Thermische Analyse - Grundlagen

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Thermische Analyse - Grundlagen, Anwendungen und Informationsgewinn1
Michael Feist
Institut für Chemie der Humboldt-Universität zu Berlin
Email:
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Abstract
Die Grundlagen der meistverwendeten thermischen Analysenmethoden werden vorgestellt;
dazu kommt ein kleiner Exkurs in die Dynamische Differenzkalorimetrie (DDK, engl. DSC).
Fünf praktische Beispiele illustrieren das experimentelle Herangehen bei der Anlage der
Messungen und erläutern deren Interpretation.
Inhalt
1. Einleitung
2. Historisches
3. Methoden der Thermischen Analyse (TA)
3.1. Konventionelle TA und Simultanthermoanalyse (STA)
3.2. Einflüsse auf Form und Güte von thermoanalytischen Kurven
4. Differential Scanning Calorimetry (DSC), Thermooptische Analyse (TOA) und
die Untersuchung mechanischer Einwirkungen (TMA, DMA, µTA)
5. Kopplungstechniken - Evolved Gas Analysis (EGA)
5.1. Kopplung mit der Massenspektrometrie (TA-MS)
5.2. Pulse Thermal Analysis, PulseTA
6. Literatur
1. Einleitung
Wenn der Chemiker Stoffe miteinander zur Reaktion bringen will, so greift er als erstes Mittel
zur Temperaturerhöhung der innig vermengten Reaktanden, um entweder die Reaktion
zwischen ihnen zu starten oder die Reaktionsgeschwindigkeit zu erhöhen. Das gilt sowohl für
Flüssigkeiten oder für Lösungen fester Stoffe (wo der innige Kontakt schon durch Rühren
erzielt wird) als auch für Feststoffgemenge. In jedem Falle ist eine Voraussetzung für das
Verständnis der Vorgänge unter Erwärmung zunächst die Kenntnis des Verhaltens der
1
Deutsche Fassung von DOI: 10.1007/s40828-015-0008-y
2
beteiligten Einzelstoffe, um dann das Verhalten der gemischten Systeme zu deuten. Diese als
thermisches Verhalten zusammengefassten Stoff- und Systemeigenschaften werden ihrerseits
mit den Methoden der Thermischen Analyse (TA) untersucht und beschrieben. Als korrekte
Definition dieser Vielzahl physikalisch-chemischer Messmethoden gilt aktuell: Thermische
Analyse bedeutet die Verfolgung der Änderungen eines oder mehrerer physikalischer
Parameter einer Probe als Funktion der Temperatur oder der Zeit unter dem Einfluss eines
kontrollierten Temperaturprogramms [1,2].
Hinter dieser Definition steht die Erkenntnis, dass in vielen (nicht in allen!) Fällen die
temperaturabhängigen Änderungen der Eigenschaften einer Phase diese genauso eindeutig
charakterisieren können wie ihre chemische Formel oder ihre Struktur [3]. TA-Methoden
ermitteln Eigenschaften - sie sind keine Methode der Strukturaufklärung, wenngleich die
Kenntnis der Struktur (zumeist der Kristallstruktur) fast immer die Deutung thermischer
Prozesse erleichtert, zuweilen auch erst möglich macht.
2. Historisches
Mit Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaften ist es nicht übertrieben zu sagen, dass
die TA die „ … späte Frucht der Liebe der Naturforscher ist, die Stoffe zu analysieren“ [4].
Seit Aristoteles (384-322 v.Chr.) galt das Dogma „Feuer ist der allgemeine Analysator der
Stoffe“, und erst Robert Boyle (1626-1691) widersprach dem in seinem berühmten Buch The
Sceptical Chymist (1661) mit dem Hinweis, dass die Wechselwirkung mit dem Feuer nicht
allgemeine Bedeutung für die Naturerkenntnis haben könne, da doch das Feuer destruktive
Wirkung hat [5].
Hundert Jahre später, 1763, unterschied Joseph Black (1728-1799) erstmalig zwischen
latenter und sensibler (fühlbarer!) Wärme - wichtig für das Verständnis von Phasenumwandlungen - sowie zwischen Temperatur (quality of heat) und Wärme (quantity of heat).
Stofflich gesehen ist der Ausgangspunkt neuzeitlicher thermischer Analysenmethoden
die Untersuchung von Tonmineralen. Antoine Laurent de Lavoisier (1743-1794) war
vermutlich der erste, der nach heutigen Maßstäben eine thermische Analyse vornahm: im
Rahmen seiner Untersuchungen zu den Massenänderungen bei Oxidationen untersuchte er
auch ein Schichtsilikat unter Erhitzen; Cronstedt gab dem Mineral 1788 den Namen
Montmorillonit [6]. Bei Lavoisier noch aus dem Blickwinkel der Massenänderung war es
Jahrzehnte später eher der Aspekt der Temperatur bzw. der Wärme, unter dem Henri Le
Chatelier (1850-1936) seine wichtige Arbeit über die Tone veröffentlichte (1887) [7]. Auf ihn
geht auch die Einführung des Pt-PtRh10-Thermoelements zur Messung hoher Temperaturen
3
zurück. Weitere wichtige Beiträge zur heutigen TA sind die Differenzschaltung von
Thermoelementen, die Einführung des inerten Vergleichskörpers (vgl. Abschn. 3.1) sowie die
Phasenregel von Josiah Willard Gibbs (1839-1903).
3. Methoden der Thermischen Analyse
Ein mögliches Unterscheidungsmerkmal für eine Einteilung der zahlreichen TA-Methoden ist
der gemessene physikalische Parameter (Masse, Temperatur bzw. Wärmefluss, sowie
mechanische und andere Größen)2. Das Schema in Abbildung 1 erfasst jedoch nicht alle
Verfahren, die den TA-Methoden zuzuordnen sind. Es fehlt z.B. die Reaktionskalorimetrie,
die in großer apparativer Vielfalt entwickelt ist [8]. Reaktionskalorimetrie wird meist in
Abbildung 1. Parameter und Methoden in der Thermischen Analyse
deutlich größeren Gefäßen betrieben als üblicherweise TA oder Kalorimetrie, z. B. in
Glasgefäßen unter adiabatischen Verhältnissen. Sie dient z.B. auch der Maßstabsvergrößerung
von Reaktoren (sog. Up-Scaling) für industriell genutzte chemische Prozesse [9].
