Erinnerungen an den Vater, Werner Schmauch Werner-Christoph Schmauch Akademischer Festakt 12. April 2005, Greifswald Es ist in der Tat ein Privileg und eine schöne, wenn auch nicht ganz einfache Aufgabe, wenn ich bei dieser Gelegenheit als nun Siebzigjähriger etwas über meinen Vater sagen darf, den wir zu seinem 100. Geburtstag (12. März 2005) ehren wollen. Leider ist er schon am 24. Mai 1964 vor über 40 Jahren im Alter von nur 59 Jahren gestorben, so dass ich ihn nur 29 Jahre als Vater erlebt habe. Da es nicht um Ahnenkult und schon gar nicht um Heiligenverehrung gehen kann, will ich versuchen, einige Aspekte, die weniger bekannt sein dürften, vorzustellen, und von den zwischenmenschlichen Beziehungen berichten, wie ich sie zum Teil erlebt habe oder aus Erzählungen in Erinnerung habe. Der Vater hat keine Autobiographie geschrieben, was er sicher getan hätte, wenn ihm die Zeit dazu geblieben wäre. Neben den umfangreichen Akten der Bekennenden Kirche, die zum großen Teil heute im Archiv in Bielefeld einzusehen sind, gibt es Familienpapiere, die bisher unveröffentlicht sind. Da die meisten Veröffentlichungen über ihn und seine Arbeit in dem ausführlichen Artikel von Dietfried Gewalt im BiographischBibliographischen Kirchenlexikon (Band IX 1995, Spalten 320 bis 322) aufgelistet und im Internet zu finden sind, brauche ich sie hier nicht erneut zu erwähnen. (Wenn man auf die richtige Taste drückt, kann man sogar eine englische Fassung lesen, wobei allerdings Bischof Schönherr ein „beautiful Gentleman“ wird). Die Studien dieser umfangreichen Quellen, besonders wenn man die Jahrbücher für Schlesische Kirchengeschichte noch dazu rechnet, hat mir eins sehr deutlich gemacht: die vielen Namen von Menschen, die ich entweder persönlich gekannt habe oder vom Erzählen her kenne, waren fast alle Bekannte oder Mitarbeiter meines Vaters oder Freunde der Familie, die mein Leben bereichert und begleitet haben, und von denen einige noch heute mit mir in Verbindung stehen, obwohl der Kreis nach so vielen Jahren natürlich immer kleiner wird. 1 Als Beispiel möchte ich hier nur den wahrscheinlich ältesten, nämlich den 1869 geborenen Carl Steuernagel, erwähnen. Als ich mich 1955 in Göttingen auf das Hebraikum vorbereitete, und in den Semesterferien die Eltern in Greifswald besuchte, half mir der damals 86 Jährige mit meinen hebraischen Vokabeln und der Grammatik, was ohne die Vermittlung des Vaters nicht geschehen wäre. Carl Steuernagel wurde schon 1935 in Breslau in den Ruhestand versetzt, im selben Jahr, in dem ich geboren wurde. Ein so alter und bekannter Lehrer eröffnet eine wirklich historische Perspektive! Ich versuche zum Thema zu kommen, indem ich meine Grundhaltung von Anfang an deutlich machen will. Ich tue das, indem ich Gudrun Otto, geb. Lohmeyer (9.4.1926 – 12.12.2004) zitiere, die in der Veröffentlichung zum 100. Geburtstag ihres Vaters, meines Patenonkels, Ernst Lohmeyers, Folgendes geschrieben hat und mir aus dem Herzen spricht: „Es ist unüblich geworden seinen Vater zu bejahen. Est ist auch unüblich geworden, Dankbarkeit zu zeigen. Heute pflegt man, wenn man den Drang hat, sich in der Öffentlichkeit mit dem Vaterbild auseinanderzusetzen, abzurechnen. Bei mir ist das umgekehrt. Es kommt mir fast verwunderlich vor, daß ich einen Vater hatte, wie ich ihn mir nicht besser oder anders hätte vorstellen wollen.” (In Wolfgang Otto, Freiheit in der Gebundenheit, Göttingen 1990, Gudrun Otto, geb. Lohmeyer , Erinnerung an den Vater, Seite 86.) Das älteste Dokument in den Familienpapieren ist das Original einer Urkunde von 1791, mit einem schönen Siegel versehen, in der der Reichsgraf Hans Heinrich VI von Hochberg und Freiherr zu und auf Fürstenstein, der zweiten Tochter seines Försters und Jägers, der Beate Friederike Radechen, die Erlaubnis gibt, meinen Ur-ur-ur Großvater Carl Christoph Schmauch (19.3.1759 - 18.6.1837) in Zedlitz-Schlesien zu heiraten und sie dazu aus der Erbuntertänigkeit entlässt, aber „diese Loslassung nur Kraft und Gültigkeit in den Königlich, Preußisch und Schlesisch und Glatzischen Landen haben solle.