Die Wirkungsweise des pädagogischen Hörtrainings nach Tomatis Der Kipp-Effekt oder Tomatis-Effekt Das Trommelfell bildet die Trenn-Membran zwischen Außen- und Mittelohr. Damit verbunden sind die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel. Der Steigbügelknochen drückt an eine zweite Membran, das ovale Fenster, welches das Mittelohr vom Innenohr trennt. Am Hammer- und Steigbügelknochen sitzt jeweils ein kleiner Muskel (Musculus tensor tympani und Musculus stapedius). Diese Muskeln regulieren die Spannung des Trommelfells und des ovalen Fensters, der Innenohr-Membran. Je nach Spannung dieser Muskeln wird die Übertragung von Tönen tiefer oder hoher Frequenzen verstärkt oder auch verringert. Dafür müssen die entsprechenden Muskeln arbeiten. In der elektronischen Apparatur wird die Musik abhängig von ihrer Lautstärke entweder durch Kanal 1 oder durch Kanal 2 geleitet (siehe Tomatis-Gesetze). Das Ohr muss sich also in unregelmäßigen, nicht vorhersehbaren Abständen auf die Aufnahme hoher bzw. tiefer Frequenzen einstellen. Durch den Wechsel (das Kippen) zwischen Kanal 1 und Kanal 2 werden die zwei Muskeln, die die Spannung von Trommelfell und Innenohrmembran regulieren, trainiert. Es findet sozusagen eine „Mikrogymnastik“ statt. Die Betonung der hohen Frequenzen im „lauten“ Kanal (Kanal 2) wirkt wie ein akustisches Aufmerksamkeitstraining. Eine Betonung der tiefen Frequenzen in diesem Kanal wirkt dagegen über das Gleichgewichtsorgan stimulierend auf die Motorik. Das autonome Nervensystem steuert – unabhängig vom Bewusstsein – wichtige Körperfunktionen wie Blutdruck, Temperatur, Herzschlag, Atmung, Verdauung. Es besteht aus zwei Komponenten: dem im Wachzustand aktiven Sympathikus und dem im Ruhezustand aktiven Parasympathikus. Den wichtigsten Anteil des Parasympathikus bildet der 10. Hirnnerv, der Nervus vagus, der sich vom Stammhirn ausgehend über viele Organe bis zur Peripherie des Körpers erstreckt. Er gibt feine Nervenfasern zum Trommelfell und zu Teilen des äußeren Gehörganges ab. Die neurologische Stimulation aller Organe und Muskeln des Körpers durch Klang wird vor allem durch den Nervus Vagus ermöglicht. Mit dem Kippen der Musik zwischen Kanal 1 und Kanal 2, also zwischen der Betonung der hohen und der tiefen Frequenzen, wechselt auch die Wirkung auf die gegensätzlichen vegetativen Zustände des autonomen Nervensystems: den Sympathikus und den Parasympathikus. Nicht die Fixierung auf einen Zustand ist das Ziel, sondern die Fähigkeit, zwischen beiden zu wechseln. Die Knochenleitung Die in das Ohr eindringenden Schallwellen lösen Schwingungen des Trommelfells aus, die das Innenohr erreichen, in der Hörschnecke in elektrische Impulse umgewandelt und an das Gehirn weitergeleitet werden. Die Umwandlung in elektrische Impulse erfolgt in den inneren und äußeren Haarzellen in der Hörschnecke. Den äußeren Haarzellen kann eine zentral vom Gehirn gesteuerte Aktivierungs- und Dämpfungsfunktion für die inneren Haarzellen zugeordnet werden. Damit wird im Gehirn entschieden, welche Frequenzen betont gehört werden und welche ausgeblendet werden (Regelkreis Innenohr / Stammhirn; Schallvorverarbeitung). Dieser Prozess läuft unbewusst ab. Hier wird deutlich, dass psychische Komponenten – das unbewusste „hören wollen“ oder eben „nicht hören wollen“ – in der Hörwahrnehmung eine große Rolle spielen. Die beim Hörtraining im Kopfhörer eintreffenden Klänge werden zeitgleich auf die Mitte der Schädeldecke und auf beide Ohren geleitet. Schallwellen werden