2
Korrekterweise ist zu unterscheiden zwischen Analyse (setzt sich zusammen aus Messmethode [oder
-verfahren], Auswertung und Interpretation) und Methode, was jedoch selbst in staatlichen Normen nicht
konsequent gehandhabt wird (z.B. TG vs. TGA oder DTA vs. Differenzthermometrie [1]). Wir verwenden hier
die in Wissenschaft und Laborpraxis fest etablierten Begriffe, also z.B. TG neben DTA (und nicht DTM) oder
TMA anstelle von Thermomechanometrie.
4
Schließlich verdient die thermometrische Titration [10,11] Erwähnung, die heute vor
allem bei biochemischen Vorgängen eingesetzt wird (z.B. acidimetrische Bestimmung von
Fettsäuren in nicht-wässrigen Medien über die bei Neutralisationsreaktionen entwickelte
Wärme).
3.1. Konventionelle TA und Simultanthermoanalyse (STA)
Klassische oder konventionelle TA zu betreiben hieß, die Temperatur einer Probe unter
Aufheizen und/oder Abkühlen zu verfolgen - also T=f(T) oder T=f(t) aufzunehmen. In der
(ursprünglich meist anorganischen) Chemie der Phasengleichgewichte ließ sich das sehr
einfach auch im Studentenpraktikum durchführen, zunächst mit reinen Stoffen (Abb. 2), dann
auch für binäre Systeme. Für das System Sn-Pb beispielsweise bereitet man Porzellantiegel
mit Gemengen unterschiedlicher Bruttokonzentration, positioniert ein Thermometer oder
Abbildung 2. Anwendung der Gibbs’schen Phasenregel auf das Aufschmelzen und Erstarren
eines Feststoffes. Links ein Aufheizen mit konstanter linearer Heizgeschwindigkeit über den
Schmelzpunk (m.p.) hinaus, rechts „freies“ Abkühlen (gestrichelt) gemäß Newton’schem
Abkühlgesetz sowie der Temperaturverlauf für das Erstarren mit invariantem Plateau (F=0).
Für konstanten Druck erhält man die sogenannte „reduzierte“ Phasenregel, die die Anzahl
verfügbarer Freiheitsgrade F des Systems in Abhängigkeit von der Zahl koexistierender
Phasen P in dem System aus K Komponenten ermittelt.
Thermoelement in der Probe, schmilzt diese dann auf, homogenisiert vorsichtig und überlässt
die Tiegel anschließend der Abkühlung. Die Messung des Temperaturverlaufs liefert u.U.
Halte- und/oder Knickpunkte, die das Erstarrungsverhalten wiedergeben. Mit dieser einfachen
Anordnung ließen sich nicht zu komplizierte Phasendiagramme mit Eutektika und/oder
Dystektika aufnehmen, und auch Montanwissenschaftler im 19. Jh. gingen zunächst nicht
5
wesentlich anders vor, wenn es um die phasenanalytische Charakterisierung von Mineralen
ging.
Durch die Einführung einer thermisch inerten Vergleichssubstanz, die demselben
Heiz- oder Kühlprogramm unterworfen wird wie die Probe, und durch die Entwicklung der
Differenzschaltung von Thermoelementen (W. C. Roberts-Austen, 1899 [12]) wurde aus der
TA die DTA (Differenzthermoanalyse)3. Statt T=f(T) wurde nun T=f(T) aufgenommen
(Abb. 3).
R

S

+
PtRh10
-
T
Pt
TR
TS

m.p.
TR
TS
time
T
Abbildung 3. Differenzschaltung zweier Pt/PtRh10-Thermoelemente zur gleichzeitigen
Erfassung der Temperaturen TS von Probe S und TR von Referenzsubstanz R sowie der
zwischen ihnen anliegenden Temperaturdifferenz T. Rechts schematisch die Entstehung des
DTA-Signals für einen endothermen Phasenübergang 1. Ordnung, z.B. einen Schmelzprozess. Am Punkt der Phasenumwandlung (m.p.) wird die durch Heizen zugeführte Energie
nicht zur Temperaturerhöhung der Probe, sondern für das Durchlaufen der Umwandlung
genutzt. Anschließend eilt TS der linear weiter gestiegenen TR hinterher. Bei gleicher
Heizleistung wird T umso größer, je größer die Probenmenge ist. DTA-Effekte sind also
einwageabhängig und notwendigerweise asymmetrisch. Links ein kommerziell verfügbarer
DTA-TG-Probenträgerkopf mit Pt-Bechern; die Tiegel sitzen auf den Schweißperlen der
Thermoelemente und sorgen so für guten thermischen Kontakt.
Anders als in der schematischen Darstellung in Abbildung 3 weisen experimentell
gemessene DTA-Kurven natürlich fließende Übergänge auf, die stark von experimentellen
Faktoren beeinflusst werden und reproduzierbare (und zwischen Laboren vergleichbare)
3
Nicht nur im Englischen (Differential Thermal Analysis), auch im Deutschen findet sich noch oft der Terminus
Differentialthermoanalyse, der angesichts des Aufzeichnens von Differenzen (die aus messtechnischen Gründen
auch noch möglichst groß sein sollen) nicht verwendet werden sollte. Dagegen ist die 1. Ableitung der TGKurve nach der Zeit zu Recht als Differentialthermogravimetrie (DTG) zu bezeichnen.
6
Auswertungen erschweren. Extrapolationsverfahren werden empfohlen, die vor allem für die
Bestimmung des Beginns von Effekten bedeutsam sind (Abb. 4). Die Benennung der
Temperaturen ist in internationalen Vereinbarungen geregelt [13].
Bei der Deutung von DTA-Effekten ist zu bedenken, dass für Phasenumwandlungen 1.
Ordnung (z.B. das Schmelzen) einzig die Onset-Temperatur Tonex, nicht aber die PeakTemperatur relevant ist. Die Peak-Temperatur TP ist gemäß dem Schema in Abbildung 3 nur
der Punkt maximaler Temperaturdifferenz zwischen Probe und Referenzsubstanz, was wegen
der Abhängigkeit von der Probenmenge aber von sekundärer Bedeutung ist4. Im Falle
Abbildung 4. Informationsgehalt eines DTA-Signals mit den Hilfslinien (gestrichelt) zur
Ermittlung der charakteristischen Temperaturen (Onset-; extrapolierte Onset-, Peak- und
extrapolierte End-Temperatur). Die Basislinie für die Peakfläche A ist hier nur als Gerade
angenähert. A kann nach Ermittlung eines gerätetypischen Faktors Fcal für enthalpimetrische
Messungen genutzt werden - Grundlage hierfür ist die aus dem 1. Hauptsatz der
Thermodynamik hergeleitete Aussage, dass die isobar ausgetauschte Wärme dqP gleich der
Enthalpieänderung ist (rechts). Der Unterschied der wärmephysikalischen Eigenschaften vor
und nach dem Effekt verursacht einen Grundlinienversatz, der proportional CP ist. Die vor
allem von der Heizgeschwindigkeit beeinflusste Asymmetrie des DTA-Signals wird durch
den Formfaktor a/b beschrieben und kann u.U. zu kinetischen Auswertungen herangezogen
werden.
