Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar Der dialogische Charakter sozialer Ethik im Islam Die ontologische Position der Prinzipien sozialer Ethik des Islam ist in der islamischen Denktradition bis heute ein Problem geblieben. Auch wenn die Denker des klassischen Islam niemals eine Trennung zwischen dem Sein und religiösen Werten vorgenommen haben, so herrschte doch Verwirrung darüber, auf welchem ontologischen Gebiet diese Werte wurzeln. Vielleicht war es Ibn Hazm, der diese Verwirrung am schönsten in der technischen Sprache der Koranwissenschaft zum Ausdruck brachte. Nach Ibn Hazms Auffassung verfügen die Begriffe „hakikat“ (Wahrheit, Tatsache) und „hak“ (Recht) über unterschiedliche Bedeutungsfelder; während „hakikat“ nur die Existenz eines Dinges, sein Werden und seine Bestimmung zum Ausdruck bringt, so bringt „hak“ zum Ausdruck, dass sich ein Ding an dem Gottes Bestimmung entsprechenden Platz befindet.1 Diese semantische Unterscheidung besitzt aufgrund ihres Verweises auf eine kritische Differenz der islamischen Koranwissenschaftler im Hinblick auf soziale Werte eine besondere Bedeutung. 1 Ibn Hazmj, el-İhkam fi Usuli’l-Ahkam, C. I, Beyrut: Daru’l-Kütübi’l-Ilmiyye, 1405/1985, ss. 41-42. 79 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums Muss man die moralischen Handlungen des Menschen und seine geistige Reife unter dem Aspekt der Wirklichkeit oder im Hinblick auf „Recht“ (d.h. ihre normative Bedeutung) aufgreifen? Eine menschliche Handlung ist bezogen auf den existenten Raum die „Hervorbringung von etwas Neuem“ und damit etwas „Tatsächliches“. Doch reicht die „Wahrheit“ oder „Tatsache“ aus, um eine Handlung aus sich selbst heraus als „moralisch richtig“ zu bewerten? Ist, mit anderen Worten, die moralische Richtigkeit einer Handlung bereits eine ihr immanente Eigenschaft? Oder müssen wir, um die moralische Richtigkeit einer Handlung zu erkennen, sie von außen betrachten? Auf der Grundlage dieser Unterscheidung kommt Ibn Hazm zu dem Schluss, dass die „moralische Richtigkeit einer Handlung“ lediglich im Hinblick auf den Begriff von „Recht“ (Richtigkeit) festzustellen ist. Doch wie kann das Richtige festgestellt werden? Für diesen meisterhaften Denker der „buchstabengetreuen Lehre“ war die Antwort ziemlich einfach: Durch die Hinwendung zum unverfälschten Gedanken der heiligen Quellen (Koran und Hadith) in ihrer Bedeutung zur Zeit Mohammeds erschließt sich das Recht von selbst. Das Besondere an dieser Position Ibn Hazms liegt darin, dass es keine „moralische Haltung“ für sich gibt, sondern sie ihre Identität als ethische Handlung erst durch die heiligen Quellen erhält. Diese kritische Unterscheidung zwischen „sein“ (Tatsache, Handlung) und „soll“ (Recht, von ethisch richtiger Qualität) lässt keinen Raum für die Fetischisierung oder eine willkürliche religiöse Zuordnung einer menschlichen Handlung, da das Sein seine Legitimität nicht aus dem Werden, sondern in jeden Fall durch eine höhere Instanz (Koran oder Hadith) erhält. Wenn wir die Prämissen, die Ibn Hazms Position zugrunde liegen, einmal beiseite lassen, so steht er mit seiner Position, dass das „notwendige Sein“ nur durch Gottes Entscheidung und Eingebung erkannt werde, den Eschari ziemlich nahe. Demgegenüber geht die Mu’tazila davon aus, dass der menschliche Verstand ethische Werte selbst erkennen kann und die Handlungen der Menschen durch sie selbst hervorgebracht werden, als ob ethische Prinzipien im menschlichen und irdischen Sein Wurzeln geschlagen hät80 Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar ten. Nach dem Denken der Mu’tazila ist die Unterscheidung zwischen Sein und Soll weniger eine zwischen der weltlichen und der göttlichen Sphäre, sondern verweist auf die Unterscheidung