I. Einleitung Vor der näheren Erörterung dieser Forschung sollen drei Prologe zu ihrem bes­ seren Verständnis beitragen und in die Thematik der Grundlagen der Islam­ rechtswissenschaft ('Usül al-Fiqh, Maqäsid al-shariʿ ah und al-Qawä’id alfiqhiyyah) einführen, mit der Person der Forschung, ‘Ä'ishah bint 'Abi Bakr be­ kanntmachen und die Authentizitätsklassifizierung von Überlieferungen gemäß der Hadith-Forschung kurz erläutern. Sie stellen keine umfassende Darstellung der Thematiken samt Meinungsverschiedenheiten darin dar, sondern dienen der Erleichterung ihres Verständnisses. Prolog zu den Grundlagen der Islamrechtswissenschaft - 'Usül al-Fiqh, Maqäsid al-SharT ah und al-Qawä id al-fiqhiyyah Beschreibung, Relevanz und Entstehung Einführung (Scharia, Fiqh, Fatwä; allgemeiner Zweck und Gewinnung): Im Zusammenhang mit dem islamischen Recht finden die Begriffe Scharia (shari’ah)1, Fiqh und Fatwä Erwähnung und manchmal Verwechslung. Aus die­ sem Grunde sollen diese Begriffe initial vor der Behandlung der Grundlagen der Islamrechtswissenschaft erläutert und unterschieden werden. Scharia (shari’ah) bedeutet sprachlich: „Der Ort, von welchem direkt die Quelle des nicht versiegenden Wassers erschließbar ist, ohne Hilfsmittel zu benöti­ gen.“2 Im islamischen Kontext ist damit generell gemeint: „Was Gott Seinen Dienern an Religion vorschreibt“3. Dies könnte als („islamisches“) Gottesrecht übersetzt werden, da es die reine Religion beim und vom unfehlbaren Gott / Allah bezeichnet und Er diese durch Sein Buch, den Koran, und Seinen Prophe­ ten Muhammad (sas) mitteilt.4 1 2 3 4 Anstelle der exakten Transkription „shariʿah“ wird die vereinfachte eingedeutschte Schreibweise Scharia in weiterer Folge dieser Arbeit als Fachterminus übernommen. Yüsuf al-Qaradäwi, Madkhal li-diräsah al-shan’ah al-'islämiyyah (Kairo: Maktabah wahbah, 1990), 7; in gleichartigen Bedeutungen in Lisän al- ’arab s. v. al-Qaradäwi, 7; 'Ahmad Yüsuf, al-Fiqh al-'islämiyy tatawwuru-h - 'usülu-h - qawä’iduh al-kulliyyah (Kairo: Maktabah al-Nasr, 1992), 17. Vgl. Qutb Mustafa Sänü, Mu'djam mustalahät 'usül al-fiqh / ’arabiyy- 'inkfísiyy / Concorance o f Jurisprudence Fundamentals Terminology (Damaskus: Dar Al-Fikr, 2000), 248-249; Hans-Thomas Tillschneider, Die Entstehung der juristischen Hermeneu­ tik ('usül al-fiqh) im frühen Islam (Würzburg: ERGON Verlag, 2006), 1; Wolfgang Bau­ er, „The Theory of General Higher Objektives of Shariʿah by Al-Tähir Ibn-‘Äshür and its Additions and Differences to the Theory of Al-Shätibi“ (MA-Diss., Loughborough Uni­ versity (GB), 2006). 