“ 2 Damit ist für unsere Familie die schlesische Identität gegeben, die bis in die Habsburger Zeit zurückreicht, und bis heute – trotz der Grenzverschiebung nach 1945 – in meiner Generation noch besteht. Leider wissen wir sehr wenig über die Kinder- und Jugendjahre meines Vaters. Als er am 12. März.1905 in Herischdorf, zwischen Hirschberg und Bad Warmbrunn im Riesengebirge, in der Wohnung der Eltern geboren wurde, war sein Vater Richard (geboren 20.7.1871) Oberpostassistent, und damit preußischer Beamter, der diesen Beruf bis zu seiner Pensionierung als Oberpostsekretär in Bad Warmbrunn inne hatte. Seine Mutter, Emma Kotschate (2.11.1871), stammte von einem Bauerngutshof in der Trebnitzer Gegend. Der Vater wurde am 2.4.1905 in der Warmbrunner Kirche getauft und in derselben Kirche am 30.3.1919 konfirmiert. Die Ehe seiner Eltern muß nach Erzählungen meiner Mutter oft sehr stürmisch gewesen sein, und der kleine Werner musste als einziges Kind früh lernen zwischen den Eltern zu vermitteln. Vom Vater habe ich darüber nie etwas gehört. Nach der Volksschule ging er in die Oberrealschule in Hirschberg, wo er am 12.3.1924 an seinem 19. Geburtstag das Abitur bestand. Soweit wir wissen, war er der erste in der Schmauch Familie, der das Abitur machte. Warum er sich zum Theologie Studium entschloss, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir wissen nur, dass sein Konfirmator einen großen Einfluss auf ihn hatte, und seine Mutter Trost in der kirchlichen Gemeinschaft fand, in der sie sehr aktiv war. Dass der erste Weltkrieg, die Inflation und die Gründung der Weimarer Republik die Schulzeit nicht erleichterten, muss nur angedeutet werden. Manfred Punge (Werner Schmauch, Prophetie und Proexistenz, Unionsverlag Berlin 1981) hat von den schweren Jahren der Studentenzeit des Vaters berichtet, wo er vor Hunger manchmal zusammengebrochen ist. In der Familie wurde nur die eine Anekdote weiter erzählt, wonach er nach einer solchen Hungerperiode ein viertel Pfund Butter und ein halbes Pfund Käse ohne Brot verschlungen hat, und daraufhin prompt im Krankenhaus landete. Die Notwendigkeit, die alten Sprachen nachzuholen, erschwerten das Studium um ein 3 weiteres. Der Stress muss manchmal so groß gewesen sein, dass er nie weit von einem Nervenzuzammenbruch entfernt war. Wichtig ist aber die Tatsache, die mit Rücksicht auf die Familie nie erwähnt wurde, dass Werner Schmauch schon in seiner Kindheit eine Rückgradverkrümmung hatte, d.h. verwachsen war, und sicher unter den Hänseleien der Mitschüler gelitten hat. Aber wahrscheinlich noch schwerer zu ertragen war die Auseinandersetzung der Eltern über die Frage, ob dieses physische Leiden vererbt oder das Ergebnis eines Unfalls war. Als Kleinkind muss der Sohnle mal vom Tisch gefallen sein, und sein Vater hat wahrscheinlich seiner Frau immer Vorwürfe gemacht. Von meiner Mutter weiß ich, wie entsetzt sie war, als ein Freund des Vaters ihr den Zwanzigjährigen vorstellte. Dass sie dann nach sieben Jahren Verlobungszeit am 20. September.1932 heirateten, nachdem der Vater 1931 in Breslau bei Ernst Lohmeyer promoviert und am 5.7.1932 in Breslau ordiniert worden war, zeigt mir, wie sehr meine Mutter ihren Verlobten schätzen und lieben gelernt hatte. Andererseits ist mein Vater ohne die aufopfernde Unterstützung meiner Mutter gar nicht denkbar. Auf seinem Sterbebett hier in Greifswald bestätigte er seine Dankbarkeit für die 32 Ehejahre mit den unvergesslichen Worten, „Es war doch so schön.“ Dass sie ihn dann hier in Greifswald als Witwe 34 Jahre lang überlebt hat, ist ein anderes Kapitel. (Charlotte Schmauch, geb. Koeppe, 25.12.1904 bis 03.10.1998). Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass Ernst Lohmeyer – der 15 Jahre Ältere – den größten theologischen Einfluss auf meinen Vater gehabt hat. Es war aber nicht nur ein Lehrer-Schüler Verhältnis, sondern auch eine Freundschaft, die beide Familien einschloss. Ich erwähnte schon, dass Ernst Lohmeyer mein Patenonkel war. Nach dem Krieg hat uns seine Witwe (von der Familie Mammi genannt) ein Photo zurückgegeben, auf dem ich auf dem Schoß meiner Mutter mit meiner Schwester, Isa, zu sehen bin. Auf der Rückseite des Bildes steht in den sehr eigenen Schriftzügen meines Vaters, Herrn Prof. Lohmeyer, zum 8.Juli.1935, Werner-Christoph Schmauch. Das war Lohmeyers 45. Geburtstag. Keiner konnte damals ahnen, dass er nur elf Jahre später nicht mehr unter den 4 Lebenden weilen würde. Es muss wohl im Sommer 1938 oder 39 gewesen sein, als die ganze Familie Schmauch ins Lohmeyersche Sommerhaus nach Glasegrund bei Habelschwert im Glatzergebirge eingeladen wurde. Der berühmte Brief von Lohmeyer an Martin Buber, in dem er sich für die anti-jüdische Haltung seines Kollegen, Gerhard Kittel, entschuldigt, wurde auch in dieser Oase des Friedens geschrieben, 19. August. 1933. Ich entsinne mich, an der Hand meines Vaters und des Patenonkels kleine Wanderungen gemacht zu haben. Das war meine erste und letzte Begegnung mit Ernst Lohmeyer, obwohl er durch den Vater, auch durch seine Frau und Tochter, für mich lebenslänglich präsent blieb. Trotz der gemeinsamen Haltung dem Nazi Regime gegenüber - mein Vater wurde am 16. März 1935 in Schutzhaft genommen und Ernst Lohmeyer wurde im selben Jahr nach Greifswald strafversetzt - waren die Lebensläufe der beiden Theologen doch sehr unterschiedlich: Lohmeyer verbrachte 9 seiner 56 Lebensjahre als Offizier im Ersten und Zweiten Weltkrieg, während meinem Vater, wegen seiner physischen Behinderung auf seinem Ausmusterungsschein bestätigt wurde, (mit drei Siegeln und zwei Unterschriften versehen), dass er völlig untauglich zum Dienst in der Wehrmacht ist. Er scheidet aus dem Wehrpflicht Verhältnis aus. Wir Kinder wussten schon während des Krieges, warum unser Vater nicht eingezogen worden war - wie viele andere Pastoren und besonders unsere Vikare, von denen viele nicht wiedergekommen sind. Kurz vor dem Überfall auf Polen, wurde Ernst Lohmeyer als Reserveoffizier eingezogen, und kann erst nach seiner Entlassung am 28.4.1943 wieder in Breslau zu einem Vortrag der Bekennenden Kirche gewesen sein. Inzwischen war Katharina Staritz, die Patentante meines jüngsten Bruders, die auch Lohmeyer Schülerin und Kommilitonin meines Vaters war, aus dem KZ Ravensbrück entlassen worden. Sie hatte sich als Vertreterin des Büros Grüber für die Juden-Christen in Breslau eingesetzt und war in Marburg am 4.3.1942 verhaftet worden. Gerlind Schwöbel beschreibt, wie Lohmeyer seine frühere Studentin, die er lange nicht gesehen hat, in die Arme nimmt, wie der ältere Bruder es wohl tut, 5 wenn die kleinere Schwester nach längerer und nicht gefahrloser Reise heimkommt. (Gerlind Schwöbel, Ich Aber Vertraue, Katharina Staritz, eine Theologin im Widerstand, Frankfurt-Main, 1990, Seite 71). In dem Dokumentationsband, Katharina Staritz 1903-1953, Neukirchener Verlag 1990, ist die Korrespondenz meines Vaters mit Konsistorialpräsident Hosemann im Einzelnen dokumentiert. Die Verfasser kommentieren: “Katharina Staritz schloß sich zunächst der Christophori-Synode an, in den Konflikten um das Rundschreiben aber traten nur Mitglieder der Naumburger Synode für sie ein. Eines der engagiertesten Mitglieder der Naumburger Synode war Lic. Werner Schmauch, Pfarrer in Groß Weigelsdorf. Bevor ihm im einzelnen die Verfügung des EK in Breslau vom 18. Oktober 1941 bekannt geworden war, in der sich das EK von Katharina Staritz distanziert hatte, wandte er sich am 22. Oktober 1941 an KonsPräs Hosemann....” Seite 404. Aber noch interessanter in diesem Zusammenhang ist ein Brief, den Lic. Schmauch an das Evangelische Konsistorium der Kirchenprovinz Schlesien in Breslau geschrieben hat (er muß das Original nach dem Krieg in den Akten des Konsistoriums gefunden und entwendet haben). Konsistorialpräsident Hosemann hatte im Namen des Konsistoriums zur Geburt unseres jüngsten Bruders gratuliert. Mein Vater antwortete ihm