnten Burgl trifft er Ljuba, die die verlockenden Gefahren der Stadt in sich birgt. Nicht als wirkliche Person zu begreifen, ist sie doch eindeutig die Konstruktion eines Ideals. In Form der irrealen Traumfrau verkörpert sie verschiedenste Sehnsüchte, die in Verblendung auslaufen. Halt und eine ruhige Mitte findet Christian erst bei Brigitte, deren im Roman geschilderte Familienverhältnisse grundsätzlich dem Umfeld Grete Ritters entsprechen. Der aus Liechtenstein stammende Vater, kein Mediziner, aber erfolgreicher Jurist, der in seiner Freizeit Autorennen fährt, ist ein sehr lebhafter und aufgeschlossener Mann, der das Gefühl, vor Schwiegereltern ‚bestehen’ zu müssen, aus eigener Erfahrung kennt.80 Der Verbindung seiner Tochter Grete mit dem jungen Lehrer hat er nichts entgegenzusetzen, er verlangt dem zukünftigen Schwiegersohn aber ein erfolgreich abgeschlossenes Jura-Studium als Voraussetzung für seine Einwilligung ab. 16 Die Mutter Gretes ist in ihrer Persönlichkeitsstruktur schon schwieriger. Oft leidend, war es ihr nicht möglich, den Rahmen ihrer großbürgerlichen Herkunft und Erziehung zu verlassen. Die innere Anspannung, unter der Leitgeb während der sonntäglichen Essen bei Gretes Eltern gestanden haben mag, überträgt der Autor ohne Abstriche auf sein literarisches Pendant. 81 Ähnlich den Szenen, in denen Christian die höfliche Zurückhaltung aufgibt und die zukünftigen Schwiegereltern in seiner unkonventionellen Manier mit seinen eigentlichen Ansichten und Weltanschauungen konfrontiert, gab es auch im Hause Ritter vergleichbare Diskussionen.82 Die unterschiedliche Auffassung, mit der Christian und Brigitte ihre Beziehung empfinden, birgt Konflikte in sich, die vermutlich auch auf Grete und Josef Leitgeb übertragbar sind. Brigittes von Natur aus eher rationale Art, mit den Dingen umzugehen, sehnt eindeutige Verbindlichkeiten herbei; ihr Bedürfnis nach klaren Linien kann dieses schwebende ‚Sichnichtfestlegen’ nicht auf lange Sicht akzeptieren: Nach dem Spielen hatten sie über dies und das gesprochen, auch über die Heirat und seinen Plan, von hier fortzuziehen. Sie hatten eine Weile in Möbeln, Gärten und Wohnungen geschwelgt und Stunden des Beisammenseins vorausgenossen, Abende beschworen, an denen sie ins schwindende Licht blicken und schweigen wollten, bis die Sterne aufgingen. Ein friedliches Glück war von solchen Bildern ausgegangen, wie es Brigitte noch nie erfahren hatte. Dann war er mit einem derben Scherz gegangen, als schüttelte er etwas von den Schultern, was er nicht gerne trug, und sei es noch so hold und leicht.83 Für Christian hingegen typisch erscheint, dass er die verpflichtende Realität nicht wirklich wahrhaben möchte. Er begreift erst spät, dass er mit Haut und Haar in eine Verlobung hineingerutscht ist, die er in dieser Bestimmtheit eigentlich noch nicht wollte. Ganz ähnlich wechselte auch bei Leitgeb das Hochgefühl, das sich beim Gedanken an die geliebte Braut einstellt, mit der bedrückenden Schwere der ‚leichtfertig miteingehandelten’ Verantwortung. Dem lebenshungrigen, jungen Mann, eben erst aus den Zwängen des Krieges entlassen, muss die Aussicht auf neue, zivile Verhaltensvorschriften und Reglementierungen aufs Gemüt