4 Einleitung ,F iqh“ birgt sprachlich die Bedeutung von „Verstehen“ und ist im islamischen Zusammenhang praktisch gesehen der menschliche fehlbare Teil des Verstehens oder des Verständnisses der unfehlbaren göttlichen Scharia aus ihren Quellen, auch wenn der Anspruch oder besser gesagt das Beabsichtigte ist, der Scharia exakt zu entsprechen. Aus letzter Hinsicht finden beide Begriffe auch synonyme Anwendung. Als Fachbegriff der Islamwissenschaft5 kann Fiqh definiert werden als; „Das Wissen über die praktischen, aus ihren spezifischen Belegen erlangten Schariabestimmungen“. Diese Bestimmungen sind mehr oder weniger aus der Scharia erlangt, im Gegensatz zu rein rationalen Bestimmungen / Urteilen, und entsprechen dieser (Scharia) mit höherer oder niedrigerer Gewissheit, entspre­ chend der Klarheit und Sicherheit ihrer spezifischen Belege. Sie betreffen prak­ tische, handlungsorientierte Fragestellungen, ohne jene der Glaubensüberzeu­ gungen ("Aqä'id) und reinen, nicht handlungsverbundenen Charaktereigenschaf­ ten (Sulük).6 Kurz kann es als allgemeines „Islamrecht“ übersetzt werden. Zu­ sätzlich muss hier auf den weiten Rahmen des Fiqh (Islamrechts) hingewiesen werden. Es ist nicht auf die Organisation und Regelung des allgemeinen, zwi­ schenmenschlichen Lebens wie etwa Familien- oder Handelsrecht beschränkt, sondern behandelt auch rituell Gottesdienstliches wie Gebet oder Pilgerfahrt und selbst auch oft Feinheiten des menschlichen, auch rein persönlichen Verhaltens, wie mit der rechten Hand zu essen und mit der linken sich nach der Notdurft zu reinigen. ,Fatwä“, Pl. ,Fatäwä“ sind konkrete Islamrechtsgutachten / -verdikte von Rechtsgelehrten und Rechtsgelehrtinnen7 zu konkreten Fragestellungen, welche sie basierend auf den Islamrechtsquellen und der studierten konkreten Situation geäußert haben.8 5 6 7 8 Als Islamwissenschaft wird in dieser Arbeit allgemein die wissenschaftliche Auseinan­ dersetzung muslimischer Gelehrter und Denker mit dem Islam bezeichnet und diese in Folge als Islamwissenschaftler. Als (islamische) Theologie wird darin nur der Bereich bezeichnet, welcher sich speziell mit dem Transzendenten und weiteren Glaubensinhalten beschäftigt. Wissenschaftler, welche sich mit dem Islam mit außerislamischen Prämissen beschäftigen werden hier generell unter Orientalisten angeführt. ‘Abd Allah al-Djuday‘, Taysir ’ilm 'usül al-fiqh (Leeds (GB); Al Juday Research & Con­ sultations, Beirut; Mu'assasah al-rayyän, 4. Aufl. 2006), 11 f.; vgl. Yüsuf, 26 ff.; Tillschneider, 1 f.; Tariq Ramadan, Der Islam und der Westen (Köln; MSV - Verlag, 2000), 91 ff. Ich ersuche um Nachsicht, dass in weiterer Folge in dieser Arbeit aus untersuchungsöko­ nomischen Gründen auf eine gendergerechte Schreibweise verzichtet wird, wenn gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch klar hervorgeht, dass mit der Formulierung im Masku­ lin beide Geschlechter gemeint sind. Sano, 312. Die Äußerungen in den Einzelfragen des Fiqh bestehen im Grunde aus sol­ chen ,Fatäw ä (Fatwäs)“, jedoch wird der Fachbegriff benutzt für zurjeweiligen Zeit ge­ äußerte Rechtsgutachten zu anstehenden Rechtsfragen, welche nicht oder nicht ausrei­ Prologe 5 Mit der Grundlagenforschung des Fiqh (Islamrechts) beschäftigen sich die Islamrechtswissenschaften 'Usül al-Fiqh, Maqasid al-shariʿah und al-Qawa’id al-fiqhiyyah, welche Thema dieser Forschung sind und im Folgenden näher er­ läutert