Manuskript und Buch: Der Weg aus der Brisanz zum Happy End von Daniela Rummel-Volderauer Der literarische Nachlass Leitgebs, der im Brenner-Archiv aufbewahrt wird, umfasst auch die Manuskripte zu Christian und Brigitte. Das eröffnet die Möglichkeit, in einem direkten Vergleich einzelner, ausgewählter Textstellen mit den entsprechenden Passagen der Erstveröffentlichungen den Entstehungsprozess des Romans nachzuvollziehen. Dem gekürzten Vorabdruck als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Die Dame1 und der ersten Veröffentlichung in Buchform im Verlag Bruno Cassirer2 im Jahre 1936 gingen mehrere, vom gedruckten Original sowohl in Inhalt als auch in der Konzeption vielfach gravierend abweichende Entwürfe voraus. Diese verschiedenen Fassungen sind in sechs Heften erhalten, worin der Autor sowohl epische Abläufe als auch grundlegende Betrachtungen zu Aufbau und Figurenkonstellation festgehalten hat. Der nachstehende Abriss folgt zunächst größtenteils der Darstellung, wie sie sich aus den Untersuchungen im Rahmen einer Diplomarbeit3 zu Leitgebs Roman Christian und Brigitte ergibt, greift die bereits behandelten Abschnitte auf, erweitert diese jedoch um wesentliches Textmaterial, das erst durch eine umfassendere Aufbereitung des Manuskripts erschlossen werden konnte. In dem mit 23. Dezember 1933 datierten Notizheft entwirft Leitgeb einen von der späteren Druckfassung 1936 grundlegend abweichenden Einstieg in den Roman: Nicht das Bild der Brigitte, die mit ihrem Kind im Arm, völlig eins mit der sie umfangenden Natur, den Leser mittels eines Rückblicks an den Beginn ihrer eigenen Geschichte und jene Christians führt, eröffnet den Roman. Die Landschaft des Kohltals mit den in ihr weit verstreuten Höfen bildet den Hintergrund, aus dem ein den beharrlichen Regen ignorierender junger Mann heraustritt und sich an das Gatter eines Holzzaunes lehnt. Im Unterschied zur veröffentlichten Fassung, in der die Ortschaft an keiner Stelle namentlich genannt wird, erwähnt der Autor hier den nur oberflächlich veränderten Namen des Dorfes, über dessen herbstliche Talwiesen besagter junge Mann nun seinen Blick schweifen lässt: Über das Kohltal ging der Herbstregen nieder. Auf den Höhen, die beiderseits mit hügeliger Viehweide und dahinter mit steilem Fichtenwald anstiegen, kroch der Nebel talaus; linkerhand – vom Karrenweg aus gerechnet, der in mäßiger Steigung nach dem Dorfe Gschwandt führte – war es der Rauhe Kogel, rechts der Schnappen, grüne Vorberge des wilden Kalkgebirges, das hinter Nebeln verborgen blieb und nur eine dunkelgraue Felsschulter aus dem Regengewölk reckte. Das Tal schien ausgestorben; Die Bauern saßen auf ihren Höfen, die viertelstundenweit auseinanderlagen, und ließen es über sich zuherbsten; sie waren müd. Längst hatten sie zum letztenmal gemäht und auch die magere Feldfrucht war eingetan. Da trat aus dem kleinen Auwald, der den Bach bis hieher begleitet hatte, ein Mann, öffnete das Gatter des Zaunes der den schütteren Erlenbestand gegen die Talwiesen abschloß, ließ es langsam zufallen und blieb trotz des Regens eine Weile stehn. Er legte die verschränkten Arme auf das Gatter, stützte sein Kinn darauf und glich in 1 solcher Stellung einem erwachsenen Buben, der sich träumend an einen Zaun hinlümmelt. So blickte er lange in den Wald zurück, unbekümmert darum, daß der Regen über ihn herabfloß, einzig in sein Zurückschauen vertieft, wenn auch sein Blick die Bäume und den im Astwerk ziehenden Nebel gar nicht recht wahrnahm, sondern unbeweglich auf den Punkt gerichtet war, an dem sich dem Wanderer seine Gedanken verdeutlichten. Er nahm Abschied. Von allem, was bisher sein Leben ausgemacht hatte, von seinen achtundzwanzig Jahren, die ihm nun – heute und hier zum erstenmal – als Ganzes, Abgeschlossenes überblickbar und wägbar erschienen. Und wie er sie so, noch sich erinnernd und sie schon gegen das unermeßlich Künftige haltend, abwog, fand er sie weder leicht noch schwer, nur zu Ende waren sie und er warf sie von sich. Ohne das kleinste Gefühl der Reue, aber auch ohne Stolz auf sie ließ er sie fahren.4 Die daran anschließende intensive Erinnerung an den verstorbenen Vater und die Schilderung der Sterbeszene decken sich fast wortgleich mit den entsprechenden Textstellen der Fassung von 1936.5 Ebenso werden die malerische Darstellung des beeindruckenden Wegkreuzes und die erste Begegnung mit der Figur des Thoma von Leitgeb absatzweise unverändert aus dem Manuskript übernommen. Endet die beschriebene Szene in der Erstausgabe mit den „erloschenen Augen“6 des Gekreuzigten, zeigt sich die Formulierung im Entwurf jedoch noch eingehender, noch nachdrücklicher: und das Zeichen seines Herrentums ist nichts als eine Krone aus Dorngestrüpp, das der andere – ein Unkraut – aus seinem Kornfeld reißt. So war der ewig Sterbende noch der Herr des sterblich Lebenden.7 Die Idee des völligen Neuanfangs auf der Suche nach dem eigentlichen Sinn des Lebens wird vom Konzept inhaltlich ohne Abstriche auf die Romanfassung übertragen; der eigentliche Wortlaut, in dem die Passage im Manuskript gehalten ist, wurde anschließend vollkommen umgearbeitet, sie lautete ursprünglich wie folgt: Immer wieder versuchte er, den geheimen Sinn der großen Auslese zu finden, darauf zu kommen, nach welchem Plan sie erfolgt sei, aber seine Spekulationen führten zu nichts; nur eines blieb unbezweifelbar: das ungeheure Sterben mußte einen Sinn haben und die Toten hatten die Heimkehrenden verpflichtet, ihn zu erkennen u. zu verwirklichen. Er war 22 Jahre alt, als er zurückkam u. ein Wirbel von Leben schluckte ihn ein. Hochschule, Theater, debattierende Zirkel, Musik, Wein und Mädchen, daneben Geldverdienen bald da und bald dort – bis er alles satt hatte u. Dorfschullehrer wurde. Er wußte nicht sicher war es Flucht oder der ihm vorgeschriebene Weg, er fragte auch nicht mehr danach, er stieg durch den abendlichen Regen nach Gschwand hinauf und war daran, noch einmal von vorne zu beginnen.8 Weitgehend in ihrer Anschaulichkeit gemindert oder vielmals sogar völlig gestrichen werden Szenen, die der Schilderung des Religionsverständnisses der Hauptfigur dienen. So fehlt in der Veröffentlichung von 1936 unter anderem folgende Aussage: Er war bald nach dem Tode des Vaters von vielem abgekommen, was der Verblichene für heilig erachtet hatte; er war der Kirche entschlüpft und der Kruzifixus, der an allen Ecken u. Enden des Landes aufgerichtet stand, war ihm immer mehr zu einem Gespenst seiner Knabenjahre geworden, das ihm nichts bedeutete. Zum erstenmal wieder nach Jahren war er vor diesem Zeichen stehn geblieben9 In der Ausgabe der Dame lässt sich diese Art der Abschwächung noch konsequenter feststellen. Beispielsweise werden hier die Auseinandersetzung zwischen Christian und dem 2 Pfarrer sowie alle mit diesem Erzählstrang zusammenhängenden Szenen in ihrem gesamten Umfang ausgespart.10 Die Schilderung seiner