Paartherapie bei sexuellen Störungen - ReadingSample - Beck-Shop

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Paartherapie bei sexuellen Störungen
Das Hamburger Modell - Konzept und Technik
Bearbeitet von
Margret Hauch
1. Auflage 2013. Taschenbuch. 216 S. Paperback
ISBN 978 3 13 139452 1
Format (B x L): 17 x 24 cm
Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie >
Familientherapie, Paartherapie
Zu Inhaltsverzeichnis
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48
3 Wie wird behandelt?
3.1 Das Hamburger Modell der
Paartherapie bei sexuellen
Störungen im Überblick
M. Hauch
Bewährt und flexibel. Das Hamburger Modell der
Paartherapie (Arentewicz u. Schmidt 1980, 1986,
1993) wurde auf der Basis der Ansätze von Masters
und Johnson (1970), Lobitz und LoPiccolo (1972),
Kaplan (1984) und anderen von unserem Thera­
peutInnenteam an der Hamburger Abteilung für
Sexualforschung entwickelt und schon in den 70er
Jahren aufwändig empirisch überprüft (Arente­
wicz u. Schmidt 1980, 1986). Zu diesem Zeitpunkt
dominierten bei den heterosexuellen Paaren, die
professionelle Hilfe suchten, noch die klassischen
sexuellen Funktionsstörungen, d. h. bei Män­
nern Erektions- und Ejakulationsprobleme, bei
den Frauen Erregungs- und Orgasmusprobleme
und Vaginismus (Scheidenkrampf). Für deren Be­
handlung wurde dieses Paartherapie-Konzept ur­
sprünglich auch entwickelt. Das Konzept hat sich
in den vergangenen dreißig Jahren bewährt und
damit die Hoffnungen, die sich auf die hohen kli­
nisch-empirisch erhobenen Erfolgsraten gründe­
ten, weitgehend erfüllt. Es bot aber auch genügend
Raum für die Flexibilität, die notwendig war, um
sich den gewandelten gesellschaftlichen und kli­
nischen Bedingungen zu stellen (Hauch 2004b).
Das Hamburger TherapeutIn­
Entwicklung. nenteam sah sich gleich zu Beginn der Arbeit mit
den vielversprechenden Ansätzen aus den USA
vor die Herausforderung gestellt, diese Konzepte
für die eigenen Arbeitsbedingungen zu adaptie­
ren. Masters und Johnson hatten ihr Konzept im
ländlich strukturierten mittleren Westen der USA
in den als sexualrestriktiv bekannten 50er und
60er Jahren entwickelt. Hamburg war Anfang
der 70er Jahre eine westdeutsche Großstadt, in
der die sog. „sexuelle Liberalisierung“ nicht nur
die öffentliche Meinung durchdrungen, sondern
auch schon weite Teile der Bevölkerung und da­
mit das eigene Klientel erreicht hatte. Darüber
hinaus war die Abteilung für Sexualforschung1
an der damaligen „psychiatrischen und Nerven­
klinik des Universitätsklinikums Hamburg“ ange­
siedelt, sodass es von Anfang an illusorisch gewe­
sen wäre, sich auf die Behandlung von Paaren zu
beschränken, die nur unter sexuellen Funktions­
störungen litten, wie die Indikationskriterien der
US-amerikanischen KollegInnen nahe legten, und
entsprechend solche mit schweren Partnerkonf­
likten und/ oder neurotischer Problematik aus­
zuschließen. Vielmehr waren wir sogar immer
wieder auch mit Paaren konfrontiert, bei denen
gravierende psychiatrische Erkrankungen eine
Rolle spielten. Von daher war klar, dass in unserer
Konzeptualisierung psychoedukative Elemente
und Informationsvermittlung im Sinne von Se­
xualaufklärung im Stellenwert hinter den zentra­
len Gesichtspunkten der psychotherapeutischen
Bearbeitung und einem entsprechend psychody­
namischen Verständnis im Hinblick auf Funktion
und Bedeutungsgehalt der jeweils vorliegenden
Problematik zurücktraten. Diese Aspekte sind
ausführlich und in zunehmender Ausdifferenzie­
rung über die drei Auflagen von „Sexuell gestörte
Beziehungen“ (Arentewicz u. Schmidt 1980, 1986,
1993) gewürdigt, bilden sich. aber bestenfalls
in Ansätzen in der Formulierung des Manuals
(Hauch et al. 1980, 1986, 1993) ab. Dabei spielt si­
cher eine Rolle, dass es in den 70er Jahren, anders
als heute, ein einigermaßen umstrittenes Vorge­
hen war, ein psychotherapeutisches Konzept in
manualisierter Form zu publizieren. So entschie­
den wir uns erst nach langem Abwägen das Ma­
nual, das zunächst nur für den „Hausgebrauch“
gedacht war, in die Publikation über unser Kon­
zept der Paartherapie einzubeziehen. Die Ausdif­
ferenzierung des konkreten therapeutischen Vor­
gehens erfolgte vor allem vor dem Hintergrund
zunehmender Erfahrung durch die Reflexion der
Arbeit mit den Verhaltensvorgaben unter psycho­
1
Seit 2002 Institut für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Univer­
sitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
3.1 Das Hamburger Modell der Paartherapie bei sexuellen Störungen im Überblick
son2 setzten die/ den PartnerIn ohne manifeste
Symptombildung eher als eine Art Hilfsthera­
peutIn ein (vgl. z. B. auch Kockott u. Fahrner
2004). Wir jedoch verstehen die sexuelle Pro­
blematik als eine Störung, die sich in der Be­
ziehung des jeweiligen Paares manifestiert,
auch wenn nur bei einem/ einer eine mani­
feste Symptombildung vorliegt. Ihr kann eine
wichtige Stabilisierungsfunktion für die jewei­
lige Partnerschaft bzw. die psychische Balan­
ce der Beteiligten zukommen. Dabei gehen wir
davon aus, dass die individuell biographischen
Erfahrungen, gerade auch die frühen Bezie­
hungserfahrungen beider PartnerInnen bei der
Partnerwahl zum Tragen kommen und zumin­
dest bei länger dauernden Partnerschaften ei­
ne bedeutsame Rolle spielen, sowohl im Hin­
blick auf konstruktive wie auch auf destruktive
Strukturen. Das bedeutet, dass beide sich dar­
auf einlassen müssen, an ihrer jeweils per­
sönlichen Veränderung zu arbeiten, wenn sie
vom therapeutischen Prozess profitieren wol­
len. Dieses Verständnis beinhaltet auch sys­
temische Elemente. Dabei verstehen wir die
Partnerschaft als einen bedeutsamen Ort sexu­
eller Inszenierungen, sexuellen Verhaltens und
Erlebens, und nicht Sexualität als Ausdruck der
Paarbeziehung, was Clement (2001, 2004) zu
Recht problematisiert hat.
analytischer Supervision. Die Mehrzahl der sich
entwickelnden schrittweisen Modifikationen der
therapeutischen Techniken war zunächst aber so
subtil und schwer fassbar, die Struktur des Ma­
nuals dagegen so klar auf Zielorientierung ange­
legt, dass wir uns bei den Bearbeitungen bis ein­
schließlich der Ausgabe 1993 weitgehend auf die
Aufnahme bzw. Ausweitung ganzer Abschnitte
beschränkten, z. B. die Integration der körper­
lichen Selbsterfahrung auch für Männer zu be­
rücksichtigen, die nicht Symptomträger waren.
Die umfassende Integration der vielfältigen Mo­
difikationen erfolgt erstmals mit dem hier vorge­
stellten, völlig neu bearbeiteten Manual.
Überblick. Wir wollen im Folgenden zunächst un­
ser Konzept kurz vorstellen, dann auf wichtige Mo­
difikationen eingehen, anschließend wollen wir das
inzwischen zum zentralen Agens entwickelte Prin­
zip Selbstverantwortung in der praktischen Anwen­
dung vorstellen und schließlich unterschiedliche
Setting- und Dynamikvarianten darstellen.
Unser Konzept. Bei der Paartherapie nach dem
Hamburger Modell handelt es sich um ein Kon­
zept, bei dem die konfliktorientierte Arbeit mit
Verhaltensvorgaben im Hinblick auf die sexuelle
Interaktion der PartnerInnen im Zentrum steht.