werden. Zweck dieser Wissenschaften ist, die Scharia, welche Gott durch seine Offenbarung, den Koran, und Seinen Propheten (sas) darlegt, daraus mög­ lichst korrekt verstehen zu können und dafür die korrekten Regeln und Metho­ diken zu evaluieren und klarzulegen. Diese bewerten dann die grundsätzliche Legitimität von Aussagen und Schlüssen über die Religion im Allgemeinen und des Fiqh im Speziellen. Diese Methodiken und Regeln selbst, werden wiederum in erster Linie durch den Koran, die Prophetenpraxis und allgemein den Sprach­ gebrauch zur Offenbarungszeit legitimiert. Unterschiede in diesen Regeln und Methodiken wirken sich oft direkt als unterschiedliche Schlüsse im Fiqh aus, was somit die praktische Relevanz dieser Grundlagenforschung kennzeichnet. Diese Islamrechtswissenschaften haben sich erst im Laufe der Zeit zu dem heu­ tigen Stand entwickelt und sind nicht in dieser Form von Beginn an gelehrt und verschriftlicht worden. Dennoch müssen auch schon der Prophet (sas) selbst und seine Gefährten die Religion auf Basis von bestimmten Methodiken und Mus­ tern verstanden haben. Inwieweit diese Systematik besitzen und den später fest­ geschriebenen Methodiken entsprechen, kann durch Untersuchungen von Über­ lieferungen aus der ersten Generation der Muslime teilweise eruiert werden, was auch eine Teilfrage dieser Forschung darstellt und später näher dargelegt werden soll. Islamrechtsgrundlagen / Grundlagen der Islamrechtsergründung - 'Usül alFiqh: „'Asl“, Pl. „'usül“ bedeutet sprachlich: „Unterstes, Grundlage“ einer Sache und wird verwendet für „Wurzel; (Baum-)stamm; Ursprung, Quelle; Grundlage“.9 „' Usül“ des Fiqh beschreibt sprachlich somit seine Grundlagen, auf denen es beruht. Als Fachwissenschaft kann 'Usül al-Fiqh definiert werden als: „die übergeordneten Regeln, durch welche der Mudjtahid (zum Extrahieren der Is­ lamrechtsbestimmungen Befähigter) zum Verständnis der Texte von Koran und Sunnah (Prophetenwort und Prophetenverhalten) gelangt“ oder dadurch „[...] zur Extrahierung der Schariabestimmungen aus ihren spezifischen Quellen ge­ langt“.10 Sie beschäftigt sich mit den Belegen selbst, den Arten und Charakteris­ tiken der Bestimmungen im Allgemeinen und dem Herleiten der Bestimmungen chend in bereits bestehenden Fiqh-Werken behandelt wurden. (Vgl. Rüdiger Lohlker, Schari’a und Moderne (Stuttgart: Deutsche Morgenländische Gesellschaft, Steiner, 1996), 7; Hilmar Krüger, Fetwa und Siyar (Wiesbaden: Harrassowitz, 1978), 40 f.) 9 Vgl. 'Ahmad al-Fayyümi, al-Misbäh al-mumr (Kairo: Där al-hadith, 2000) s. v. ; Lisän al-’arab s. v. 10 Sänü, 70 (Ubers.); vgl. Tahä al-‘Alwäm, ' Usül al-fiqh al-'islämϊ (Riad: International Islamic Publishing House (IIPH), 2. erw. Aufl. 1995), 13 f. 6 Einleitung aus den Belegen. Die Regeln des ' Usül sind im Gegensatz zu den kommenden Islamrechtsprinzipien (al-Qawä’id al-fiqhiyyah) feste Grundregeln und eine ausnahmslose Methodik für die Extrahierung der Islamrechtsbestimmungen aus ihren Quellen. So