am 3.9.1943: “Hiermit bestätige ich den Eingang des unter obigem Aktenzeichen übersandten und von Herrn D. Hosemann gezeichneten Glückwunsches zur Geburt unseres 4. Kindes. Wir sind auf das Peinlichste davon berührt, dass das Evangelische Konsistorium als Verwaltungsbehörde auf diese Weise mit Segenswünschen und mit Bibelworten sich einen geistlichen Charakter gibt, während es sonst bei amtlichen Entscheidungen immer wieder glaubt, von kirchlichen und christlichen Maßstäben absehen zu können. Die Behandlung, die die Patin unseres Traugott, Frau Vikarin Lic. Staritz, seitens des Evangelischen Konsistoriums erfahren hat und noch erfährt, ist dafür aus einer Reihe in jüngster Zeit uns bekannt gewordener Stellungnahmen nur ein schmerzliches Beispiel.“ 6 Dieser Brief ist für mich klassisch Werner Schmauch, und zeigt auch, wie eng für ihn das Persönliche mit dem Politischen verbunden war, und wie er sich voll einsetzte, wenn er erstmal eine Entscheidung getroffen hatte. Dieser Einsatz für andere und die Loyalität, die er seinen Freunden entgegen brachte, ist auch immer wieder von Mitarbeitern, Studenten, Brüdern und Schwestern im Amt und Gemeindegliedern bestätigt worden. Dass er den jährlichen Weihnachtsrundbrief bis 1963 an fast 500 Freunde und Bekannte geschickt hat, ist ein weiteres Zeichen seiner Verbundenheit und seiner Anteilnahme am Leben so vieler Menschen. Trotz des Kirchenkampfes und der Schikanen, denen mein Vater ausgesetzt war, war meine Kindheit im Groß Weigelsdorfer Pfarrhaus und Pfarrgarten idyllisch. Mit Kantor und Vikar, und mindestens zwei Haushilfen, die von meiner Mutter angeleitet wurden, war das Leben der Pfarrerskinder sehr angenehm. Als ich 1941 eingeschult wurde, kam ich sehr bald in Konfliktsituationen, weil der Direktor der Volkschule gleichzeitig der Ortsgruppenleiter des NSDAP war. Mein Vater und er waren die Kontrahenten in Groß Weigelsdorf, nur 12 Kilometer von Breslau entfernt. Da wir drei Pfarrerskinder – 6, 7, und 8 Jahre alt – uns weigerten, beim Fahnenappell den „Deutschen Gruß“ mit Handhochheben mitzumachen, mußten wir vor der ganzen angetretenen Schüler- und Lehrerschaft den Deutschen Gruß üben, und mehrere Male hin und her marschieren. Da sich meine Eltern konsequent weigerten, den Hitler-Gruß zu gebrauchen, kamen wir nach einer Familiendiskussion zu dem Einverständnis, dass wir selber entscheiden müßten, wenn wir ohne die Eltern unterwegs waren, aber dass wenn wir mit ihnen gemeinsam auf der Dorfstraße gingen, d.h. unter ihrem Schutz, den Deutschen Gruß nicht benutzen mussten. Ich kann heute noch nachempfinden, wie stolz ich als Siebenjähriger auf die Eltern war, die so mächtig waren, dass sie sich der für mich höchsten Authorität widersetzen konnten. Ich habe auch in den Akten unter den vielen Schriftstücken kein einziges gefunden, das der Vater mit „Heil Hitler“ unterschrieben hat. Ein anderes Erlebnis, das einen großen Einfluß auf mich hatte, waren die vielen Beerdigungen an denen ich gemeinsam mit meinem Vater teilnahm. Es war in Schlesien 7 Sitte, dass ein großes hölzernes Kruzifix vor dem Beerdigungszug getragen wurde, wenn der Trauerzug von der Wohnung des Gestorbenen sich langsam zur Kirche und zum Friedhof bewegte. Da 8 oder 10 Dörfer zu dem Kirchspiel gehörten, konnten die Entfernungen bis zu 5 oder 6 Kilometer betragen, die zu Fuß bei Sonne oder Wind und Wetter zurückgelegt werden mussten. Kreuzträger war immer ein starker Bursche, weil das Kreuz ziemlich schwer war. Da alle Jugendlichen in der Hitlerjugend waren, fand sich in den letzten Kriegsjahren niemand mehr, der diesen Dienst tun wollte. Obwohl erst 8 oder 9 Jahre alt, war ich bereit Kreuzträger zu werden, und ich wurde mit einem Talar und Barett ausgestattet, so dass ich in einer kleineren Ausgabe meinem Vater sehr ähnlich sah. Wegen der langen Entfernungen und meiner kurzen Beine, war das keine einfache Aufgabe, besonders weil beim Begräbnis eines Veteranen die Militärkapelle am Anfang des Beerdigungszuges immer