„richtiger“ chemischer Reaktionen repräsentiert das Peak-Maximum den maximalen
Wärmeumsatz der Reaktion; messtechnisch ist es der Punkt, an dem Wärmezufuhr und
-verbrauch gerade gleich sind.
Man sollte daher bei der Beschreibung thermoanalytischer Kurven Formulierungen wie „Die Reaktion oder
Umwandlung bei der Temperatur X °C“ vermeiden, wenn man Tp diskutiert. Richtig wären Formulierungen wie
„Die bei Tonex °C einsetzende …“ oder „Die zwischen Tonex und … ablaufende Reaktion …“
4
7
Wenn man mehrere Parameter in einer Messapparatur verfolgt, spricht man von
Simultanthermoanalyse (STA), was am häufigsten in der Kombination DTA-TG angetroffen
wird. Vereinfacht gesprochen: man montiert eine DTA-Messzelle auf eine empfindliche
Waage, was kommerziell zuerst mit dem Derivatographen5 der Ungarischen Optischen Werke
MOM verwirklicht wurde [14]. Inzwischen ist eine große Vielzahl unterschiedlich
Abbildung 5. Aufbau einer einfachen STA-Apparatur mit mechanischem Wägesystem. Die
Waageteile werden auf eine konstante Temperatur thermostatiert, während die Tiegel für
Probe und Referenz bei Messtemperatur liegen - das führt zu Unterschieden im Auftrieb und
verfälscht die TG-Auswertung. Korrekturkurven (meist Leermessungen) schaffen Abhilfe
(Darstellung adaptiert aus [16]).
konzipierter Gerätesysteme allein für die Kombination DTA-TG (Abb. 5) kommerziell
verfügbar, wobei alle Unterschiede in der Bauart natürlich Vor- und Nachteile haben, die
letztlich der Gerätebetreiber abwägen muss (z.B. auf- oder absteigende Führung der Spülgase,
horizontale oder vertikale Anordnung des Probenträgers, hängende oder aufgesteckte
Probentiegel u.a.).
In praktisch jedem einführenden Text in die Praxis der TA wird zumindest eine dieser
Substanzen mit einer Messkurve vorgestellt: Calciumoxalat-Monohydrat, CaC2O4  H2O, oder
5
Derivatograph war der Handelsname eines Messgeräts, nicht der Name einer Methode. Er spielt an auf die
ebenfalls vom Gerät vorgenommene Ableitung der TG-Kurve nach der Zeit (Differentialthermogravimetrie,
DTG) - er lebt fort in dem zuweilen im Laborjargon (nicht korrekt) verwendeten Begriff „Derivatogramm“;
gemeint ist aber Diagramm, Thermogramm, TA-Aufnahme etc.
8
Kupfer(II)-sulfat-Pentahydrat, CuSO4  5 H2O. In der Tat sind sie sehr klare Beispiele und
darüberhinaus die bestgeeigneten Testsubstanzen für den Laboralltag: Ihr thermisches
Verhalten ist sehr gut bekannt, sie verändern sich nahezu nicht bei Lagerung6, und die TAKurven weisen Effekte mit unzweideutiger Form und Lage auf. Für diese Substanzen sei
daher auf die gut etablierte Lehrbuch-Literatur verwiesen [3,15,16], während hier zwei
weniger bekannte, jedoch nicht minder aussagekräftige Messungen erläutert werden sollen.
Zudem machen diese Beispiele den besonderen Wert sinnvoll angelegter Messprogramme
deutlich (zyklisches Heizen und Kühlen (Abb. 6), Gaswechsel (Abb. 7), u.a.), wodurch oft
mehrere wichtige Probeneigenschaften durch Messung nur an einer Probe ermittelt werden
können.
Anlass für die Messung in Abbildung 6 war eine Literaturangabe, wonach bei 130 °C
getrocknetes NaClO4 in einer Reaktionslösung als Trocknungsmittel verwendet werden sollte
- alle Ansätze misslangen jedoch. Als Ergebnis unserer Überprüfung durch eine Messung mit
zyklischem Heizen und Kühlen ergab sich, (a) dass die Trocknungstemperatur zu gering war,
denn NaClO4 bildet auch ein Hemihydrat, NaClO4  0,5 H2O (statt zu trocknen kam es also zu
einem „definiertem Wassereintrag“ von 0,5 mol H2O pro mol Trocknungsmittel in die
Reaktionslösung), (b) dass einmaliges Erhitzen über 160 °C zu vollständig entwässertem
NaClO4 führt, welches (c) an feuchter Raumluft nicht rehydratisiert.
Einzig für die erste Entwässerungsstufe des CuSO4  5 H2O werden oft etwas geringere Massenverluste
gefunden, weil das pulverförmige Hydrat doch mit der Zeit leicht entwässert - nicht dagegen CaC2O4  H2O.
Dieses ist zudem noch ein guter Indikator für Sauerstoffspuren im Spülgas: Der zweite von drei endothermen
Reaktionsschritten wird dann von exothermen Anteilen überlagert, weil aus dem Oxalat-Ion abgespaltenes CO
zu CO2 weiterreagiert.
6
9
Abbildung 6. STA-Kurven von NaClO4  H2O und seinem Entwässerungsprodukt NaClO4
als Ergebnis von zyklischem Heizen und Kühlen unter Stickstoff, gefolgt von einem
isothermen Programmschritt an feuchter Raumluft zum Test auf mögliche Rehydratation des
NaClO4. Gezeigt sind jeweils TG und DTA für das erste Aufheizen bis 350 °C und das erste
Kühlen (oberer Teil der Abb.). Darunter TG und DTA für das zweite Aufheizen wieder bis
350 °C. Weil die Kurven von erstem und zweitem Kühlen identisch sind, wurde aus Gründen
der Übersichtlichkeit das zweite Kühlen weggelassen. Anschließend wurde der Ofen
hochgefahren und 2 h an normaler Raumluft gemessen - infolge von Konvektion ist TG daher
stärker verrauscht. Anstelle einer y-Skalierung für TG (in mg oder %) und DTG (in mg/min
oder %/min) ist eine schematische Skala für TG in Mol Kristallwasser, nH2O, gegeben.