stellt z. B. die von den meisten Gelehrten vertretene 'UsülRegel; „Die Befehlsform bedeutet Verpflichtung, solange es keinen Zusammen­ hang gibt, welcher ihr eine andere Bedeutung zuschreibt“ eine bindende Grund­ regel im Verständnis des Textes von Koran und Sunnah dar. Entstehung: Es hatten sich bereits unter den Prophetengefährten und speziell ab der zweiten Generation zwei generelle Richtungen im Textverständnis abgezeichnet, im Irak 'Ahl al-Ra'y, welche ein vernunftorientierteres Verständnis der Texte und der Ursachen der Bestimmungen einschlugen, und in Medina 'Ahl al-Hadith, wel­ che sich eher auf die wörtliche Bedeutung von Texten des Korans und erläutern­ den Überlieferungen des Propheten (sas) stützten. Aufgrund steigender Dispute über Meinungsverschiedenheiten und auch Abweichungen im Fiqh und die He­ rangehensweisen an es, haben Gelehrte begonnen, ihre methodischen Grundla­ gen (' Usül) für deren korrekte Ergründung zu formulieren und niederzuschrei­ ben, bis es sich als eigene Wissenschaftsdisziplin etablierte.11 Das früheste, uns erhaltene Werk darüber ist al-Risälah von Muhammad ibn 'Idfls al-Shäfiʿi (verst. 204h / 820).12 Er lebte und lernte in Mekka, Medina, Irak und zog später nach Ägypten.13 Diejenigen Gelehrten, welche seiner Methodik und seinen Auf­ fassungen folgten, werden als die nach ihm benannte schafiitische Rechtsschule bezeichnet. al-Nu‘män 'Abü Hanifah aus Kufa (Irak) (verst. 150h / 767)14 hatte kein derartiges Werk über seine Methoden hinterlassen, jedoch seinen Schülern teilweise manche Regeln daraus klargelegt. Im Nachhinein wurde dann ver­ sucht, seine gesamte Methodik aus seinen Fatäwä (Islamrechtsgutachten / verdikten) zu rekonstruieren.15 Als das früheste erhaltene Werk der nach ihm benannten hanafitischen Schule zählt al-Fusül f i al- 'usül von 'Abü Bakr alDjassäs (gest. 370h / 980)16. Die Rechtsschulen der Malikiten, benannt nach Mälik ibn 'Anas aus Medina (gest. 179h / 795)17 und der späteren Hanbaliten, 11 Vgl. Yüsuf, 50 f., 55-63, 71 f.; Christopher Melchert, „The Formation of the Sunni Schools of Law“, in The Formation o f Islamic Law, ed. Wael Hallaq, von Formation o f the Classical Islamic World, ed. Lawrence Conrad (Hants (GB); Ashgate Publishing Limited, 2004), 361 f. 12 Ebda, 84, 120; Hamzah al-Nashrati, Näsir al-sunnah - al-'imäm al-shäfi’i (Kairo; alMaktabah al-qayyimah), 385; Melchert, 352. 13 Yüsuf, 84 f. 14 Ebda, 71; Shams al-Din ibn Khallikän, Wafayät a l-'a ’ayän (Beirut; Där sädir), III, 201, 205; Melchert, 352. 15 Vgl. Yüsuf, 73 f., 77; Sänü, 188 f. 16 Vgl. Tillschneider, 71 ff. 17 Yüsuf, 78; Ibn Khallikän, Wafayät a l-'a ’ayän, II, 300 f.; Melchert, 352. Prologe 7 benannt nach 'Ahmad ibn Hanbal aus Bagdad (gest. 241h / 855)18 stimmen in vielen Kernaspekten weitgehend mit den Schafiiten überein und werden zu­ sammen in der ' Usül-Wissenschaft auch als Mutakallimün bezeichnet,19 nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit der Bezeichnung der Scholastiker in der