zwischen Handlung und rationalem Gedanken. Zweifellos schreiben sie dem „rationalen Gedanken“ als dem unverfälschten universalen menschlichen Denken eine Harmonie mit dem göttlichen Gedanken und damit einen mehr oder weniger metaphysischen Charakter zu. Aufgrund der Betrachtung menschlicher Handlungen als von ihnen selbst hervorgebrachte lässt sich erkennen, dass die Mu’taziler davon ausgehen, dass der ethisch richtige Charakter bereits als Bestandteil in den von Menschen mit Bewusstsein und Entscheidung hervorgebrachten Handlungen aufgehoben ist. Mit anderen Worten sind menschliche Handlungen nicht eigenschaftslos und ohne Identität, sondern sind bereits in ihrer Entstehung Widerspiegelung und Objektivierung der ethischen Absichten menschlichen Denkens. Die charakteristischste Gemeinsamkeit dieser beiden kurz skizzierten Richtungen islamischer Philosophie ist die Annahme, dass das vom unverfälschten menschlichen Denken verstehbare Wissen über die Ethik der ethischen Handlung vorausgeht. Kurz gefasst bedeutet dies, dass menschliches Denken menschlichem Handeln vorausgeht und dass das Wissen um Moral sowohl die moralische Handlung steuert wie auch über eine besondere ontologische Grundlage verfügt, die dessen Beurteilung ermöglicht, was jedoch eine Reihe philosophischer Fragen aufwirft. Wenn wirklich menschlicher Geist und das Wissen über Moral dem menschlichen Handeln vorausgehen und das Wissen über Moral von Gott gegeben oder von ihm für gut befunden wurde, wie können wir dann erkennen, ob das Wissen über die Moral tatsächlich „moralisch richtig“ ist? Wenn der menschliche Gedanke das Wissen über die Moral versteht, bedeutet dies dann gleichzeitig auch, dass er sich in moralischer Form vollzieht? Diejenigen, die sich mit der Geschichte der Moralphilosophie beschäftigen, werden bei diesen Fragen schnell an den Bezug zu Sokrates und Plato denken: Ist eine Handlung moralisch richtig, weil Gott es so will? Oder zeigt Gott eine Handlung als richtig, weil sie es selbst ist? Die Widerspiegelung dieser sokratischen und platonischen Fragen in der 81 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums islamischen Geistesgeschichte wurde bereits oben mit Verweis auf Ibn Hazm, die Eschari und die Mutazeli zum Ausdruck gebracht. Wahrheit (d.h. „was sein soll“) ist, weil sie auf den von Gott dem Menschen gegebenen Wissen über Moral beruht, ihrem Wesen nach ein epistemologischer Begriff. Doch kann von Moral als einem metaphysischen Imperativ in dem Sinne gesprochen werden, weil sie durch Gottes Wille oder Befehl über die Willkür hinausgeht? Was kann uns garantieren, dass Gott, als er uns verschiedene Anweisungen zur Moral gab, selbst eine moralische Tat vollbrachte? Auch wenn auf den ersten Blick erkennbar ist, dass diese Frage über einen breiten intellektuellen philosophiegeschichtlichen Hintergrund verfügt, müssen wir feststellen, dass uns in dieser Hinsicht die „Meditationen“ von Descartes2 das kritischste Denkmodell zur Verfügung stellen. Descartes wirft die Frage auf, wie wir unterscheiden können, ob Gott mit seiner unendlichen Allmacht nicht ein Dämon ist, der sich als das absolut Gute darstellt und uns täuscht? Diese Frage ist nicht zuletzt im Hinblick darauf, ob die göttlichen Gebote zur Moral in der Existenz Gottes wurzeln, von Bedeutung. Auch wenn diese Frage Descartes in der islamischen Geistesgeschichte nicht offen gestellt wurde, so wurde sie mit einer metaphysischen Ontologie und kosmologischen Lehre, die durch Gottes endlose Gnade, Gerechtigkeit und Güte geprägt ist, beantwortet. Jedoch lässt diese Antwort, die sich nicht damit begnügt, die islamischen Prinzipien der Moral in ihrem ontologischen Status auf eine metaphysische Ebene zu ziehen, zum anderen die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des Wissens über die Moral offen, das der moralischen Handlung vorausgeht. Wie also kann der Übergang von „Wissen“ zur „Moral“ vollzogen werden? Es kommt mir so vor, als ob beim Problem des ontologischen Status der islamischen Prinzipien sozialer Moral, wenn in der islamischen Denktradition dem moralischen Handeln das moralische Wissen voraus2 Descartes’ Meditations, Meditation I, 9-12, John Veitch translation http://www.wright.edu/cola/descartes/meditation1.html (16.02. 