Pressedienst von Travail.Suisse – Nr. 18 – 15. Dezember 2010 – Migration _______________________________________________________________________________ Migrationspolitik Die Fragen, die 2011 im Zentrum der Diskussionen stehen müssen Die Initiative der SVP zur Ausschaffung «krimineller» Ausländer hat die wichtigste Frage, die sich die Schweiz im Bereich der Migration in den kommenden Jahren stellen muss, völlig in den Hintergrund gedrängt: Die Frage, wie die künftige Zulassungspolitik aussehen soll, damit es durch die Alterung der Bevölkerung nicht zu einem Mangel an qualifiziertem, aber auch an weniger qualifiziertem Personal kommt. Seit Jahren dominieren in der Ausländerpolitik die Themen Sicherheit, Kriminalität und Einbürgerung. Die SVP instrumentalisiert die Angst eines Grossteils der Bevölkerung, der in der wirtschaftlichen Globalisierung eine Bedrohung für die Identität oder die Zukunft der Schweiz sieht, und schlägt daraus politisches Kapital. Die bürgerlichen Parteien und der Bundesrat wählen immer die gleiche Strategie: Sie machen gegenüber der SVP Zugeständnisse. Damit reagieren sie immer nur. So wagte es der Bundesrat nicht, die Ausschaffungsinitiative der SVP für ungültig zu erklären (obwohl sie eindeutig völkerrechtswidrig ist), sondern er wollte sie mit einem indirekten Gegenvorschlag verhindern. Heute weiss man jedoch, dass die aktuelle Gesetzgebung ausgereicht hätte, um unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit Ausländer auszuweisen, die für Verbrechen und Vergehen verantwortlich sind. FDP und CVP, die das Feld nicht der SVP überlassen wollten, haben den direkten Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe ausgelöst, den das Volk ablehnte. Der SVP nachrennen: Diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt Welche Lehren lassen sich daraus ziehen? Es hat sich einerseits gezeigt, dass die Strategie, der SVP entgegen zu kommen, zum Scheitern verurteilt ist. Andererseits verunmöglicht diese Strategie eine echte Diskussion über migrationspolitische Fragen, die für die Zukunft der Schweiz wichtig sind und die sich nicht auf Kriminalität und Sicherheit beschränken. Wenn aus diesem Misserfolg nicht die richtigen Schlüsse gezogen werden, ist bereits absehbar, dass im Wahljahr 2011 die SVP das Thema Einwanderung mit einem weiteren Projekt zur Sicherheit oder Kriminalität allein besetzen wird. Aus diesem Grund fordert Travail.Suisse die bürgerlichen Parteien und den Bundesrat auf, nächstes Jahr alles daran zu setzen, die notwendige Diskussion über die Migrationspolitik der Schweiz auf eine andere Ebene zu verlagern, bei der es um Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Gesellschaft geht. Wenn über dieses Thema gleich zu Beginn es kommenden Jahres eine Diskussion lanciert wird, engt dies den Spielraum der Pressedienst von Travail.Suisse – Nr. 18 – 15. Dezember 2010 – Migration _______________________________________________________________________________ SVP bei ihrem Lieblingsthema ein. Es zwingt sie, zu anderen migrationspolitischen Fragen Stellung zu nehmen, die für die Schweiz von fundamentaler Bedeutung sind, anstatt nur über Kriminalität und Sicherheit zu reden. Wirklich wichtige Fragen, die diskutiert werden müssen Im Zusammenhang mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung in der Schweiz stehen nicht Fragen wie Sicherheit und Kriminalität im Vordergrund. Viel wesentlicher ist die Frage, welche Zulassungspolitik die Schweiz für eine ausreichende Beschäftigungsquote braucht und welche Bedingungen ausländische Arbeitskräfte für eine Einwanderung in die Schweiz erfüllen müssen. Konkret stellen sich folgende wichtigen Fragen: 1. Wie lange können wir mit der aktuellen Zulassungspolitik, d.h. mit dem Freizügigkeitsabkommen und der Beschränkung auf hoch qualifiziertes Personal für Personen aus Nicht-EU-Ländern, den Bedarf an qualifiziertem, aber auch an weniger qualifiziertem Personal noch decken? Möglicherweise wird dies kürzeroder längerfristig nicht mehr der Fall sein, weil fast alle Länder der Europäischen Union (EU) eine deutliche Alterung aufweisen. 