Mike Winter Mitleid mit einem Mörder -1

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Mike Winter
Mitleid mit einem Mörder
-1Als Markus Bode an jenem Freitag Nachmittag mit der übrigen Belegschaft der
Zimmerei
Schacht
die
Esmeralda,
einen
Ausflugsdampfer
der
Weser
Schifffahrtsgesellschaft, bestieg, ahnte er nicht, dass dies der letzte Tag in seinem
noch so jungen Leben sein würde. Es war der alljährliche Betriebsausflug, den der
Gründer und Inhaber der Firma, Friedel Schacht, zu einer lieben Tradition hatte
werden lassen. Die achtzehnköpfige Gesellschaft hatte an diesem Tage früher
Feierabend gemacht und war auf Firmenkosten Essen gegangen. Als besondere
Überraschung hatte sich der Firmenchef in diesem Jahr eine Dampferfahrt nach
Wilhelmshaven einfallen lassen. Eigens zu diesem Zweck hatte er in Absprache mit
dem Kapitän eine Musikband augagiert. Sie sollte in Wilhelmshaven zusteigen und
auf
der
Rückfahrt
für
Stimmung
sorgen.
Markus Bode hätte sich am liebsten vor der ganzen, in seinen Augen ätzenden
Veranstaltung gedrückt, aber das war aus den genannten Gründen nicht möglich.
Also machte er wohl oder übel eine mehr oder weniger gute Miene zum nervigen
Spiel. Er hoffte nur, dass ihn keiner seiner Kumpel dabei sah. Es wäre ihm ziemlich
peinlich gewesen. Wenigstens hatte er unter den anderen Fahrgästen einen
hübschen Käfer gesehen, den er nach allen Regeln der Kunst anbaggerte. Leider
verließ die junge Dame das Schiff in Wilhelmshaven. Andere Fahrgäste stiegen zu.
Unter ihnen auch ein Südosteuropäer. Kümmels, wie er und seine Freunde sie
abwertend nannten. Er sah angewidert zu ihnen hinüber und dachte an den Spaß,
den sich seine Kameraden und er bei einer solchen Gelegenheit nicht entgehen
lassen würden. Ein hämisches Grinsen verzerrte sein Gesicht zu einer fiesen Fratze.
Er zog es vor den Platz zu wechseln. Vielleicht war es ja auch gut, sich mal bei den
Kollegen
sehen
zu
lassen?
Sicher
würden
sie
ihn
schon
vermissen.
Das Boot hatte kaum abgelegt, als vom Vorderdeck auch schon laute Musik erklang.
Die Band spielte ihre Eröffnungsnummer und die ersten Pärchen stürmten bereits auf
die Tanzfläche. Ausgerechnet die Evergreens der achtziger Jahre, dass gleiche
unerträgliche Gedudel, dass er sich jahrelang zu Hause anhören musste, wurde zum
besten gegeben. Keine Minute länger wollte er sich dieser Körperverletzung
aussetzen. Am Heck des Schiffes steckte er sich aus lauter Frust schließlich einen
Joint an und zog tief durch. Seine Sinne benebelten sich und irgendwann wurde
dieser Ausflug auch für ihn erträglicher. Nach einer Weile veranlasste ihn das
schwankende Schiff und der getrübte Gleichgewichtssinn die Toilette aufzusuchen,
um sich zu übergeben. Natürlich war ihm auch nicht bewusst, wie genau der Mann,
den er zuvor so verächtlich angesehen hatte, ihn während der letzten Minuten nicht
mehr aus den Augen ließ. Der Mann folgte ihm unauffällig. Immer wieder sah er sich
nach allen Seiten kontrollierend um. Mit der Linken zog er Handschuhe aus der
Tasche und streifte sie sich über. Mit der Rechten umklammerte er den Griff eines
Messers.
Die Gelegenheit war günstig. Niemand war gerade unter Deck. Nicht mal an den
Toiletten, wo noch einige Minuten zuvor reges Gedränge herrschte, war nun noch
Betrieb. Mit viel Geduld hatte der Unbekannte auf diesen Moment gewartet. Nun war
er da! Der ziemlich zugedröhnte Lehrling hatte nicht einmal die Tür zum Klo
verriegelt. Er stand nach vorn gebeugt über der Porzellanschüssel und spie. Der
Mann mit der dunkleren Hautfarbe verlor keine Zeit, er nutzte die Situation und stieß
seinem Opfer ein Messer in den Rücken. Dabei achtete er darauf, dass er den Dolch
genau unterhalb des linken Schulterblattes eindringen lies. Er rammte es seinem
Opfer gezielt zwischen den Rippen hindurch, bis in das Herz hinein. Dann zog er es
wieder heraus und sah teilnahmslos zu, wie der Lehrling über der Kloschüssel
zusammenbrach. Der Todeskampf seines Opfers dauerte nur einige Sekunden. Das
aus der Wunde pulsierend sickernde Blut verfärbte das gelbe T-Shirt und bildete
einen tiefroten Fleck. Doch das makabere Treiben war noch nicht am Ende. Der
Mörder benetzte den Zeigefinger seines Handschuhs mit dem Blut seines Opfers und
schrieb damit einige Buchstaben an die Trennwand. Dann erhob er sich und wischte
in seliger Ruhe das Blut von der Klinge, warf das Papier zu Boden, steckte das
Messer
in
die
Scheide
und
zog
die
Tür
hinter
sich
zu.
Fast gleichzeitig kippte die Leiche seitlich neben das Becken und lag nun von der
Trennwand zum zweiten Klo gestützt, merkwürdig verschränkt auf der rechten
Körperseite.
Der
unbekannte
Mörder
wusch
sich
die
blutverschmierten
Gummihandschuhe sorgfältig ab. So als wolle er sie noch ein weiteres mal benutzen.
Nachdem er sie mit Hilfe einigen Papiertüchern getrocknet hatte, zog er sie ab und
steckte sie in eine der Taschen seines Jacketts. Von niemanden bemerkt verließ er
die
Toiletten
wieder.
Sein Gesicht war von Anspannung gezeichnet. Als er sich über Deck auf eine der
Bänke setzte, glänzte seine schweißnasse Stirn in der Sonne. Er tupfte sie mit einem
Taschentuch trocken. Seine Augen vergruben sich in ihren Höhlen, als wollten sie
niemandem einen Einblick gewähren, als hätten sie Angst, dass jemand in ihnen
sehen könnten, was sie selber gerade mit ansehen mussten. Es waren Leid geprüfte
Augen, die schon viel erlebt hatten, aber sie waren auch voller Hass und
Unerbittlichkeit. Der Mann, zu dem sie gehörten, schien äußerlich die Ruhe selbst,
doch
in
seinem
Innersten
tobte
ein
Vulkan.