2007) 82 of 1901, Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar geht, sobald dieses Wissen problematisiert wird, nicht nur das Problem nicht gelöst, sondern zugleich der Kern des Problems der Moral vergessen wird. Die Prämisse, dass das menschliche Denken eine Ebene jenseits der Moral erreichen könnte und ein Niveau „moralischer Wahrheit“ erlangen könnte, ist ein grundsätzlich moralisches Problem. In Wirklichkeit gewinnt menschliches Denken eine moralische Erfahrung in einem historischen und sozialen Milieu. Wenn es sich ausschließlich auf der Grundlage dieser Erfahrung dem Problem des moralischen Denkens stellen kann, so ist es nicht möglich, den gemeinsamen Kommunikationszusammenhang, der diesem sozialen Milieu zugrunde liegt, zu überschreiten und vom „Wissen“ zur „Moral“ zu gelangen. Hier liegt der Kern des moralischen Problems, das islamische Metaphysiker und Moralphilosophen vergessen haben, wenn sie das Wissen um Moral oder das menschliche Denken der moralischen Handlung voranstellen. Der Kern der Frage nach der Moral wird offenbar, wenn wir den offenen Charakter von Kommunikation erkennen. Denn Moral kann nur innerhalb einer ergebnisoffenen Kommunikation existieren und eine Handlung kann nur moralische Eigenschaften besitzen, wenn sie sich in dieser offenen Kommunikationsform vollzieht. Der Begriff der „bedeutungsoffenen Kommunikation“ legt die Unmöglichkeit nahe, vor einer moralischen Handlung über das Wissen ihrer moralischen Qualität zu verfügen. (Es ist kein Zufall, dass der von Ibn Tufeyl den in Form eines „monologischen Gedanken“ beschriebenen Weg des Hayy b. Yakzan zur umfassenden metaphysischen Erkenntnis die Konfrontation mit dem moralischen Denken nicht umfasst). Um es umgekehrt auszudrücken: Weil das Wissen um Moral nur innerhalb einer bedeutungsoffenen Kommunikation erlangt werden kann, ist es niemals abschließend, sondern offen für Revision, zeitabhängig, hinterfragbar und verfügt, wenn man die Person oder Existenz der Gegenseite berücksichtigt, über einen pluralen Charakter. Drücken wir es in den Begriffen Heideggers aus, so ist das Wissen um Moral nur auf der Welt im Dasein mit anderen erkennbar. In Wirklichkeit gibt es kein Wissen um Moral unabhängig von bedeutungsoffenen Kommunikationsakten. Zugleich ist das Wissen um Moral, das nur während der Handlung 83 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums erkannt und hervorgebracht werden kann, nicht wie das über einen beliebigen Gegenstand „ zu konservieren“ und „zu übermitteln“. Wissen um Moral gewinnt seine Gestalt, wenn wir in einer bedeutungsoffenen Kommunikation mit anderen konfrontiert werden, in der Erkenntnis der von anderen an uns gerichteten Forderungen, als ihre existenzielle und ontologische Manifestation und wird hervorgebracht durch das sich selbst formende zeitlich gebundene Denken. Meiner Meinung nach spielt das zeitliche moralische Denken innerhalb bedeutungsoffener Kommunikation eine bestimmende Rolle in den Problemen, die sich dem Propheten zu seiner Zeit stellten wie auch in seiner Beziehung zu Gott. Schauen wir auf die Überlieferungen zum Propheten Mohammed so stellen wir fest, dass er statt vom Wissen um die Moral davon sprach, gegenüber