Folgende Informationen können entnommen werden:
(1) Nach zweistufiger Dehydratation schmilzt das wasserfreie NaClO4 mit Tonex 303 °C auf;
(2) Der anschließende Wechsel von Heizen zu Kühlen bewirkt einen Grundlinienversatz der
DTA-Kurve (punktiert); (3) Unter Kühlen wird der Kristallisationspeak ohne das Auftreten
von Unterkühlung registriert; (4) Erneutes Aufheizen führt zu abermaligem Aufschmelzen
von NaClO4 bei gleicher Temperatur, Massenverluste treten vor dem Schmelzen nun nicht
mehr auf; (5) Nach dem Schmelzpeak tritt ein Grundlinienversatz in der DTA-Kurve auf (CPUnterschiede zwischen fester und flüssiger Phase); (6) Ein Massenzuwachs wird an feuchter
Luft in 2 h nicht beobachtet.
Abbildung 7 zeigt den Einfluss von wechselnder Gasatmosphäre auf den Verlauf von TAKurven. Hier sind zwei separate Messungen gegenübergestellt; man kann den Gaswechsel
10
auch während eines laufenden Temperaturprogramms vornehmen, z. B. bei organischem
Material, wo nach thermischer Zersetzung in anaerober Atmosphäre bis zu einem konstanten
TG /%
100
DTA /(uV/mg)
- 1,92 %
412
8
- 5,62 %
80
6
293
Straw
4
60
2
Air
40
 exo 0
- 63,75 %
DTA
N2
-2
20
- 86,85 % [7,53 % ash]
TG
0
-4
-6
200
400
600
T /°C
800
1000
1200
Abbildung 7. STA-Kurven von gehäckseltem, luftgetrocknetem Stroh in Luft (15,10 mg) und
in Stickstoff (16,94 mg) in Pt-Tiegeln. Für Luft wird der wahre Wassergehalt ermittelt
(5,62 %), während für die Messung in N2 zur Einstellung einer definierten Gasatmosphäre vor
Messbeginn mehrfach evakuiert und mit N2 geflutet wird - dadurch kommt es schon zu einer
Vor-Entwässerung des Materials. Mit Kenntnis der hier nicht gezeigten DTA-Basislinie (die
„thermische Asymmetrie“ des Systems) kann festgestellt werden, dass für die Reaktionen
unter N2 (Pyrolyse, entspricht dem in der Organischen Chemie gebräuchlichen „trockenen
Erhitzen“) praktisch keine Wärmetönung gemessen wird - das ist unerwartet, mag aber auch
an der ungünstigen Probengeometrie (geschnittene Fasern) und dem folglich schlechten
thermischen Kontakt mit dem Tiegel liegen. Dagegen ist die starke Exothermie des in zwei
Hauptstufen verbrennenden Strohs offensichtlich - die Reaktion ist mit ca. 500 °C erstaunlich
früh beendet.
TG-Plateau anschließend das vollständige Ausbrennen des Rückstandes bis zur Bildung des
Ascheanteils verfolgt werden soll. Beim Entwerfen sinnvoller Temperaturprogramme kann
der erfahrene Experimentator viel Phantasie und Geschick entfalten und mittels TA eine oft
überraschende Fülle an Informationen gewinnen.
Die Abbildungen 6 und 7 zeigen sehr deutlich die Breite der möglichen Aussagen, die
über praktisch bedeutsame Stoffeigenschaften erzielt werden können. Ein noch höherer
Erkenntnisgewinn wird erreicht, wenn außerdem die freiwerdenden Gase qualitativ oder sogar
quantitativ erfasst werden. Dies ist möglich mit Hilfe der seit etwa 1975 existierenden
unterschiedlichen Formen der Kopplung der TA mit spektroskopischen Methoden - man
11
nennt sie EGA-Techniken (Evolved Gas Analysis) [17-19]. Sie werden inzwischen nicht nur
zur Untersuchung von Zersetzungen, sondern allgemein von Reaktionen unter Variation der
Gasatmosphäre erfolgreich eingesetzt, eine besonders leistungsfähige Variante hiervon ist die
Pulse Thermal Analysis, PulseTA [20-22] (vgl. Abschnitt 5).
3.2. Einflüsse auf Form und Güte von thermoanalytischen Kurven
Bei der Diskussion der thermoanalytischen Befunde aus den Abbildungen 6 und 7 wurde
deutlich, dass nicht nur die numerischen Werte, z. B. für Massenverluste oder Temperaturen,
sondern auch die Signalform im Kontext aller experimentellen Bedingungen wichtige weitere
Informationen liefert. Die meisten dieser äußeren Bedingungen kann der Operator in gewissen
Grenzen beeinflussen. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Tendenzen und
ergänzt sie mit einigen experimentellen Erfahrungen.
12
Tabelle 1. Einflüsse auf Form und Güte thermoanalytischer Kurven
Einflussfaktor
Tendenz
Kommentar
Probenmenge
Große Einwage:
große DTA-Effekte
Temperaturgradienten in der Probe groß;
schlechtere Abdiffusion von Produkten
Kleine Einwage:
für TG eher günstiger
m ~ 0,5 µg gut messbar
Heiz- bzw.
Kühlgeschwindigkeit
Schnelles Heizen:
größere DTA-Effekte
„Überfahren“ von Effekten kann stören
Tiegelmaterial
Metalle:
Höhere Wärmeleitfähigkeit
erlaubt empfindlicher zu
messen
(Pt, Al, Ni, W-Re)
a) Salzschmelzen können kriechen
b) PH3, CHx, C greifen Pt an (T  900 °C)
c) BaCO3 zerstört Pt-Tiegel (T  900 °C)
d) Metallfluoride greifen Pt an (T  400 °C)
e) Nanoskopische Phasen (vor allem
Fluoride) greifen Pt auch bei milden
Temp. deutlich stärker an als erwartet
f) Langer Gebrauch bei hohen Temp. führt
zu Rekristallisation des Pt (sogar an
Tiegelwand sichtbar)
Keramik u.a.:
u.U. chemisch resistenter
(-Al2O3, Si3N4, Graphit)
Korundtiegel werden z. B. von Gemischen
Cu2O/CuO bei ~1000 °C penetriert !;
Graphit-Tiegel nicht in Luft verwenden
Bei CO-Bildung durch Gegenwart von O2
sogar Umkehr der Wärmetönung endo  exo
möglich (bei CaC2O4  H2O beachten!)