Endlich kam der Anleger in Sichtweite. Die Geschwindigkeit des Schiffes verringerte
sich. Zwei kräftige Männer sprangen an Land und zogen den Dampfer mit den
Tauen, die sie um die Poller legten, so nah an den Kai heran, dass sich die
Gummireifen, die außenbords hingen, dicht an die Kaimauer pressten. Anschließend
wurde fest vertäut. Nun öffnete ein Mann das Schanzkleid und schob die Gangway
an Land. Einige, ganz Eilige, drängten sich, um von Bord zu kommen. Die Musik, die
während der Fahrt vom Sonnendeck aus nach hinten strömte, war verklungen. Die
Band hatte ihre Instrumente bereits wieder eingepackt und die Belegschaft der Firma
Schacht schwankte gut gelaunt, singend und tanzend durch den Niedergang. Keiner
von
ihnen
vermisste
Markus
Bode.
Der Unbekannte hatte inzwischen das Schiff verlassen und war ruhigen Schrittes in
einer der angrenzenden Straßen verschwunden. Nachdem auch der letzte Fahrgast
die Esmeralda verlassen hatte, inspizierte die Besatzung jeden Winkel des
Ausflugsdampfers. Es war schon vorgekommen, dass der eine oder andere, der sich
beim Umgang mit Alkohol ein wenig verschätzt hatte, die Ankunft verschlief. Natürlich
wurde auch nach jeder Fahrt die Toilettenanlage gereinigt. Darauf legte Kapitän
Paulsen besonders großen Wert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis das
Mordopfer
gefunden
wurde.
Die neuen Fahrgäste sammelten sich bereits wieder auf der Mole, als ein
fürchterlicher Schrei durch das Schiff gellte. Kapitän Paulsen vernahm in auf der
Brücke. Er wusste sofort, dass etwas schreckliches geschehen sein musste. Als er
den Sanitärbereich erreichte, fand er seine Tochter, zu einer Säule erstarrt, vor einer
der offenen Klotüren vor. Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit der
ausgestreckten Hand deutete sie auf etwas, was hinter der dünnen Sperrholzwand
auf dem gefliesten Fußboden liegen musste. Paulsen hatte in den über dreißig
Jahren, die er zur See fuhr, schon so manches gesehen. Eigentlich glaubte er, dass
es nichts gab, was ihn noch erschüttern konnte, doch das Bild, des da vor ihm in
einer Blutlache liegenden Jungen, verschlug selbst dem alten Haudegen die Stimme.
Zunächst schaffte er seine völlig verstörte Tochter auf den Gang vor die
Herrentoilette. Dort traf er auf seinen Sohn Sven. Bevor er wieder in der Toilette
verschwand, trug er ihm auf Polizei und Rettungswagen zu alarmieren. Vorsichtig
beugte er sich zu dem Jungen, griff ihn an den Hals und fühlte den Puls. So weit er
es beurteilen konnte, war der arme Kerl tot. Aus einer Wunde auf dem Rücken des
Rothaarigen sickerte Blut und ergoss sich in einer Lache, die inzwischen schon einen
feinen Fluss zum Ablauf, in der Mitte des Raumes, bildete.
-11In der Straßenbahn der Linie 6 herrschte dichtes Gedränge. Feierabendverkehr! Das
Abteil war von einer schweißtreibenden Schwüle erfüllt. Die Luft stickig, nur noch mit
einem geringen Anteil von Sauerstoff. Froh war, wer einen Sitzplatz ergattert hatte.
Die meisten Fahrgäste mussten jedoch stehen. Aber das war ja nichts besonderes.
Sie fuhren jeden Tag nach der Arbeit auf diese Weise nach Hause. Nur an diesem
Nachmittag war es eben noch unerträglicher als sonst. Unter all diesen Menschen
war einer, der dieses Abteil nicht mehr lebend verlassen sollte. Unauffällig und
scheinbar ohne jeden Grund hatte sich der Mörder bereits durch die schwankende
Menschenmenge hindurch, bis in den Rücken seines Opfers geschlichen. Noch
machte der junge Mann mit den kurzgeschorenen Haaren und den markanten
Wangenknochen keine Anstalten die Bahn zu verlassen. Der Zug rumpelte mit hoher
Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt. Zu dieser Tageszeit war es immer
noch die schnellste Art durch die City nach Hause zu gelangen. Und Ralf Schröder
musste durch die Innenstadt, um in sein Apartment zu gelangen. Nur schemenhaft
konnte er durch die beschlagenen Scheiben hindurch eine der vielen Baustellen
sehen,
an
der
die
Bahn
gerade
vorbeihuschte.
Der blonde junge Mann war hoch aufgewachsen, schlank und von kräftiger Statur
und doch sollte ihm das nichts nutzen. Er würde keine Chance haben seinem
Schicksal zu entgehen. Jedes mal, wenn die Bahn an eine der Haltestellen stoppte,
drängten die Massen zur Tür, um ja mit hinauszugelangen. Heilfroh, die Strapazen
der Fahrt gut überstanden zu haben, stürzten sie sich in das Getümmel an den
Haltestationen. Wer noch weiterfahren musste, hielt sich an den Stangen, um nicht
mit hinausgeschoben zu werden. An der nächsten Station war es soweit. Ralf
Schröder hatte sein vorläufiges Ziel erreicht. Er musste in die Linie 4 umsteigen.
Noch während der Fahrt schob er sich nach vorn, um als einer der Ersten diesen
Brutkasten zu verlassen. Der Mann mit der etwa fünfzehn Zentimeter langen Klinge
folgte ihm Schritt um Schritt. Ganz kurz, nur für einen Augenblick, sahen sich die
beiden Männer in die Augen. Hatte Ralf den Mann hinter ihm nicht schon einmal
gesehen? Er dachte darüber nach, woher er das Gesicht kannte. Doch als die Bahn
in den Hauptbahnhof einrollte, verwarf er den Gedanken. Somit hatte er seine letzte
Chance vertan. Die Bremsen quietschten und brachten das Ungetüm aus Glas und
Stahl zum Stillstand. Die Hand des Mörders fuhr in die Herrentasche aus schwarzem
Leder. Sie umklammerte den Griff des todbringenden Messers. Er zog es behutsam
aus der Scheide, die in der Tasche verblieb und deckte es gegen die Blicke der
anderen Fahrgäste geschickt mit seinem Körper ab. Jeden Moment würde es soweit
sein! Jeden Moment würden sich die Türen erneut öffnen und eine weitere Masse
aus Menschen würde sich aus der Tür drängen. Das war der Augenblick, auf den der
Mörder geduldig wartete. Nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät durfte er
zustechen. Sie standen jetzt etwa noch einen Meter von der Tür entfernt. Hinter
ihnen standen ebenso viele Menschen, die hinauswollten, wie vor ihnen. Alles war
bestens, nur noch Sekunden, bis dass die Straßenbahn in der entgültigen
Halteposition
stand.