geschlagen sein. Über die gedankliche Ebene Christians schildert Leitgeb die phlegmatische Abneigung, den Ernst der Lage zu erfassen. Doch selbst das Gewahrwerden der unangenehmen Situation reicht nicht aus, eindeutig Stellung zu beziehen: Warum er aus den überaus klaren Einsichten, die ihm von Zeit zu Zeit blitzartig zuteil wurden, nicht die Folgerungen zog, sondern so weiterlebte, als hätte er sie gar nicht gehabt, wußte er selbst nicht. Und das war wohl der gefährlichste Mißstand in seinem inneren Haushalt. Er lebte nicht nach seinem Kopf; er ließ sich treiben, sprang nach einer Weile aus dem Strom, sah, wohin es ihn getrieben hatte, und warf sich wieder in das blinde Element, daß es ihn fortnehme, ihn seinen eigenen nachstarrenden Blicken entführe.84 Christian liebt Brigitte als die Ruhige und Ruhe gebende. Sie gleicht seinen Gefühlsüberschwang aus, fängt ihn auf, wenn er den Boden verliert, sie ist da, wenn er sie braucht, sie „hörte gerne zu; zuzuhören war ihre beste Rolle.“85 17 Diese von einer inneren Notwendigkeit getriebene Sehnsucht nach Halt wird es unter anderem gewesen sein, die Josef und Grete über alle Wesensunterschiede hinweg eine tiefe Verbundenheit empfinden lässt. Ihre umsichtige, stille Friedsamkeit, die sich selbst immer nur im Hintergrund hält, gibt dem Rastlosen einen ruhenden Pol, den er selbst nicht in sich trägt. Noch dazu ist die Persönlichkeit Grete Leitgebs von einer starken Rationalität geprägt. Indem sie ihren Mann von den Oberflächlichkeiten des Alltags entlastet, ermöglicht sie ihm den benötigten Freiraum für seine literarische Schaffenskraft. Sie, deren Naturell es ihr nicht erlaubt, wirkliche Emotionalität zu zeigen, bewundert gerade eben diesen Wesenszug ihres Mannes.86 Im Roman nennt Brigitte ihren Christian einmal „still bei sich ihren lieben Buben.“87 Dieser mütterliche Aspekt, der sowohl von Brigitte selbst ausgeht, als auch von Christian sehnsüchtig aufgenommen wird, kommt möglicherweise auch in der Beziehung zwischen Josef und Grete zum Tragen. Der frühe Tod der Mutter, der gefühlsarme Waisenhausaufenthalt, der genau in die Entwicklungsphase des Kindes fiel, in der es am tiefsten vom Bild des gegengeschlechtlichen Elternteils geprägt wird, dazu die grauenhaften Kriegserfahrungen – all das mag auch in Leitgeb eine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit ausgelöst haben. In den Läuterungen skizziert er Momente, in denen er sich aufrichtig nach Wärme und Geborgenheit sehnt (und sich dabei wahrlich sehr bemüht, den „lockren Fensterriegel“88 in der Nachbarschaft zu überhören). Du schläfst in dieser Nacht, geliebtes Kind, da in der finstern, bodenlosen Leere ich mit dem Engel ringe, mich verzehre nach einem Tag, der völlig neu beginnt. O wärst du da mit deiner Liebe lind, in der ich mütterlich geborgen wäre, damit ich nicht mein Innerstes verheere mit Worten, die von Tränen glühend sind!89 Dem Wesen Christians vergleichbar, der den moralisch verwerflichen, allüberall ‚lauernden Gefahren’, die sich ihm regelrecht aufzudrängen scheinen, nur wenig entgegen setzen kann, und nach jedem Zusammensein mit Brigitte innerlich einen neuen Schwur der (zumindest angestrebten) Treue leistet, erscheint