»Für uns ist Sexualität nicht so sehr das Symptomziel-
gebiet, sondern der rote Faden, an dem entlang sich
Therapie vollzieht, oder anders ausgedrückt: das Feld für
therapeutische Arbeit. Konkrete sinnliche Erfahrungen
ermöglichen den Patienten, ihre Ängste, ihre Konflikte
und dahinter ihre Gelüste, ihre Feindseligkeit, ihre
Unterdrückungsmechanismen und auch ihre Probleme
miteinander schrittweise zu erkennen, zu erleben und zu
bearbeiten. (Arentewicz u. Schmidt 1993, S. 64)
«
Zentrale Elemente der Paartherapie
Zunächst wollen wir drei grundlegende Elemente
unseres Konzeptes der Paartherapie in den Blick
nehmen:
1. Das Paar wird behandelt. Dieses Prinzip wur­
de von Masters und Johnson übernommen und
findet sich in vielen Ansätzen zur Behandlung
sexueller Funktionsstörungen wieder (Wieder­
mann 1998, Schmidt 2001). Masters und John­
49
2. Die psychotherapeutische Arbeit orientiert
sich am Fokus körperlicher Erfahrung und
Interaktion. Die Frau und der Mann werden
angeleitet, zu Hause den körperlich-sexuellen
Umgang mit der/ dem PartnerIn, aber auch mit
sich selbst nach bestimmten Regeln zu gestal­
ten. Das bietet die Chance zur unmittelbaren
Realitätskontrolle bei Ängsten und bedroh­
lichen Fantasien, sowohl im Hinblick auf die
Selbstwahrnehmung als auch auf die Wahr­
nehmung der/ des PartnerIn. „Die Erfahrungen
mit den ‚Übungen‘ dämmen die überdimensi­
onale Auslegung der Ängste ein, machen ihre
2
Diese Form der Konzeptualisierung kann auch ver­
standen werden als Grundlage der Versuche, bei Pa­
tientInnen ohne PartnerInnen Paartherapien unter
Einbeziehung von so genannten SurrogatpartnerInnen
durchzuführen, wie z. B. auch von Masters und Johnson
zunächst durchgeführt, dann aber ab Anfang der 80er
Jahre aus verschiedenen Gründen eingestellt wurde.
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
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3 Wie wird behandelt?
Realitätsprüfung möglich und so ihre Irratio­
nalität erlebbar“ (Arentewicz u. Schmidt 1993,
S. 66). Diese unmittelbaren körperlich-sinn­
lichen Erfahrungen sind augenscheinlich schon
per se ein wichtiges Agens der möglichen Ver­
änderungen im therapeutischen Prozess, u. a.
da sie Mechanismen wie Rationalisierung und
Intellektualisierung in vielfältiger Weise unter­
laufen und auch kulturelle Normvorgaben wie
z. B. das Leistungsprinzip konterkarieren und
in gewisser Weise aushebeln können. Schmidt
(2005a) sagt in diesem Zusammenhang: „Die
‚übende‘ Paartherapie (…) ist körperlich und
macht etwas möglich, das wir theoretisch
noch besser verstehen müssen: enkorporierte
Erfahrung, enkorporiertes Wissen.“ Die Erfah­
rungen, die gemacht werden, die Affekte, Kon­
flikte, Widerstände, die in der Interaktion des
Paares auftauchen, werden dann in der the­
rapeutischen Sitzung besprochen. Dabei kön­
nen beispielsweise Übertragungsanteile aus
der Konstellation der Ursprungsfamilie direkt
in der aktuellen Partnerschaft, da wo sie eine
sehr destruktive Dynamik entwickeln können,
thematisiert und bearbeitet werden. Übertra­
gungs- und Gegenübertragungs-Beziehungen
zwischen PatientInnen und TherapeutInnen
stellen dann ein weiteres, aber nicht mehr das
zentrale Feld der therapeutischen Beziehungs­
arbeit dar.
3. Sexualität ist explizit Thema, Vehikel und
Fokus der psychotherapeutischen Arbeit.
Das konkrete Verhalten und die jeweiligen Er­
fahrungen der PartnerInnen in der sexuellen
Begegnung kommen in der therapeutischen
Sitzung zur Sprache, d. h., sie werden benennund verhandelbar, auch für das Paar unter­
einander. Das ist von besonderer Bedeutung
angesichts der Tatsache, dass in vielen psy­
chotherapeutischen Ansätzen das Thema Se­
xualität und damit das ganze Konfliktfeld
anscheinend strukturell und systematisch aus­
geblendet wird und sogar in der Psychoana­
lyse schon seit längerem von der Verflüchti­
gung der Sexualität die Rede ist (vgl. z. B. Parin
1986). Das Regelset, auf das wir noch genauer
eingehen werde, bietet einen klar strukturier­
ten Rahmen für die Mikroanalyse der sexuel­
len Interaktion zwischen den PartnerInnen,
innerhalb dessen die individuell und partner­
dynamisch akzentuierte sexuelle Funktion und
Bedeutung der jeweiligen Ängste, Konflikte
und Abwehrstrukturen wahrnehmbar, thema­
tisiert und (neu) verstanden werden können.
„Die therapeutische Arbeit mit den sexuellen
Erfahrungen ermöglichst auch einen beson­
ders unmittelbaren Zugang zum Unbewuss­
ten, sie arbeitet ja im Zentrum von Affekt und
Abwehr“ (Arentewicz u. Schmidt 1993, S. 64).
Das heißt, dass die konkreten sexuellen Erfah­
rungen mit sich selbst und im Umgang mit der/
dem PartnerIn als Vehikel dienen, um sich aus
alten Konfliktstrukturen zu lösen und die bis­
her notwendige Schutzfunktion der sexuellen
Symptomatik überflüssig werden zu lassen.
Überblick über das therapeutische
Vorgehen
Indikationsgespräche. Die Indikationsgespräche
dauern in unserer poliklinischen Praxis norma­
lerweise 1–3 Sitzungen von 50–60 Minuten, aber
meist länger, wenn es um das Problem sog. „sexuel­
ler Lustlosigkeit“ geht. Hier gilt es besonders sorg­
fältig abzuklären, ob nicht ein ängstlich abgewehr­
ter Trennungswunsch oder besondere Belastungen
im Alltag, etwa nach der Geburt von Kindern, der
fehlenden sexuellen Lust zu Grunde liegen und ob
derjenige (häufig die Frau), der das Problem präsen­
tiert, eigene Veränderungswünsche im Hinblick auf
die Sexualität hat. Diese Klärungsphase entspricht
etwa dem, was in den USA als vorgeschaltete „Mari­
tal Therapy“ bezeichnet wird. Auf jeden Fall ist eine
Indikation zur Paartherapie erst zu stellen, wenn
mit beiden PartnerInnen gesprochen worden ist.
Einzelexplorationen und Round Table. Die ei­
gentliche Therapie beginnt mit ausführlichen
Einzelexplorationen. Sie umfassen thematisch die
aktuelle Lebenssituation einschließlich der sexu­
ellen Problematik, die individuelle Biographie mit
Schwerpunkt auf der psychosexuellen Entwick­
lung und der Entwicklung der Partnerschaft.
Neben der Erfassung negativer Erfahrungen, die der
Hypothesenbildung über die individuelle und part­
nerdynamische Funktion der sexuellen Symptomatik
dienen, geht es auch darum, Stärken und konstruktive
Bewältigungsmuster herauszuarbeiten, auf die sich in
der weiteren Arbeit aufbauen lässt, d. h. es geht da­
rum, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen.
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
3.1 Das Hamburger Modell der Paartherapie bei sexuellen Störungen im Überblick
Die TherapeutInnen entwickeln aus den so ge­
wonnenen Informationen – dazu gehört auch die
Analyse erster Übertragungs- und Gegenübertra­
gungsreaktionen (vgl. Kleber 1994) – ein Erklä­
rungskonzept, das sie in der folgenden gemein­
samen Sitzung (sog. „Round Table“) mit dem Paar
vor und zur Diskussion stellen. Ziel ist es, mit dem
Paar gemeinsam ein Verständnis bezüglich Entste­
hung und Funktion der aktuellen Problematik zu
erarbeiten, um beide erst einmal zu entlasten und
eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu entwickeln,
auf die im Verlauf der Therapie immer wieder Be­
zug genommen werden kann.