unterschiedlichen Problemen den richtigen Weg zu finden, oder aber, dass er bei bestimmten Ereignissen Gott anrief, ihm das Richtige zu zeigen. In den Überlieferungen der Hadith fällt auf, dass, wie im Koran auch, statt der Offenbarung moralischen Wissens eine historisch gebundene Moral sichtbar wird, oder aber versucht wird, angesichts eines Ereignisses das Richtige zu finden bzw. Gott angerufen wird, das Richtige zu zeigen. Wie in der „Abese“ Sure des Koran (80:1-11) zum Ausdruck gebracht wird, wird dem Prophet in seiner Beziehung zu einem Blinden, bei der er nicht eine moralische Haltung einnimmt, ihm die richtige Haltung von Gott mitgeteilt. Doch dies ist zunächst ein Ergebnis davon, dass Existenz und Forderung des Blinden im Prozess des moralischen Denkens des Propheten in jenem Moment keine ausreichende Rolle spielten. In ähnlicher Weise verweist das als lang zu bewertende Schweigen des Propheten Mohammed angesichts von Gerüchten und Verleumdungen gegen seine Frau Aische und dass er, um besser denken zu können, eine Weile Distanz zu seiner Frau schuf, auf die große Rolle der offenen Kommunikation beim moralischen Denken. Kurz gefasst geht es darum, dass das Richtige nicht auf den ersten Blick zu erfassen ist und dass in der offenen Kommunikation der moralische Gedanke beständiger Revision und Hinterfragung ausgesetzt ist. Die spätere Befreiung Aisches von dem 84 Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar Vorwurf durch göttliche Eingebung3 ist nicht einfach ein Ereignis, bei dem durch Information die Wahrheit zum Vorschein kommt, sondern vielleicht mehr, dass sich Gott veranlasst sieht, angesichts der moralischen Probleme bei einem Ereignis das moralische Denken mit den Menschen zusammen zu übernehmen. Gott hat dabei, in dem Er Aische vom Verdacht befreit und zum Bürgen ihrer Tugend wurde, auch die Probleme auf sich genommen, die die Verpflichtung zum moralischen Denken mit sich bringt. Im Versuch Abrahams, seinen Sohn Isaak zu opfern, ist in der Form, wie sie der Koran erzählt (37: 100-108), wenn wir alle philosophischen Fragen, die durch die in der Geschichte auftretenden metaphysischen und irrationalen Denkformen aufgeworfen werden, zunächst beiseite lassen, zu erkennen, wie in der offenen Kommunikation zwischen Abraham-Issak und Gott das moralische Denken Gestalt annimmt. Obwohl Abraham in seinem eigenen moralischen Denken keine Rechtfertigung für die Opferung seines Sohnes finden konnte, entschied er sich, nachdem er die Einwilligung Isaaks eingeholt hatte, sich in gewisser Weise dem Willen Gottes unterwerfend, sein Kind zu opfern. Dies verweist auf ein Problem im moralischen Denken Abrahams. Dass in der Fortsetzung der Geschichte Gott offenbart, dass der göttliche Befehl eine Prüfung war und statt des Kindes ein Schaf geopfert wird, zeigt das Problem, das sich Abraham beim moralischen Denken in offener Kommunikation stellt. Auch wenn sie von Gott gefordert wird, so wird die Opferung eines Kindes von Gott nicht befürwortet und ihre Verwirklichung auch nicht zugelassen. Dieser Geschichte zufolge wird als moralisch Richtiges die Opferung des Schafes an Stelle des Kindes gezeigt. Weil Abraham das Wissen (den Befehl sein Kind zu opfern) als von Gott kommend ansah, und es nicht im Kontext der Moral, sondern von Unterwerfung auffasste, konnte er das moralisch Richtige nicht erkennen und das Übersehene wird durch die Opferung des Schafes anstelle des Kindes symbolisiert. Und aus genau diesem Grund hat Gott die Lösung des moralischen Problems des an Abraham gerichteten Befehls, sein Kind zu opfern, durch eigenes 3 Nur (24), 1-26. Detaillierte Informationen zum göttlichen Hinweis über Aische sowie eine philosophische Kommentierung und Analyse dieses Koranverses vgl.: Hafsa Fidan, Kur’an’da Kadın İmgesi, Vadi Yayınları, Ankara, 2006; ss. 79-85. 