versuchte mich zu überholen, während der Vater mir eingeschärft hatte, dass das Kreuz am Anfang des Zuges getragen werden müsse. Diese Aufgabe fiel mir auch in Bad Warmbrunn in den letzten Kriegsmonaten und dann nach dem Kriege zu, und ich entsinne mich an die vielen Beerdigungen, bei denen ich oft nur mit dem Vater am offenen Grab, in das die Leiche vom unteren Teil eines Sarges gekippt worden war, ein Vaterunser betete. Dass wir dann auch Ende Oktober 1945 auf demselben Friedhof meinen Großvater beerdigen mussten, der buchstäblich verhungert ist, war für den Vater und für uns alle ein besonders trauriges Erlebnis. In einer kirchenamtlichen Bescheinigung im Sommer 1946 in Breslau, von Präses Ernst Hornig ausgestellt, steht der Satz: “Am 4. Dezember 1944 wurde er (Dekan Schmauch) um von ihm ein Wohlverhalten der Partei gegenüber zu erzwingen, durch die Gestapo in Breslau mit einem Zwangsgeld von 800 Reichsmark belegt mit der Maßgabe, daß der Betrag in der gleichen Höhe für jeden neuen Fall des Widerstreites mit der Gestapo neu zahlbar werde.” Ich erinnere mich sehr genau an diesen Vorgang. Da ich inzwischen 9 Jahre alt war, fiel mir die verantwortliche Aufgabe zu, diese 800 Reichsmark vom Postsparkonto abzuheben. Da man damals nur 100 Reichsmark am Tage abholen durfte, musste ich achtmal den Weg zur Post machen. Weil damit das Sparbuch fast leer war - dieser 8 Betrag war eine riesige Summe und ein großer Teil des jährlichen Pfarrergehaltes - ist es nur gut, dass das Naziregime bald ein Ende hatte und der Vater nicht für einen neuen Fall des Widerstreites mit der Gestapo bestraft werden konnte. Dass der schon erwähnte Ortsgruppenleiter noch am 20. Januar.1945, als das Dorf geräumt wurde, und der Vater beim Packen war, auf den Pfarrhof kam, und sich mit den Worten verabschiedete: “Wir werden Sie noch dahin bringen, wo Sie hingehören,“ ist auch fester Bestand der mündlichen Überlieferung. Ich meine, der Vater hat seine Haltung im Dritten Reich in einem Brief an Gottfried Pfitzer im März 1944 in einem Satz zusammengefaßt: “Es ist sehr vieles möglich, gerade im nationalsozialistischen Staat, wenn jemand Mut hat und um eines großen Zieles willen sein Amt zu riskieren bereit ist.“ (Gerhard Ehrenforth, Die schlesische Kirche im Kirchenkampf 1932-1945, Göttingen 1968, Dokumentenanhang, Seite 305). Die Eltern müssen auch über die Vorbereitungen auf das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 informiert gewesen sein. Nach Mutters Erzählungen ließ Graf Peter Yorck von Wartenburg (seine Frau, Marion, lebt noch heute in ihrem 101. Lebensjahr in Berlin) aus Klein Öels, der aktiver BK Mann und Freund der Familie war, die Eltern bei Nacht und Nebel im Auto abholen und zu sich kommen. Die Mutter musste im Wagen sitzen bleiben, während der Vater zu einem Gepräch ins Schloß gebeten wurde. Seit 1940 war Peter Yorck von Wartenburg mit Helmut James von Moltke befreundet (seine Frau, Freya von Moltke, lebt noch heute in unserm Nachbarstaat, Vermont), und der Kreisauer Kreis entstand in der Berliner Wohnung der Familie Yorck. Man kann sich heute kaum vorstellen, unter welchem Druck die Menschen damals gestanden haben. Eine kleine Erfahrung mag zur Illustration dienen: Heilig Abend wurde natürlich im Pfarrhaus besonders gefeiert, und war für die Kinder mit Adventskalender usw. vorbereitet worden. Nach der Christnacht und dem Krippenspiel, an dem wir uns beteiligten, gab es die Bescherung unter dem Christbaum mit vielen Kerzen. Es muss Weihnachten 1944 gewesen sein, als wir alle auf den Vater warteten, der ein Telefongespräch führte - wahrscheinlich mit Ernst Hornig in Breslau , das stundenlang dauerte; jedenfalls schien es uns Kindern so. Als der Vater endlich kam und die Mutter 9 ihm wegen der Länge des Gesprächs zu einer Zeit, die nun wirklich der Familie gehören sollte, Vorwürfe machte, nahm er eine meterlange brennende Kerze vom Ständer und zerschmetterte sie mit aller Gewalt auf dem Fußboden. Dieser Vorgang muss mich sehr beeindruckt