Erste Vereinbarungen. Im zweiten Teil dieser ers­
ten gemeinsamen Sitzung nach den Explorations­
gesprächen wird mit dem Paar vereinbart, dass
sie bis auf weiteres auf Geschlechtsverkehr, Ge­
schlechtsverkehrsversuche und genitales Petting
„verzichten“. Das hieß früher bei uns ungebrochen
„Koitusverbot“ in der Tradition des Erlaubens und
Verbietens, die bei dem therapeutischen Konzept
von Masters und Johnson eine große Rolle spielte
und möglicherweise auch Anflüge von therapeu­
tischen Größenfantasien enthielt. Die Kehrsei­
te war und ist noch immer, dass besonders uner­
fahrene TherapeutInnen sich schwer tun, dies der/
dem PartnerIn, immer noch entsprechend den
gängigen heterosexuellen Klischees häufiger dem
Mann, der in der Beziehung stärker auf mehr Se­
xualität gedrängt hat, zuzumuten. Das ändert sich
erst, wenn sie die Erfahrung gemacht haben, wie
entlastend eine solche Vereinbarung auch für die/
den „drängende/n“ PartnerIn sein kann. Jetzt, da
im Rahmen der Umbrüche im Geschlechterver­
hältnis auch immer mehr Männer eingestehen
können, dass die gängigen Sexualnormen auch sie
unter Druck setzen, ist es leichter geworden, sich
schon an dieser Stelle gleichsam mit dem Erwach­
senen-Ich der PartnerInnen zu verbünden. Dazu
wird Ihnen erläutert und kognitiv nachvollziehbar
gemacht, dass unsere langjährigen Erfahrungen
gezeigt haben, dass so der Raum geschaffen wird
für neue emotionale und sexuelle Erfahrungen im
Zusammensein. Die Widerstände dagegen sind bei
den Paaren erfahrungsgemäß meist deutlich ge­
ringer als bei unerfahrenen TherapeutInnen.
Erste Verhaltensvorgaben. Am Ende dieser ersten
gemeinsamen Sitzung werden dem Paar die ersten
Verhaltensvorgaben mitgegeben. Beide werden
aufgefordert, sich bis zur nächsten Sitzung 2-mal
51
Zeit zu nehmen, um miteinander neue körperliche
Erfahrungen zu machen.
Sie brauchen keineswegs zu warten, bis sie in „der rich­
tigen Stimmung“ sind oder „Lust“ auf die Übungen
bekommen. Das ist in keiner Weise Voraussetzung für
die Erfahrungen, die sie mit den Verhaltensvorgaben
machen können. 3
Sie sollen sich an einen bequemen Ort – das kann,
muss aber nicht das Schlafzimmer sein – zurück­
ziehen und dafür sorgen, dass sie möglichst nicht
gestört werden. Die Lichtverhältnisse sollen so
sein, dass sie sich gegenseitig gut sehen können.
Beide sollen sich ganz entkleiden. Dann begin­
nt das Streicheln: der Mann oder die Frau, i. d. R.
die-/ derjenige, welche/r sonst aktiver ist, wird
aufgefordert, sich in möglichst bequemer Haltung
auf den Bauch zu legen. Die/ der andere soll dann
anfangen, die/ den Liegende/n zu streicheln. Dabei
soll die ganze Körperrückseite einbezogen wer­
den, von den Haaren bis zu den Zehen. Es kann
sanft und fest, schnell und langsam usw. gestrei­
chelt werden. Nach ca. 5 Minuten – dabei sollte
ruhig eine Uhr zu Hilfe genommen werden – gibt
die/ der „Aktive“ das Zeichen zu wechseln und die
Rollen werden getauscht. Nach weiteren 5 Minu­
ten geschieht dies wieder; dann legt sich die/ der
„Passive“ auf den Rücken und lässt sich auf der
Vorderseite streicheln. Brüste und Genitalbereich,
deren Berührung gerade Frauen und Männer in
sexuell gestörten Beziehungen massiv unter Er­
folgsdruck setzen und damit Angst auslösen kann,
sollen von Berührungen zunächst ausgespart wer­
den. Zum Abschluss liegt dann jede/r nochmals auf
dem Bauch und lässt sich am Rücken streicheln.
Prinzip Selbstverantwortung. Den PatientInnen
wird als wichtiges Prinzip4 mitgegeben, für sich
selbst Verantwortung zu übernehmen und nichts
3
Das ist ein ganz zentrales Element der Verhaltensvor­
gabe, und zwar nicht nur bei Paaren, die wegen des
Problems sexueller Lustlosigkeit in Behandlung kom­
men. Eine ähnliche Akzentuierung findet sich bei Retzer
(2004), der lustlosen Paaren den Geschlechtsverkehr als
lustfreie eheliche Pflicht verordnet (vgl. auch Schmidt
2005b).
4 Zur spezifischen doppeldeutigen Valenz dieser thera­
peutischen Intervention vgl. Kap. 3.4: Prinzip Selbstver­
antwortung; zum therapeutischen Vorgehen Kap. 8.1.
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
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3 Wie wird behandelt?
nur der/ dem anderen zuliebe zu tun oder auszu­
halten. Die/ der Streichelnde soll ihre/ seine Aktivi­
täten danach ausrichten, was ihr/ ihm gefällt, wo­
rauf sie/ er gerade Lust hat oder neugierig ist und
nicht versuchen, es der/ dem anderen besonders
schön zu machen. Auch in der Rolle als „Passive“
sollen sie unterschiedliche Wahrnehmungsquali­
täten wie warm/ kalt, hart/ weich, schnell/ lang­
sam usw., wie sie vom Streichelnden vorgegeben
werden, auf sich wirken lassen, versuchen, sich
dabei zu entspannen, und dann sofort Einspruch
erheben, ein sog. „Veto“ einzulegen, wenn etwas
unangenehm wird, z. B. zu hart, kalt, kitzelig usw.
Dieser Einspruch muss auf jeden Fall respektiert
werden, d. h. die/ der Streichelnde muss die als un­
angenehm erlebte Berührungsform verändern, um
herauszufinden, ob das Unbehagen dann nachlässt,
was meistens der Fall ist. Falls nicht, beispielswei­
se wenn jemand friert, soll sie/ er die Übung be­
enden und zu einem anderen Zeitpunkt, möglichst
unter günstigeren Temperaturbedingungen, wie­
der aufnehmen.
Alle Erfahrungen sind wichtig für den Verände­
rungsprozess, auch die unangenehmen, sofern sie
nicht krampfhaft ausgehalten werden, da sie dann
mögliche Fortschritte behindern können. Hier
liegt eine zentrale Bedeutung des Prinzips Selbstverantwortung.
Diese detaillierte Präsentation hat sicher etwas
von einer Zumutung5. Sie soll aber dazu dienen,
einen Assoziationsprozess dazu in Gang zu setzen
– vielleicht schon jetzt, vielleicht auch erst später
– was hier u. U. alles angerührt, aufgebrochen, man
könnte sagen „getriggert“ werden kann.
Kein neues Idealbild. Bei diesen sehr durchstruk­
turierten, klaren Vorgaben geht es nicht um ein
neues Idealbild, wie „richtige“ sexuelle Interakti­
on stattfinden sollte. Das so zu interpretieren, hie­
ße unser Konzept gründlich misszuverstehen. Die
Vorgaben unterscheiden sich so deutlich von den
gängigen Sexualpraktiken, dass bisher alle Paare
sich hier neuen Erfahrungen aussetzen, so unter­
schiedlich ihre bisherigen sexuellen Erfahrungen
und ihre individuelle und Partnerproblematik auch
sein mag, Die alten, eingefahrenen Rituale der Ver­
5
Das gilt sicher noch deutlicher für die Lektüre des Ma­
nuals, das in seiner Detailliertheit und notwendigen
Redundanz wohl einige Ansprüche an die LeserInnen
stellt.
meidung bzw. die Reinszenierung von Ängsten
und Konflikten werden aufgebrochen, müssen sich
in diesem Raster neu konstellieren, werden leich­
ter identifizierbar, besser verstehbar und einer Be­
arbeitung eher zugänglich.