Vorliebe für die „Doktorei“ deutet zwar in Ansätzen den kauzig-mürrischen Charakter des Geistlichen an, das von Leitgeb so trefflich beschriebene Gespräch zwischen Patientin und Pfarrer11 wird der Leserin allerdings ebenso vorenthalten wie die Erwähnung des Gerüchtes rund um die angeblich fragwürdigen Behandlungspraktiken des Laiendoktors.12 Hie und da verhindern vorsichtige Umformulierungen allzu eindeutige Aussagen: Als der Jörg aus ihrem Bett stieg, lief ihm dieses Lachen nach und holte ihn wieder zurück zu ihr; da ließ er sich noch tiefer in sie fallen als zuvor. Es ist ein Sturz in feuerfarbnes Dunkel, ein Versinken ins Bodenlose. Er möchte sie zermalmen vor Lust und wieder erwürgen, wenn er daran denkt, daß es morgen der Gasper sein wird, der bei ihr liegt. [...] Der Wind hat fast aufgehört, nur hin und wieder tut er einen stöhnenden Atemzug, als wäre er müde wie der lustsatte Bursch.13 Der leidenschaftliche Besuch des Jungbauern bei seiner Großdirn liest sich dann in der für die Frauenzeitschrift transkribierten Variante folgendermaßen: Als der Jörg sie in der Kammer verließ, lief ihm dieses Lachen nach und holte ihn wieder zurück zu ihr. Er möchte sie zermalmen vor Lust und wieder erwürgen, wenn er daran denkt, daß es morgen der Gasper sein wird, dem dies Lachen gilt. [...] Der Wind hat fast aufgehört, nur hin und wieder tut er einen stöhnenden Atemzug.14 Das Manuskript hält diese Szene in der nachstehenden Formulierung fest. Als der Jörg aus ihrem Bett stieg, lief ihm dieses Lachen nach und holte ihn wieder zurück zu ihr; da ließ er sich noch tiefer in sie fallen als zuvor. Es ist ein Sturz in purpurnes Dunkel, ein Versinken ins Bodenlose. [Und dabei hält ihn Nacktes allseits so fest umfangen, daß er zu ersticken meint.]15 Er möchte sie zermalmen vor Lust und wieder erwürgen, wenn er daran denkt, daß es morgen der Kaspar sein wird, der bei ihr liegt. [...] Der Wind hat fast aufgehört, nur hin und wieder tut er einen stöhnenden Athemzug, als wäre er müd wie der lustsatte Bursch.16 Doch nicht nur inhaltlich wird dem vorwiegend weiblichen Lesepublikum der Dame der Stoff sittsamer aufbereitet, auch auf der lexikalischen Ebene wird geglättet. So werden in der Buchfassung hin und wieder bewusst gesetzte Dialektausdrücke des bäuerlichen Umfelds für die Zeitschriftenausgabe eingedeutscht. Der dialektale „Zapinhieb“17 beispielsweise mutiert zum hochsprachlichen „Beilhieb“18, mit dem ganze Lärchenstämme vom Fleck gezogen werden. Ebenfalls nicht aus dem Manuskript übernommen wird Leitgebs Vorgabe, im Text auf Redezeichen zu verzichten, die später in der Ausgabe des Cassirer-Verlags sehr wohl eingehalten ist. Von den genannten Kürzungen abgesehen ist der eigentliche Romanverlauf, wie er in der Dame veröffentlicht ist, ident mit dem im darauffolgenden Jahr im Cassirer-Verlag erscheinenden Druck. Der ‚Brechelszene’, die im Druck fünf Absätze umfasst19, kommt im Manuskript eine wesentlich höhere Wertigkeit zu. Ausgedehnt auf sechs handschriftliche Seiten erläutert der Autor zunächst ähnlich wie in der veröffentlichten Fassung die bekannten Umstände, die zu der ‚überfallartigen’ Szene führen. Von der förmlich in der Luft liegenden Sinnlichkeit geht in der ‚bereinigten’ Form dann allerdings viel verloren. Die ursprüngliche Fassung schwelgt 3 hingegen noch in lebendigen Bildern, wie sie etwa auch bei Petra Streng in Bauernerotik in den Alpen20 aufgezeigt werden. Ein Schmachten und wieder ein Leichtsinn war in der kurzen Melodie, daß es ihn entzückte. Seine Lippen waren noch feucht vom Kuß der Dirn, um den Hals hing ihm ein Bündel Flachs; es zog ihn – und fast körperlich spürte er das – in den dunklen Raum, den Dirnen nach; aber da lachte er laut vor sich hin, daß alle Magie zerriß, und ging auf das Haustor zu, aus dem durch einen schmalen Türspalt warmes Licht fiel. Die Brechelstube war für Mannsbilder unzugänglich; ihr Bann reichte sogar ein Stück weit ins Freie und dem war es zuzuschreiben, daß die Brechlerinnen Christian überfielen, als wäre er in ein Wespennest getreten. Es war uralter Brauch, vorüberziehenden Burschen Zoll aufzulegen. Wie könnten auch aus einer Weibergemeinschaft, wie sie das Brechen u. Rösten des Flachses bildete, andere Rechte entspringen als solche des unersättlich fordernden Geschlechts? An solchen Bräuchen halten die Bauern durch Jahrhunderte fest, sie haben längst ihre Herkunft vergessen und verwirklichen doch, indem sie die starren Formen mit der Glut ihres Trieblebens wieder aufschmelzen, den uranfänglichen Sinn. Der mag freilich einmal aus religiösen Vorstellungen und kultischen Riten erflossen sein; die Kirche hat diese Quellen verstopft; was übrig blieb, sind Beschwörungen der Fruchtbarkeit, Liebesspiele, Tänze, dem balzenden Hahn abgeschaut, dunkle Erinnerungen an mutterrechtliche Dorfgemeinschaften, an Mannbarkeitsfeiern und das alles gemischt teils mit Ernte- und Aussaatsbräuchen, teils mit Festen der Kirche, die sich an heidnisch Überkommenes früh und geschickt anpaßte. Eine trübe, verspinnwebte Birne ohne Schirm erhellte spärlich den Raum, den Staub und ein Dunstgemisch aus Schweiß u. Schnaps erfüllte. Die Mädchen waren mit der Arbeit fertig und ruhten sich schwatzend aus; in die Pausen des Gesprächs tönte wie der Ablauf eines feinen Uhrwerks der Regen, der aufs Holzdach niederrauschte.21 Daran anschließend schildert der Autor die in der Brechelstube anwesenden Personen und er charakterisiert eingehend die Figur der Regina, die zu diesem Zeitpunkt in der Entstehungsgeschichte des Romans noch das „Wabei“ (bajuwarisch: Barbara – die Heilige der Keuschheit) genannt wird. Ihre Darstellung erinnert an eine unschuldige ’Lichtfigur’ inmitten der derben Mägde. Das Wabei, dieses Neutrum unter den Mädchen und Frauen von Gschwandt, war ein seltsames Geschöpf. Der kümmerliche Leib, das vertrocknete Gesicht mit den großen graugrünen Augen, das dünne Haar von unbestimmter Farbe, die hohe zarte Stimme – all das ließ nicht erraten, wie alt eigentlich s Wabei war. Elternlos ins Dorf gekommen – niemand wußte so recht, woher – lebte sie still und anspruchslos vor sich hin, wusch den Bäuerinnen die Wäsche, brechelte den Flachs, hielt Kirche u. Schule sauber, pflegte die Kranken, besorgte dreimal die Woche die Post, und war auf diese Weise nirgends und überall daheim. Man sah sie niemals auf dem Tanzboden, dafür bei jedem Gottesdienst; doch war sie keine Betschwester, viel eher eine kleine sanfte Heilige. Ihre Anwesenheit bald auf dem, bald auf jenem Hof war kaum zu spüren, als verschwebte ihr Wesen im Zusammensein mit den Menschen; aber mit ihr schien ein stilles Licht in die Stube zu fallen und wenn die jungen Knechte sie auch gern und oft derb hänselten, an ihrem guten Lächeln verstummten die groben Späße bald. Das schönste u. wahrste Merkmal ihres heiligen Wandels aber war die sanfte durch nichts zu erschütternde Heiterkeit. Sie verstand sehr wohl, in welchem Stalldunst die Seelen der Menschen westen, und hob sich nicht hochmütig von ihnen ab; sie erbarmten ihr vielmehr, da sie es schwerer hatten als sie selbst in ihrer reineren, von Himmelslicht durchfluteten Luft: So nahm sie die Sünden der Menschen als eine Last, die ihnen u. wohl auch zuweilen ihr – aufgebürdet wurde, und erachtete es nicht für ein Verdienst, daß sie selber nicht zu sündigen verstand. 