Dann war es soweit. Die Türen öffneten sich. Die Menschen drängten sich durch den
schmalen Ausgang, um endlich an die frische Luft zu gelangen. Genau in diesem
Moment stach der Mörder zu. Rammte seinem Opfer das Messer durch den Rücken
bis in das Herz hinein. Das laute Stöhnen des jungen Mannes ging im Lärm der
Masse unter. Mit der behandschuhten Linken zog der Mörder das Messer heraus, mit
der Rechten steckte er seinem Opfer einen Zettel zu und hielt den einknickenden
Körper aufrecht. Unbemerkt verstaute er das Messer wieder in seiner Ledertasche.
Dann schob er sich an dem Sterbenden vorbei, zusammen mit den von hinten
Nachschiebenden
ins
Freie.
Ralf
Schröder
sackte
ein,
klappte
wie
ein
Taschenmesser zusammen und ging schließlich mitten im Gewühl zu Boden. Die
Frau hinter ihm hatte noch versucht ihn aufzufangen, musste jedoch mit ansehen,
wie der junge Mann stürzte und lang hinschlug. Einen Moment lang glaubte sie einen
Betrunkenen vor sich liegen zu sehen, aber dann sah sie auf ihre Hände und begann
zu schreien. Als ihr schriller Hilferuf durch den Bahnhof gellte, drehte sich der Mann
mit dem Messer noch einmal um. Zwischen ihm und der allmählich begreifenden
Menschentraube waren noch nicht mehr als fünf Meter. Noch kein ausreichender
Abstand, um unentdeckt davonzukommen. Und trotz der enormen Anspannung die
er in sich spürte, fühlte er Genugtuung, aber auch Scham, Angesichts des
furchtbaren
Verbrechens,
das
er
soeben
begangen
hatte.
Ralf Schröder lag röchelnd auf dem Boden des Abteils, seine Beine baumelten aus
der Tür. Immer mehr Menschen riefen um Hilfe. Ein Mann versuchte das Opfer in
eine stabile Seitenlage zu bringen. Die Frau mit den blutigen Händen brachte nach
ihrem markerschütternden Schrei keinen Laut mehr heraus. Noch wusste keiner der
um den Verletzten herum stehenden Fahrgäste, was mit dem jungen Mann
geschehen war. Erst jetzt, da ihn der Mann herumdrehte, sahen die, die ihm am
nächsten
standen,
dass
er
einen
Einstich
im
Rücken
hatte.
Der Killer nutzte die anhaltende Verwirrung und verschwand mit den Leuten, die aus
den anderen Abteilen strömten. Als er die Station verlassen hatte, und er sein
Gesicht nach Mekka wandte, tupfte er sich dankbar und erleichtert den Schweiß, der
zum Großteil Angstschweiß war, von der Stirn. Der zweite Teil seines Rachefeldzugs
war erfolgreich abgeschlossen.
-21„Kameraden! Einige von euch haben sicher schon davon gehört: In der vergangenen
Woche hat es zwei von unseren Leuten erwischt. Sie wurden feige und heimtückisch
hinterrücks erstochen!“ Ein Raunen ging durch den Saal. Der Führer der nationalen
Kampfgruppe zur Rettung des Vaterlandes erhob sich. Die anderen Männer folgten
seinem Beispiel. „Wir werden unsere Kameraden Markus Bode und Ralf Schröder als
Kämpfer gegen die dekadente Gesellschaft in Erinnerung behalten. Wir werden
diese bestialischen Meuchelmorde nicht ungesühnt lassen! Wer immer das getan hat
- er wird sterben!“, schrie er. „Er wird langsam krepieren - wie ein Stück Vieh, das
man zum Ausbluten an den Haken hängt!“ Wir werden die Mörder unserer
Kameraden suchen und vernichten!“ Dann hob er seinen ausgestreckten rechten
Arm
und
grölte,
genau
wie
alle
anderen
im
Saal:
„Heil
Hitler!“
Die etwa vierzig Männer, meist gerade erst dem Kindesalter entwachsen, standen in
Reih
und Glied hinter den Tischen und hielten einige Zeit inne. Eine
Schweigeminute, die am ehesten widerspiegelte, was jeder Einzelne von ihnen in
diesem Moment empfand. Trauer, Wut aber auch Entsetzen spiegelte sich in ihren
Augen wieder. Zwei der ihren waren ermordet worden. Keiner von ihnen wusste, aus
welchem Grund. Aber alle bedrückte derselbe Gedanke. Würde noch ein Kamerad
sein Leben lassen? Wenn ja, warum, und wer von ihnen würde der nächste sein?
Doch niemand von ihnen wagte es diese Fragen zu stellen. Denn Angst war in
diesem Kreise von Gleichgesinnten verpönt. Angst war die Geißel der Schwachen,
doch sie waren stark, sie waren die Elite, die das Vaterland in eine bessere Zukunft
führen sollte. Das hatte man den achtzehn bis fünfundzwanzigjährigen Kameraden
zumindest eingeimpft. Und sie glaubten an das, was ihnen der Führer ihrer
Kampfgruppe vorlebte. Immerhin hatte er bereits einige Erfolge vorzuweisen. Er
stand in Verbindung mit anderen Kampfgruppen die größer waren. Dessen Mitglieder
sich bereits erfolgreich an nationalen Befreiungsaktionen beteiligt hatten. Ihre
Gruppe befand sich noch im Aufbau. Doch nun stand auch ihnen eine erste
Bewährungsprobe bevor. Eine Probe, die sie mit den erworbenen Schießkünsten
und
ihrer
Nahkampfausbildung
allein
nicht
bestehen
konnten.