Im Laufe der Therapie wird eine Fülle therapeu­
tisch relevanten Materials produziert, das im Rah­
men eines zeitlich so begrenzten Konzepts kaum
bearbeitbar ist. Dazu zählen etwa Streitpunkte, die
sich scheinbar auf Äußerlichkeiten beziehen wie
etwa auf die Raumtemperatur, die in Wirklichkeit
jedoch oft das Feld für einen virulenten Macht­
kampf des Paares darstellen. Es zählt aber auch
die Inszenierung von Verschmelzung im Dienste
der Konfliktverleugnung dazu, wie sie bei Paaren,
die die sog. „sexuelle Lustlosigkeit“ der Frau in die
Therapie geführt hat, besonders häufig anzutreffen
ist. Darüber hinaus sind auch das tentativen Aus­
leben aggressiver Impulse in diesem geschützten
Rahmen und die Angst, die diese Erfahrung zu­
nächst auslösen kann, dazu zu rechnen. Hier ist
es dann notwendig, aus den Hypothesen über die
individuelle und partnerdynamische Funktion
des sexuellen Symptoms einen Fokus abzuleiten,
der die therapeutische Arbeit strukturiert und
die für die therapeutische Technik vorgegebenen
Leitlinien akzentuiert. Diese Leitlinien beinhalten
vor allem, positive Erfahrungen der PartnerInnen
verstärkend aufzugreifen, bei der Mikroanalyse
der sexuellen Interaktion darauf zu achten, wel­
che Ängste und Konflikte erkennbar werden und
auftauchende Widerstände erst zu thematisieren,
wenn sie persistieren.
Weitere Schritte. Wir wollen an dieser Stelle
noch einen kurzen Überblick über die Abfolge der
weiteren Schritte für die Verhaltensanleitungen
geben6. Die Anfangs- und Endphase, das Streicheln
auf der Körperrückseite, bleibt bei allen weiteren
Schritten erhalten. Nach den ersten Sitzungen
wird das Prinzip Selbstverantwortung insofern er­
weitert, als die PartnerInnen in der „passiven“ Rol­
le, wenn sie konkrete Verhaltenswünsche an die/
den Streichelnden haben, diese ansprechen sollen.
Der/ dem Angesprochenen ist freigestellt, auf diese
Wünsche einzugehen oder aber ihre Erfüllung im
Sinne der Grundregeln abzulehnen, wenn sie/ er
sich dadurch gestört oder überfordert fühlt o. Ä..
Darüber hinaus werden die PatientInnen auch auf­
gefordert, im Rahmen des aktiven, explorativen
6
Für eine ausführliche Darstellung s. Kap. 8.
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
3.1 Das Hamburger Modell der Paartherapie bei sexuellen Störungen im Überblick
Streichelns „Grenzen auszuloten“7, d. h., sie sol­
len beispielsweise ausprobieren, wie weit sie den
Druck beim Streicheln verringern können, bis die/
der andere ein Veto gibt, weil es anfängt zu kitzeln,
oder aber sie/ er selbst keinen Hautkontakt mehr
spürt. In der anderen Richtung können sie z. B. den
Druck so weit steigern, bis die/ der andere ihr sein
Unbehagen ausdrückt, oder aber der/ dem Strei­
chelnden selbst z. B. „der Arm lahm wird“. Dieses
Element wird auch in den weiteren Abschnitten
immer wieder aufgegriffen, beispielsweise auch
beim „Erkunden im Genitalbereich“. Dabei wird
immer wieder deutlich, wie oft eigene Ängste, z. B.
im Hinblick auf lustvoll aggressive Impulse, auf die/
den PartnerIn projiziert und die eigenen Ängste als
deren/ dessen Grenzen fantasiert werden.
Im nächsten Schritt wird die Aussparung der Ge­
nitalien und Brüste zurückgenommen. Sie sollen in
das Streicheln einbezogen werden, aber zunächst
nur oberflächlich, quasi im Vorbeistreicheln. An­
schließend wird das Paar angeleitet, sich gegensei­
tig spielerisch und explorierend intensiver mit den
Genitalien zu beschäftigen. Dieser Abschnitt geht
über in entsprechend spielerisch-explorativen
Umgang mit intensiver Stimulation und Erregung,
zunächst ohne, später mit Orgasmus, sofern sich
die PatientInnen dafür entscheiden und dieser sich
leicht und ohne neuen Leistungsdruck einstellt. In
den letzten Abschnitten kann dann auch die Ein­
führung des Gliedes in die Scheide in den spiele­
risch-experimentierenden Umgang einbezogen
werden. Im Verlauf dieses Prozesses werden die
strengen Reglementierungen im Hinblick auf Zeit­
vorgaben, Aktivität/ Passivität usw., die zunächst
sowohl Schutz als auch Konfrontation beinhalten,
allmählich abgebaut. In der Schlussphase werden
dann alle Vorgaben zurückgenommen und dem
Paar die Entscheidung über die Gestaltung ihrer
körperlich-sexuellen Begegnung ganz überlassen.
Eine Ausnahme bildet allerdings das Prinzip Selbstverantwortung, das beiden als wichtige Grundvorausset­
zung befriedigender sexueller Beziehungen – in wel­
cher Form auch immer – mit auf den Weg gegeben
wird.
7
53
Individuelle körperliche Selbsterfahrung. Nach
den ersten gemeinsamen Erfahrungen werden so­
wohl die Frau als auch der Mann angeleitet, auch
allein Erfahrungen mit dem eigenen Körper zu
machen. Diese Anleitungen folgen ähnlichen Prin­
zipien wie die Anleitungen für die gemeinsamen
Übungen. Auf die Einzelerfahrungen kann dann in
den gemeinsamen Übungen aufgebaut werden.
Alle Paare können profitieren. Die Zeit, die Paare
für die einzelnen Abschnitte brauchen und sich
nehmen wollen, variiert beträchtlich, abhängig
von der jeweiligen Problematik, lässt sich aber nur
begrenzt mit den unterschiedlichen Symptombil­
dern in Beziehung setzen. Nach unseren Erfah­
rungen können alle Paare von allen Abschnitten
profitieren, wenngleich in sehr unterschiedlicher
Form. So kann vielleicht ein Paar, das sich in Fol­
ge einer langjährigen Erektionsstörung des Man­
nes aufgrund der damit verbundenen Frustrati­
onen und Kränkungen körperliche Kontakte seit
langem ganz eingestellt hat, die ersten Streichel­
übungen, geschützt vor sexuellem Leistungsdruck,
als Wiederbelebung lang ersehnter körperlicher
Nähe und Intimität genießen. Dann können even­
tuell beide sich in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt
fühlen, da es doch einen Bereich gibt, in dem sie
lustvoll miteinander umgehen können. Eine Frau
und ein Mann dagegen, die wegen sexueller Lust­
losigkeit der Frau in Behandlung gekommen sind
und berichten, dass sie jeden Abend mindestens
eine Stunde miteinander kuscheln, können auf die
Anleitung sehr irritiert reagieren nach dem Mot­
to: „Das können wir doch, deshalb sind wir nicht
hier!“, um dann bei den ersten Erfahrungen nach
diesen Vorgaben verunsichert festzustellen, vor
welche Herausforderung sie sich gestellt seh­
en, wenn sie beispielsweise durch die klare Tren­
nung von aktiver und passiver Rolle den Weg in
die vertraute symbiotische Verklammerung ver­
stellt sehen, mit der sie möglicherweise bisher alle
aggressiven Impulse und damit weite Bereiche le­
bendiger, lustvoller Sexualität in ihrer Partner­
schaft erstickt haben. Ähnliches gilt auch für die
anderen Abschnitte der Verhaltensanleitungen,
zumindest bis zum Abschnitt „Spiel mit Erregung“
(Kap. 8.4).
Diese Vorgabe zielt darauf, eingefahrenes Vermeidungs­
verhalten aufzulösen, unterscheidet sich aber von der
therapeutischen Haltung her deutlich von Interventio­
nen wie beispielsweise dem „größtmöglichen, gerade
noch geduldeten Übergriff“ (Clement 2004, S. 183).
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
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3 Wie wird behandelt?
In unserer klinischen Praxis hat es sich jedenfalls be­
währt, mit allen Paaren die ersten Abschnitte der
Reihe nach durchzuarbeiten, jeweils so lange, wie
das Paar davon profitiert. Profitieren heißt ja nicht
nur, sich den Schwierigkeiten, Ängsten und Konflik­
ten stellen, sondern auch z. B. über angenehme und
lustvolle Erfahrungen den Kontakt zu verschütteten
Ressourcen wieder herzustellen.