4 Ja, sie hatte es leicht, sie war ein Liebling der Engel, eine Freundin der Heiligen im Himmel, und glich von Jahr zu Jahr mehr diesen körperlosen Geschöpfen, mit denen sie so natürlich verkehrte wie wir mit unseresgleichen, deren Vorzüge und Schwächen [...] sie aus vielen Legenden, Kalendergeschichten und Erbauungsbüchern genau kannte und die sie gewissenhaft nur für jene Nöte, Krankheiten und Anliegen heranzog, für welche sie nach jenen Schriften zuständig waren. Sicher hatte das Wabei auch seine Fehler, aber man spürte sie nicht, sie verblaßten in dem gleichmäßig hellen Licht, das von ihm ausstrahlte. Es war durchaus nicht leutscheu oder sonstwie sonderbar, lachte gern und liebte lustige Gesellschaft. So blieb es auch eine Weile bei den Mädchen in der Brechelstube, die, von der Arbeit erhitzt, vom Schnaps erregt und an der Begegnung mit Christian in einen heißen Übermut gesteigert, den Dorfklatsch ausbreiteten und erst, als sie ziemlich unbekümmert und mit kennerischer Deutlichkeit Christians Mannstum abzuschätzen begannen, entschwand das Wabei, ohne daß es die anderen merkten. Sein Lachen war ihnen in die Glieder gefahren. Sie mutmaßten richtig, daß es der neue Lehrer sein mußte, der ihnen in das Garn gelaufen war. Die handfeste Berührung im Dunkel, zu der sie sich an ihn herangedrängt hatten, prickelte ihnen noch im Blut, doppelt heiß, da es ein Fremder war, an dem sich die Neugier ihres Geschlechtes entzündete. Sie hatten freilich alle ihre Liebhaber und der Lehrer war sonst immer der Letzte gewesen, den sie ernsthaft in Erwägung gezogen hätten, aber diese erste, überfallsartige Begegnung zu solcher Stunde, die Jugend Christians, sein rasches Eingehen auf ihr vieldeutiges Spiel, das von niemand gestörte Untersichsein ungefähr gleichaltriger, von Leben strotzender Mädchen – das alles versetzte sie in einen außergewöhnlichen Zustand von Erregtheit und es war ihnen, als spürten sie plötzlich unter den Kleidern glühend, daß sie nackt waren.22 Wie allerdings die Kritik auf derartige Textpassagen reagiert hätte, ist unschwer abzuschätzen, da sie schon in der gemäßigten Fassung die „Gewalt der Leidenschaften [...] oft wegen des allzu deutlich sichtbaren triebhaften Urgrunds bedenklich stimmen“ 23 ließ. Die stark gekürzten Szenen der Brechelstube beinhalten auch die Schilderung eines Streits zwischen der Burgl und der Wirtsthres24, vom Autor später als Auseinandersetzung zwischen Burgl und der Schwester Jörgs in den Roman übernommen.25 Die an dieses Wortgefecht ursprünglich sich anschließende Charakterisierung der Großdirn wurde für die Buchausgabe gestrichen und ist doch typisch für die ganzheitliche Sichtweise, mit der Leitgeb seine Figuren anlegt. Nie verharrt er in einem Schwarz-Weiß-Muster, immer weist er den Personen jeweils auch ihre andere Seite zu: Aber die kleinen Schulmädchen schauten ihr bewundernd nach; keine setzte den Fuß so fein wie sie und ihr goldglitzerndes Hütchen war das kleinste und saß in einem unnachahmlichen Hochmut auf dem schwersten Haar, das es gab. Jörg, der junge Straßpointner Bauer, der wußte, was es da sonst noch alles gab, und der Wirtskaspar auch und vom Einwallerbuben war es nicht ganz so sicher, wie viel der herausgebracht hatte. Das machte den Jörg nicht eifersüchtig, sondern stolz; denn obwohl sie dem Kaspar zukam, war sie doch seine Großdirn und sooft er klopfte, tat sie ihm das Fenster auf, auch im Winter, wenn es zufriert. Aber den Kaspar, den kleinen, schmalen Kerl, verzehrte die Wut und während er den Rosenkranz nervös durch die Finger haspelte, dachte er sich die Nacht aus, in der er ihm die Rechnung präsentieren wollte. War sie so schlecht, die Burgl? Ja und nein; das Wort paßte nicht recht auf sie, sie war anders als schlecht, aber wer könnte sagen, wie? Die Dorfdirnen waren nicht so; sie hielten bei einem aus, den liebten sie und achteten darauf, daß er sie nicht betrüge. Sie hatten ein, zwei Kinder von ihm und einmal wird Hochzeit gemacht, einmal wird man Bäuerin sein und das Leben geht weiter, wie es sich gehört. Wenn 5 sie so dachten, sahen sie auf die Burgl stolz herab – aus der wird nie eine Bäurin, das konnte ein Kind sehen! –, aber wenn sie der große Heißhunger überfiel in Nächten, die unheimlicher waren als alles, was einem sonst geschah, dann wußten sie sich armselig vor der wilden Maßlosigkeit der Dirn, dann neideten sie ihr die treulose Bereitschaft, jedem das Fenster aufzutun.26 Auch die durchaus realistisch anmutende Verballhornung des gegen die Wilderer ermittelnden Ortsgendarmen fand keine Übernahme in die veröffentlichte Fassung und steht so nur im Konzept: Nein, er hatte nichts zustande gebracht, der Gendarm. Er riß wohl das Fleisch aus der Beize, aber dann muße er sich belehren lassen, daß er da Schöpsernes mit Wildbret verwechsle. Ein Rehbock? Da müsse er wohl ins Pfarrhaus gehen, Rehbock gäbe es keinen hier und dann fiel dem Kaspar die Kerze zu Boden, er sagte holla! und ließ den Gendarm eine gute halbe Stunde im Finstern warten, – als wäre der Teufel im Spiel, war auch die Kellertür ins Schloß geschnappt, weit und breit war kein Zündholz zu finden und als er endlich mit einem daherkam, entschuldigte er sich süß und hohnvoll.27 Ebenfalls nicht in Erscheinung tritt im Roman die Figur des als Halbwaise auf dem StaßpointHof aufgenommenen „Knechtl“, dem freilich auch im Manuskript nur eine unbedeutende Rolle zukommt.28 Die ,romantische’ Ursprünglichkeit des Dorfes wird von Leitgeb im Manuskript weitaus früher und auch deutlicher als trügerisch entlarvt: Und da er gewillt war, selber in das Dorf hinein zu wachsen, dessen Ursprünglichkeit er als Städter überschätzte, kümmerte er sich gleich zu Anfang seines neuen Lebens um alles, was ihm Aufschluß über den Bestand an altem, echten Bauerntum geben konnte. Er wußte nicht, daß er daran war, einen zwar trostreichen, aber gefährlichen Irrtum in sich zu befestigen, ihn wie eine neue Wahrheit zu lieben und mit seiner täglichen Arbeit so dicht zu verweben, daß er ihm viel von der wirklichen Wahrheit verbarg. Er ging dabei gutgläubig und mit glühendem Gefühl zu Werke; aber wenn er meinte, die Gräuel des städtischen Wesens ließen sich dadurch überwinden, daß man zum “Ursprung“, zum „Paradies“, ins Dorf zurück floh, so erlag er zweifellos einem Irrtum.29 Die innere Zerrissenheit, die den Junglehrer beherrscht, und die plötzlich aufkommende Ahnung, nie wirklich in die verschworene Gemeinschaft des Dorfes hineinzufinden, dominieren im Konzept des Romans die düsteren Gedanken, die Christian noch vor seinem ersten Unterrichtstag befallen: Christian sah in die Nacht hinaus und wenn er einen halben Schritt zurücktrat, konnte er sich selbst im Fenster sehen, halbhell und ungewiß im Finstern schwebend, eine Fremde, haltlose Erscheinung vor der kompakten Nacht. Die blasse Stirn hob sich auch für ihn am deutlichsten von den Schattentiefen des übrigen Gesichtes ab und schien ihm nicht hereinzupassen in sein Bild vom Dorf; sie sah aus, als hätte sie ein Recht, zu fordern, Ansprüche zu stellen, vielleicht zu herrschen, als stünde es in ihrem Programm, im Dunkel zu leuchten, die dumpfe Nacht überhell zu durchstoßen. Das Schweigen der Landschaft, das ihn zu sich hingezogen hatte, wurde vor dieser fordernden Stirn zu feindseliger Stummheit, die große Ruhe gab den Trost nicht her, den sie versprochen hatte; drunten hockte das Dorf, auf einmal wieder völlig fremd und verstockt [...]