„Bisher liegt uns leider noch kein Hinweis oder ein Verdacht vor, weshalb die
Kameraden ermordet wurden. Aber seid versichert, wir werden nicht eher ruhen, bis
die feigen Hunde, die es gewagt haben ihre schmierigen Hände gegen die arische
Rasse zu erheben, dafür gebüßt haben! Bis dahin seid gewarnt und haltet die Augen
offen.“ Die ausnahmslos in schwarzen Hosen und weißem Hemd gekleideten Männer
trommelten mit den zu Fäusten geballten Handrücken auf die Tische und spendeten
dem Redner Beifall. „Und nun Kameraden wollen wir auf den Geburtstag unseres
Kameraden Daniel Specht anstoßen.“ Wieder erhoben sich die Männer und
brachten,
auf
den
edlen
Spender,
lautstark
einen
Trinkspruch
aus.
Doch dem schlanken Zwanzigjährigen mit dem strohblonden Haaren, der nur drei
Querstraßen weiter bei seiner Schwester wohnte, war nicht so recht zum feiern
zumute. Er war von seinen Gedanken hin und hergerissen. Hatte sein Freund, Gerd
Gruber, wirklich Recht und der Tod ihrer Kameraden war nur ein fataler Zufall? Seit
Daniel von dem zweiten Mord in der Zeitung gelesen hatte, ließen ihn die Gedanken
an jene Nacht nicht mehr los. Sie hatten ihn ohnehin ein halbes Jahr lang Nacht für
Nacht in seinen Träumen verfolgt, hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Doch
nun, da der Tod auch an seine Tür klopfte, brachte er die Geschehnisse
unausweichlich in Verbindung. Der junge Mann mit den betrübten blauen Augen, die
einst soviel Begeisterung ausstrahlten, hatte noch am Morgen seinen Freund Gruber
angerufen und ihm seine Befürchtungen mitgeteilt. Doch der Kamerad hatte ihn nur
ausgelacht und ihm gedroht, ja den Mund zu halten, da sie sonst beide für Jahre
hinter Gitter kämen. Dann hatte er wegen einer einzigen Dummheit sein ganzes
Leben verpfuscht. Das durfte er seiner Schwester, die am Sterbebett ihres Vaters
geschworen hatte, sich um ihn zu kümmern, nicht antun. Also schwieg er, von
Zweifeln zerrissen und soff, um seinen Kummer zu ertränken.
-33Die blanke Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Hände zitterten und sein
Atem ging schnell und gehetzt. Daniel Specht verfolgte die regionalen Nachrichten
des
Bremer
Rundfunks.
Eigentlich
mehr
aus
Zufall.
Denn
der
schlanke
Zwanzigjährige mit dem strohblonden Haar interessierte sich nicht sonderlich für das,
was es in der Welt an Neuigkeiten gab. Der Radiosender hatte die geile Mucke
einfach unterbrochen und die Nachricht von einem neuen Leichenfund, dieses mal in
Vegesack, gesendet. „Es ist bereits der dritte Jugendliche, der innerhalb weniger
Tage in Bremen erstochen wurde,“ berichtete der Sprecher und machte der untätigen
Polizei große Vorwürfe. „Wer weiß, wer der nächste junge Mann sein wird, den wir
beklagen müssen,“ fuhr der Mann im Funkhaus in reichlich theatralischem Ton fort.
Im nächsten Moment dudelte das Radio den nächsten Szenehit.
Daniels Finger griffen zum Telefon und tippten zitternd die Handynummern seines
Freundes. „Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar,“ ertönte eine freundliche
Bandstimme. Daniel knallte das Telefon auf den Tisch. Er war erregt. War es wirklich
sein Freund Gerd, von dem im Radio gesprochen wurde? Er musste es wissen! Die
nächste Zahlenkombination gehörte zum Privatanschluss der Grubers. Gerd hatte
ihm zwar verboten diese Nummer zu wählen, aber schließlich war es ja ein Notfall.
Seit der Sache mit der Vergewaltigung durften Gerds Eltern nicht wissen, dass ihr
Sohn noch der Kameradschaft angehörte. Er hatte es dem Staatsanwalt versprechen
müssen. Wenn es nicht Gerd war, der an das Telefon ging, wollte Daniel einfach
einen anderen Namen sagen und nach seinem Freund fragen. Trotzdem erschrak er,
als sich Gerds Vater am anderen Ende der Leitung meldete. Als dieser ihm
schließlich offenbarte, dass sein Sohn nicht mehr am Leben sei, fiel Daniel das
Telefon
aus
der Hand. Und da, wo vorher Angst in seinem Gesicht stand, brach nun Panik aus.
Zwar vernahm er noch die quäkende Stimme des Staatsanwalts aus dem
Lautsprecher des auf dem Sofa liegenden Telefons, aber er war nicht mehr fähig
auch nur noch ein einziges Wort mehr herauszubringen, geschweige denn sich noch
mit dem Mann zu unterhalten. Als er schließlich das Gespräch beendete, hatte der
Staatsanwalt bereits aufgelegt. Daniel hatte unsagbare Angst, denn das, was er
bereits nach Ralfs Tod befürchtete, war zu tödlicher Realität geworden.
Seine drei toten Freunde und er hatten vor mehr als einem Jahr eine Frau
vergewaltigt. Eigentlich wollte er damals gar nicht mitmachen, hatte sich dann aber
doch von den anderen überreden lassen. Und dafür, das sich die blöde Kuh ein paar
Tage später umbrachte, dafür konnten schließlich weder er noch seine Kameraden
etwas. Daniel zwang sich zur Ruhe. Ein großes Glas Doppelkorn half ihm dabei. Er
überlegte so gut er es in dieser Situation eben vermochte. Es konnte nur der Typ aus
dem Auto sein, der ihnen während der ganzen Zeit zuschauen musste. Der Kerl war
ihr Ehemann gewesen. Das hatte der Blondschopf damals in der Zeitung gelesen. Er
und seine Kameraden hatten die ganze Sache längst vergessen, aus ihrem
Gedächtnis gestrichen. Aber dieser Kerl wollte allem Anschein nach Rache. Und
plötzlich war dem Blondschopf klar, dass er diesem Mann nicht entkommen konnte.
Er musste sich Bernd Müller, seinem Gruppenleiter anvertrauen. Das war jetzt seine
einzige Chance, um lebend aus der Sache raus zu kommen.