haben, da ich mich noch heute daran erinnere. Die Weihnachtsstimmung war natürlich dahin.Ich kann heute gut verstehen, wie er mit seinen Nerven am Ende gewesen sein muss. Es gibt einen ausführlichen Bericht des Vaters über die Evakuierung von GroßWeigelsdorf. Nachdem er nach der Ausweisung mit der Familie an seinem Heimatort, Bad Warmbrunn, angekommen war – im Einvernehmen mit den zurückgebliebenen Brüdern in der Festung Breslau – stellte sich heraus, dass der Ortspfarrer schon am 28. Januar mit seiner Familie nach Mitteldeutschland geflüchtet war, weil er Mitglied der Deutschen Christen und der NSDAP war und die braune SA Uniform unter dem Talar trug. So konnte der Vater in seiner Heimatkirche, in der er getauft und konfirmiert worden war, die Arbeit aufnehmen, zu der er dann auch offiziell von der Hirschberger Superintendentur beauftragt wurde. Nach anfänglichem Misstrauen seitens der Hirschberger Kirchenbehörde wurde ihm weitestgehend Vertrauen entgegengebracht. Da er Mitglied des Provinzialbruderrates der Naumburger Synode war, war das keine Selbstverständlichkeit. Über diese für Deutsche ganz rechtlose Zeit ist inzwischen viel geschrieben worden. Für uns Kinder war es eine unvergessliche, erlebnisreiche Zeit. Für den Vater bedeutete sie eine einmalige kirchliche Erfahrung in aller Ungesichertheit, die seine kirchliche und theologische Haltung entscheidend beeinflusst hat. Nachdem er zum Dekan von Niederschlesien ernannt worden war, war er sehr viel unterwegs, und ich erinnere mich an ihn hauptsächtlich im Talar, den er aus Sicherheitsgründen auch auf der Straße und unterwegs manchmal auf dem Dach des Zuges sitzend auf der Strecke von Warmbrunn nach Breslau trug. Ein Photo von ihm im Talar, in dem er im Sommer 1946 auf dem Warmbrunner Schloßplatz die zur Evakuierung versammelten Gemeindeglieder verabschiedet, ist inzwischen in die Dauerausstellung im Schlesischen Museum in Görlitz aufgenommen worden. 10 Als meine Familie im Dezember 1946 durch die Evakuierung dreigeteilt wurde (der Vater blieb bis 1947 in Breslau), und ich mit meinem jüngeren Bruder Friedmann durch die Vermittlung des Vaters im Flüchtlingskinderheim in Bethel bei Bielefeld Aufnahme gefunden hatte, schrieb ich als Zwölfjähriger am 4. Mai 1947: “Lieber Vati! Wir haben uns sehr gefreut, als Isa (die ältere Schwester) uns schrieb, daß Du jetzt im Reich bist .... Seit wann bist Du dort? Hast Du alle Sachen mitbekommen? Ist jetzt die ganze Kirchenleitung aus Breslau ‚raus? Bitte, schreibe bald ausführlich, wie es Dir geht, aber das beste ist, Du kommst bald mal zu uns. Hier in Bethel ist es schön.“ Und aus einem Brief an die Mutter, einige Wochen später: „In 6 Wochen sind Ferien und wir bekommen Zeugnisse. Mein liebstes Fach ist Religion. Ich werde wohl doch noch Pastor werden müssen... Frag bitte mal Vati, ob ich mit 13 Jahren konfirmiert werden kann. Ich gehe jedenfalls wieder in den Konfirmandenunterricht, wo es immer sehr schön ist, weil ich das Meiste schon weiß!“ (In Kinder der Opposition, herausgegeben von Christoph Kleßmann, Gütersloh 1993, Werner Christoph Schmauch, Von Görlitz nach Conway, Seite 139). Trotz der anstrengenden Arbeit als hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung in Görlitz (Dezernate: 1. Kirchliche Betreuung der Evakuierten Schlesier in Westdeutschland; 2. Theologische Ausbildung und Prüfungen; 3. Theologiestudenten-Amt), liess mein Vater es sich nicht nehmen, meiner ein Jahr älteren Schwester und mir Konfirmandenunterricht zu erteilen. Wir drei saßen oft am Sonntag Vormittag im Wohnzimmer und der Vater erkärte Luthers Kleinen Katechismus, aber auch die sechs Barmer Thesen, die wir auch auswendig lernen mussten. Zur selben Zeit bereitete er eine Vortragsreihe vor, von deren Inhalt er uns informierte, und die später unter dem Titel Reaktion oder Bekennende Kirche veröffentlicht wurde (Schriftenreihe der Bekennenden Kirche, Heft 5, Verlagswerk GmbH, Stuttgart, 1948; Nachdruck in Werner Schmauch, Koesistenz? Proexistenz!, Evangelische Zeitstimmen 20, Herbert Reich, Evangelischer Verlag Hamburg 1964). 