. Die Leute schliefen in ihren Kammern, sie gehörten mit Leib und Seele hieher; Christian aber stand am Fenster ohne Schlaf, und war nicht der ihre. Er hatte sich losgerissen, und die Wunde, die der Riß gekostet hatte, fing zu brennen an. Nun besaß er, was ihn wie ein unaufhörlicher Traum durch Wochen u. Monate gelockt 6 hatte: er war allein, er wohnte im Gebirge, nicht zum Vergnügen, sondern zur Arbeit, bei Adam, Kain und Abel, aber die schliefen in ihren Betten und er stand da, vor der taubstummen Nacht, ein später Städter und am ersten Tag schon überdrüssig seines Planes, ein urzeitfrüher Bauer zu werden.30 In der schönsten Sonne übertitelt Leitgeb seine „am Charfreitag 1934“ 31 in Sirmione schriftlich zu Papier gebrachten Überlegungen, das bisherige Konzept des Romans von der Struktur her grundlegend zu ändern. In einem ‚Vier-Punkte-Programm’ versucht er sich selbst Klarheit über Aufbau und Aussagen seines Romans zu verschaffen. Er ist sich sehr wohl bewusst, dass ihm bei der Erarbeitung der Figur des Christian jede epische Distanz abhanden gekommen ist. Zu offensichtlich lässt sich in ihr die Person Leitgebs in der Rolle des seine Umgebung bis ins kleinste Detail beobachtenden Autors erkennen. Die unter Punkt 2 vermerkten Ausführungen weisen bereits darauf hin, dass Leitgeb nicht von Anfang an auf ein gutbürgerliches, zu seiner Zeit moralisch vertretbares ‚happy end’ hinarbeitet. Für die an späterer Stelle noch anzuführende, grundlegend andere Schlussvariante sind die hier aufgezeichneten gedanklichen Vorgaben Leitgebs von einiger Bedeutung. Sie belegen deutlich, dass ursprünglich nie eine wirkliche Absicht bestand, Christian heimkehren zu lassen. Die Symbolik der Geraden und des Kreises entspricht zutiefst Leitgebs Vorliebe für geometrische Linien und Formen. Bei beiden Skizzen ist die Figur des Christian durch eine Gerade dargestellt, die sich in der Unendlichkeit verliert. Erwähnt sei hier noch eine weitere geometrische Eigenschaft der Geraden: Sie wird im Grunde immer nur ihrer eigenen Linie folgen, ihr ist es schon rein aus ihrer Anlage heraus nicht möglich, davon abzuweichen. So wird sie sich anderen nie wirklich annähern, sondern höchstens deren Weg an einer einzigen Schnittstelle kreuzen. Die Rückkehr Christians wäre demzufolge gegen die Definition der Geraden an sich anzusehen. Es wird deutlich, dass der Autor gerade in die Konstruktion des Anfangs ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit einbrachte: In seinen Notizen des Jahres 1934 setzt er vier Mal bei Kapitel I an. Allen Anfängen gemein ist der Aufbau einer Rahmenhandlung, in die hinein er die Situation des Rückblicks legt, welcher die Handlung transportiert und das eigentliche ‚Ende’ bereits vorwegnimmt. Die von ihm geschilderte satte Schwere des Herbstes, wie sie auch in der veröffentlichen Romanfassung nachzulesen ist, wird an besagter Stelle dieses Konzepts jedoch von einer gänzlich neuen Idee durchbrochen: Brigitte steht mit ihrem Kind im Garten eines neuen Hauses, dessen Holz noch das Harz unter der Wärme der Herbstsonne verliert und bildet mit ihrer inneren und äußeren Welt eine in sich abgeschlossene Harmonie (einen Kreis!). Sie hat ihre Ruhe gefunden, ist „völlig zur Bäurin geworden.“32 Eine vollkommen neue Anlage des Erzählstrangs wird hier geplant: Brigitte und Hannes. Ein so schmerzlich süßes Glück kommt über Brigitte, daß sich die Tränen lösen und herabfallen wie die Äpfel aus den übersatten Baumkronen an diesem Nachmittag. Da Hannes aus der Scheune tritt und lächelnd auf sie zukommt, wischt sie sie fort; er verstünde nichts davon, er ist das alles selbst und weiß es nicht; er ist ein Bauer. 7 Aber Christian verstünde es. Und wie sie ihrem Manne nachblickt, der nun das Pferd aus dem Stall holt und es vor den Pflug spannt, – jeder seiner Handgriffe erfüllt sie mit einer wohlen Kraft –, denkt sie an den Verschollenen. Es ist ihr gutes Recht, an ihn zu denken und es stört ihre Treue nicht, die sie Hannes versprochen hat; es stört ihre Welt nicht mehr (es stört das Gleichgewicht der Welt nicht mehr)33, die rund geworden und ins Gleichgewicht gekommen ist.34 Das Bild des Bauern, mit dem Leitgeb die Unvergleichbarkeit beider Männer herausstellt35, leitet auch an dieser Stelle sowohl im Druck als auch im Konzept den Übergang zu Brigittes Rückblick ein. Doch wo es im Druck romantisch angehaucht lautet, der Geliebte habe keine Spuren zurückgelassen, so „daß kein Brief ihn finden konnte“36, wird dem Leser mit der ursprünglichen Formulierung, wie sie im Manuskript gebraucht wird, die Endgültigkeit des Verschwindens Christians vor Augen geführt. Mit an Deutlichkeit wohl kaum mehr zu überbietender Symbolik weist Leitgeb auf das zu erwartende Ende hin: Aber die Toten trinken nicht mehr. Die Lippen sind zerfallen und wem sie die zerbrochenen Kiefer an die Brust legen, der ist ihrer; der Tod ist stärker als das Leben. Da kommen die Schatten statt der Toten und nehmen teil an dem lebendigen Mahl. Sie selbst ist einer der Schatten und nun steigt sie noch einmal die knappe Stunde ins Dorf herauf.37 Daran angelehnt findet sich im Roman in anderem Zusammenhang die Aussage: „Aber das Leben ist heiliger als der Tod.“38 Die Schulgeschichten, die Christian Brigitte erzählt, fließen nicht in die Romanfassung ein. Das Bild des Lehrers hätten sie wunderbar abgerundet. Er erzählte von einem kleinen Mädchen in seiner Schule. „Ich bleibe nicht gern hinter dem Pult und sitze oft auf der ersten Bank, da müssen die beiden Kleinsten ihre Schiefertafeln wegräumen und selbst zur Seite rücken. Knapp vor mir sitzt dann das Mariele in einem stillen zarten Schein von Blondheit. Sie schaut mich groß an, wie ich so dasitze, ein Riese gegen sie u. so nah, wie sie sich den Herrn Lehrer nie gedacht hat. In ihrem Gesicht mischen sich Staunen und Furcht zu einer Art Andacht u. da fällt mir die Geschichte vom Rotkäppchen ein u. ich gebe dem Wolf eine menschenfresserische Stimme, ich schlucke die Großmutter und schnarche grauenhaft, aber da ich die Kleine frage, ob ihr die Sache gefallen habe, steht sie kerzengerade vor mir und sagt – mit einem Blick, der den ganzen großartigen Wolf zuschanden macht – : Das ist alles gar nicht wahr – und setzt sich, ein wenig errötend, aber mit einem solchen Ernst, daß ich mich aufrichtig schäme, so albern gelogen zu haben.