Spülgas / Reaktivgas
SpülgasFlussgeschwindigkeit
100 ml/min, auch weniger
gelten als optimal
He und H2 haben spezielle Wärmeleitfähigkeiten und fluiddynamische Eigenschaften
(DTA-Effekte können u.U. unterdrückt
werden!)
Höhere Gasflussgeschwindigkeit liefert
bei PulseTA tendenziell schmalere Signale
Referenzsubstanz
Inert
Inert zeigt im untersuchten
Temperaturbereich keine Umwandlungen
Aktiv (z.B. SiO2)
Inert hat definierte Umwandlung, ermöglicht
z.B. kalorische Kalibrierung
(- -Umwandlung von SiO2 bei 571 °C)
Keine
Messung gegen leeren Tiegel ist oftmals
mit akzeptabler Qualität möglich
13
4. Differential Scanning Calorimetry (DSC), Thermooptische Analyse (TOA) und die
Untersuchung mechanischer Einwirkungen (TMA, DMA, µTA)
Aus Abbildung 4 ging hervor, dass mittels DTA auch enthalpimetrische Messungen
durchgeführt werden können - ihre Genauigkeit ist jedoch wegen der starken Abhängigkeit
der DTA-Signale von experimentellen Bedingungen begrenzt (Abweichungen 10-15 %).
Diesen Nachteil gleicht die Dynamische Differenz-Kalorimetrie, DDK (Differential Scanning
Calorimetry, DSC) aus [23]. Ein der DTA verwandter, jedoch deutlich weniger von äußeren
Einflüssen abhängiger Aufbau erlaubt genauere Messungen gerade für kalorische Größen,
insbesondere zur Bestimmung von CP. Inzwischen überwiegt der Einsatz der DSC bei weitem
den der DTA, vor allem im riesigen Bereich organischer Polymere [24], aber auch bei
Pharmazeutika [25] und in der Prozessanalyse, besonders der Sicherheitskalorimetrie [26].
Die apparative Vielfalt der DSC reicht von kleinen Tischgeräten7 bis zu wägenden Systemen
(DSC-TG).
Abbildung 8 zeigt den der DTA entlehnten prinzipiellen Aufbau zweier Varianten der
DSC. Im Fall der historisch älteren Wärmestrom-DSC sind beide Tiegel (bzw. Pfännchen mit
Abbildung 8. Wärmestrom-DSC (Heat flux DSC) mit definierter Wärmeleitungsstrecke und
Umgebungsheizung durch den Ofen (Probe und Referenz folgen passiv). Im Unterschied dazu
die Leistungskompensation (Power-compensated DSC) mit zwei getrennten Heizern.
flachem Boden, ggf. auch mit Deckel) leitend verbunden. Anliegende Temperaturdifferenzen
werden daher schnell ausgeglichen - der hierfür fließende Wärmestrom ist das eigentliche
Messsignal. Es ist offensichtlich, dass eine solche Messanordnung weniger abhängig ist von
äußeren Einflüssen, z. B. von thermischen Asymmetrien oder vom Spülgasfluss.
Probe und Referenz können auch separat geheizt werden - hier ist das Messsignal die
unterschiedliche Heizleistung, die erforderlich ist, um Probe und Referenz bei gleicher
Temperatur zu halten. Power-compensated DSC kann inzwischen als State-of-the-art
7
Beispielsweise auch an Bord von Tankern: Vor Bunkerung der Fracht kann ein kurzer Heizlauf in Luft
vorgenommen werden. Die Peakfläche des DSC-Signals liefert ein Maß für die Exothermie der Oxidation, die
näherungsweise den Brennwert des Rohöls und damit ein Qualitätskriterium darstellt.
14
bezeichnet werden, sicher auch als eine Folge des Fortschritts der Steuer- und AuswerteElektronik.8
Die DSC ist infolge ihrer gegenüber der DTA höheren kalorischen Empfindlichkeit
besonders geeignet für die
Abbildung
9
zeigt
eine
Untersuchung von Strukturumwandlungen in Polymeren.
Aufnahme
von
Polyethylenterephthalat,
PET,
mit
der
charakteristischen Abfolge von (1) dem Glasübergang mit Tg (ein komplexer Relaxationsprozess mit endothermer Stufenversetzung der Basislinie), (2) der Kaltkristallisation
(vollständige oder anteilige Ordnungsvorgänge in der ungeordneten Matrix, exotherm) und
schließlich (3) dem Aufschmelzen der kristallinen Anteile (endotherm). Alle drei Schritte sind
in besonderer Weise abhängig von der thermischen Vorgeschichte des Materials und erklären
die große Bedeutung dieser Messungen bzw. Einflussgrößen für die Materialwissenschaft.
Abbildung 9. DSC-Kurve des zweiten Aufheizens (20 K/min) von Polyethylenterephthalat
(3,003 mg) in Al-Pfännchen unter N2 (aus [27]). Um zwischen Substanz- und Probeneigenschaften unterscheiden zu können, ist ein erstes Aufheizen bis über den Schmelzpunkt
hinaus zu empfehlen. Vorausgesetzt, die Abkühlgeschwindigkeit (hier ebenfalls 20 K/min) ist
hoch genug, um eine Erstarrung im Glaszustand zu ermöglichen, zeigt der zweite Heizlauf die
substanzspezifischen Eigenschaften deutlicher ausgeprägt. Außerdem ist nach Aufschmelzen
der Probe der thermische Kontakt zum Tiegel bzw. Pfännchen besser.
8
Es muss daran erinnert werden, dass die Einführung der Scanning-Methoden in die Kalorimetrie (Anfang der
1970er Jahre) unter den Kalorimetrikern heftig umstritten war: Scanning könne keinesfalls als richtige
Kalorimetrie betrachtet werden. Klassische Kalorimetrie erforderte oft viele Stunden der Messvorbereitung
(Temperaturgleichgewicht) und der Messungen selbst - die neuen Scanning-Methoden arbeiteten dagegen mit
Heizgeschwindigkeiten von 5 oder 20 K/min und behaupteten, ernstzunehmende Resultate zu erbringen!
Unbeschadet dessen ist grundsätzlich natürlich der Unterschied von Gleichgewichts- und Nichtgleichgewichtsmessungen in die Beurteilung von Ergebnissen einzubeziehen.