-41Bernd Köster war Intensivpfleger in der chirurgischen Unfallklinik im Josephstift. Er
hatte gerade seine zwölf Stunden Dienst hinter sich gebracht und befand sich auf
seinem letzten Gang für heute. Er war mit einem Rollwagen voller Schmutzwäsche
im Lastenaufzug auf dem Weg in den Keller. Außer der Wäscherei befanden sich
auch die Personal - und Waschräume im Untergeschoss. Es war also durchaus
logisch, dass er auf dem Weg nach unten gleich die Lore mit der Schmutzwäsche
mitnahm. Die Übergabe der Krankenakten an die Ablösung und die Absprache des
neuen Dienstplanes hatte er hinter sich gebracht. Nun wollte er nur noch nach
Hause. Eine ordentliche Mütze Schlaf nehmen und am Abend, zusammen mit
seinem Freund schick Essen gehen. Bernd war homosexuell und er stand dazu.
Noch vor einigen Jahren, als er ausgerechnet in diesem Krankenhaus anfing, hatte
er mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Doch inzwischen wurde er von seinen Kollegen
anerkannt
und
wegen
seines
freundlichen
Wesens
geschätzt.
Der Aufzug ruckte und kam zum Stillstand. Er hatte das Untergeschoss erreicht. Ein
heller Gong ertönte und die breite Stahltür schob sich ineinander. Manchmal, vor
allem des Nachts war es hier unten direkt unheimlich. Noch ein Stockwerk tiefer, im
U2, befand sich die pathologische Abteilung. Dort wurden die Leichen seziert oder
warteten in den Kühlboxen auf ihre Bestattung. Ohne Zweifel, schon für einen
weniger zart besaiteten Zeitgenossen, als Bernd es war, eine unangenehme
Vorstellung. Der kahlköpfige Krankenpfleger legte seine Hände auf den Haltebügel
des Wäschewagens und löste mit dem Fuß die Feststellbremse. Dann schob er die
einem Einkaufswagen ähnlich sehende Lore mit Schwung hinaus in den hell
beleuchteten Gang. Und obwohl es noch nicht Nacht war, überkam ihn ein
unheilvolles
Gefühl.
Durch die sich automatisch öffnende Tür kam ihm ein Mann entgegen. Der Pfleger
kannte den Mann mit dem dunklen Teint nicht. Er hatte ihn noch nie zuvor hier unten
gesehen. Bernd musste sich beherrschen. Er nahm all seinen Mut zusammen und
sprach den Mann an. Jetzt erst, da sich beide gegenüberstanden und er dem
Unbekannten ins Gesicht sehen konnte, bemerkte er dessen Narbe, die sich quer
über die rechte Wange zog. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, erkundigte
sich der Pfleger. Der Mann mit dem Narbengesicht trat zwei Schritte zur Seite, so
dass sich der Wäschewagen nicht mehr zwischen ihnen befand. Der kahlköpfige
Pfleger, der mehr als einen halben Kopf kleiner als sein Gegenüber war, schluckte
trocken. „Verstehen Sie die deutsche Sprache nicht?“, fragte er mit eigenartig
krächzender Stimme. Doch auch jetzt antwortete das Narbengesicht nicht.
Stattdessen zog er mit einer schnellen Bewegung ein langes Messer hinter seinem
Rücken hervor, packte den Pfleger mit der freien Hand im Nacken und hielt ihm die
Klinge an den Hals. „Ganz ruhig und es geschieht dir nichts!“ Der Mann in den
weißen
Krankenhausklamotten
wagte
sich
nicht
zu
rühren.
Außer
einem
gedrungenem „Ja.“ kam ihm kein Laut über die Lippen. Der Moslem sah sich um. Er
entdeckte in geringer Entfernung eine schmale Seitentür. „Los, mitkommen!“, befahl
er
seiner
Geisel.
Bernd Köster umklammerte nach wie vor den Wäschewagen. Es schien, als suche er
den Schutz seiner Nähe. Immer noch die Klinge des Messers an seinem Hals
spürend tat er, was ihm der Unbekannte befahl. Sekunden später hatte das
merkwürdige Gespann die Tür erreicht. „Was ist dort hinter?“, herrschte der
Unbekannte den Kahlkopf an. Doch der war vor lauter Angst zu keiner Antwort fähig.
Der Mann mit dem Messer öffnete vorsichtig die Tür und sah in den Raum. Es schien
niemand drinnen zu sein. Er schaltete das Licht an und zerrte den Pfleger mitsamt
dem Wäschewagen mit sich hinein. „Was wollen Sie von mir?“, stammelte der
Kahlkopf, der allmählich seine Stimme wiederfand. „Was ist das hier?“, fragte der
Mann mit dem dunklen Teint, anstatt die Frage seiner Geisel zu beantworten. „Der
Ruheraum von Doktor Bonnysa,“ stotterte der Pfleger und fügte noch hinzu: „glaube
ich.“ Der Druck des Messers an seiner Kehle lies etwas nach. „Wann kommt er?“ Die
Geisel zuckte mit den Schultern. Der Blick des Tunesiers durchdrang ihn kalt und
hasserfüllt. „Weist du wenigstens wo ich Daniel Specht finde?“ Der Pfleger erschrak.
Das Unfallopfer lag auf seiner Station. Der Mann mit dem Messer wollte sicher
keinen Höflichkeitsbesuch machen. Trotz dessen, dass das Schlagen seines
Herzens beinahe seine Brust zu sprengen drohte, log er das Narbengesicht an.
„Nein,“ entgegnete er ihm mit bebender Stimme. „Du lügst!“, entgegnete ihm der
Mann in beängstigend ruhigem Ton. Und der Schmerz, den Bernd Köster im selben
Moment an seinem Hals verspürte, gab seinem Gefühl recht. Die Klinge hatte ihm
einen feinen aber schmerzhaften Schnitt in den Hals geritzt. Nicht besonders lang
und auch nicht tief, aber tief genug, dass die Wunde zu bluten begann. Der
Unbekannte erhob seine Stimme. „Ich frage dich noch einmal. Und Gott wird nicht
hinsehen,
wenn
ich
dich
für
deine
Lügen
strafe!“
Dem Pfleger stand der Angstschweiß auf der Stirn. Sein blutleeres Gesicht glich dem
einer tiefgekühlten Leiche. Er wagte es nicht noch einmal zu lügen. „Der Mann, den
Sie suchen liegt auf Station sieben Intensiv.“ „Welches Zimmer,“ fragte der Tunesier
ungeduldig weiter. Auch jetzt wagte Bernd Köster es nicht, den Mann mit der Narbe
im Gesicht zu beschwindeln. Seine Stimme vibrierte. Er spürte wie sein warmes Blut
über den Hals in den Kragen seines Hemdes hinunterrann. „Zimmer 22.“ Endlich lies
der Druck des Messers wieder nach. „Hinsetzen!“, befahl ihm der Fremde. Seine
Augen durchsuchten den Raum. Schließlich band er dem Pfleger ein Handtuch um
den Hals, welches er an einem Haken neben dem Waschbecken entdeckte. Ein
weiteres drehte er zu einer Wurst, drückte es dem Pfleger zwischen die Lippen und
band es an seinem Hinterkopf zusammen. Dabei achtete er darauf, dass es straf
saß. Anschließend riss er das Anschlusskabel aus dem Telefon und zog den Stecker
aus der Dose. Dann fesselte er den völlig eingeschüchterten Mann damit an der
Liege und drohte ihn umzubringen, falls er sich nicht ruhig verhielt. Um nicht
aufzufallen, zog er sich den Arztkittel, der an der Garderobe hing über, löschte das
Licht
und
öffnete
die
Tür
vorsichtig
einen
Spalt.