es, dass auch Leitgeb von Zeit zu Zeit eine neuerliche Anstrengung zur Kurskorrektur benötigte, bei der er sich dessen besann, was er nicht wirklich aufs Spiel setzen wollte. Nach den seltenen Treffen mit Grete fühlte er sich wieder eins mit ihr, war ausgeglichener und ruhiger. Eine Weile hielt dieses beruhigende Gefühl an, ließ die wach durchlebten, von innerer Zerrissenheit und von Versuchungen geprägten Nächte vergessen. Sie gab mir auch das Ohr, den Wunderbau, und sagte: Horch! und mitten im Verschwenden 18 gab sie mir auch das Herz und beide Lenden und sagte: Mann, erkenne deine Frau! Wer hat den Leib entseelt, den Geist entleibt, Lebendiges zu seiner Qual zertrennt, daß unterdrücktes Feuer uns verbrennt, ersticktes Leben böse Triebe treibt?90 ---------------------Seit ich dies schreibe, war ich ja bei dir und kam zurück mit ehelichem Mute. Befreit aus meinem aufgeregten Blute seh ich mit Wonne dieses Blühen hier.91 Zu Ende geht der stürmische April. Ich seh die Welt in einem neuen Lichte: die Kraft des Herzens wächst aus dem Verzichte, auch wenn er es zu Nichts verbrennen will.92 Verse, die annehmen lassen, welcher ,Achterbahn der Gefühle' Leitgeb in dieser Phase unterworfen ist. Die tiefgehenden Übereinstimmungen in den Wesenszügen Leitgebs und seiner literarischen Entsprechung veranlassen Ludwig von Ficker in einem Brief an Leitgeb zu folgender Feststellung: Denn so peinlich gewissenhaft einige Details in der excessiven Unbefangenheit Ihrer Darstellungsweise wirken und so deutlich der exhibitionistische Charakter des ganzen Buches ist: gerade dadurch, daß Sie den Mut haben, sich in der völlig unidealisierten Figur des Christian im Rahmen einer ebenso entsetzlich wie erhebend fragwürdigen Welt mitzuexponieren, erreichen Sie es, daß Ihr eigenes Bloßstellungsbedürfnis im Verein mit dieser animalischen Lebensdunstatmosphäre der bäurischen Welt einen Spannungshorizont aufweist, der beiden Welten, der eigenen wie der fremden, zugute kommt [...].93 Dessen ungeachtet muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Christian und Brigitte trotz der offensichtlich überwiegend autobiographischen Einflüsse auf den Roman als ausschließlich fiktiv angesehen werden muss. Obwohl mehrere Erzählstränge und ebenso etliche der in sie eingebetteten Charaktere einer erfahrenen Wirklichkeit entnommen wurden, kann keinesfalls von einer bloßen Nacherzählung gesprochen werden. Der Autor gliedert einzelne Motive auf, gruppiert sie von Grund auf neu und formuliert – die tatsächliche Chronologie der Ereignisse völlig ignorierend – überspitzt oder abschwächend den sich ihm darbietenden realen Stoff zu einer literarischen Konstruktion. 1 Daniela Rummel-Volderauer: Josef Leitgeb. Christian und Brigitte. Eine Annäherung. Diplomarbeit. Innsbruck 2003. 2 Josef Leitgeb: Gedichte. Hg. von Sabine Frick und Sabine Hofer. Innsbruck, Wien: Tyrolia 1997. 3 Brief Max Taus an Josef Leitgeb, 16.5.1935, in dieser Ausgabe, …. 4 Josef Leitgeb: Das unversehrte Jahr. Chronik einer Kindheit. Hg. von Manfred Moser und Hans Prantl. Innsbruck, Wien: Tyrolia 1997. 5 In dieser Ausgabe, 38. 6 Gespräch der Verfasserin mit Maria Stöckl, geb. Nothegger, Oktober 2003. 