15
Auch ein anderes Feld neuer kalorimetrischer Methoden, die temperaturmodulierten
Techniken, sind nur möglich geworden dank der extremen Leistungsfähigkeit moderner
Elektronik für Steuerung und Auswertung: in der Modulated-Temperature DSC, MTDSC
[28], wird dem linearen Temperaturanstieg eine sinusförmige Modulation mit ständig
wechselndem Überheizen und Nachhinken der Temperatur aufgeprägt. Zusammen mit einer
geradezu faszinierenden Miniaturisierung der Messfühler bzw. der Kalorimeter (sog. ChipKalorimetrie) sind außergewöhnliche Fortschritte bei der thermischen Charakterisierung von
Polymeren [29] erzielt worden. Darüberhinaus sind die Möglichkeit chiraler Diskriminierung
durch Chip-Kalorimetrie [30] oder - sicher besonders spektakulär - die sogenannte
elektronische Nase zu erwähnen, auch sie ermöglicht durch extreme Miniaturisierung der
kalorimetrischen Sensoren [31,32].
Die Thermooptische Analyse (TOA), auch als Thermomikroskopie bezeichnet, ist in
ihrer einfachsten Variante verwirklicht in Form des Heiztischmikroskops (z.B. nach Kofler),
das seit Jahrzehnten im Labor zur Bestimmung von Schmelzpunkten genutzt wird. Neben
Start A
Meniskuspunkt B
Schmelze C
Abbildung 10. Videounterstützte Untersuchung von
Phasenumwandlungen: Die Lichtintensität hinter den
Proberöhrchen steigt am Schmelzpunkt (Punkte B, C)
drastisch an. Der nutzbare Temperaturbereich ist
natürlich eingeschränkt (Abb. adaptiert aus [34]).
einfacher mikroskopischer Beobachtung temperaturabhängiger Veränderungen (z.B. die beim
Schmelzen eintretende Transparenz zerfließender Kristalle) können Strukturumwandlungen in
fester Phase auch im polarisierten Licht unter Aufheizen oder Kühlen verfolgt werden.
Besonders verbreitet ist die Anwendung der TOA in der Pharmazeutischen Chemie, vor allem
16
für die Unterscheidung von Modifikationen [33]. Eine interessante Weiterentwicklung der
TOA nutzt LED-Lichtleiter und eine Videokamera zur Detektion von Schmelzpunkten über
die Lichtdurchlässigkeit schmelzender Feststoffe [34] (Abb. 10).
Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass trotz aller bewundernswerten
messtechnischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein ganz wichtiger Teil fehlt, der vor
allem in der anorganischen Feststoffchemie immer wieder als Einschränkung für die
Forschung empfunden wird: die Möglichkeit der visuellen Beobachtung von Proben bei sehr
hohen Temperaturen (also letztlich eine Variante von TOA). Die Frage nach dem Auftreten
flüssiger Phasen z.B. bei Sinterprozessen ist grundsätzlich sehr wichtig, kann aber fast immer
nur indirekt beantwortet werden [35]. Der Einsatz temperaturfester Fenster wäre technisch
möglich; so werden z.B. in Anlagen für die Kristallzüchtung polierte Saphir-Scheiben genutzt
[36]. Nur in Messapparaturen für den Laborbetrieb ist diese (zugegeben extreme)
Herausforderung für den wissenschaftlichen Gerätebau noch nicht angenommen worden.
Zwei Gründe sind als wichtigste zu vermuten: Zum einen ist sicher die Zahl potentieller
Nutzer insgesamt zu gering, als dass sich Entwicklungen wirtschaftlich lohnen würden; zum
anderen ist es schwer vorstellbar, wie ein DTA-Ofen mit homogenem Temperaturfeld (!) für
sehr hohe Temperaturen aussehen könnte, der eine visuelle Inspektion des Tiegelinneren von
oben erlauben würde.
Ein sehr großes Betätigungsfeld der Materialwissenschaften tut sich auf mit der
temperaturabhängigen Änderung mechanischer Eigenschaften. Die Thermomechanische
Analyse (TMA) verfolgt die Dimensionsänderung einer Probe unter konstanter Belastung mit
einer Kraft. Die Methode wird genutzt für die Bestimmung von Längenänderungen 9, von
Schwindungen (beim Sintern) sowie des Erweichens und Schrumpfens von Polymeren. Auch
die Dynamisch-Mechanische Analyse (DMA) erfasst das Fließverhalten und viskoelastische
(rheologische) Eigenschaften von Proben, jedoch unter periodischer (und ggf. ansteigender)
Krafteinwirkung.
Es
werden
zeit-
und
frequenzabhängige
Eigenschaftsänderungen
beschrieben, die zur Ermittlung von Glasübergängen, des Biegebruchverhaltens und anderer
Eigenschaften wie Schalldämpfung, Schlagfestigkeit, Spannungsrelaxation u. a. m.
unverzichtbar sind.
9
Auch mit der Thermodilatometrie (TD; dilatare - sich ausdehnen), diese jedoch mit vernachlässigbarer
Krafteinwirkung
17
Abbildung 11. Schematische Darstellung des Prinzips der Dynamisch-Mechanischen Analyse
mit dem Modell eines nach Lasteinwirkung (Pfeil) seine Ausgangsform wiederherstellenden
Körpers.
Abbildung 11 erklärt, wie die beiden wichtigsten Parameter der DMA hergeleitet
werden. Mit den ermittelten Größen E’ und E’’ wird die Tatsache beschrieben, dass feste
Materialien äußere Krafteinwirkungen „speichern“ oder sie auch wieder „vergessen“ können eine außerordentlich folgenreiche Eigenschaft, die bei der Entwicklung, Eignungsprüfung,
Lebensdauerabschätzung etc. von Werkstoffen bekannt sein, also gemessen und quantifiziert
werden muss. Umfangreiche Datensammlungen und Tagungsreihen widmen sich allein diesen
Methoden TMA, DMA, u.a. [37, 38].
Die mikrothermische Analyse (µTA) ist eine Kombination hochauflösender
Rasterkraftmikroskopie mit der TA. Im Unterschied zur üblichen Rasterkraftmikroskopie
wird die verwendete Spitze hier aus einem Wollaston-Draht gefertigt, dessen Kern ein 5 µm
starker Platindraht ist, der über eine geringe Distanz freigelegt ist und als Temperatursonde
fungiert. Auf diese Weise wird die thermische Leitfähigkeit von Probenoberflächen ermittelt
und eine Oberflächentopographie dargestellt [37]. Das ist von großer Bedeutung für die
Untersuchung dünner Filme, von Lackschichten (Alterungsverhalten, Strahlungsresistenz)
und von Verbundwerkstoffen.