Auf dem Gang war keine Menschenseele. Er trat hinaus, schloss die Tür hinter sich
und ging zum Aufzug. Als sich wenig später die Stahltür des Lifts öffnete,
begegneten ihm zwei Schwestern in Nonnentracht. Der Mann mit der Narbe senkte
seinen Kopf, als sie ihn grüßten und betrat den Fahrstuhl. Die Tür schloss sich hinter
ihm. Der Moslem drückte auf den Schaltknopf neben dem Schild, auf dem Station
sieben stand und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Doch bereits im Erdgeschoss
stoppte er wieder. Eine Ärztin und ein Arzt stiegen zu. Sie nickten dem Tunesier
freundlich zu und unterhielten sich angeregt weiter. Wenn Karim es richtig verstand,
ging es um die Notwendigkeit eines Eingriffs. Der Arzt hielt eine Operation für
dringend erforderlich, wohingegen es die Ärztin erst mit einem Mix aus
Bestrahlungen und einer neuartigen Medizin versuchen wollte. Genau wie Karim
verließen auch sie den Aufzug im dritten Stock. Während sie zielstrebig den rechten
Gang
hinuntersteuerten,
musste
sich
der
Tunesier
erst
orientieren.
Um diese Tageszeit herrschte reger Besucherandrang. Einige der Leute standen vor
einer großen Hinweistafel, die an der Wand gegenüber den Personenfahrstühlen
angebracht war. Einige Minuten später drückte er die Glastür zur Station sieben auf.
Ganz am Ende des Ganges befand sich eine weitere Tür, die diese von der
Intensivstation trennte. Doch als er sie öffnen wollte, musste er feststellen, dass sie
verschlossen war. Rechts neben dem Eingang befand sich eine Sprechanlage.
Wahrscheinlich für Besucher, ging es ihm durch den Kopf. Aber er konnte sich doch
unmöglich anmelden. Karim beschloss unauffällig zu warten, um in einem geeigneten
Moment
mit
hineinzuschlüpfen.
Er brauchte sich nicht lange gedulden. Schon kurze Zeit später klingelte ein älterer
Herr mit Hut an der Sprechanlage. Eine Stimme fragte ihn zu wen er wolle und
Sekunden später summte der Türöffner. Kurz bevor die schwere Glastür wieder ins
Schloss fiel, sprang der Tunesier hinzu und drückte sie langsam wieder auf. Er sah
gerade noch wie der Mann mit dem Hut in Begleitung einer Krankenschwester in
einem Raum verschwand. Bis hier hin war es nicht sonderlich schwer gewesen,
freute sich der Moslem. Zimmer 22 hatte ihm der Pfleger verraten. Karim sah sich
orientierend um. Die Wände links und rechts des Ganges waren aus Glas. Nur
zwischen den Zimmern waren sie aus massiven Stein. An den Glaswänden hingen
von innen breite Jalousien herunter. Einige waren zugezogen. Gerade, als er sich
aufmachen wollte, um nach Zimmer 22 zu suchen, traten die Krankenschwester und
der ältere Herr, jetzt ohne Hut, dafür mit einer Plastikhaube auf dem Kopf, in einem
weißen Kittel und mit Mundschutz, zurück auf den Gang. Der Mann mit dem
Narbengesicht wich zurück. Erst als die Luft wieder rein war, tastete er sich weiter
vor.
Die meisten Türen, an denen er vorbei kam, waren geöffnet. Die Jalousien auf
Durchsicht gedreht. Unmittelbar neben ihm sprang eine Tür auf und ein Arzt und eine
Krankenschwester traten auf den Gang. Sie sprachen über den Patienten, den sie
gerade verlassen hatten. Karims rechte Hand fuhr erschrocken unter den Kittel und
umklammerte den Griff des Messers, um es wenn nötig möglichst schnell einsetzen
zu können. „Suchen Sie jemanden?“, fragte ihn die Schwester während sich der
Doktor entfernte. Der Druck um den Messergriff verstärkte sich. Der Tunesier starrte
sie an, und suchte nach einer Ausrede. „Nein, meine Verlobte ist gerade bei ihrem
Bruder drinnen.“ Dabei deutete er wahllos den Flur hinunter. „Bitte gehen Sie nicht in
den Gängen spazieren. Wir wollen doch die Privatsphäre der Patienten wahren,
oder?“ Dabei lächelte sie Karim mildtätig an. „Ja natürlich, Sie haben recht!“
Endlich, Zimmer 22! Er hatte es gefunden. Durch die offenstehende Tür sah der
Tunesier das Bett, in dem Daniel Specht lag. Er ging hinein und schloss die Tür.
Während er die Jalousie zudrehte, sah er einen Pfleger, der einen Wagen voller
Medikamente genau vor das Fenster rollte und sich entfernte. Daniel Specht schlief.
Neben seinem Bett überwachten verschiedene elektronische Geräte seinen Schlaf.