7 Maschinschriftliche Abschrift der Tagebücher Josef Leitgebs (Nachlass Leitgeb), 1923, 7. 8 Gespräch der Verfasserin mit Maria Walder, geb. Schwaiger, November 2003. 19 9 Stöckl, 2003. In dieser Ausgabe, 40f. 11 Siehe: In dieser Ausgabe, 35f. 12 Gespräch der Verfasserin mit Egyd Greil, Oktober 2003. 13 Vgl. dazu: Jörg und Marie im Roman. 14 Vgl. dazu: ‚Burgl’ im Roman. 15 Stöckl, 2003. 16 Siehe: In dieser Ausgabe, 48f. 17 Greil, 2003. 18 Siehe: In dieser Ausgabe, 116. 19 Matthias Mayer: Der Tiroler Anteil des Erzbistums Salzburg. 5. Band: Kirchdorf – Waidring – Kössen und Schwendt. Going: Selbstverlag des Verfassers 1956, 245. 20 Brief Max Taus an Josef Leitgeb, [Ende April 1935], in dieser Ausgabe, …. 21 Vgl. dazu: In dieser Ausgabe, 53ff. 22 Greil, 2003. 23 Siehe: In dieser Ausgabe, 182ff. 24 Siehe: Ebenda, 177. 25 Greil, 2003. 26 Stöckl, 2003. 27 Gespräch der Verfasserin mit Adelheid Jauk, Direktorin der Volksschule Schwendt, Oktober 2003. 28 Greil, 2003. Vgl. in dieser Ausgabe, 177. 29 Stöckl, 2003. 30 Vgl. in dieser Ausgabe, 288-294. 31 Siehe: Mayer, 245. 32 In dieser Ausgabe, 138. 33 Vgl. ebenda, 373ff. 34 Vgl. ebenda, 31. 35 Telefonat der Verfasserin mit Erich Rettenwander, November 2003. 36 Greil, 2003. 37 Ebenda. 38 Siehe: In dieser Ausgabe, 77. 39 Greil, 2003. 40 Leitgeb: Gedichte, 1997, 136f. 41 Greil, 2003. 42 Vgl. in dieser Ausgabe, 36ff. 43 Siehe: Petra Streng; Gunter Bakay: Bauernerotik in den Alpen. Das Liebesleben der Tiroler vom Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert. Innsbruck: Edition Löwenzahn 1997, 74f. 44 Siehe: In dieser Ausgabe, 142ff. 45 Streng, 1997, 75. 46 Ebenda, 78. 47 Ebenda, 78. 48 Stöckl, 2003. 49 In dieser Ausgabe, 286. 50 Stöckl, 2003. 51 Josef Hellwig: Amtsschriften der einklassigen allgemeinen Volksschule in Schwendt. 1923/24 (Schulchronik Schwendt). 52 Siehe: Ebenda. 53 Ebenda. 54 Brief Josef Leitgebs an Ludwig von Ficker, 3.10.1922, in dieser Ausgabe, …. 55 Hellwig, 1923/24. 56 Ebenda. 57 Siehe: In dieser Ausgabe, 21ff. 58 Brief Josef Leitgebs an Ludwig von Ficker, 2.11.1922, in dieser Ausgabe, …. 59 Hellwig, 1923/24. 60 Rettenwander, 2003. 61 Vgl. in dieser Ausgabe, 25f. 62 Siehe: Ebenda, 33f. 63 Leitgeb: Das unversehrte Jahr, 1997, 321ff. 64 Siehe: In dieser Ausgabe, 402. 65 Siehe: Ebenda, 25f. 66 Ebenda, 29. 67 Gespräch der Verfasserin mit Eckart Leitgeb, Sohn Josef Leitgebs, im November 2003. 68 Leitgeb: Gedichte, 1997, 130. 69 Siehe: In dieser Ausgabe, 28f. 70 Brief Josef Leitgebs an Ludwig von Ficker, 3.10.1922, in dieser Ausgabe, …. 71 In dieser Ausgabe, 56. 10 20 72 Siehe: Josef Leitgeb, Rudolf Leitgeb: Diktatsammlung. Zur Verfügung gestellt von Christian Leitgeb. In dieser Ausgabe, …. 73 Stöckl, 2003. 74 Ebenda. 75 Siehe: Hellwig, 1923/24. 76 Leitgeb: Gedichte, 1997, 130. 77 Ebenda, 129. 78 Ebenda, 1997, 131. 79 Ebenda, 133. 80 Eckart Leitgeb, 2003. 81 Siehe: In dieser Ausgabe, 128f. 82 Eckart Leitgeb, 2003. 83 In dieser Ausgabe, 304. 84 Ebenda, 141. 85 Ebenda, 129. 86 Eckart Leitgeb, 2003. 87 In dieser Ausgabe, 12. 88 Leitgeb: Gedichte, 1997, 137. 89 Ebenda, 133. 90 Ebenda, 138. 91 Ebenda, 139. 92 Ebenda, 140. 93 Brief Ludwig von Fickers an Josef Leitgeb, 21.11.1936, in dieser Ausgabe, …. 21