Theologie.20 Nichtsdestotrotz sind später auch eigene Schriften über ihr ' Usül mit manchen Unterschieden entstanden. Die gebildeten Rechtsschulen sind sich intern vor allem in den meisten Kernfragen des ' Usül weitgehend einig, was je­ doch nicht bedeutet, dass keine Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer Rechtsschule auch im ' Usül existieren. Maximen (übergeordnete/höhere Ziele) derScharia - Maqäsid al-Shari’ah: „Maqäsid“, Sing. „maqsad“ bedeutet sprachlich das Angestrebte, physisch oder geistig; Absicht; Zweck.21 Fachspezifisch definiert al-Raysüni Maqäsid (alshari’ah) als: »the purposes which the Law was established to fulfil for the benefit of humankind«.22 Sie werden auch bezeichnet als: „Maqäsid al-Shäri’“ (die Ziele des Schariagebers / Allahs) und „al-Maqäsid al-shar’iyyah“ (Islamrechtsmaximen).23 Weitgehendst ist man sich einig, dass Allah mit der Verordnung Seiner Scharia die Erfüllung bestimmter Maximen bezweckt, welche im Interesse und Nutzen der Schöpfung und im Speziellen der Menschen stehen. Alle Islamrechtsbe­ stimmungen dienen der Verwirklichung dieser Maximen (übergeordneten Ziele). Bei der Extrahierung der Bestimmungen und ihrer korrekten praktischen An­ wendung müssen diese Maximen Beachtung finden, um nicht den eigentlichen Zweck der Bestimmungen zu verfehlen.24 Entstehung: Obwohl die Berücksichtigung dieser Maximen teilweise in der Islamrechtssprechung der Prophetengefährten und auch späteren Gelehrten er­ kennbar ist, wurde erst später über diese Maximen explizit im Rahmen von ' Usül-Werken geschrieben, und erst beginnend mit al-Tahir ibn ‘Äshür (1879- Yüsuf, 89, 92; Ibn Khallikän, Wafayät a l-'a ’ayän, I, 40 f.; Melchert, 352. Vgl. Sänü, 158 f., 188 f., 384 f. Vgl. ebda, 384 f. L isä n a l-’arab s.v. ; al-Misbäh al-m unr s.v. ; al-Hussaym, Tädj al- ’arüs, I, 32. 22 Ahmad al-Raysuni, Ubers. Nancy Roberts, Imam al-Shatibi’s Theory o f the Higher Ob­ jectives andIntents ofIslamic Law (London, Washington: IIIT, 2005), xxiii. 23 Ebda, xxi, xxii. 24 Vgl. Taha al-Alwani, Einführung zu Imam Al-Shatibi’s Theory o f the Higher Objectives and Intents o f Islamic Law von al-Raysuni, xii; al-Tähir ibn ‘Äshür, Maqäsid al-shan’ah al-'islämiyyah (Amman: Där al-Nafä'is, 2. Aufl. 2001), 148, 183-188; 'Abü 'Ishäq alShätibi, al-M uwäfaqätfi 'usül al-shan’ah (Beirut: Där al-kutub al-‘ilmiyyah), II, 4. 18 19 20 21 8 Einleitung 1973)25 kommt die Erachtung von ’Ilm Maqäsid (al-Shañ’ah) als eigene Wis­ senschaftsdisziplin auf. Unter den ersten bedeutenden Gelehrten, welche die Maqäsid al-Shan’ah erwähnen sind 'Abü Hämid al-Ghazäli (gest. 505h / 1111) in al-Mustasfä, ‘Izz al-Din (al-‘Izz) Ibn-‘Abd al-Saläm (gest. 660h / 1262) in seinem Werk Qawä’id al- 'ahkäm fi masälih al-'anäm und Shihäb al-Din Qaräfi (gest. 684h / 1285) in al-Furüq. Der bedeutendste Autor in diesem Bereich war al-Shätibi (gest. 790h / 1388), der in seinem Werk al-Muwäfaqät einen Meilen­ stein in diesem Wissenschaftszweig legte.26 In der heutigen Zeit