85 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums Eingreifen auf sich genommen. Der kritischste Punkt dessen, was uns diese Geschichte lehrt, ist, dass offenkundiges „Wissen“ und göttlicher Befehl ohne moralisches Denken zu moralisch falschen Ergebnissen führen kann. Mit anderen Worten können das offensichtliche Wissen und göttlicher Befehl, solange sie nicht Teil einer moralischen Denkanstrengung in offener Kommunikation werden, die Funktion übernehmen, statt das moralisch Richtige zu sehen, es zu verdecken. Wie oben bereits angesprochen, ist dies ein charakteristischer Punkt beim Übergang von Wissen zur Moral. Es wirkt so, als ob in der islamischen Denktradition die Form des Versuchs in einer offenen Kommunikation moralisch zu denken, wie wir sie im Koran und Hadith gesehen haben, mit der Position, „das Wissen über Moral“ in metaphysischen und kosmologischen Zusammenhang als der moralischen Handlung vorausgehend zu positionieren, das soziale Moralproblem – unter Abstraktion vom historischen Zusammenhang – in ein metaphysisches Wissensproblem verwandelt wird. Insbesondere nach der Konfrontation mit Modernismus und Universalwissenschaft des Westens und der Tendenz des islamischen Denkens, sich von der klassischen Kosmologie und Metaphysik zu entfernen, fällt es schwer, eine hierarchische Theorie moralischer Werte in Übereinstimmung mit dem metaphysischen und kosmologischen Entwurf zu begründen. Wie in wohl jedem religiösen Werteverständnis wird zweifellos auch das Werteverständnis der islamischen Religion in seiner eigenen Ontologie wurzeln und unausweichlich eine Form entsprechend der auf Grundlage dieser Ontologie entworfenen Kosmologie und Metaphysik annehmen. Dies ist ein ziemlich nachvollziehbarer Vorgang, sind doch die Werte einer Gesellschaft, die im historischen Prozess entsprechend der metaphysischen und kosmologischen Entwürfe immer neue Formen annehmen, untereinander in einer schlüssigen und wirksamen (normativen) Weise miteinander verbunden. Weil in der heutigen islamischen Welt die historischen ontologischen Bedingungen entspringende Metaphysik und Kosmologie kaum noch einen Boden findet, so wird es unausweichlich sein, dass die Werte, denen der Umgang mit sozialer Moral entspringt, gemäß der neuen ontologischen Bedingungen in einer Theorie sozialer 86 Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar Moral reorganisiert und kommentiert werden. Es ist jedoch nicht nur der wachsende Widerspruch zwischen den heute herrschenden ontologischen Bedingungen und der klassischen Metaphysik und Kosmologie, der uns heute dazu bringt, eine Theorie sozialer Moral des Islam zu entwerfen. Das vielleicht schwerwiegendste Problem ist, dass das gemäß der klassischen Metaphysik und Kosmologie geformte Menschenbild zu wanken und zu zerfallen beginnt. Metaphysische Systeme bieten uns nicht nur einen Entwurf des Seins und des Universums, sondern zugleich auch ein Menschenbild, das entsprechend dieses Entwurfes entwickelt wird. Der Entwurf eines moralischen Menschen als Modell – als eine Erfindung der Menschheit – durchläuft im historischen Wandlungsprozess Deformationen und Reformationen. Es ist ein bekannter Aspekt, dass das Portrait des tugendhaften Menschen in Aristoteles Moralverständnis ein Entwurf ist, der sich im Rahmen dessen bündelt, was im Rahmen der „polis“, in der jener lebte, als tugendhaft zum Ausdruck gebracht wurde und welch weitgehende Wandlungen dieser Entwurf seit Machiavelli durchlaufen hat. Im metaphysischen politischen Systementwurf Farabis und Platons sind die Figuren von Minister und Philosoph ohnehin ein sich nach den Erfordernissen dieses Entwurfes vereinigendes