Damit unterscheiden wir uns von US-amerika­
nischen Tendenzen, möglichst spezielle Angebote
für die verschiedenen Symptomatiken zu entwi­
ckeln, die inzwischen auch im deutsprachigen
Raum zunehmend aufgegriffen werden (s. z. B.
Hoyndorf 1995, Kockott u. Fahrner 2002, 2004,
Gromus 2002). Aber auch wenn dieser „Arbeits­
rahmen“ für sehr unterschiedliche Paare mit sehr
unterschiedlichen Problemen vorgehalten wird,
ist er nicht zu verwechseln mit den sog. „One-sizefits-all“-Ansätzen, die in den letzten Jahren vor
allem in den USA zunehmend in die Kritik gera­
ten sind (z. B. Kleinplatz 2001), lässt er doch Raum
für „micro, individualised ‚interventions‘, highly
sensitive to what lies within a given individual“
(Kleinplatz 2001, S. 113), wie im Abschnitt zum
„Begriff der Übung“ ausgeführt wird.
Entfaltung im geschützten Rahmen. Es geht je­
doch nicht nur um das Individuum, die einzelne
Frau, den einzelnen Mann, sondern auch um die
spezifische partnerdynamische Konstellation, die
sich beim jeweiligen Paar daraus ergibt. Es geht dar­
um, mit den Verhaltensvorgaben, den „Übungen“8,
einen Raum zu öffnen, gleichsam eine Bühne zur
Verfügung zu stellen, auf der sich die Potenzen und
Dramen der beteiligten PartnerInnen in ihrer ge­
genseitigen Interdependenz inszenieren und ent­
falten können. So können zum einen die zentralen
Konflikte und Ängste wahrnehmbar und bearbeit­
bar werden. Zum anderen – und das liegt unserer
Einschätzung, dass alle Paare von allen Abschnit­
ten profitieren können zu Grunde – können in den
Abschnitten, die von beiden eher angenehm erlebt
8
Nach langen Diskussionen kamen wir zu dem Ergebnis,
dass wir auf den missverständlichen Begriff „Übung“
nicht verzichten können und wollen. Wir benutzen ihn
aber im Sinne benutzen wie im Abschnitt „Der Begriff
der Übung“ (S. 56) dargestellt und setzen ihn deshalb in
Anführungszeichen.
werden, in diesem geschützten Rahmen verschüt­
tete Ressourcen (re-) mobilisiert werden (s. oben).
Die angenehmen, schönen, lustvollen Erfahrungen
können zur Stärkung des je individuellen Selbst­
wertgefühls beitragen und als Stabilisierung der
Partnerbindung erlebt werden und so eine gute
Grundlage für oft kräftezehrende Auseinanderset­
zung mit den Ängsten und Konflikten bieten. Auch
auf die therapeutische Beziehung wirken sie sich
erfahrungsgemäß eher stabilisierend aus. Wenn
darüber hinaus in Betracht gezogen wird, dass es
auch für erfahrene Sexual- und PaartherapeutIn­
nen immer wieder überraschend ist, in welchen
Phasen bei welchem Paar welche der Akzentuie­
rungen zum Tragen kommen, erscheint es wenig
sinnvoll, im Sinne einer falsch verstandenen Öko­
nomisierungs- und Individualisierungsvorgabe auf
die „Potenz des Settings“ (Schmidt 1994) zu ver­
zichten. Wir haben immer wieder die Erfahrung
gemacht, dass die auf Vorgaben von Masters und
Johnson fußende Abfolge der einzelnen Schritte,
die sich in mancher Hinsicht als genial erwiesen
hat und die in gewisser Weise wichtige Stadien der
ontogenetischen Entwicklung abbildet, den Pati­
entInnen die Möglichkeit einer Art körperbiogra­
phischen Zeitreise geben kann, in der mehr oder
weniger alle wichtigen und kritischen Entwick­
lungen in erstaunlich kurzer Zeit berührt und re­
aktualisiert werden. Und das Schöne ist, sie neh­
men die TherapeutInnen mit auf diese Reise. Das
weitet und konzentriert den Blick und kann gleich­
zeitig vor dem omnipräsenten Sog schützen, dem
PatientInnen wie TherapeutInnen ausgesetzt sind,
doch „gefälligst“ so schnell, effektiv und kosten­
günstig wie möglich die „gestörte Funktion“ zu
beheben. Im Hinblick darauf dominiert aber ja
zunehmend die medikamentöse Behandlung das
Feld und, so paradox das klingt, so kann das für die
therapeutische Arbeit auch eine Entlastung dar­
stellen. Das kann aber nur gelingen, wenn sich die
TherapeutInnen auf ihr ureigenstes Feld besinnen,
in Symptomen auch Lösung(sversuche) – wie kre­
ativ oder leidvoll auch immer – zu sehen, die auf
die Probleme verweisen, die einem erfüllteren und
glücklicheren Leben entgegenstehen, statt sich auf
einen unheilvollen Konkurrenzkampf einzulassen,
der nicht nur nicht zu gewinnen ist, sondern den
zu gewinnen fatal wäre.
Kontinuierlich reflektierte Praxis. Wir wollen an
dieser Stelle nochmals nachdrücklich darauf hin­
weisen, dass es sich um ein in reflektierter Praxis
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
3.2 Funktionen der Verhaltensanleitungen im Wandel
entwickeltes und empirisch auf seine Effektivität
hin überprüftes therapeutisches Konzept han­
delt, dessen Wirkfaktoren auf der Basis lerntheo­
retischer, psychodynamischer und systemischer
Ansätze von uns und anderen bisher wohl nur an­
satzweise theoretisch erfasst sind (s. Kleber u. Ga­
ledary 2003, Schmidt 2005b). Das gilt wohl beson­
ders auch für die Effekte der körperorientierten
Erfahrung. Das scheint aber in vieler Hinsicht nicht
nur von Nachteil zu sein. So hat sich beispielswei­
se die Annahme von Masters und Johnson, dass
sich durch Teamtherapien in der Viererkonstella­
tion Übertragungs- und Gegenübertragungspro­
zesse weitgehend ausschließen lassen, nicht be­
wahrheitet, was aber für die therapeutische Arbeit
keineswegs negativ war. Vielmehr werden gerade
im TherapeutInnenteam Übertragungs- und Ge­
genübertragungsprozesse besonders gut abgebil­
det und lassen sich dadurch leichter verstehen und
bearbeiten (Kleber 1994).
Selbstverständlich haben sich im Lauf der inzwi­
schen dreißig Jahre, während derer wir mit diesem
Konzept gearbeitet haben, eine Reihe von Akzent­
verschiebungen, Neuerungen und Ausdifferenzie­
rungen ergeben, für deren Ausgestaltung auch die
Anregungen aus den Reihen der Weiterbildungs­
teilnehmerInnen eine wichtige Rolle spielten. Wir
haben diese im Manual (Kap. 4–10) eingearbeitet
und wollen im Folgenden einige der Weiterent­
wicklungen zusammenfassend vorstellen.
3.2 Funktionen der Verhaltens­
anleitungen im Wandel
Die Tücken des „Sensate Focus“
M. Hauch
Konzeptentwicklung. Mit der Einführung des
„Sensate focus“ in die Behandlung von Paaren mit
sexuellen Problemen, bei dem die Frau und der
Mann angeleitet werden, sich abwechselnd unter
Aussparung der Genitalien gegenseitig zu strei­
cheln, ist Masters und Johnson (1973) zweifellos
ein genialer Coup gelungen9, der auch in dem spä­
9
Dabei ist zu bedenken, dass ihr zentraler Verdienst dar­
in besteht, diverse verstreut vorhandene Behandlungs­
techniken und Elemente zusammengefasst und zu ei­
nem griffigen Konzept integriert zu haben (Arentewicz
u. Schmidt 1993).
55
teren Weiterentwicklungen und Modifikationen
der Paartherapie immer wieder aufgegriffen wur­
de. Während sie aber die praktische Effektivität
überprüften und belegten, blieb die theoretische
Reflektion weitgehend auf Überlegungen zur Auf­
lösung der Leistungsängste und des Selbstverstär­
kungsmechanismus sowie auf die Bedeutung ange­
messener Informationsvermittlung und Lockerung
von Sexualtabus beschränkt. Sie blieben damit im
begrenzten Rahmen ihres explizit von ihnen selbst
eher psychoedukativ verstandenen Ansatzes.