In seinem Arm steckte eine Kanüle, dessen dünner Schlauch in einem Tropf über
dem Bett endete. Ein monotones Piepen gab seinen gleichmäßigen Herzschlag
wieder. Der Kopf des Verletzten war fast vollständig von einem weißen Verband
umhüllt. Das linke Bein des Burschen lag in einer Schiene, die auf einer Art Rampe
ruhte. Oberhalb des Knies waren Stahlseile befestigt, die über eine Rolle führten und
an denen Gewichte hingen. Karim betrachtete den jungen Mann, der so hilflos und
friedlich in dem einzigen Bett in diesem Raum schlummerte. Fast hätte er Mitleid mit
diesem Kerl gehabt. Für einen Moment lang überlegte er, ob dies schon die Strafe
war, die ihm Allah zugedacht hatte. Aber dann kamen ihm wieder die entsetzlichen
Bilder jener Nacht in Erinnerung. Die Bilder die er einfach nicht mehr verdrängen,
geschweige denn vergessen konnte. Er sah das um Hilfe flehende Gesicht seiner
Fatima, hörte ihre von Schmerz verzerrten Schreie und er dachte an die Schande,
die diese Halunken über ihn und seine Familie gebracht hatten. Und im selben
Augenblick wusste der Mann, dem man alles genommen hatte, was sein Leben
ausmachte, dass dieser Sheitan sterben musste. Er löste sich vom Fußende des
Bettes und trat direkt neben den Verletzten. Gleichzeitig zog er das Messer aus der
Scheide. Sein Puls beschleunigte sich, sein Herzschlag wurde heftiger. In seinen
Augen blitzte so etwas wie Genugtuung auf und die Gedanken des Märtyrers waren
bei seiner Frau. Er hob den ausgestreckten Arm in dessen Faust sich das Messer
befand und flüsterte: Fatima, bald werde ich bei dir sein!
-44Die junge Frau lag auf der alten Matratze, mitten auf dem gekachelten Fußboden des
Badezimmers und versuchte zu schlafen. Mit der Eisenkette an ihrem rechten
Handgelenk war dies nur äußerst umständlich und jedes mal, wenn sie sich im Schlaf
zu drehen versuchte, überaus schmerzhaft. Seit ihrer Entführung war sie zum
zweiten mal allein im Haus. Der Tunesier hatte sie wieder an den Heizungsrohren
angekettet. Zwischen dem Entführer und Meike Ruhland hatte sich so etwas wie ein
Vertrauensverhältnis aufgebaut. Sie hatte ihm bei seinen Erzählungen über seine
Familie und seiner Religion, dem Islam, aufmerksam zugehört. Wenn er im Hause
war, konnte sie sich immerhin frei bewegen. Er war ihr sogar dafür dankbar, dass sie
im Wohnzimmer und der Küche ein wenig sauber machte. Eigentlich empfand sie
diesen Mann weniger als ihren Peiniger, in ihren Augen war er, genauso wie sie, ein
Opfer.
Der Mann mit der Narbe im Gesicht hatte das Haus verlassen um Rache zu nehmen.
Rache für das, was diese Leute seiner Frau und ihm angetan hatten. Denselben
Leuten,
die
sie
vor
ein
paar
Tagen
vergewaltigen
wollten.
Meike hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, und somit war sie zwischen
dem Verständnis, das sie Karim Bahraui entgegenbrachte und den Buchstaben des
Gesetzes hin und hergerissen. Es war so etwas wie ein innerer Disput, den sie mit
sich ausfocht, über den sie schließlich eingeschlafen war. Doch nun waren es neben
dem Schmerz an ihrem Handgelenk die merkwürdigen Geräusche, die sie im
Unterbewusstsein wahrnahm. Es war ein leises, abgehacktes Pochen. Ein feines
Schleifen, Scharren und Tackern. So, als wenn kleine Füßchen herumkrabbelten.
Zuerst glaubte sie, die Geräusche seien Bestandteil ihres Traumes, doch dann
spürte sie deutlich, wie etwas warmes, pelziges an ihrem nackten Fuß entlang glitt.
Meike schreckte entsetzt auf. Die Fessel an ihrer Hand rissen sie zurück. Sie hatte in
diesem Moment des Entsetzens nicht daran gedacht. Die Kettenglieder drückten sich
in das Fleisch ihres Armes. Im diffusen Licht der mit Fliegendreck übersäten
Glühbirne sah sie in die rot leuchtenden Augen einer Ratte. Einer verdammt großen
Ratte. Mit schrillem Pfeifen zog sich das Tier in die gegenüberliegende Ecke des
winzigen
Bades
zurück.
Die junge Frau konnte sich beim besten Willen nicht erklären, woher das Tier
gekommen war. Sie ekelte sich vor diesen stinkenden Tieren. Die Ratte verharrte
fast regungslos und beobachtete jede Meikes Bewegungen. Angewidert blickte sie
auf den pelzigen Körper, auf den nackten Schwanz, der sich auf den Kacheln des
Fußbodens kringelte, die lange, schlanke Schnauze des Tiers, die unentwegt zuckte
und schnüffelte. Meike hatte sich so weit es ging von der Bestie entfernt. Hatte soviel
Luft wie möglich zwischen sich und der nach Kot und Fäulnis stinkenden Ratte
gebracht. Zitternd, dass Vieh nicht für eine einzige Sekunde aus den Augen lassend,
kauerte
die
junge
Frau
zwischen
Heizkörper
und
Waschbecken.
Nichts, was sich in ihrer Reichweite befand, hätte ihr bei einem Angriff als Waffe
dienen können, nichts hätte sie vor der Bestie schützen können. Ohne das Tier dabei
aus den Augen zu lassen, wanderte ihr Blick über die Wände ihres Gefängnisses.
Die Ratte musste über den Lüftungsschacht hereingekommen sein. Wie sie schon in
der vergangenen Nacht festgestellt hatte, fehlte das Lüftungsgitter. Wahrscheinlich
war es schon vor Jahren abgenommen worden. Meikes Gedanken kreisten um die
Möglichkeit, das dort, wo sich eines dieser Nager aufhielt, auch noch andere sein
konnten. Ratten sind Herdentiere. Sie besann sich auf das, was sie vor Jahren in der
Schule darüber gelernt hatte. Hatten sie damals nicht gelernt, dass eine Ratte nur
dann einen Menschen angreift, wenn sie sich bedroht, in die Enge getrieben fühlt?
Hoffentlich wusste die Ratte, was über sie in den Schulbüchern geschrieben stand.
Sie musste also Ruhe bewahren, musste dem Vieh zeigen, dass sie keine Angst vor
ihm hatte und musste beten, dass ihr Entführer bald nach Hause kommen würde. Die
Ratte begann sich nun zu bewegen, aufgeregt an der eingefliesten Badewanne auf
und abzulaufen. Sie fauchte und pfiff, krabbelte an den Heizungsrohren empor und
verharrte etwa einen Meter über dem Kopf der in Angst erstarrten jungen Frau.