Ideal des moralischen Menschen. Es ist nach wie vor eine offene Frage, welches Portrait eines moralischen Menschen uns Moderne und Postmoderne bieten können. Wenn Modernität einerseits Moralität erfordert und andererseits ihr den Boden entzieht, diese ernst zu nehmen,4 und der Postmodernismus den Anschein erweckt, dass mit der Erklärung, die metaphysischen Erzählungen seien zerbrochen, wir auch die epistemologische Leinwand verloren hätten, die es uns ermöglichte, das Portrait eines Ideals des moralischen Menschen zu zeichnen, müssen wir es dann aufgeben, eine Theorie sozialer Moral zu entwerfen, die die in islamischen Gesellschaften als Bruchstücke und Inseln fortbestehenden moralischen Werte in einen tragfähigen Zusammenhang bringt und darauf zielt, ihnen neue Bedeutung zu verleihen? 4 Ross Poole, Ahlak ve Modernlik, (Moral and Modernity) Übersetzung: Mehmet Küçük, Ayrıntı Yayınları, İstanbul, 1993 87 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums Der Leser, der sich der Mühe unterzogen hat, diesen Text vom Anfang bis hierher aufmerksam zu lesen, wird feststellen, dass uns die zuletzt gestellte Frage auf einen im Hinblick auf die vertretene Grundposition schlüpfrigen Grund führt. Wenn zurückgewiesen wird, dass ein moralisches Wissen vor der moralischen Handlung existieren kann, weil das zeitgebundene moralische Denken sich in offener Kommunikation vollzieht, kann eine soziale Moraltheorie, die moralische Werte neu bewertet und ihnen neue Bedeutung zuweist, wegen ihres „dramatischen“, „monologischen“ und epistemologischen Charakters als eine kritisiert werden, die den moralischen Raum überschreitet und darum in sich unschlüssig ist. Um dieser möglichen Kritik zu entgehen, wird es meiner Meinung nach der beste Weg sein, zu untersuchen, wie eine Theorie sozialer Moral direkt als Teil der offenen Kommunikation in den Versuch moralischen Denkens verankert werden kann. Die grundlegende philosophische Frage, die uns bei dieser Untersuchung hilfreich sein kann, betrifft, wie eine soziale Moraltheorie auf der einen Seite – ihrer Natur entsprechend – „über“ oder „bezogen auf“ die moralischen Prinzipien, Werte und historischen Gedanken des Islam eine Metavision, eine Perspektive (im Sinne von „Blickwinkel“) und einen Horizont entwickeln kann und auf der anderen Seite – um nicht in eine die Moral überschreitende Epistemologie umzuschlagen – bleiben kann, wovon sie spricht: historisch gebundenes moralisches Denken. Wenn gerade kurz gefasst von „über“ und „bezogen auf“ die Rede war: wo findet sich dann der angesprochene „fiktionale“ Raum? Wie kann menschliches Denken, wenn es sich auf diese fiktionale Metaebene begibt zugleich Teil dessen bleiben „worüber“ oder „wovon“ sie spricht? Diese Fragen bergen zugleich einen Verweis auf die semantische Unterscheidung zwischen Moral und Ethik – wenn diese beachtet wird. Es kommt mir so vor, als ob der Versuch, eine Theorie sozialer Moral zu entwickeln, zuerst der Versuch ist, der sich in offener Kommunikation vollziehenden moralischen Handlung eine eigene Sprache zu verleihen. Zu versuchen, eine Theorie sozialer Moral zu errichten, ist die Kunst, sie in der Sprache der moralischen Handlung in einer klaren Form sichtbar und verstehbar zu machen. Es ist der Versuch, gegenüber der Zeitlichkeit der moralischen Handlung ein Sprachspiel zu entwickeln, das die 88 Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar Bedeutung der aktuellen Handlung aufnimmt und zugleich als Projekt oder Modell (Paradigma) beim Entwurf neuer Handlungen dient. Das Wort „Theorie“ verweist hier darauf, dass es nicht darum geht, durch einen auf begrifflicher oder epistemologischer Ebene reduzierten Begründungsversuch von Moral ein neues ideales Moralsystem