Das gilt auch für andere, die ihr Konzept aufgrif­
fen. So wurde beispielsweise Helen Singer Kaplan
(1984) zwar damit bekannt, psychodynamische As­
pekte in die Sexualtherapie eingebracht zu haben.
Sie verzichtete aber auf eine theoretische Reflexion
der basalen Verhaltensanleitungen unter psycho­
dynamischen Gesichtspunkten. „Psychotherapeu­
tische“ Interventionen – im Unterschied zu eduka­
tiv verstandenen „sexualtherapeutischen“ – waren
„schwierigen“ Paaren mit tief greifenden psy­
chischen Konflikten vorbehalten und wurden eher
additiv gehandhabt (vgl. Wiedermann 1998). Das
bedeutete aber auch, dass einige Widersprüche
zwangläufig unaufgelöst bleiben mussten: So sehr
sich die KonzeptentwicklerInnen (und dazu zählen
wir auch unser Team, vgl. Arentewiczs u. Schmidt
1980) auch bemühten, dem als Problem erkannten
Leistungsdruck in der Sexualität entgegenzuarbei­
ten, es erwies sich doch als schwierig, nicht wieder
in neue Fallen zu geraten. Das lässt sich schon an
der Begriffswahl in den US-amerikanischen Origi­
naltexten gut belegen. Ich will das an zwei Beispie­
len kurz erläutern:
Beispiel 1: Über die Schwierigkeit, „nichtfordernd“ zu streicheln. Eine der zentralen Verhal­
tensaufforderungen am Beginn der Therapie be­
steht darin, dass die/ der eine die/ den andere/n
„nichtfordernd“ streicheln soll („nondemanding“
touching), damit die/ der andere sich entspannen
kann. Was damit gemeint ist, ist ziemlich klar: es
soll beim Streicheln nicht versucht werden, eine
spezielle sexuelle Reaktion bei der/ dem anderen
(Erektion, Lubrikation usw.) zu erreichen. Aber
wie macht man das? Da kann es passieren, dass
bei einem Paar, das wegen einer Ejaculatio prae­
cox des Mannes in Therapie gekommen ist, die
Frau ihren auf dem Rücken liegenden Mann an der
Schulter streichelt, und er – subjektiv unter sexu­
eller Hochspannung stehend – sofort eine Erek­
tion bekommt. Angesicht der obigen Verhaltens­
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
56
3 Wie wird behandelt?
anleitung kann die Frau leicht Angst bekommen,
etwas „falsch“ gemacht oder „versagt“ zu haben.
Das sind Reaktionen, die häufig bei Frauen in einer
solchen Situation vorkommen und die gelegent­
lich in Vorwürfen an den Partner münden, er halte
sich nicht an die Vorgabe, sich zu entspannen. Je­
denfalls ist die Gefahr groß, dass sich hier, gleich­
sam durch die Hintertür, neue Formen von Leis­
tungsdruck einschleichen, die das therapeutische
Konzept zu sabotieren drohen und oft dazu füh­
ren, dass die Paare es vermeiden, sich überhaupt
darauf einzulassen, sich in der vereinbarten Form
miteinander zu beschäftigen.
Beispiel 2: „Pleasuring“ und die „dunkle Seite“ von Sexualität. Ein zweites Beispiel bezieht
sich auf den eigentlich unübersetzbaren Begriff
„­Pleasuring“ (in etwa: der/ dem anderen Vergnü­
gen/ Genuss/ Spaß bereiten), der schon von Mas­
ters und Johnson selbst als Synonym für den „Sen­
sate Focus“ eingeführt wurde und sowohl in der
praktischen Arbeit wie auch in der Literatur wei­
te Verbreitung fand. Hier wird der Blick zielsicher
auf die lichte, lustvolle Seite von Sexualität aus­
gerichtet und damit ein gängiger Erlebnisimpera­
tiv (vgl. Hauch 1993) verstärkt, der sich etwa fol­
gendermaßen formulieren ließe: „Streicheln muss
man genießen (können).“ Damit wird nicht nur
versucht, die dunkle, bedrohliche Seite von Sexua­
lität auszublenden (vgl. z. B. Stoller 1979, Schorsch
1993), die nicht nur bei Paaren mit sexuellen Pro­
blemen, sondern generell für lustvolle Sexuali­
tät von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
Das ist zwangsläufig nur sehr begrenzt und nicht
über einen längeren Zeitraum möglich. Darüber
hinaus werden – und das scheint mir von zen­
traler Bedeutung – die destruktiven Harmonisie­
rungstendenzen (vgl. Schnarch 1991, 2000, 2004,
Hauch 1993, 2000, 2004, Clement 2001, 2004),
welche die Beziehung vieler dieser Paare prägen,
verstärkt und auch hier neuer Leistungsdruck kre­
iert. Diese Tendenz, in den Formulierungen für die
Verhaltensvorgaben neuen Leistungsdruck unre­
flektiert zu transportieren, findet sich leider auch
in neueren deutschsprachigen Publikationen. Dass
wir selbst gleich zu Beginn unserer Konzeptarbeit
den zwar positiv konnotierten, aber deutlich neu­
traleren Begriff „Streicheln“ einführten, verdankt
sich weniger tieferer Einsicht als vielmehr dem
Mangel an angemessener Übersetzungsmöglich­
keit (vgl. Hauch 2000b). Obwohl der Begriff „Strei­
cheln“ das tendenziell verschleiert, wurde doch
relativ schnell deutlich, dass die ersten Abschnitte
der Therapie für die PatientInnen ein günstiger
Rahmen sind, mit ihren polymorph-perversen Im­
pulsen in Kontakt zu kommen sowie mit den da­
mit verbundenen Ängsten und Lüsten.
Neue Akzentuierungen. Im Laufe unserer Arbeit
hat sich, was diesen paradox anmutenden The­
menkomplex angeht, eine deutlich andere Akzent­
setzung entwickelt: durch die zentrale Bedeutung,
die wir dem Prinzip Selbstverantwortung inzwi­
schen einräumen, wird die-/ derjenige, die/ der
streichelt, explizit aus der „Verantwortung“ für die
Reaktionen des Gegenübers entlassen und statt­
dessen jede/r mit dem eigenen Erleben konfron­
tiert. Das eröffnet einen beträchtlichen Freiraum
für neue Erfahrungen, in dem das Muster der Leis­
tungs- und Zielorientierung in neuer Weise erfahr­
bar und von den gängigen Mystifikationen sexuel­
ler Partnerinteraktion entkoppelt wird.
Auch die klassischen störungsspezifischen In­
terventionen wie „stop and go“ und vor allem die
sog. „Squeeze-Technik“ bei der Behandlung von
Männern, die unter vorzeitigem Samenerguss lei­
den (vgl. z. B. Kockott und Fahrner 2002), sind an
Funktions- und Leistungsorientierung fast nicht
zu überbieten und konterkarieren damit einen
entspannten, lustfreundlichen und ergebnisof­
fenen Umgang mit sich selbst und miteinander.
Das Vorgehen, das wir unter dem Begriff „Spiel mit
Erregung“ (s. Kap. 8.4) fassen, führt unter Berück­
sichtigung des Prinzips Selbstverantwortung zu
mindestens gleich „guten“, meist erfreulicheren
Erfahrungen, sodass der Einsatz dieser zum Teil
martialisch anmutenden Techniken längst über­
flüssig geworden ist.
Vor dem Hintergrund dieser Reflexionen wollen
wir jetzt unser derzeitiges Konzept von der Ar­
beit mit Verhaltensvorgaben und dem Begriff der
„Übung/en“ darstellen.