ab Ibn ‘Äshür hat die Thematik an Signifikanz gewonnen und wurde weiterentwickelt und ausgebaut. Islamrechtsprinzipien - al-Qawä’id al-fiqhiyyah: Qawä’idfiqhiyyah (sing. q a ’idah) bedeutet: islamrechtliche / juristische Grund­ lagen, Fundamente, Grundprinzipien, Normen, und beschreibt fachspezifisch: „Allgemeine Normen im Fiqh, unter denen sich viele Einzelrechtsurteile sam­ meln“27. Es sind allgemeine Prinzipien die als „Mehrheitsnormen“ zu verstehen sind und nicht ausnahmslos auf alle Fälle zutreffen müssen. So gilt zwar das Islamrechtsprinzip „lä Darar wa lä dirär / Kein initiales Schädigen und kein Schädigen als Schadenserwiderung“ grund­ sätzlich für alle oder die meisten Einzelrechtsbestimmungen - Furü’ (wörtl.: Zweige / Verzweigungen). Beispielsweise trifft einen Verurteilten persönlicher Schaden mit seiner Bestrafung durch die Exekutive. Dieser wird aber in Kauf genommen, um den größeren Schaden in der Ausbreitung von Verbrechen bei Nicht-Belangung zu dämmen. Diese Fiqh-Prinzipien (Qawä’id fiqhiyyah) betreffen immer direkte Handlungen des M ukallaf8 und behandeln Einzel­ rechtsbestimmungen. Dennoch gelten sie meist als allgemeiner oder themenbe­ reichsspezifischer Maßstab, an denen man sich in der Islamrechtsfindung bei konkreten Fällen orientiert. Manche derartige Prinzipien sind jedoch nur rechtsschulspezifisch.29 Entstehung: Die Existenz dieser Normen zieht sich teilweise als allgemeines oder themenbe­ reichsspezifisches Charakteristikum durch die Islamrechtssprechung der Gelehr25 Ibn ‘Ashür, 94, 172; al-Tahir ibn Ashur, Übers. Mohamed el-Tahir, Ibn Ashur - Treatise on Maqasid al-Shari’ah (London, Washington: IIIT, Petaling Jaya (Malaysia): Islamic Book Trust, 2006), xiii. 26 Vgl. Khayr al-Din al-Zirkilli, al-'A'lam (E-Book, al-Maktabah al-shamilah Vers. II), VII, 22 (al-Ghazali); IV, 21 (al-‘Izz); I, 94 f. (al-Qarafi); III, 152 (al-Shatibi). 27 al-Djuday‘, Taysir ’ilm ’usül al-fiqh, 13; vgl.: Muhammad al-Bürnü, Mawsü’ah alqawa’idal-fiqhiyyah (Beirut: Mu'assasah al-Risalah, 2003), I, 20-24; Yüsuf, 279 f. 28 Vor Allah verantwortlich über seine Taten und Allah zum Gehorsam verpflichtet, durch seine vorausgesetzten Eigenschaften: geschlechtsreif - baligh, geistig gesund - ’aqil. Vgl. Sanü, 440. 29 Vgl. al-Bürnü, I, 27 f.; al-Djuday‘, Taysir ’ilm ’usül al-fiqh, 13 f., 194, 204 f. Prologe 9 ten seit jeher. Sie wurden später als allgemeine Richtlinien zur Hilfestellung in der adäquaten Islamrechtsfindung bei auftretenden Einzelrechtsfragen formu­ liert. Ab dem zweiten Jahrhundert n. H. finden einzelne derartige Formulierun­ gen in Werken immer zahlreicher Erwähnung. Als erster, der ein Werk aus­ schließlich diesen Prinzipien widmet, wird der hanafitische Gelehrte Abü alHasan al-Karakhi (gest. 340h / 952) angesehen. In seinem Werk ' Usül alKarakhi erwähnt er 39 Prinzipien. Danach folgten immer mehr Gelehrte unter­ schiedlicher Rechtsschulen seinem Beispiel, über diese Thematik eigene Werke zu verfassen. Unter den bedeutendsten