“ Das war die erste Schulgeschichte, die er ihr erzählte, aber alle späteren waren dieser ähnlich: immer trat die Welt des Kindes in solcher Klarheit hervor, daß man durch sie hindurch das unzerstörte Gefüge des Lebens, seinen anmutigen Ernst und seine Unverlogenheit sehen konnte. Immer ließ er dieses ursprüngliche Leben höher gelten als sein vielfach gebrochenes. Er verglich oft den Blick der Kinder [mit] dem kristallnen Licht der Sterne, auch er kommt aus einer Höhe, die uns zaghaft macht, und spricht von einem Ursprung, dem wir längst entstürzt sind.39 Im Gegensatz zur Darstellung der publizierten Fassung wird der ‚dunklen Seite’ Christians im Konzept noch weitaus mehr Rechnung getragen. Der Abend war schwer um sie, eine holde Schwäche ließ ihr Herz taumeln. […]40 Sie zuckte zusammen; Christian war in ein böses Lachen ausgebrochen. Sie konnte nicht wissen, wie sehr er das brauchte. Da war der wohllüstig glühende Abend, da war das 8 Mädchen, dem der westliche Himmel übers Gesicht loderte, ein schmales, zart und zugleich streng geschnittenes Gesicht, ihre biegsam schlanke Gestalt, da war eine gefährliche Unwirklichkeit des Gesprächs, eine Fülle von schönen Bildern – und als Christian alles das nicht mehr ertrug, weil er spürte, es würde ihn fortschwemmen, lachte er laut und böse. Es war das erstemal, daß sie ihn so lachen hörte; später erst begann sie zu begreifen, daß er es immer so machte, wenn er vor Empfindung u. Stummheit und Überschwang zu ersticken drohte. Das erstemal aber fuhr sie zusammen; mit einemmal war er ihr fremd, als wäre diese Stunde nie gewesen; ein rohes zerstörendes Lachen, das Haß in ihr erzeugte. Dann begann er rasch und in einem völlig neuen Ton zu sprechen.41 Die fast wie innere Monologe auftretenden Vorträge über den Sinn des Lebens, die Christian eindringlich führt, erscheinen im Manuskript generell aggressiver und verletzender ausgearbeitet.42 Der Schilderung nach legt der Autor gesteigerten Wert darauf, dass das neue Haus Brigittes nicht nur neu, sondern auch durch und durch ein wahrhaftes „Bauernhaus“ ist.43 Ein Zimmer wird allerdings erwähnt, das nicht ganz ins Haus paßt: das Zimmer ihrer Mädchenzeit. Dort steht sogar ein Klavier u. an den Wänden ist all der liebe Kram verteilt, den man mit 17 Jahren braucht, um das rastlose Herz zu beschwichtigen.44 Auf dem Klavier in ihrem Zimmer hat Brigitte das Bild Christians stehen. 45 Die anschließenden malerischen Beschreibungen Straßpoints und die anschauliche Darstellung der Schwester Jörgs, – der auch im Manuskript nie ein Name zugedacht wird –, sind den entsprechenden Szenen im Roman vergleichbar, ja oftmals sogar fast wortgleich übernommen. Im Mai 1934 konkretisiert Leitgeb die Überlegung, Brigitte als glückliche Ehefrau und zufriedene Bäuerin Hannes zur Seite zu stellen, aufs Neue. Ausgangspunkt für das mit „Das Dorf“ überschriebene erste Kapitel ist wiederum das Bild Brigittes im herbstlichen Garten des neuen Hauses. Der Aspekt, der hier neu hinzu kommt, ist das gemeinsame zweitgeborene Kind, das die Verbindung zwischen Brigitte und Hannes ungleich vertieft darstellt und Brigittes bewusste Entscheidung für Hannes und das Leben als Bäuerin unterstreicht. Zum drittenmal ist es Herbst geworden, seit der Neubau steht und Brigitte ist nun schon ein Jahr Bäurin auf Straßpoint. Sie sitzt im Anger, den Zweitgeborenen im Arm, und ist die atmende Mitte der herbstlich stillen Welt und nicht weit von ihr balgt sich der Dreijährige mit der Katze. Nachmittagssonne füllt den Garten mit honigfarbenem Licht; hinter dem Hof verblaut das Land nach der Tiefe zu und der Berg scheint vor Leichtheit zu schweben. Noch duftet das Holz des Neubaues unter der Wärme [...]. Da beugt sich die junge Mutter über das Kind und rührt mit ihrer Wange an das warme Haar [...], und in diesem Sichneigen über ein Werdendes schließt sich ein Kreis, dessen Inhalt das Leben selbst ist. [...] So ist denn Brigitte Bäurin geworden und während sie ihrem Buben die Stirn küßt, fühlt sie: Bauersein heißt im Kreise gehen, von Frühling zu Frühling, einen in sich geschlossenen Weg, das ganze lange Leben treulich den gleichen; erst so langsam, daß man ihn gar nicht übersieht und gradaus zu gehen meint; dann immer schneller und der Runde bewußt, die einen abschließt von draußen u. heimatlich birgt46 9 Der anschließende Rückblick ist bis zur ersten Begegnung Brigittes mit Christian vergleichbar den vorangegangenen Vorlagen gearbeitet47, das Aufeinandertreffen selbst ist langatmiger gestaltet: Sie fühlte, wie der Fremde in die Betrachtung ihres Gesichtes vertieft war, sie sah ihn lächeln. Es war ihr unerträglich, so ohne jede Scheu begafft zu werden. (Damals konnte sie noch nicht wissen, daß er sie nicht begaffte, sondern ihr Gesicht wie eine aufgeschlagene Buchseite las, Zeile für Zeile von der Stirn bis zum Halsansatz, immer andächtiger, immer beglückter las und wieder innehielt, als hätte er längst Gesuchtes nun doch gefunden.) […] – Fürchten Sie sich nicht, Fräulein, ich bin nur der Lehrer von da. Es war schön: der rote Schein auf ihrem Gesicht. – Sie möge ihm nicht fortlaufen, er habe seit zwei Monaten kein solches Kleid mehr gesehn. [...] An seinem Gesicht fielen einzig die Augen auf; sie lagen sehr tief drinnen unter d. Stirn u. waren trotz des schattigen Gewölbes unerklärlich hell nicht blau, nicht grau, eher ein flüssiges Grün, das augenblicklich und nicht näher deutbar ans Hochgelege erinnerte. [...] Sie errötete und wurde wieder befangen. Warum ließ er das „Fräulein“ so rasch beiseite? [...] Sogar der Wind schien zu lachen; er johlte über sie hin, dann setzte er wieder aus, daß man vor der plötzlichen Stille erschrak. Sie schämte sich und zugleich stieg ein feiner Zorn in ihr auf. Christian lachte. [...] Sie verstand ihn nicht. Es wurde ihr unbehaglich, da sie spürte, wie sie versagte. Wie führt man ein solches vom Zaun gebrochenes Gespräch?48 An einer einzigen Stelle notiert Leitgeb einen anderen Namen für die Großdirn auf Straßpoint: „und Burgl Lena, [...] konnte man keinen größeren Gefallen tun, als wenn man sich so mit halben Worten und versteckter Bissigkeit stritt.“49 Der weitere Verlauf folgt der schon bekannten Geschichte Christians. Der Szene, in der Leitgeb den Junglehrer in der Bauernstube auf Straßpoint erahnen lässt, dass ihm das wahre Wesen des Bauerntums verschlossen bleiben wird, fügt der Autor im Manuskript noch einen für das Verständnis des Romans nicht unbedeutenden Nebensatz hinzu: „In diesem Augenblick wußte er zutiefst: (daß er sich betrog.)