Der Begriff der „Übung“
C. Lange
Begriffsklärung. Traditionell ist in der Sexualthe­
rapie bei der Arbeit mit Verhaltensvorgaben die
Rede von Hausaufgaben (homework-assignments)
und Übungen (excercises). Das ist weitgehend
stimmig für alle Ansätze, die sich in der Tradition
von Masters und Johnson als eher psychoedukativ
verstehen, aber irreführend und missverständlich,
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
3.2 Funktionen der Verhaltensanleitungen im Wandel
wenn wie in unserem Konzept, nicht das „Trainie­
ren“ von z. B. Verhaltensweisen, Stimulationstech­
niken oder gar der Erregbarkeit selbst mit implizit
vorgegeben „Trainingzielen“ den Kern der Arbeit
darstellt, sondern die Bearbeitung von Ängsten
und Konflikten im Vordergrund steht. Dennoch sa­
hen wir uns gezwungen, mangels besserer Alter­
nativen i. d. R. bei dem Begriff „Übungen“ zu blei­
ben, – den wir in Anführungszeichen setzen –,
wenn wir in Kurzform beschreiben wollen, dass
die PatientInnen nach spezifischen Vorgaben zu
unterschiedlichen Zeitpunkten spezifische Erfah­
rungen miteinander gemacht haben.
Keinesfalls kann es in den „Übungen“ darum
gehen, ein von den TherapeutInnen definiertes
„richtiges“ Sexualverhalten zu erlernen und etwa
bestimmte Handgriffe „zu trainieren“.
Parallelen zu projektiven Tests. Die Verhaltens­
vorgaben stellen zunächst einmal einen Rahmen
dar, der von jedem Paar individuell gestaltet wer­
den kann und wird. An der konkreten Ausgestal­
tung der „Übung“ bilden sich sowohl die indivi­
duellen Probleme der/ des Einzelnen als auch die
Paarprobleme ab und können „wie unter einer
Lupe“ in der folgenden Therapiesitzung im Rah­
men der Mikroanalyse der körperlich-sexuellen
Interaktion gemeinsam betrachtet werden. In die­
sem Sinne ist die Festlegung auf bestimmte ein­
deutige Vorgaben von therapeutischer Seite hilf­
reich, damit zwischen Vorgabe und Ausgestaltung
durch die PatientInnen genau unterschieden und
die Bedeutung des jeweiligen Umgangs mit einzel­
nen Übungs­aspekten deutlich werden kann. Dass
diese Vorgaben „einseitig“ von den TherapeutIn­
nen kommen, entlastet die PatientInnen davon,
sich miteinander darüber abstimmen zu müssen,
was dazu führen könnte, dass sie über die Vorga­
ben diskutieren statt sich auf die konkreten Erfah­
rungen einzulassen.
Die in jedem Therapieabschnitt einem festge­
legten Ablauf folgenden Verhaltensvorgaben für
unterschiedlichste Paare mit vielfältigen lernge­
schichtlichen Hintergründen sind die Folie, vor
der sich eine lebendige Auseinandersetzung der
PartnerInnen mit sich selbst und miteinander
und nicht zuletzt auch mit der/ dem TherapeutIn
abspielt und nicht etwa ein Zeichen mangelnder
therapeutischer Flexiblilität oder einer schemati­
schen Herangehensweise, die alle Paare in ein im­
mergleiches Korsett zwingt. So sehen wir in den
Übungsvorgaben gewisse Parallelen zu Vorlagen
57
projektiver Tests: Auch diese sind für alle Proban­
dInnen gleich, werden aber sehr individuell mit
Bedeutungen versehen, die für das Verständnis
psychischer Zusammenhänge und für eine thera­
peutische Veränderung nutzbar gemacht werden
können.
Nach unserem Verständnis können diese Übungen
auch nicht „richtig“ oder „falsch“ durchgeführt wer­
den, sondern „sind wie sie sind“, entsprechen immer
dem gegenwärtigen Stand der Dinge und bieten in
jedem Fall wichtiges Material für die therapeutische
Arbeit.
Charakter eines Experiments. Aus der Bespre­
chung gerade der ersten Übungen eines jeden
Therapieschrittes ergeben sich Hinweise auf in­
haltliche Schwerpunktsetzungen, konkrete Vor­
schläge, dieses oder jenes einmal auszuprobieren
usw. Es werden also auch Verhaltensalternativen
für die nächsten Übungen erarbeitet. Erfolgreich
ist die folgende Übung aber nicht nur dann, wenn
es gelungen ist, die Verhaltensalternative umzu­
setzen, sondern auch, wenn sich die/ der Patien­
tIn auf den Weg gemacht, aber festgestellt hat, was
sie/ ihn daran hindert. Es wird gewürdigt, dass sie/
er sich auf den Versuch eingelassen und dadurch
mehr über sich erfahren hat. Oder aber auch, wenn
sie/ er sich dagegen entschieden hat. So hat jede
der Übungen den Charakter eines Experiments,
das zu Erfahrungen mit sich selbst und der/ dem
PartnerIn einlädt, die neue Erlebnisweisen, tief
greifende Einsichten und Veränderungen ermög­
lichen.
Neue Muster. Durch wiederholtes Aufsuchen be­
stimmter Erfahrungen werden Verhaltensweisen
allerdings auch vertraut und zunehmend selbst­
verständlicher Bestandteil des eigenen Reper­
toires, nur oft in einem anderen Feld, als das Wort
„Übung“ nahe legt: Anhand der Übungen, zu denen
sie sich ja nicht spontan, sondern verabredungsge­
mäß treffen, machen die PatientInnen immer wie­
der die Erfahrung, dass selbst unter ungünstigen
Bedingungen (Müdigkeit, schlechte Stimmung,
Auseinandersetzungen usw.) positive bzw. wich­
tige Erfahrungen möglich sind. Die PatientInnen
etablieren so, dass sie nicht (mehr) auf Grund von
Fantasien darüber, wie es ihnen in einer bestimm­
ten Situation wohl gehen wird, entscheiden, ob sie
sich in diese Situation begeben oder nicht, son­
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
58
3 Wie wird behandelt?
dern in der aktuellen Situation, im Hier und Jetzt,
unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Bedürf­
nisse und Grenzen. Auch das Prinzip Selbstverantwortung (Wahrnehmung von eigenen Bedürfnis­
sen und Grenzen und deren Ausdruck gegenüber
anderen, Umgang mit Bedürfnissen und Grenzen
der/ des PartnerIn usw.) wird durch wiederholte
Anwendung zur „Gewohnheit“. So verstanden ist
dann auch das Üben im landläufigen Sinne ein As­
pekt des Konzepts.
Äußerer Rahmen. In der Literatur finden sich im­
mer wieder wenig hilfreiche Hinweise, die Vor­
gabe von Verhaltensanleitungen „romantisch“ zu
verpacken, etwa durch Vorschläge wie Kerzenlicht,
„stimmungsvolle“ Musik usw. oder sich vor Beginn
der Übung in die „richtige“ Stimmung zu versetzen
bzw. zu entspannen, etwa durch gemeinsames Ba­
den/ Duschen, gegenseitiges eincremen usw. Das
ist aus unserer Sicht problematisch, da implizit
vermittelt wird, dass mit „der richtigen Stimmung“
oder dem „schönen Ambiente“ sich auch die „rich­
tigen“ von den Paaren erwünschten angenehmen
Erfahrungen einstellen werden, d. h. die propagier­
te Ergebnisoffenheit der TherapeutInnen wird von
ihnen selbst konterkariert. Nicht nur, dass gerade
bei Paaren mit sexuellen Problemen oft genau das
Gegenteil eintritt, sich beispielsweise schnell neu­
er Leistungsdruck aufbaut nach dem Motto: „Un­
ter diesen wunderbaren Bedingungen müsste ich
doch Lust haben/ ansprechbar sein/ erregt wer­
den usw.“ Auch die Übungen in ihrer Bedeutung
als Rahmen für die Auseinandersetzung mit ange­
nehmen und unangenehmen Erfahrungen werden
relativiert, sie werden in gewisser Weise entleert
in dem Versuch, die konfrontativen Aspekte abzu­
mildern bzw. zu verschleiern.
Oft geht es aber nach unseren Erfahrungen nur
vordergründig um die PatientInnen. Es geht viel­
mehr oft um das Unbehagen bei TherapeutInnen
angesichts der Aufgabe, den PatientInnen gegen­
über diese nüchternen, klaren Verhaltensvorgaben
zu vertreten, die so gar nicht zu den üblichen Bil­
dern lustvoller Sexualität zu passen scheinen.
Hier ist es wichtig, dass sich auch die TherapeutInnen
der Herausforderung stellen, die darin liegt, mit dieser
Form von Verhaltensvorgaben zu arbeiten, und sich in
diesem Zusammenhang mit ihren eigenen Idealbil­
dern lustvoller Sexualität auseinandersetzen, um sie
nicht unversehens den PatientInnen überzustülpen.