Plötzlich vernahm Meike die gleichen Geräusche, wie zuvor, als sie erwachte. Das
gleiche Trippeln. Als wenn kleine spitze Krallen über Blech krabbelten. Vorsichtig
wandte Meike ihren Kopf zum offenen Loch des Lüftungsschachtes und erblickte
eine zweite Ratte, die vermutlich ihren Artgenossen rief. Auch sie schickte sich an
über die Rohre der Heizung herunterzuklettern. Meike war drauf und dran in Panik zu
verfallen. Schweiß perlte von ihrer Stirn und lief in ihr linkes Auge. Die junge Frau
wagte es nicht sich zu bewegen. Wagte es nicht einmal ihre Hand zu heben, um sich
mit einem Finger, die in ihrem Auge brennende Flüssigkeit auszuwischen. Von zwei
Augenpaaren argwöhnisch beobachtet, vermochte sie nicht mehr einen klaren
Gedanken zu fassen. Es schien als warteten die Bestien nur auf eine falsche
Bewegung
von
ihr.
Während sich die zweite Ratte auf dem Wannenrand, direkt vor ihr, niedergelassen
hatte und sie weiter misstrauisch beäugte, hörte Meike, wie sich die erste Ratte,
welche sich über ihr befunden hatte, in Bewegung setzte. Das schleifend trippelnde
Geräusch kam näher, veränderte, sich als die Ratte das Waschbecken erreichte.
Fast schien es ihr, als würden die stinkenden Biester einen gewissen Plan verfolgen.
Nur das Porzellan des Beckens trennte ihren Kopf nun noch von der schlanken,
spitzen Schnauze mit den messerscharfen Zähnen. Jetzt dachte sie an das
Schweizer Taschenmesser, welches sie als Kind stets mit sich führte. Oder an das
kleine Döschen mit dem Pfefferspray, dass sie von ihrem Vater zum Schutz
bekommen hatte. Damals lachte sie insgeheim über die übertriebene Fürsorglichkeit
ihrer Eltern. Schon bei dem Überfall des Rechtsradikalen hätte sie das Spray zum
ersten mal gebrauchen können und heute ein zweites mal. Sie schwor sich, falls sie
diese Geschichte unbeschadet überstehen sollte, nie wieder ohne eine Waffe das
Haus
zu
verlassen.
Das schnuppernde Geräusch der nervös umherzuckenden Schnauze des Nagers
kam immer näher. Der penetrante Gestank nach Verwesung und Fäkalien brachten
ihre Magensäfte in Wallung. In diesem Moment hatte das Vieh ihre Schulter erreicht.
Das war der Augenblick, in dem die junge Frau nicht mehr inne halten konnte. Mit
einer einzigen heftigen Bewegung war es ihr gelungen das Biest abzuschütteln. Es
knallte quiekend gegen die Kloschüssel. Gleichzeitig schrie und trampelte die
Studentin
in
blinder
Panik
um
sich.
Erst als sie die starken Arme des Tunesiers festhielten und sie seine beruhigende
Stimme hörte, kam sie wieder zu sich. Erst jetzt, als er ihre Kette gelöst und sie in
seine Arme genommen hatte, begann sich die Anspannung in ihr zu lösen. Sie
schluchzte und japste immer wieder nach Luft. Karim Bahraui war gerade nach
Hause gekommen, als er ihr Schreien vernahm und in das Badezimmer stürmte.
Aber außer ihrem wilden Trampeln und dem Geschrei, das die junge Frau machte,
konnte er nichts ungewöhnliches feststellen. Als er sich zu ihr herabbeugte, um sie
zu beruhigen, hatte er ihre weit aufgerissenen Augen und die Panik darin bemerkt. Er
hatte sich in dem kleinen Zimmer umgesehen, aber nichts besonderes bemerkt. „Sie
hatten einen Albtraum,“ sagte er mit weicher Stimme. Tröstend strich er über ihre
Haare. „Es ist vorbei. Sie brauchen sich nicht zu fürchten.“ Aber für Meike war es
noch nicht vorbei. Immer wieder starrte sie auf das Loch vor dem Lüftungskanal. Sie
konnte nicht glauben, dass alles nur ein böser Traum gewesen sein sollte.
Erst Stunden später hatte sich die junge Frau wieder halbwegs beruhigt. Sie saß
ihrem Entführer an dem alten Holztisch gegenüber und schlürfte den heißen Kaffee,
den er ihr aufgebrüht hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass etwas mit dem rechten
Handgelenk des Tunesiers nicht stimmte. Er hatte es notdürftig mit einem Verband
umwickelt. „Was ist geschehen?“, fragte sie ihn anteilnehmend. „Nichts!“, antwortete
er knapp. Meike wandte sich wieder ihrem Kaffee zu. Sie schwieg eine Weile und
sah ihm dabei zu, wie er an etwas Elektronischem herumbastelte. „Aber ich sehe
doch, dass etwas mit Ihrem Arm nicht stimmt!“ Immer noch etwas angeschlagen,
erhob sie sich und umrundete den Tisch. „Nun zeigen Sie schon her!“ Der Moslem
gehorchte. Vorsichtig wickelte Meike die Binde von seinem Arm. Der Tunesier
verkniff sich offensichtlich den Schmerz. Das Handgelenk war dick und blau
angelaufen. Als sie den Arm sachte anhob, hing die Hand schlaff herunter. „Ich habe
zwar nicht viel Ahnung davon, aber allem Anschein nach ist das Gelenk gebrochen.
Damit
müssen
Sie
sofort
zum
Arzt!“
Karim schüttelte den Kopf. Er brauchte nichts zu sagen, Meike wusste auch so, dass
er zu keinem Arzt gehen konnte. „Ich versuche die Hand zu schienen, aber ich weiß
nicht, ob es mir gelingt.“ Ihr Entführer hielt ihr den Arm entgegen. „Es reicht, wenn ich
ihn einigermaßen bewegen kann.“ Die junge Frau nahm die zwei dünnen
Kupferrohre, mit denen Karim offensichtlich etwas ganz anderes vor gehabt hatte
und benützte sie als Schienen. „Haben Sie den Jungen getötet,“ fragte sie den
Tunesier plötzlich. Er sah ihr in die Augen und bemerkte die Unsicherheit und ihre
Angst, die sich darin widerspiegelte. „Nein, es hat nicht geklappt. Zufrieden?“ Und
obwohl sich eine gewisse Erleichterung in ihr ausbreitete, zuckte sie nur scheinbar
gleichgültig mit den Schultern. „Ich weis nicht mehr was richtig ist!“ „Es ist sicher nicht
richtig, wenn solche Bestien ungeschoren davon kommen! Die Polizei hat ihre
Chance gehabt. Ich habe lange genug im Krankenhaus gelegen, ohne das etwas
geschehen ist. Nun ist es an mir, Gerechtigkeit vor dem Gesetz und vor Allah wieder
herzustellen.“
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Mit freundlichen Grüßen
U.Brackmann
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