“50 Den weiteren Handlungsverlauf erzählt der Autor im überwiegenden Teil ähnlich wie in den bisherigen Fassungen. Die Brechelszene erscheint bereits wieder gekürzt51, dafür befinden sich einige Absätze, die zeitgenössische Schilderungen über die Nachkriegszeit52 und den leichtfertigen Umgang der meisten Menschen mit den erlittenen Kriegserfahrungen enthalten53, im Manuskript, die in die Romanausgabe nicht übernommen wurden. Abweichungen, die hie und da festzustellen sind, betreffen geringfügige Änderungen in der Formulierung. Eine Abwandlung sollte jedoch an dieser Stelle Erwähnung finden. Als sich Christian gegen Mitternacht in der düsteren Einsamkeit seiner windumtobten Kammer noch einmal die erste Begegnung mit Brigitte ins Gedächtnis ruft, lässt Leitgeb den ‚offiziellen’ Absatz mit den Worten: „wie könnte ich den Winter ertragen ohne dich?“54 enden. Der Zusatz „In dieser Nacht fing Christian Brigitte zu lieben an.“55 ist allerdings schon im Manuskript nachträglich dick durchgestrichen worden. 10 Der Kindheit Brigittes werden im Konzept von 1934 längere Abschnitte gewidmet – immer im Hinblick auf ihr reines, unschuldiges und klares Wesen. So eine Landarztenstochter mit 18 Jahren ist zu nichts anderem auf der Welt als zur Freude der Götter. Weiß sie überhaupt, was das Leben ist? Sie hat in einem Internat hinter Büchern gesessen, eine Lehrerin eifersüchtig verehrt, geturnt, Tennis und Klavier gespielt und überaus zahme Briefe nach Hause geschrieben [...], aber Brigitte blieb trotz ihrer frühen Schönheit ungeschoren; ihr Blut schlief noch so tief, daß es ihr nicht einmal zu eingebildeten Begegnungen mit Männern erwachte.56 Mit der Schilderung der anfänglich äußerst unglücklich verlaufenden zweiten Begegnung der beiden jungen Menschen in der freien Natur endet dieses Manuskript und geht nahtlos mit einem inbrünstigen Vortrag Christians über die „Leichenfelder“ des Ersten Weltkrieges und die Vergänglichkeit alles Lebendigen in ein weiteres Konzeptheft über, auf dessen Umschlagseite der 30. Juli 1934 vermerkt ist. Bis Seite 9 dieses Manuskripts sind nur unwesentliche Änderungen in Bezug auf die Ausgabe bei Cassirer festzustellen. Dann allerdings trifft Leitgeb eine Aussage, die in ihrer Deutlichkeit für die Veröffentlichung wohl als zu brisant gewertet und deshalb aus dem späteren Textkorpus herausgenommen wurde. Dann war die Zeit der Götzen gekommen. Elektrische, chemische, mechanische Götzen, aber schneller noch als die Götter sterben, verrecken die Götzen; dann war die Leere grauenhaft geworden, so voll unsichtbarer Gespenster, daß die Menschen rasend vor Überdruß und Angst, auf einander losschlugen. Das dauerte vier Jahre – sie wußten hunderterlei Gründe, mit denen sie sich die Notwendigkeit ihres Tuns einredeten, aber es waren zu viele, zu kluge, allzu schlaue Gründe, als daß man nicht hinter ihnen die wahre Ursache hätte erraten können: die Verzweiflung des Menschen über sich selbst. Und nun sind wieder Millionen junger Männer bereit, ähnliche Ausflüchte zu machen; sie rüsten sich, noch einmal die leer getrunkenen Schalen mit ihrem Blut und dem Blut der andern zu füllen, das grauenhafte Nichts mit Fahnen, Gaswolken und mörderischen Flugzeugen auszustaffieren, in der Hoffnung, das sei immer noch erträglicher als das Nichts. Knabenherzen – Greisengehirne!57 Sowohl für den Verlag als auch für den Autor wäre eine Drucklegung dieser Abschnitte zu diesem Zeitpunkt schon zu riskant gewesen. Unverfänglicher, aber letztendlich für den Druck zu umfangreich sind die romantischen Ausschmückungen und das Stegreif-Gedicht Christians, die im Manuskript die Nikolausszene abrunden.58 Die eher gewagte und im Konzept sprachlich unverblümt geschilderte Szene, in der Gasper sich in einem Heustadel an Regina vergeht Dann schlägt er die Scheunentür zu und wirft sich über die Zitternde. Sie stößt einen kurzen, leisen Schrei aus, aber da wird es schon dunkel um sie, sie spürt Heu im Gesicht, es wird immer schwerer zu atmen; sie will mit den Armen um sich schlagen, aber da dehnt sich eine krampfhafte Starre über den Leib, der ihr zum erstenmal im Leben im Weg ist eine Hand fährt ihr zwischen den nackten Knieen hinauf, eine zweite löst ihr die straffgegürtete Mitte sie denkt noch: heilige Mutter Gottes! Dann weiß sie nichts mehr von sich.59 wird in die 1936 veröffentliche Textausgabe leicht entschärft übernommen – die ‚Tatbeschreibung’ der ersten Hand wird unterschlagen – 60, für die Neuauflagen in der 11 Österreichischen Buchgemeinschaft 1950 und im Otto Müller Verlag 195461 verzichtet man jedoch auf den eingehenderen Teil der Darstellung und belässt es bei der Andeutung des Geschehens. Wirklich umfangreiche Kürzungen lassen sich bei der Beschreibung der Mutter Brigittes erkennen62, in der sich der Autor im Rahmen des Manuskripts auf über drei Seiten ‚Luft macht’: Brigittes Mutter war ein schwieriger Mensch. [...] Aber mehr noch als das Vorhandene, dem sie keinen Reiz mehr abgewann, quälte sie nun das Fehlende; und es fehlte nahezu alles, wessen sie bedurft hätte, um zufrieden zu sein. Es fehlten die großen Kaufhäuser, die abends die Straßen entlang aufflammten, es fehlten Theater und Konzertsaal, es fehlte vor allem die Menschenschicht, der man zugehörte und ohne die man sich ausgesetzt und verlassen fühlte [...] So begann sie schon in den ersten Jahren der Ehe zu erkennen, daß sie fehlgegangen war. Ein wenig besser wurde es, als Brigitte zur Welt kam, aber auch da fehlten die köstlichen Spaziergänge mit dem Babywagen im Stadtpark, durch den die anderen jungen Mütter ihr Kleinod schoben, da fehlte das stundenlange Geplauder über Diät und Hygiene, über das erste Lachen, den ersten Durchfall, den ersten Zahn. Man war hier vielmehr ein Gegenstand des Spottes und der kichernden Neugier, denn die Bauernweiber umwickelten ihre Bälge im Hochsommer mit meterlangen Fatschen, daß sie kein Glied mehr rührten [...]