zu erfinden, sondern indem die Wirklichkeit sozialer Moral – mit den Mitteln der Sprache – zeitlich und räumlich erweitert sie zu einem Teil des gesellschaftlichen Dialogs wird. Es ist das grundlegende Ziel einer Moraltheorie, den dialogischen Charakter von Moral hervorzuheben und auf diese Weise dem individuellen moralischen Denken einen gesellschaftlichen Charakter zu verleihen. Es gibt einen weiteren sensiblen Punkt, auf den an dieser Stelle hinzuweisen ist: Die Werte und Prinzipien islamischer Sozialmoral sind in einer sich säkularisierenden Welt mit politischen, wirtschaftlichen und auch beachtlichen weiteren Werten konfrontiert, denen gegenüber sie ihren Platz finden und zu denen sie Verbindungen herstellen müssen. Um es noch deutlicher zu sagen: soziale moralische Werte des Islam erhalten ihre Legitimation und Bedeutung nicht – wie etwa in einem geschlossenen Bedeutungssystem – durch Bezug auf sich selbst (self referentiality). Wenn Moralität sich auf dem Wege des Versuchs, moralisch zu denken, vollzieht, dann müssen die sozialen Werte des Islams zu einer Sprache beitragen, die gegenüber anderen moralischen Werten den dialogischen Charakter von Moral hervorheben. Meiner Auffassung nach zeigt sich an dieser Stelle ein weiteres Mal die Bedeutung des Versuchs, über Werte und Prinzipien des Islam auf dem Gebiet der sozialen Moral eine Theorie zu errichten. Das Ziel sozialer Moral des Islam ist nicht eine einheitliche Typisierung, die die Gesellschaft einem einheitlichen idealen Identitätsmodell unterwirft. Weil ganz im Gegensatz dazu, bereits der Ausdruck „moralisches Denken in bedeutungsoffener Kommunikation“ auf die notwendige Rolle unterschiedlichen moralischen Denkens der Individuen bei dessen Formung verweist, muss eine Theorie sozialer Moral diese Unterschiede und Pluralität offen zeigen und ist ein Symbol intellektueller Anstrengung gegen eine monotypische gesellschaftliche Moralvorstellung. 89 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums In genau dieser Hinsicht ist die Theorie sozialer Moral jenseits des Projekts, dass Moral einer systematisierenden und einheitlichen Typologie unterwirft, durch ihre Kritik solcher systematisierenden und typologisierenden Vorgehensweisen eine Verteidigerin des Pluralismus, der im Kern des moralischen Denkens angelegt ist. Und aus diesem Grund ist eine auf der Grundlage der islamischen Prinzipien und Werte zur sozialen Moral entwickelte Theorie sozialer Moral, weil sie zugleich den Charakter einer „Anti-Theorie“ trägt, selbst Teil der Bewegung moralischen Denkens. Auf diese Weise bezieht sie im Gegensatz zu metaphysischen und theologischen Moralentwürfen ihre Legitimation nicht aus ihrer über die Moral hinausreichenden epistemologischen, fiktionalen oder monologischen Struktur, sondern aus ihrem offenen (pluralistischen) und dialogischen Charakter, wie er im Wesen des moralischen Denkens angelegt ist. Was sie daran hindert, zu einem der moralischen Handlung vorausgehenden moralischen Wissen zu werden, sind offene semantische Beziehungen zwischen den Werten und Prinzipien. Um diesen Punkt verständlicher zu machen, seien drei wichtige Werte der sozialen Moral des Islam hervorzuheben: Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Zunächst müssen wir feststellen, dass der Koran den vieldeutigen und komplexen Strukturen des sozialen Lebens entsprechend Begriffe sozialer Moral in unterschiedlichen Zusammenhängen in verschiedenen, oft entgegen gesetzten Blickwinkeln aufgreift. Um es noch deutlicher auszudrücken: In dem Maße wie Moralbegriffe in unterschiedliche Beziehungen zueinander gesetzt werden, gewinnen sie eine neue, im Hinblick auf den vorherigen Zusammenhang paradoxe, Bedeutung und können dadurch wieder neue