11 Trotz der etwas ungewöhnlichen Umstände war der Inhalt unserer Gespräche ziemlich selbstverständlich und bezog sich zum großen Teil auf den Erfahrungsbereich aus der sogenannten „Polenzeit“, in der wir unter schwierigen und sehr ungesicherten Umständen gemeinsam erfahren hatten, was es heißt, aus dem Glauben zu leben. Am Sonntag Quasimodogeniti 1949 wurden wir von ihm in einem besonderen Festgottesdienst in St. Peter und Paul, Görlitz, konfirmiert. Als in einem Schreiben vom 13. Mai 1950 meine Aufnahme in die Oberschule in Görlitz abgelehnt wurde, mußte mein Vater wieder in Aktion treten – eine Rolle, die ich von ihm erwartete. Ich nehme an, dass er den Behörden eine Kopie der folgenden Bescheinigung, ausgestellt von der Kirchenleitung in Breslau am 17. August 1946, geschickt hat, die dann auch den erwünschten Erfolg hatte, nämlich meine Aufnahme in die Oberschule, von der ich dann in Berlin Gebrauch machen konnte und aufs Graue Kloster kam, nachdem der Vater von der Berlin-Brandenburgischen Kirche zum Studienleiter des Sprachenkonviktes berufen worden war. “B e s c h e i n i g u n g Herrn Kirchenrat, Dekan Lic. Werner Schmauch, geboren am 12.3.1905 in Herischdorf i/Riesengebirge wird hierdurch kirchenamtlich bescheinigt, daß er seit dem Jahre 1934 dem Pfarrernotbund (Leiter: Pfarrer D.D.Martin Niemöller) angehört. Er ist Mitglied der Naumburger Bekenntnissynode seit dem Jahre 1936 und gehört seit 1937 dem Rat der Bekennenden Kirche Schlesiens als Mitglied an. Seit 1938 war er stellvertretender Leiter des Ausbildungsamtes der Bekennenden Kirche, seit 1940 Leiter des Ausbildungsamtes. Schon in den Jahren 1930-1936 war er Dozent an der kirchlichen Hochschule der Bekennenden Kirche – Ersatzvorlesungen für Theologie-studenten der Universität Breslau – seit 1938 Studentenpfarrer der Bekennenden Kirche für Breslau und seit 1941 Mitglied der Reichs-studentenpfarrer-Konferenz für die Universität Breslau. Er hat als Pfarrer der Bekennenden Kirche aktiv an dem Kampf der Kirche gegen die Weltanschauung des Nationalsozialismus und gegen die Maßnahmen des Hitler- 12 Staates, die sich gegen die Kirche richteten, teilgenommen. Er hat die Verlautbarungen der Leitung der Bekennenden Kirche Schlesiens, die sich gegen die politischgleichgeschalteten Kirchenbehörden richteten und für die Freiheit der Kirche gegenüber dem Staate eintraten, mit verantwortet. Er ist daher 1935 verhaftet gewesen und hat 1944 ein Zwangsgeld von der Geheimen Staatspolizei in Höhe von RM 800, -auferlegt erhalten. In vielen Vernehmungen mußte er vor der Geheimen Staatspolizei erscheinen und wurde von seinem Ortsgruppenleiter in Groß-Weigelsdorf Krs.Oels mehrfach bedrängt. Den Beamteneid auf Adolf Hitler hat er von 1938 bis zum Zusammenbruch 1945 entschieden abgelehnt. Kirchenrat Dekan Lic. Werner Schmauch hat in Wort und Tat bewiesen, daß er zu den aktivsten Vorkämpfern der Bekennenden Kirche gegenüber dem Geiste des Nationalsozialismus gehört. B r e s l a u , den 17.August 1946 Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Schlesien. Hornig, Präses.“ Für die Berliner Zeit von 1950 – 53, möchte ich nur die Selbstverständlichkeit erwähnen, mit welcher der Vater willens war, von seinen geringen Einkünften für meine Nachhilfestunden in Latein und Griechisch zu bezahlen, von denen mein Verbleiben auf dem Gymnasium zum Grauen Kloster abhing. Außerdem ist mir der Berg von Feldpostbriefen, auf denen Ernst Lohmeyer im Felde seinen Kommentar zum Matthäus Evangelium geschrieben hatte, auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers in der Wohnung Berlin-Prenzlauer Berg, im Gedächtnis geblieben, weil ich ihn ständig mit meinen Fragen zu lateinischen und griechischen Problemen unterbrach, ohne dass er auch nur einmal ungeduldig geworden wäre oder mich zurückgewiesen hätte. Was er in diesen wenigen Jahren in Berlin für die Familie, für die theologische Wissenschaft und besonders für den Nachlaß seines verehrten Lehrers, Ernst Lohmeyer, getan hat, ist für mich im Nachhinein erstaunlich. 