. So war auch diese beste Zeit voll Verdruß und Entbehrung gewesen und die Frau wurde von Jahr zu Jahr unzufriedener, bis der Krieg kam. [...] Die ersten Anzeichen des Alterns kamen, nervöse Anfälle, Schlaflosigkeit und eine übertriebene Sorge um das eigene Wohl. Ihr Mann nahm den Jammer mit Geduld hin – [...] –, doch machte er sich unsichtbar, wenn es ihm zu arg wurde. [...] Sie konnte ihren Anspruch zu herrschen gegen sein kluges Ausbiegen und zähes Sichbewahren nicht durchsetzen. Sie war schnell und scharfsinnig im Antworten, aber sein Schweigen hatte die größere Beweiskraft. Sie gab ihm die Schuld daran, daß sie ihr ganzes Leben auf diesem abgeschiedenen Fleck vertrauern müsse, die Welt, die ihr dank ihrer Erziehung und seinem Vermögen offen stünde, sei ihr verwehrt, weil er nicht von der Stelle zu bringen sei. [...] So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Verirrung zu bejammern und sich selbst zu bemitleiden; auch damit findet schließlich ein Menschenleben sein Auslangen. Brigitte und der Vater hatten es nicht leicht; das Nebeneinander von Eigensinn, der sich unbeschränkte Geltung schaffen will, und der Ohnmacht, sich die Lage auch nur in kleinsten Dingen zu erleichtern, ließ die Frau aus dem Kommandoton ihres Vaters ohne Übergang in das Geseufze ihrer Mutter fallen. Dieses Umspringen der Laune hatte eine Kopflosigkeit im Haushalt zur Folge, für die dann meist das Phlegma des Vaters oder die selbstsichere Besonnenheit der Tochter verantwortlich gemacht wurden.63 Doch auch die Persönlichkeit Christians erfährt im Manuskript eine weitaus reichere Darstellung, die der mehrschichtigen Anlage der Figur des Junglehrers in ihrer Komplexität gerechter wird. Es waren viele Stockwerke, die er bewohnte und der Wein der Trunkenheit lag im Keller, unter der Schwelle des hellen Bewußtseins. Es gab auch Trunkenheit in der Höhe, den Rausch von reiner Luft und großer Helle – da schwirrte das Gefieder des Engels und das Herz tanzte zu innerster Musik. Aber im Keller: da flackte ein künstlich grasses Licht des Selbsthohns, der Verneinung, die zugleich ein zynisches Ja zu allem Unterirdischen war – es warf seinen Schatten riesig an die Wand, daß es zum Fürchten war. So zwischen Himmel und Hölle zu wohnen, war nicht bequem, 12 aber heimlich zog er es der besteingerichteten Wohnung bürgerlichen Geschmacks vor.64 Die innere Zerrissenheit dieses unruhigen Charakters findet in der Formulierung dieser Zeilen ihre bildhafte, verbale Entsprechung. In der Beschreibung des Konzertabends, an dem Christian das erste Mal auf Ljuba trifft, schwelgt der Autor getragen von dem Erlebnis der Musik in der Betrachtung der schönen, lockenden Fremden. Das erotische Knistern, das beide miteinander verbindet, wurde in der Druckfassung65 stark beschnitten. Über die offenen Felder blies der Wind. Wie weit sollten sie noch gehn? Die Stadt lag längst hinter ihnen [...]. An einem niedrigen Wiesenzaun bleiben sie stehn; Ljuba lehnt sich an ihn, sie sitzt halb auf der morschen Stange; noch immer schweigen sie. [...] Dann sagt sie: „Ich heiße Ljuba. Genügt das?“ Er antwortete: „Es genügt. Ich heiße Christian.“ Sie umschlingen sich und küssen sich. Ihr Mund ist groß und weich, man kann nicht genug bekommen von ihm. Sie wissen bis ins Mark hinein, daß sie für einander gemacht sind. Geschaffen, einander ganz zu sättigen. Sie hat längst den Hut fortgetan, er faßt nach ihrem Haar und biegt ihr den Kopf weit nach hinten, eine wilde, räuberische Gebärde, zu der er lacht wie ein Zigeuner; sie hat die Augen zu und ihre tiefe Stimme ist ganz verändert: „Tu mir weh, Lieber!“ Da greift er noch fester in ihr Haar und sie liegt bebend in seinem Arm. Ringsum ist Steppe, riesiger Himmel und Wind.66 Es ist dies eine der wenigen Stellen, an denen vom Autor Redezeichen gesetzt werden. Für diese Variante des Konzepts verzichtet Leitgeb auf die Figur des früheren Kriegskameraden Herbert, der im Roman die Bekanntschaft Christians mit seiner Freundin Ljuba in die Wege leitet.67 In weiterer Folge entfallen sowohl die Szenen in der Tanzbar68 als auch das Zusammenkommen der jungen Menschen in Ljubas Wohnung.69 Die tief empfundene Seelenverwandtschaft Christians mit der lasziven Ruthenin wird stärker betont und ausgebaut, die spätere Zimmerszene ist ebenfalls umfangreicher gehalten.70 Die Schlussaufzeichnungen der Notizen dieses Heftes enden mit dem Gespräch über die Totenmasken und das wahre Gesicht des Menschen, das Christian und Brigitte führen. Entsprechend der Romanfassung verlaufen die Aufzeichnungen des Manuskripts, das von Leitgeb am 22. Jänner 1935 begonnen wurde, ohne nennenswerte Abweichungen von der Schilderung des gemeinsamen Weihnachtsfestes bis hin zu dem Versuch Brigittes, Christian mitzuteilen, dass sie sein Kind erwarte. Die Flucht Christians aus der Enge des Bergdorfes bildet den Beginn des inhaltlich folgenden Manuskripts. Aber auch hier gilt, dass die Gedanken Christians zu Liebe, Tod und Leben noch umfangreicher als in der Veröffentlichung formuliert sind. Mit Brigitte hätte man leben können – und es wäre ein Leben mit festem Umriß, eine baumhaft wachsende Welt geworden, ein freundlich nach ihren Maßen abgesteckter, tagheller Bezirk – aber Ljuba? So lockte die Steppe, das Meer, die Nacht. So lockt ewig die Liebe – und heimlich unter ihr der Tod. Ljuba – hieß das nicht in unserer 13 Sprache die Liebe? Und Ljubienka dann das Liebchen? Da war alle Süße und Schwermut enthalten, alles Versinken und jedes Abenteuer des Blutes. 71 Oft auch etwas langatmiger gehalten kreisen ganze Passagen immer wieder um den gleichen Themenkomplex: Ein neuer Wortfetisch war zur Anbetung empfohlen: Sachlichkeit. Ein prächtiges Ding, auch in Sachen des Herzens. Aber es war keine echte Freude dabei. Die alte Sentimentalität – nur eisgekühlt, die alten Lügen – und um einen Grad zynischer, die alte Tränendrüse eingefroren, aber sie drückte nur noch ärger so. Gewiß, man wußte alles an seinen Platz zu stellen, hatte für alles einen Namen und das Lächeln des Sichauskennens, doch wenn man auch in Sonnenbädern, auf Skifahrten und in der Bar die Grenzen der Geschlechter verwischte und den Sexualmechanismus wie geölt laufen ließ – sichtbar für den Partner bis in die kleinste Triebfeder –, es kam die Stunde, da war zwischen zweien auf einmal das alte Herzklopfen, der verstaubte Liebesbrief, die aufgetaute Träne wieder da, vielleicht zerfließender und zimperlicher als je. Daß man den Widersacher im Geschäft, in der Politik und im Wettlauf um den besserbezahlten Staatsposten kalt und bedenkenlos zur Strecke brachte, war wirklich Sachlichkeit, aber, weiß Gott, keine lobenswerte.72 Im Zusammenhang mit der Schilderung des Lebens auf der Straße und dem Auftauchen des bemerkenswerten Alten enthält das Manuskript nochmals drei zusätzliche Absätze, die näher auf den glücklichen Zufall der Begegnung mit diesem seltsamen Wanderer eingehen und die Abenteuer der Kindheit wieder auferstehen lassen. Doch an diesem Punkt in Christians Leben verliert sich die romantisch verklärte Sicht auf die Notwendigkeiten des Alltags: Welch ein knabenhafter Traum, zu glauben, Landstreicherei ohne Papiere sei ein Abenteuer erster Ordnung! Marschieren, marschieren, Regen, Dreck, schweres, bitteres Brot, wunde Sohlen, erlahmender Stolz, Mutlosigkeit, Scham und Reue.73 Im weiteren folgt der Text des Drucks dem Material des Manuskripts. Mit dem ursprünglich vorgesehenen Schlusssatz greift Leitgeb nochmals die Motive des Kreises und des Herbstes auf: In klarem Gleichmaß neigte sich die Sonne auf die Höhe von Straßpoint und sank, eine weiße, schwere, goldbraune Garbe.74 Die diesem – letztlich nicht in den Roman übernommenen – Satz anhaftende metaphorische Harmonie lässt nichts von der ebenso problematischen wie langwierigen Einigung auf eine für alle Beteiligten annehmbare Schlusskonstruktion