5. Kopplungstechniken - Evolved Gas Analysis (EGA)
5.1. Kopplung mit der Massenspektrometrie (TA-MS)
Mit den Darlegungen im Abschnitt 3.1. bedarf es eigentlich keiner weiteren Begründung,
warum die qualitative und quantitative Charakterisierung von bei Reaktionen freigesetzten
18
gasförmigen Produkten ganz entscheidende Bedeutung für die vollständige und korrekte
Beschreibung der Vorgänge hat. Seit etwa 1975 sind Gerätesysteme für die EGA in großer
Variabilität verfügbar, wobei inzwischen Kopplungen mit der Massenspektrometrie (TA-MS)
und der Fourier-Transform Infrarot-Spektroskopie (TA-FTIR) am weitesten verbreitet sind.
Inzwischen ist es State-of-the-art, Untersuchungen zum thermischen Verhalten nur noch unter
Hinzuziehen solcher Methoden vorzunehmen.
Abbildung 5 ist an der Stelle des Gasauslasses um eine Ankopplung an ein Gerät zur
Gasanalyse zu ergänzen - so erhält man den prinzipiellen Aufbau von EGA-Apparaturen.
Deren große Vielfalt ergibt sich nun aus den unterschiedlichen apparativen Lösungen für
diese Ankopplung, d.h. für einen unverfälschten Gastransfer vom TA-Tiegel zum
Spektrometer. Alternativ kann auch zwischen TA-Messzelle und Spektrometer noch ein GC
geschaltet werden, um Produkte vor der Charakterisierung aufzutrennen [39]. Auf
experimentelle und apparative Details muss hier verzichtet werden, stattdessen sei auf
exzellente Überblicke bei Symposien oder Einzeldarstellungen in der Literatur verwiesen
[40-42].
Der erhebliche Informationsgewinn durch TA-MS soll hier nur an einem Beispiel
demonstriert werden - Abbildung 12 zeigt eine Ergänzung der Messungen aus Abbildung 7
Abbildung 12. TA-MS-Kurven von gehäckseltem, luftgetrocknetem Stroh in Stickstoff
(16,94 mg) in Pt-Tiegeln. Zusätzlich zu den DTA- und TG-Kurven in Abb. 7 sind hier die
Ionenstrom (IC)-Kurven für die Massenzahlen m/z = 16(CH4+), 18(H2O+), 44(CO2+ u.a.) und
48(SO+) gezeigt.
19
durch die Ionenstrom (IC)-Signale, aufgenommen im Multiple Ion Detection (MID) Mode.
Eine chemische Interpretation ergibt sich zunächst durch die An- oder Abwesenheit
bestimmter Fragmente. Sie muss ergänzt werden durch die Bewertung des qualitativen
Intensitätsverlaufs betrachteter Massenzahlen - dieser entscheidet über die Herkunft eines
Fragments aus einem oder aus verschiedenen Molekülen bzw. über einander überlagernde
Vorgänge. Für den Temperaturbereich zwischen 200 und 400 °C ist der qualitative Verlauf
von m1610, m18, m44 und m48 annähernd gleich, nicht dagegen um 100 °C, hier hat nur m18
ein Intensitätsmaximum. Deshalb ist die Wasserabgabe um 100 °C ein Trocknen, während die
um 300 °C „Reaktionswasser“ darstellt, das in dem komplizierten Mitteltemperaturschritt
(starke Strukturierung der Signale) gemeinsam mit den anderen Pyrolyseprodukten gebildet
wird (CH4, CO2, SO2, u.a.).
5.2. Pulse Thermal Analysis, PulseTA
In der Forschung über heterogene Katalyse sind Puls-Techniken, also das Injizieren von
definierten, meist kleinen Volumina gasförmiger Reaktanden in ein Reaktionssystem seit
Jahrzehnten etabliert. Zugunsten von Informationen über die Gasphasenzusammensetzung
sowie über Konversionsraten und Selektivitäten vernachlässigt der Katalytiker aber oft die
Veränderungen, die die feste Phase vor und während der katalytischen Reaktion erleidet. Dem
wurde abgeholfen durch die Entwicklung der PulseTA (PTA) [20], die eine Adaption dieser
Techniken an die Gegebenheiten von TA-Apparaturen darstellt, denn in aller Regel erfassen
moderne TA-MS- und/oder TA-FTIR-Kopplungen natürlich auch TG, so dass wichtige
Informationen einschließlich der Probenmasse in einer Simultanmessung (!) ermittelt werden
können.
Die PTA erweitert herkömmliche EGA-Systeme um eine Gasdosiereinheit für bis zu
zwei Permanentgase und basiert auf quantitativer Signalauswertung für Edukt- wie
Produktgasgemische nach vorausgegangener Kalibrierung der jeweiligen Massen- bzw.
Wellenzahl, die charakteristisch für eine der freigesetzten Substanzen ist. Diese Kalibrierung
kann ex situ in einem vorausgehenden separaten TA-Experiment mit einer geeigneten
Kalibriersubstanz definierten Verhaltens erfolgen. Sie kann auch in situ vorgenommen
werden, z.B. durch Injektion der Kalibriersubstanz vor oder nach dem eigentlichen
Reaktionsschritt, in dem die Abgabe dieser Substanz erfolgt. Eine interessante Variante von
quantitativer PTA stellt z. B. die „maßgeschneiderte Synthese“ von stufenweise anreduzierten
10
Korrekt als m/z = 16 (CH4+) zu formulieren - hier jedoch in der verkürzten Schreibweise verwendet;
entsprechend in Text und Abbildungen auch für die anderen Massenzahlen.
20
Metalloxiden durch Wasserstoffpulse dar, verfolgbar über den Massenverlust (H2O) pro Puls
und die integrale Signalintensität entsprechender Massenzahlen [20].
Der qualitative Aspekt von PTA tritt dann in den Vordergrund, wenn quantitative
Signalauswertung nicht verlässlich möglich ist. Dann kann ein TA-MS-Gerät, ausgestattet mit
einer PTA-Box, auch „nur“ als Reaktor genutzt werden, und man beschränkt sich auf
qualitative Signalauswertung. Ungeachtet dieser Einschränkung ist auch mit qualitativer PTA
zur Aufklärung eines Reaktionsmechanismus’ [43] oder von Adsorptionsprozessen [22]
beigetragen worden. Mittels selbstgebauter heizbarer septum-gedichteter Injektoren ist nicht
nur das Pulsen von Gasen, sondern auch die Aufgabe von Flüssigkeiten (H2O, MeOH, sogar
40% HF [44]) möglich, die nach Verdampfen als Gase mit der Probe wechselwirken.