Bedeutung und Horizonte gewinnen. Kommen wir auf den Begriff der Freiheit, so läuft er mal angesichts der Allmacht Allahs, seiner Fähigkeit zu tun, was Er will, und in Versen, die ausdrücken, dass nichts ohne Seinen Willen geschieht, Gefahr, seine semantische Bedeutung zu verlieren, ein anderes Mal eröffnen uns Koranverse, die den Menschen für seine Handlungen verantwortlich erklären eine ziemlich flexible Möglichkeit zu denken. Während auf der einen Seite die Rede davon ist, dass den Engeln die Freiheit gegeben war, durch Ungehorsam gegen Seinen Willen eine Katastrophe herbeizuführen, 90 Ass. Prof. Dr. Burhanettin Tatar wird auf der anderen Seite in der „Takva“-Hadith auf Freiheit als Gottesfurcht und Gehorsam verwiesen. Obwohl im Sozialverständnis des Korans die wohl größte Betonung auf „Gerechtigkeit“ liegt, gibt er uns an keiner Stelle einen direkten Hinweis, was Gerechtigkeit ist. Während er die Menschen immer wieder dazu aufruft, sich der Ungerechtigkeit zu enthalten, so spricht er davon, dass allein Allah weiß, was am richtigsten (gerechtesten) ist. Während er darauf verweist, dass die Sicherung gesellschaftlicher Solidarität von kritischer Bedeutung für die Gründung von Gerechtigkeit ist, teilt er auf der anderen Seite mit, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich bzw. die Ungleichheit von Gottes Willen abhängt. Er legt kurz gefasst nahe, dass der Gedanke der Gerechtigkeit nicht bedeutet, Gleichheit herzustellen. Unter diesen Bedingungen ist Solidarität immer eine zwischen Ungleichen. An dieser Stelle ist es einzig das Ziel, grob zu zeigen, dass uns die Versuche, die Bedeutung der Begriffe des Korans festzulegen, dazu bringen, dass es nicht genügt, wenn wir sie für uns selbst bedenken und sie unseren Analyseversuchen mit dem Widerstand ihres Bedeutungsfelds oder einer existierenden Bedeutung gegenübertreten. Kurz gesagt konfrontiert uns der Versuch, die Moralbegriffe des Korans mit den Grenzen unserer Intellektualität und der Tatsache, dass wir in dieser Beschränktheit nicht mit einem wahren Symbol auskommen. Weil der paradoxale Denkstil, mit dem der Koran uns gegenübertritt, ohnehin das Gefühl, uns in dieser oder jener Position sicher zu fühlen, erschüttert, stehen wir vor der Herausforderung, unsere eigene beschränkte Perspektive zu überschreiten und uns den Widerstand leistenden Unterschieden zu stellen. Meiner Meinung nach legt das paradoxale Denken des Korans jenseits der gerade angesprochenen Aspekte sowohl die Vernichtung der Möglichkeit, vor der moralischen Handlung über moralisches Wissen zu verfügen, nahe, wie auch, dass das moralische Denken im Islam sich in diesem paradoxalen Denkstil vollzieht. Konfessionen und Schulen, die, irgendeine Koranauslegung als festen Ausgangspunkt bewertend, aus dem Versuch, dieses Paradox aufzulösen, hervorgehen, verwandeln gerade auf Grund dieser Logik dank des Gedankens, dass bereits vor der Handlung das 91 Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums Wissen über das moralisch Richtige erreicht werden kann, den Versuch moralisch zu denken in eine bloße Anwendung des ohnehin bekannten moralischen Prinzips. Dies führt nicht nur dazu, dass im Wesen des im moralischen Handeln angelegte dialogische, ergebnisoffene und paradoxale Denken zu verstellen, es führt auch dazu, dass es zwischen einzelnen Konfessionen und Schulen von Zeit zu Zeit zu unmoralischem Verhalten und Konflikten kommt. Eine in der modernen Welt entwickelte soziale Moraltheorie des Islam muss vor allem die paradoxe Beziehung zwischen den Moralbegriffen des Korans erkennen bzw. berücksichtigen, dass die Denkform in sich selbst ein moralisches Denken hervorbringt und dies in einem dialogischen, offenen und paradoxen Denkstil bewahren. 92