Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2002, EUR 19,90. Das Wechselspiel zwischen Erbanlagen und lebensgeschichtlichen Einflüssen ist ein Thema, das die Forschung schon lange beschäftigt. Der Autor des Buches zeigt auf, auf welche Weise Beziehungserfahrungen und Lebensstile Spuren in unseren genetischen Strukturen hinterlassen. Umweltreize bewirken ständige Veränderungen in den Feinstrukturen nicht nur des Nervensystems, sondern auch in der Aktivität unserer Gene. Unsere Erbanlagen steuern also nicht nur, sondern sie werden auch gesteuert – durch zwischenmenschliche Beziehungen, individuelle Erfahrungen und andere Umwelteinflüsse. Denn: „Die Regulation der Genaktivität unterliegt in hohem Maße situativen Einflüssen und wird überwiegend nicht vererbt. Sie richtet sich nach den aktuellen Umgebungsbedingungen, sowohl nach jenen der einzelnen Körperzelle als auch nach denen des gesamten Organismus. Erst in jüngster Zeit wurde außerdem entdeckt, dass individuelle Erfahrungen im Organismus Reaktionsmuster ausbilden können, die einen Einfluss auf die Regulation der Gentätigkeit in zukünftigen Situationen ergeben. Es wurde experimentell gezeigt, dass bestimmte genetische Reaktionsmuster durch Erlebnisse und Erfahrungen „eingestellt“ werden können“ (S. 9). Zwischenmenschliche Erfahrungen werden demnach von unserem Gehirn in biologische Signale umgewandelt. Der Autor versucht nachzuweisen, dass es derzeit und künftig noch besser gelingen kann, auf der Grundlage dieser Erkenntnisse Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Gewaltund Missbrauchserfahrungen, Depressionen und Borderline-Störungen auf eine neue Weise zu verstehen, wobei er – dies sei klargestellt – eindeutig eine Lanze für die Wirkung von Psychotherapie bricht – am Beispiel traumatischer Einflüsse: Traumaerlebnisse führen zu einer extremen Aktivierung der Alarmsysteme des Gehirns (Amygdala, Hypothalamus, Hirnstamm), das seelische Traumaerlebnis verändert in den genannten Hirnzentren die Aktivität von Genen und erzeugt Veränderungen in neurobiologischen Strukturen. Psychotherapie kann, vor allem wenn sie früh erfolgt, die seelischen und neurobiologischen Traumafolgen bessern (S. 216). Bauer, Mediziner und Molekularbiologe, spart auch nicht mit Kritik an der Psychopharmakatherapie: aufgrund bisher nicht beachteter individueller, genetisch bedingter Medikamentenunverträglichkeiten laufen bis zu 40% der Patienten Gefahr, eine falsche Medikamentendosierung zu bekommen. Um derartige Blindflüge zu vermeiden, sollten künftig Verträglichkeitsprüfungen vor der Medikamenteneinnahme durchgeführt werden. Nach Meinung des Autors sollte sich wegen der Unspezifität medikamentöser Wirkung deren Verabreichung auf Notfälle und die Behandlung schwerer seelischer Gesundheitsstörungen beschränken. Für Bauer sind zwischenmenschliche Beziehungen mehr als kulturelle Lebensformen, auf die man in der Not auch verzichten kann. Sie sind für ihn das Medium unseres seelischen Erlebens und ein biologischer Gesundheitsfaktor. Die Entdeckung eines im Gehirn vorhandenen Systems von Spiegel-Neuronen zeigt auf, dass unsere Gehirnstrukturen spezialisierte Systeme besitzen, die auf Beziehungsaufnahme und Beziehungsgestaltung angelegt sind. Die moderne Neurobiologie zeigt ebenso eindrucksvoll auf, was wir aus der Säuglingsforschung der letzten zwanzig Jahre gelernt haben: wie sehr der Mensch ein Beziehungswesen ist, und wie sehr ihn Beziehungseinflüsse schon früh (bereits intrauterin) prägen. Kapitel zu Themen wie „Wie Gene auf Stress reagieren“, „Die Entwicklung individueller Stressfaktoren“, „Persönlichkeitstypen im Alltag“, „Umwelt und Neurobiologie am Beispiel der Depression“, „Immunabwehr und Tumorrisiko“, „Schmerzerfahrung und Schmerzgedächtnis“, „Burn-Out-Syndrom“ und andere machen dieses Buch für Psychotherapeuten jeglicher methodischer Orientierung lesenwert. Peter Geißler