Selbstverständlich ist unbenommen, dass die Pati­
entInnen es sich angenehm machen, auch über die
Minimalanforderungen hinaus ungestört, warm
und hell genug, dass sie sich sehen können. Wenn
aber beispielsweise immer Musik während der
Übungen läuft, Kerzen angezündet werden usw.,
d. h. wenn das „Äußere“ sehr viel Aufmerksamkeit
bindet, kann es Sinn machen, das genauer zu ex­
plorieren und ggf. auch zu problematisieren.
Im Zusammenhang mit einem zunehmend er­
gebnisoffeneren Herangehen hat sich zwangsläufig
auch die Haltung dazu geändert, wenn die Paare in
den verschiedenen Abschnitten von Schwierigkei­
ten berichten, die sie mit einzelnen Erfahrungen
hatten. Das hieß im Manual bisher „besondere
Schwierigkeiten“, die für jeden einzelnen Schritt
gesondert aufgeführt wurden. Uns selbst wurde
eigentlich erst bei der Formulierung des neuen
Manualtextes klar, dass es vielmehr um „Wichtige
Themen“ geht, deren Ausbleiben die TherapeutIn­
nen eher nachdenklich machen und ihre Aufmerk­
samkeit für Vermeidungstendenzen bei den Pati­
entInnen schärfen sollte (vgl. Berner 2001).
Die Bedeutung der einzelnen Schritte:
open-ended like music10
G. Galedary und M. Hauch
Bedeutungswandel. Auch bei uns hatten an­
fangs die ersten Abschnitte der Verhaltensanlei­
tungen mehr den Charakter einer Aufwärmphase,
gleichsam im Sinne des berüchtigten sog. „Vor­
spiels“ im Hinblick auf das „Eigentliche“, den Ge­
schlechtsverkehr. Im Lauf der Jahre sind sie aber
zum zentralen Feld für die Bearbeitung der un­
terschiedlichen Konflikte avanciert, die der jewei­
ligen Symptomatik zu Grunde liegen. Im Rahmen
dieses Abschnittes lassen sich unserer Erfahrung
nach Themen wie Nähe-Distanz-Ambivalenzen,
regressive Verschmelzung im Dienste der Kon­
fliktverleugnung, Autonomieprobleme, gerade
auch im Hinblick auf differenzierte Körperwahr­
nehmung, Verantwortung für die Wahrung der ei­
genen Grenzen, die Auseinandersetzung mit eige­
nen Wünschen, die als bedrohlich erlebt werden
usw., besonders gut und Erfolg versprechend be­
arbeiten. Das drückt sich u. a. darin aus, dass wir
10
Wir beziehen uns mit dieser Formulierung auf ein Inter­
view mit Leonore Tiefer in der Zeitschrift für Sexualfor­
schung 2000;4:346.
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
3.3 Weitere Modifikationen
uns inzwischen i. d. R. sehr viel mehr Zeit nehmen,
die Erfahrungen mit den grundlegenden Übungen
(„Streicheln I und II“ s. Kap. 8.1 und 8.2), bei denen
es nicht um Erregung und sexuelles Funktionieren
geht, zu bearbeiten. Das bedeutet aber nicht, dass
die Therapien insgesamt länger werden. Es hat
sich vielmehr gezeigt, dass sich die späteren Ab­
schnitte dann meistens sehr viel zügiger durchar­
beiten lassen.
Flexibilität. Das hier vorgestellte Therapiekon­
zept mag suggerieren, dass die TherapeutInnen
stets das ganze Programm mit den PatientInnen
„abarbeiten“, bevor das Therapieende eingeläu­
tet wird. In einigen Fällen kann es so einen „ide­
altypischen“ Verlauf auch geben, es ist aber nicht
der Regelfall. Keineswegs ist er das therapeu­
tische Ziel, da es uns eben nicht um Etablierung
von „normgerechter“ Sexualität bei den Paaren
geht, sondern darum, mit ihnen gemeinsam her­
auszufinden, welche Formen sexueller Interaktion
in ihrem individuellen Fall möglich, lustvoll und
befriedigend sein kann. Oft erleben wir andere
Therapieabschlüsse, Varianten, die nicht einfach –
weil „vorzeitig“ beendet – als Misslingen der The­
rapie verstanden und eingeordnet werden sollten.
Erkennt ein Paar z. B. im Verlauf der Vorgespräche,
dass diese Therapieform für sie nicht geeignet ist,
z. B. weil eine Form von Nähe provoziert wird, die
in der Beziehung gar keinen Raum hat oder nicht
mehr gewünscht wird, so wird die Wahrnehmung
in der Auseinandersetzung mit diesem Thema eine
wichtige Erfahrung für die weitere Partnerschaft
sein und nicht „spurlos“ an den PatientInnen vorü­
bergehen. Andere Paare erfahren bei den Streichel­
übungen viel Neues, finden darüber einen neu­
en Zugang zueinander und entscheiden sich dann
aber für eine eigenständige Weiterentwicklung/
Reaktivierung ihrer Sexualität.
Manche Paare durchlaufen die verschiedenen
Schritte auch bis zum „Spiel mit Erregung“, pro­
fitieren dabei vom Selbsterfahrungsteil, werden
vertraut mit dem eigenen Genitale und dem der/
des PartnerIn, gewinnen Sicherheit in Hinblick auf
seine Funktionen, verzichten aber auf die thera­
peutische Begleitung bei den koitalen Übungen,
vielleicht weil sie z. B. die/ den TherapeutIn bei
den folgenden Schritten nicht mehr dabei ha­
ben wollen, weil sie die Ebene des kontrollierten
Miteinander verlassen wollen oder weil sie nicht
mehr Auskunft über ihre intimen Erfahrungen
geben wollen – kurz, weil ihr Autonomiestreben
59
Oberhand gewinnt über die Wünsche nach Unter­
stützung.
Die jeweiligen Entscheidungen zum Beenden der The­
rapie sind nach eingehender gemeinsamer Bespre­
chung der Gründe und der Bedeutung für die Weiter­
entwicklung des Paares zu respektieren. Wichtig ist
es, bei der Besprechung der Gründe auch mögliche
indirekte Abwehrstrategien und die daraus entste­
henden Gefahren mit dem Paar zu bedenken und zu
besprechen.
So kann der Wunsch nach Beendigung der Thera­
pie z. B. ein Ausweichen vor noch mehr Nähe sein.
Es kann auch oder eine Vermeidung, sich mit der
Scham vor sich selbst und/ oder der/ dem Partne­
rIn und/ oder der/ dem TherapeutIn auseinander
zu setzen. Manchmal bedeutet der Wunsch auch
Flucht vor der Konfrontation mit den eigenen
bedrückenden Leistungsnormen oder auch Ver­
änderungswünschen, die beunruhigend werden
können, sobald ihre Umsetzung in greifbare Nähe
gerät.
In einigen Fällen wird nach solch klärenden
Therapiegesprächen die Behandlung unter neuen
Vorzeichen dann „bereinigt“ fortgesetzt werden
können. Wenn nicht, werden Gründe, Bedeutung
und Einfluss auf die Zukunft des Paares bespro­
chen, positive Erfahrungen bis zur Beendigung der
Therapie werden herausgearbeitet, Empfehlungen
für den weiteren Umgang des Paares miteinander
im sexuellen Kontakt werden besprochen.
Die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Ge­
spräche wird in Erwägung gezogen und Katamne­
segespräche nach drei Monaten und einem Jahr
werden angeboten (s. Kap. 10), und zwar unabhän­
gig vom Stadium der Beendigung der Therapie.
3.3 Weitere Modifikationen
M. Hauch
Individuelle körperliche Selbst­
erfahrung
Auch Männer profitieren. Weitere deutliche Ver­
schiebungen ergaben sich im Hinblick auf die Ar­
beit mit Anleitungen zur körperlichen Selbsterfah­
rung im Rahmen von Einzelübungen während der
Paartherapie. Bei den Frauen hatten wir von An­
fang an systematisch Elemente der körperlichen
aus: Hauch, Paartherapie bei sexuellen Störungen (ISBN 9783131394521) © 2013 Georg Thieme Verlag KG
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