13 Nachdem ich im April 1953 als politische Flüchtling anerkannt worden war, wurde es durch seine freundschaftlichen Beziehungen zu Martin Niemöller, der Kirchenpräsident von Hessen-Nassau war, möglich, dass ich 1955 am kirchlichen Gymnasium in LaubachOberhessen - genau vor 50 Jahren - das Abitur machen konnte. Und es war im selben Jahr, dass sein guter Freund, Heinrich Grüber, meine Schwester und mich dem internationalen Studentenheim, dem Fridtjof-Nansen-Haus, in Göttingen empfahl – ein folgenschwerer Schritt. Dort lernte ich nämlich schon im zweiten Semester meine Frau, Kathryn Hively, aus Columbus, Ohio kennen, die ich dann im folgenden Sommer meinen Eltern im Haus der Helfenden Hände in Beienrode vorstellen konnte. Nach einem Wintersemester in Bonn, wo ich zeitweise bei Hans-Joachim Iwand wohnte, und bei Helmut Gollwitzer einige Male zum Mittagstisch eingeladen war, bin ich nach USA ausgewandert, was für die Eltern nicht leicht war. Der Vater ließ es sich aber nicht nehmen, mich im Auswanderungslager in Hamburg zu verabschieden und eine Nacht auf einer sehr unbequemen hölzernen Pritsche zu schlafen. Als ich 1961 Pfarrer einer lutherischen Gemeinde in der Provinz Alberta im Westen Canadas war – die Gemeinde bestand aus Volksdeutschen aus Wohlynien , Bessarabien, Siebenbürgen, und Wolgadeutschen, unter dem Motto „Lutherisch bis zum Tode, Deutsch bis ins Grab“ – konnten die Eltern uns besuchen, um den ersten Enkelsohn kennenzulernen. Da ich dem Gemeindekirchenrat nicht Deutsch genug war – ich wollte für die Jugend mehr Englische Gottesdienste halten – wurde bald das Gehalt nicht mehr bezahlt, um mich zu zwingen mein Amt niederzulegen. Nach seiner Erfahrung im Dritten Reich riet der Vater mir, keine Kollekte mehr einzusammeln, wenn die Gelder nicht dem Zweck zugeführt werden würden, für die sie gegeben wurden – nämlich für mein Gehalt. Man kann sich unschwer vorstellen, dass meine Befolgung seines Rates in diesem Falle nicht zu dem gewünschten Erfolg führte. Zur selben Zeit wurde in Berlin die Mauer gebaut. Aber das steht auf einem andern Blatt. Dass ich dann nach seinem Tode als erster Vertreter der Christlichen Friedenskonferenz als NGO bei den Vereinten Nationen in New York tätig war, mit einem Büro im Kirchenzentrum für die UNO, zeigt, wie sehr mich sein Denken und sein Engagement für 14 den Frieden unter den Völkern beeinflusst hat. Der Kreis schließt sich, wenn ich berichten kann, dass in den letzten Jahren meine Frau und ich an Hand des schönen Buches von Norman Davies, „Die Blume Europas“, die Geschichte Breslaus und Schlesiens polnischen Studenten in deutscher und englischer Sprache vermitteln konnten. Wir hoffen dadurch einen Beitrag geleistet zu haben zu dem Anliegen des Vaters, von dem Professor Soucek (1902-1972) schon 1965 in seiner Gedenkrede hier in Greifswald gesagt hat: “...für mich wird Werner Schmauch immer in unmittelbarer Nachbarschaft eines anderen deutschen Freundes bleiben, den ich auch erst in der Zeit der nach dem Krieg neu angeknüpften Beziehungen zu den deutschen Kirchen gewonnen und dann allzu früh verloren habe – ich denke an Hans Joachim Iwand. Beide verkörpern für mich, aber auch für viele meiner tschechischen Freunde, das Beste, dem wir im deutschen Leben und Denken begegnen konnten. Sie vertreten für uns in echter Weise die geistliche Erbschaft der Bekennenden Kirche, die uns seit mehr als dreißig Jahren einen neuen Zugang zu den Christen in Deutschland und so auch zum deutschen Volk eröffnet hat – einen Zugang, den auch die bestürzenden Erfahrungen der nationalsozialistischen Okkupation nicht zerstören konnten und der in den letzten Jahren einen so regen und fruchtbaren Kontakt ermöglicht hat.” The Rev. Dr. Werner-Christoph Schmauch 46 Ash Street Executive Director Emeritus North Conway NH 03860 USA New Hampshire World Fellowship Center [email protected] 603 356 5208 15