2. Falls es notwendig ist, die Zulassungspolitik zu lockern, um mehr qualifiziertes, aber auch weniger qualifiziertes Personal ausserhalb der EU zu rekrutieren, welche Bedingungen müssten diese Personen dann erfüllen? Wie lassen sich zum Beispiel vorhersehbare Konflikte zwischen der Zulassungspolitik und der Bildungs- und Integrationspolitik verhindern? Sollte die Schweiz, bevor sie den Arbeitsmarkt für Personen aus Nicht-EU-Ländern stärker öffnet, nicht zuerst «Sans-Papiers» unter genau festgelegten Bedingungen legalisieren, in der Schweiz legal ansässige ausländische Personen ohne Stelle beschäftigen, die Bildungspolitik stärken und mehr Mittel für Integration bereitstellen? Denn eine stärkere Immigration von Arbeitskräften kann selbst dann Konflikte mit der Bildungs- oder Sozialpolitik hervorrufen, wenn sie aus Sicht des Arbeitsmarkts zu begrüssen ist. In der Bildungspolitik ist zum Beispiel festzustellen, dass gemäss einem aktuellen Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums in der Schweiz zwischen 2002 und 2008 immer weniger Personen für den Gesundheitsbereich ausgebildet wurden, obwohl die Immigration zunahm. Wenn wir in diesem Bereich nicht zu sehr von der Immigration abhängig ein wollen, müssen wir nicht als Erstes mehr ausländisches Personal rekrutieren, sondern eine Strategie ausarbeiten, die Bildungsfragen berücksichtigt, aber auch die Arbeits- und Lohnbedingungen verbessern, um das Personal zu binden. Es ist auch absehbar, dass mehr Immigration zu Spannungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft oder sogar zu ausländerfeindlichen Reaktionen führen wird. Deshalb braucht es auch mehr Mittel für die Integrationspolitik. Davon würde nicht nur die ausländische, sondern auch die schweizerische Bevölkerung profitieren, und dies käme vor allem weniger gut qualifizierten Personen zugute. Pressedienst von Travail.Suisse – Nr. 18 – 15. Dezember 2010 – Migration _______________________________________________________________________________ Travail.Suisse wird nächstes Jahr eigene Ideen zur künftigen Migrationspolitik der Schweiz präsentieren. Travail.Suisse fordert den Bundesrat und die politischen Parteien auf, dasselbe zu tun: Ziel soll es sein, die Diskussion darüber zu lancieren, wie wir die Einwanderung regeln wollen, die angesichts der Alterung in Zukunft für den Wohlstand der Schweiz eine grössere Rolle spielen wird. Damit können wir verhindern, dass die Ausländerfrage im Wahljahr durch eine Partei auf den Sicherheitsaspekt reduziert wird und stattdessen den Weg für eine echte Debatte ebnen. Diese soll dazu beitragen, dass die Bevölkerung besser versteht, welche Bedeutung die Migration für den Wohlstand der ganzen Schweiz hat, sowohl für Ausländerinnen und Ausländer als auch für Schweizerinnen und Schweizer. Denis Torche, Leiter Ausländerpolitik, Travail.Suisse Pressedienst von Travail.Suisse – Nr. 18 – 15. Dezember 2010 – Migration _______________________________________________________________________________ Travail.Suisse, Hopfenweg 21, 3001 Bern, Tel. 031 370 21 11, [email protected], www.travailsuisse.ch