Abbildung 13. Isotherme PTA-Messung einer vorbehandelten (2h 250 °C; Vakuum) Probe
von -AlF3 (43.81 mg) in N2 mit der IC-Kurve für m/z = m31 (CH3O+).
(1) Vier Injektionen von je 3 µL flüssigem CH3OH, die im Injektor (110 °C) verdampfen,
werden auf die Probe aufgegeben; (2) Der erste Puls bewirkt einen persistenten
Massenzuwachs von 70 µg, der auf Adsorption des Methanols zurückzuführen ist. Daher ist
(3) das damit verbundene DTA-Signal exotherm. Bereits der zweite Puls zeigt eine andere
Signalform bei (4) TG und (5) DTA: der leichte Überschwung der TG-Stufe geht im
Spülgasstrom auf ein konstantes Niveau zurück, so dass ein geringerer persistenter
Massenzuwachs (50 µg) registriert wird als zuvor. Ursache ist die Desorption von nur
physisorbiertem Methanol, diese bewirkt (5) den endothermen Nacheffekt des DTA-Signals.
Durch zunehmende Sättigung der Oberfläche wird (6) der persistente Massenzuwachs immer
geringer; auch (7) die Form der DTA-Signale verändert sich qualitativ nicht weiter. Die Probe
bräuchte für vollständige Beladung mit Methanol noch ein oder zwei weitere Pulse; hier wird
mit den vier TG-Stufen (m = +150 µg) eine Beladung von 0.107 mmol/g (0.9 mol%)
CH3OH ermittelt. Dieser hohe Wert erklärt sich mit der großen Oberfläche der Probe (ca. 200
m2/g) [21].
21
Abbildung 13 erläutert ein solches Experiment. Es ist ein besonders aussagekräftiges Beispiel
für die Interpretation von PTA-Kurven, weil es alle wesentlichen Elemente des Herangehens
an die Anlage der Messungen und ihrer Deutung enthält - nur auf dieser Grundlage lässt sich
das vergleichsweise ungewöhnliche Experiment in Abbildung 14 verstehen. Es enthält zwei
Abbildung 14. PTA-Kurven von MIVO2 (37,07 mg) in N2 mit Injektionen von jeweils 1 mL
HF(g)11 während zweier isothermer Segmente bei 145 und 350 °C. Zur Schaffung frischer
Oberflächen war die Probe zuvor bei 170 °C ausgeheizt worden (m = 0,32%).
Das Probenverhalten kann nur im Vergleich mit einer Leermessung richtig gedeutet werden
(Blank, TG und DTA blau). Es wird in gleicher Weise injiziert wie mit Probe, aus Gründen
der Übersichtlichkeit sind hier nur die Injektionspulse für die Probemessung (TG und DTA
rot) gezeigt. (1) Weder ein TG- noch ein DTA-Effekt werden für drei Injektionen von 1 mL
HF in den leeren Rezipienten registriert; (2) Der erste Puls auf MIVO2 hat geringere ICIntensität als die folgenden; (3) Die ersten beiden Pulse bewirken einen geringen
Massenzuwachs, dann ist die Oberfläche gesättigt; (4) Die exothermen DTA-Effekte zeigen
keine endothermen Nacheffekte; es liegt also reine Chemisorption vor; (5) Die Kurvenversätze im Bereich des Übergangs zum nächsten Isotherm-Segment sind nicht gezeigt; (6)
Bei 350 °C wird erneut dreimal 1 mL HF injiziert; (7) Die DTA-Effekte sind deutlich
schärfer, es werden jedoch (8) keine TG-Stufen registriert, weil (9) relativ intensive
endotherme Nacheffekte sofortige Desorption des nur schwach physisorbierten HF anzeigen.
Der Massenzuwachs von insgesamt 0,018 mg ergibt eine Beladung von 0,2 mol-% HF, was
mit der Vorstellung eines anfluorierten F-MIVO2 gut vereinbar ist.
11
Gasförmige HF wurde folgendermaßen injiziert: der in einem septum-gedichteten PE-Gefäß über 100 % HF
stehenden Gasphase wurden mit einer einfachen PE-Spritze Proben entnommen und injiziert; die Spritze wurde
vor den Injektionen 2-3 mal mit der entnommenen HF gespült. Wie schon bei anderen Untersuchungen ist der
Volumenfehler bei manuell vorgenommener Injektion relativ gering - er kann bei den Leermessungen zuvor
abgeschätzt werden und betrug z. B. bei Tests mit H2O nur etwa 3-5 %. In diesem Fall deutet die besonders
kleine Fläche des ersten Peaks eher auf einen Manipulationsfehler hin.
22
isotherme Temperatur-Segmente (145 und 350 °C), deren Wahl sich aus den chemischen
Fragestellungen ableitete: (a) Lässt sich die in der chemischen Industrie bei 140 °C
praktizierte Formierung eines MIVO2-Katalysators mit gasförmigem Fluorwasserstoff in
einem PTA-Experiment simulieren, und (b) lassen sich ggf. zusätzliche, evtl. quantitative
Informationen gewinnen? Lässt sich (c) auch bei der Einsatztemperatur des Katalysators (350
°C) eine Wechselwirkung mit HF beobachten?
Als Ergebnis dieser Messungen lässt sich zusammenfassen: (a) Die Formierung des
Katalysators konnte gut nachvollzogen werden; (b) Die Beladung mit HF ergibt einen
sinnvollen Wert; (c) Bei 350 °C lässt sich erwartungsgemäß keine Adsorption mehr
nachweisen, jedoch scheint schwache Physisorption aufzutreten; (d) Überraschenderweise
zeigt sich bei Injektion von HF(g) in die leere Apparatur weder ein TG- noch ein DTA-Signal
(was andererseits die Leermessung als verwertbares blank experiment gelten ließ).
Ein vergleichbar aussagekräftiges Beispiel ist Eisen(III)-dotiertes Cer(IV)-oxid,
Ce0.9Fe0.1O2-x, das mit CO2 bei 50 und 135 °C gepulst wurde; es ist in [45] ausführlich
dokumentiert.
Danksagung
Herrn Dr. Ekkehard Füglein (Netzsch-Gerätebau GmbH, Selb) bin ich für intensive
Diskussion und wertvolle Hinweise bei der Endredaktion sehr zu Dank verpflichtet.
6. Literatur
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