durch Knochen 10 bis 15 Mal schneller weitergeleitet als durch Luft. Die Schallinformation erreicht © Cornelia Beumker, Pädagogin & Hörtrainerin nach Tomatis | www.pädagogisches-hörtraining.de 1 von 3 also über den Knochen (Knochenleitung) das Innenohr früher als über den Weg durch die Mittelohrhöhle (Luftleitung). Die Regelkreise Innenohr zu Stammhirn und Mittelohr zu Stammhirn haben mehr Zeit, die Feinregulierung vorzunehmen. Funktioniert das „Filtersystem des Innenohrs“ gut, ist es möglich, sich auch auf wechselnde Klangquellen einzustellen und sich bei vielen Hintergrundgeräuschen gut zurechtzufinden. Beim Hörtraining wird durch die Aktivierung der äußeren Haarzellen die „Filterfunktion des Innenohrs“ gefördert. Die Wirkung über die Knochenleitung kann an der elektronischen Apparatur durch Einstellen einer Verzögerungszeit verstärkt werden. Die Mutterstimme Tomatis selbst erklärt die Hörwahrnehmung des Fötus folgendermaßen: Äußeres Ohr und Mittelohr des Fötus sind mit Fruchtwasser gefüllt, demnach sind die Trommelfellschwingungen erheblich vermindert. Die Geräusche nimmt der Fötus vor allem über die Vibrationen des Skeletts der Mutter wahr (die Knochenleitung). Das Skelettsystem der Mutter wirkt wie ein Resonanzkörper und zugleich Frequenzmodulator: tiefe Frequenzen unter 1500 Herz (Hz) werden gedämpft, hohe Frequenzen werden besser weitergeleitet. Das Kind drückt seinen Kopf gegen die hintere Gebärmutterwand, um eine Knochenschwingung aufzuspüren. Es drängt sich zum unteren Ende des Rückens hin, dort, wo die Wirbelsäule endet. Um den achten Schwangerschaftsmonat senkt es sich zum Beckeneingang hinab, der einen extrem starken Resonanzkörper darstellt. Durch die halbkugelige Form des weiblichen Beckens wird die Stimme der Mutter in den hohen Frequenzen noch einmal um das 2,5-fache verstärkt. Töne von außen, zum Beispiel die Stimme des Vaters oder Musik, nehmen den Weg über das Trommelfell der Mutter und ihre Wirbelsäule und kommen sehr viel leiser im Gehirn des Fötus an. Die Geräusche der inneren Organe und der Blutgefäße der Mutter mit ihrer tiefen Frequenz und dem lauten Grundrauschen von ca. 60 Dezibel (dB) werden durch die Filterwirkung der Knochen zu einem großen Teil ausgeblendet. Deshalb unterscheidet sich die Klangwahrnehmung des Fötus stark von der Klangkulisse im Bauchraum. Hier wird deutlich, dass die Mutterstimme in der vorgeburtlichen Klangwelt eine ganz besondere Rolle spielt. Die Stimme der Mutter ist wie ein Fingerabdruck. Alfred Tomatis Der im Klang und Rhythmus der mütterlichen Stimme vermittelte emotionale Gehalt teilt sich dem Fötus mit. Er kann die Stimme inhaltlich nicht verstehen und doch enthält sie eine Fülle von Botschaften. Das Kind reagiert und es entsteht ein erstes Hör-, Kommunikations- und Verhaltensmuster, auf dem alle späteren aufbauen. Hier entwickelt sich die erste Grundlage für ein Urvertrauen – oder Urmisstrauen. Im Kind entsteht die Bereitschaft, hören und kommunizieren zu wollen, wenn es das, was es von der Mutter wahrnimmt und hört, überwiegend als angenehm und wohltuend empfindet. Die während des Hörtrainings eingespielten hohen Frequenzen der Mutterstimme bewirken, dass das Kind in seiner Entwicklung an Erfahrungen aus sehr früher Zeit anknüpfen kann. Auf diesem Weg können vorgeburtlich erworbene Hörblockaden behoben werden. Die Lateralität Insbesondere seine Arbeiten mit Stotterern brachten Tomatis zu der Annahme, dass das rechte Ohr für die Analyse von Sprache dominant ist. Das lässt