erahnen. Konkrete Vorstellungen des Lektors Max Tau vom Verlag Cassirer stehen den noch konzeptionellen Ideen eines mit sich um den Abschluss ringenden Schriftstellers gegenüber. Je unentschlossener Leitgeb in den verschiedensten Konstellationen verharrt, desto entschiedener tritt Tau für die von ihm bevorzugte Variante ein: Der Christian muss die Brigitte doch bekommen. Selbst wenn Sie mich für einen sentimentalen Esel halten, sage ich dieses vorweg. Denn die Gestalt der Brigitte ist so angelegt, dass sie die tiefste und seelenbereiteste Frauengestalt der gegenwärtigen Literatur werden kann, wenn Sie die Anlage ausgestalten. [...] Das, was in der Konzeption vorgesehen ist ist zwar das Leben, aber es steht nicht unter dem ganz grossen Gesetz des Schicksals das zu gestalten und sichtbar zu machen die Aufgabe des Dichters ist.75 In einem weiteren Briefwechsel heißt es gar: 14 Dabei ist es selbstverständlich gleichgültig, ob sie zum Schluss Christian heiratet... Nur eins ist unmöglich, dass diese Brigitte, die so gross, so schön wie kaum eine weibliche Menschengestalt veranlagt ist, eine andere Bindung eingehen kann. Christian ist für sie Anfang und Ende. [...] Die Sinngebung des Lebens, der Magnetismus des menschlichen Zueinandergehörens hat diese beiden Gestalten für einander bestimmt. Aber es ist wichtig, dass dies nicht nur der Lektor, sondern der Dichter Leitgeb selber einsieht, denn er hat sie geschaffen!76 Wirklich ‚eingesehen’ hat dies der Dichter wohl eher nicht, obwohl er letztendlich dem Diktat des Verlags Rechnung trug. Doch wie unzufrieden er mit diesem ‚bürgerlichen happy end’ war, kann einem Brief Leitgebs vom 10. Dezember 1940 an seinen Freund Friedrich Punt entnommen werden, in dem er persönlich den Schlussteil des Romans als billig und konventionell bezeichnet und dazu die Meinung Punts erbittet. Der Verlag O. Müller arbeitet noch immer weiter, obwohl der Verleger selbst seit 8 Wochen wieder in Haft ist. Für die nächste Zeit hoffen sie nun, einen endgültigen Entscheid aus Berlin zu erhalten und falls dieser positiv ausfällt, würden sie den Roman neu auflegen. Für diesen mehrfachbedingten Fall stelle ich nun meine Frage. Wir haben bei unserem letzten Zusammensein darüber gesprochen – ich habe eben jetzt die 2. Hälfte des Buches noch einmal gelesen und bin der Meinung, die auch du damals aussprachst, daß dieses bürgerliche Happy End weder dem Charakter Christians noch der ganzen Anlage des Buches entspreche. Damals konnte mich der Lektor Cassirers überzeugen; dieser Schluß sei um einer höheren Ordnung willen notwendig, es gehöre zu der Liebe der beiden Menschen, daß sie sich erfülle – in Kind und Ehe – es sei eine ethische Schuldigkeit, die mich hiezu verpflichte, Christian heimkehren zu lassen u.s.w. Künstlerisch – soweit man bei einem Roman dieser Art wirklich von Kunst sprechen darf – künstlerisch scheint mir dieser Schluß flach, müd, billig, konventionell, filmisch. Dir auch, so viel ich weiß. Aber was soll ich mit Brigitte im letzten Kapitel machen? Hannes, den jungen Bauern kann sie doch nicht heiraten, wie ich im ersten Entwurf glaubte; soll statt des Christian der Alte von der Landstraße, der ohnedies nicht organisch genug in die Geschichte verwoben ist, nach Schwendt kommen und von Christians Ende erzählen? (das er auf irgendeine Weise erfahren hat). Oder soll das Buch einfach auf Seite 398 nach dem 1. Absatz schließen?77 Es ist bei diesen Überlegungen geblieben. Auch in den weiteren Neuauflagen findet sich lediglich die ehemals vom Verlag Cassirer postulierte Schlussvariante, in der der heimkehrende Christian sein Kind unter dem tränenverschleierten Blick Brigittes ins Haus trägt und derart sein Leben neu beginnt.78 1 Josef Leitgeb: Christian und Brigitte. In: Die Dame, Berlin: Ullsteinverlag 1935, Heft 21-26, 1936, Heft 1-6. Josef Leitgeb: Christian und Brigitte. Berlin: Bruno Cassirer Verlag 1936. 3 Daniela Rummel-Volderauer: Josef Leitgeb. Christian und Brigitte. Eine Annäherung. Diplomarbeit. Innsbruck 2003. 4 Notizheft zu Christian und Brigitte, 23.12.1933, 1-2; im Folgenden wird aus den Heften im Nachlass Leitgebs (Signatur 24/1.13 und 24/1.14) so zitiert: Manuskript (Datum), Seite. 5 Siehe: In dieser Ausgabe, 31ff. 6 Siehe: Ebenda, 35. 7 Manuskript (23. Dezember 1933), 8. 8 Ebenda, 8f. 9 Ebenda, 7. 10 Vgl. dazu: Die Dame, 1935, Heft 25, 57 u. 1936, Heft 2, 37. 11 Siehe: In dieser Ausgabe, 54f. 12 Siehe: Ebenda, 176. 13 Ebenda, 60. 14 Die Dame, 1935, Heft 22, 36. 15 Die eckigen Klammern stammen von Leitgeb, der diesen Satz in einem Korrekturvorgang einklammerte. 16 Manuskript (9. Mai 1934), 36. 2 15 17 In dieser Ausgabe, 22. Die Dame, 1935, Heft 21, 31. 19 Siehe: In dieser Ausgabe, 36f. 20 Siehe: Petra Streng, Gunter Bakay: Bauernerotik in den Alpen. Das Liebesleben der Tiroler vom Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert. Innsbruck: Edition Löwenzahn 1997, 70f. 21 Manuskript (23. Dezember 1933), 12f. 22 Ebenda, 14ff. 23 Wilhelm Heising, undatierter Zeitungsausschnitt im Nachlass Leitgeb (siehe: Briefe und Besprechungen). 24 Siehe: Manuskript (23. Dezember 1933), 17 f. 25 Siehe: In dieser Ausgabe, 68f. 26 Manuskript (23. Dezember 1933), 20f. 27 Ebenda, 22. 28 Siehe: Ebenda, 31f. 29 Ebenda, 33. 30 Ebenda, 35f. 31 Manuskript (Charfreitag, 1934), 1f. 32 Siehe: Ebenda, 5f. 18 33 Der Satz in den runden Klammern wurde von Leitgeb nachträglich in Kurzschrift angefügt. 34 Manuskript (Charfreitag, 1934), 9. 35 Siehe: In dieser Ausgabe, 9f. 36 Ebenda, 12. 37 Manuskript (Charfreitag, 1934), 14f. 38 In dieser Ausgabe, 371. 39 Manuskript (Charfreitag, 1934), 18f. 40 Unleserliches Wort. 41 Manuskript (Charfreitag, 1934), 21f. 42 Ebenda, 23f. 43 Siehe: Ebenda, 31f. 44 Ebenda, 32. 45 Ebenda, 33. 46 Manuskript (9. Mai 1934), 1. 47 Siehe: Ebenda, 1f. 48 Ebenda, 5f. 49 Ebenda, 9. 50 Ebenda, 12. 51 Siehe: Ebenda, 21f. 52 Siehe: Ebenda, 14. 53 Siehe: Ebenda, 15f. 54 Siehe: In dieser Ausgabe, 59. 55 Manuskript (9. Mai 1934), 36. 56 Ebenda, 39. 57 Manuskript (30. Juli 1934), 9. 58 Ebenda, 17. 59 Ebenda, 21. 60 Siehe: In dieser Ausgabe, 116. 61 33. - 37. Ts. Wien: Österreichische Buchgemeinschaft 1950; 38.-40. Ts. Salzburg: Otto Müller [1954 ?]. 62 Vgl. dazu: In dieser Ausgabe, 125f. 63 Manuskript (26. August 1934), 26ff. 64 Ebenda, 33. 65 Vgl. dazu: In dieser Ausgabe, 225ff. 66 Manuskript (26. August 1934), 42. 67 Siehe: In dieser Ausgabe, 223. 68 Siehe: Ebenda, 230. 69 Siehe: Ebenda, 237ff. 70 Siehe: Manuskript (30. Juli 1934), 47f. 71 Manuskript (12. Mai 1935), 3f. 72 Ebenda, 15. 73 Ebenda, 29. 74 Ebenda, 55. 75 Brief Max Taus an Josef Leitgeb, [nach dem 9.4.1935], in dieser Ausgabe, …. 76 Brief Max Taus an Josef Leitgeb, [Ende April 1935], in dieser Ausgabe, …. 77 Brief von Josef Leitgeb an Friedrich Punt, 10.12.1940, in dieser Ausgabe, …. 78 Siehe: Christian und Brigitte. 33.-37. Ts. Wien: Österreichische Buchgemeinschaft 1950, 319. 16