sich bei Betrachtung des Verlaufs der Hörbahnen und der Leistungen der rechten und linken Gehirnhälfte (Hemisphären) erklären. Nervenfasern des linken Ohres führen auf die rechte Seite und von hier hoch zur primären Hörrinde der rechten Gehirnhälfte; entsprechend zur linken Gehirnhälfte beim rechten Ohr (kontralaterale Bahnen). Es gibt auch Nervenfasern, die auf der gleichen Seite bleiben (ipsilaterale Bahnen). Diese liegen © Cornelia Beumker, Pädagogin & Hörtrainerin nach Tomatis | www.pädagogisches-hörtraining.de 2 von 3 aber in geringerer Anzahl vor. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Anregung der Gehirnhälften über Kreuz erfolgt: das rechte Ohr ist auf die linke Gehirnhälfte bezogen, das linke Ohr auf die rechte Gehirnhälfte. Die Leistungen des Gehirns stellen immer ein interaktives Miteinander beider Gehirnhälften dar, dennoch gibt es Schwerpunkte in der Aktivität der jeweiligen Gehirnhälfte. Bei einer Dominanz des linken Ohres wird die Information zuerst in das Hörzentrum der rechten Gehirnhälfte und dann über die Verbindungen der Hirnhemisphären in das Sprachzentrum links weitergeleitet. Dieser Weg dauert in neurophysiologischen Dimensionen relativ lange: je nach Versuchsperson zwischen 0,05 und 0,4 Sekunden. Beim Hörtraining kann die Lautstärke, die über die Luftleitung auf das rechte bzw. linke Ohr gegeben wird, getrennt voneinander variiert werden. Damit ist es möglich, die Lateralisierung der Hörwahrnehmung zu beeinflussen. Durch bevorzugte Stimulation eines Ohres kann dieses Ohr eine führende Rolle bei der auditiven Analyse und Kontrolle übernehmen. Die Wirkung der Frequenzbereiche Tomatis stellte empirisch fest, dass das Hören hoher Frequenzen eine geistige Wachheit und besondere Form der Aufmerksamkeit auslöst. Er hat dies als „energetische Aufladung“ des Gehirns bezeichnet. Das Ohr bezeichnete er daher als eine „Batterie fürs Gehirn“. Durch zusätzliche Verwendung von Filtern können einzelne Frequenzzonen gezielt stimuliert werden: 16 – 1.000 Hz einschläfernd auf die Psyche, stimulierend auf Motorik und Tiefensensibilität 1.000 – 3.000 Hz stimulierend auf die Sprache 3.000 – 6.000 Hz belebend, vitalisierend Die audio-vokale Schleife In der letzten Phase des Hörtrainings arbeitet der Klient aktiv mit dem Mikrophon. Er singt oder spricht in ein Mikrofon und hört sich gleichzeitig selbst über Kopfhörer. Dabei wird seine Stimme durch die elektronische Apparatur verändert (gefiltert). Das Feedback der eigenen Stimme über den Kopfhörer wird als audio-vokale Schleife bezeichnet. Diese Phase der Behandlung ist besonders wichtig für Kinder mit Sprachstörungen und für Menschen, für die ihre Stimme wichtig ist (zum Beispiel Sänger, Moderatoren, Sprecher). Tomatis unterschied drei Frequenzregionen und setzte diese in Beziehung zu den Körperfunktionen. Nach seiner Vorstellung analysiert die Hörschnecke alle Frequenzen, insbesondere hohe Töne, während das Gleichgewichtsorgan auch tiefe Töne empfängt. Die tiefen Töne bis zu einem Frequenzband von etwa 1000 Herz (Hz) stehen dabei in Beziehung zum Gleichgewicht, zu motorischen und vegetativen Funktionen. Die mittlere Region zwischen 1000 und 3000 Hz steht in Beziehung zu Sprache, Sprachausdruck und Kommunikation, weil dieses Frequenzband stark in der Stimme repräsentiert wird. Die Region der hohen Frequenzen über 3000 Hz bezieht sich mehr auf Assoziationen und Denkprozesse. © Cornelia Beumker, Pädagogin & Hörtrainerin nach Tomatis | www.pädagogisches-hörtraining.de 3 von 3