Werken dieses Wissenschaftszweiges sind; bei Hanafiten; al- 'Ashbäh wa al-nazä'ir von Ibn Nudjaym Zayn al-‘Äbidin (gest. 970h / 1563); bei Malikiten; 'Anwär al-burüq fi 'anwä‘ al-furüq von alQaräfi (gest. 684h / 1285); bei Schafiiten; Qawä’id al-'ahkäm f i masälih al'anäm von ‘Izz al-Din ibn 'Abu al-Saläm (gest. 660h / 1262); bei Hanbaliten; alQawä’id von ‘Abd al-Rahmän ibn Radjab (gest. 795h / 1393).30 Prolog zu Ä'ishah bint A b iB a k r-L eb en und Gelehrte Kurzbiographie: ‘Ä'ishah (Aisha)31 bint 'A bi Bakr, Frau des Propheten Muhammad (sas) und dadurch benannt mit dem Beinamen „Mutter der Gläubigen“ ('Umm alm uminin), wurde in Mekka geboren. Über ihr Geburtsjahr herrschen Mei­ nungsverschiedenheiten, wobei dies nach mehrheitlicher Auffassung datiert wird mit (614-615), 4-5 Jahre nach dem Beginn der Gesandtschaft, 7-8 Jahre vor der Hijra (Hidjrah - Auswanderung des Propheten (sas) nach Medina und Beginn der islamischen Zeitrechnung).32 Die unterschiedlichen Annahmen reichen von (23) bzw. 17 bis 6 Jahre v. H. ((600) bzw. 606-616).33 Ihre Eltern, 'Abü Bakr 30 Yüsuf, 289-296; vgl. al-Zirkilli, IV, 193 (al-Karakhi); III, 64 (Ibn Nudjaym); I, 94 f. (alQaräfi); IV, 21 (‘Izz al-Din); III, 295 (Ibn Radjab). 31 Anstelle der exakten Transkription „‘Ä'ishah“ wird wegen der häufigen Vorkommnis in weiterer Folge die vereinfachte Form „Aisha“ verwendet. 32 Sa‘id al-Dakhil, M ausü'ahfiqh 'Ä'ishah (Beirut; Dar al-nafä'is, 2. Aufl. 1993), 27; Badr al-din al-Zarkashi, al-'Idjäbah li-'iräd mä istadrakath 'Ä'ishah 'alä al-sahäbah (Beirut; al-Maktab al-'islämiyy, 4. Aufl. 2000), 44; ‘Ä'ishah ‘Abd al-Rahmän, Tarädjum sayyidäd bait al-nubuwwah (Kairo; Där al-hadith, 2002), 208, ‘Abd al-Hamid Tahmäz, al-Sayyidah ‘Ä'ishah (Damaskus; Där al-qalam, 5. Aufl. 1994), 21; ‘Abbäs al-‘Aqqäd, al-Siddiqah bintal-siddiq (Kairo; Där al-ma‘ärif, 12. Aufl. (1988?)), 32. 33 Vgl. ‘Abd Alläh Badr, Tafsir 'umm al-mu'minin ’Ä 'ishah radiy Alläh ’an-hä (Riad; Där ‘älam al-kutub, 1996), 15; (6. Jahr nach Gesandtschaft = 6v. H ./6 1 6 n . Chr.); al-‘Aqqäd, 32; (11-12 v. H. / 610-611 n. Chr.); Ruqaiyya Waris Maqsood, Hazrat A ’ishah Saddiqah (R.A.A.) / A study o f her age at the time o f her marriage (Birmingham (GB); IPCI Islamic Vision, 1996), 5, 24 (sie favorisiert; 605-606 n. Chr. / 16-17 v. H. = 4-5 Jahre vor der Ge­ sandtschaft); Adnan Ibrahim, „Aischa bint Abü Bakr / Leben und Wirkung / mit speziel­ 10 Einleitung ‘Abd Allah ibn 'Abü Quhafah al-Siddiq, der enge Freund des Propheten (sas) und der erste Kalif nach ihm, und 'Umm Rawman bint ‘Ämir al-Kananiyyah, gehörten zu den ersten Muslimen, wodurch auch Aisha selbst bereits im Islam erzogen wurde.34 Nach dem Tod von Khadidjah bint Khuwaylid, der ersten und langjährig einzi­ gen Ehefrau des Propheten (sas), heiratete sie vertraglich den Propheten (sas) nach Sawdah bint Zam‘ah, etwas mehr als ein Jahr vor der Auswanderung nach Medina. Die praktische Ehe gingen der Prophet (sas) und Aisha ca. 2 Jahre (nach manchen früher: vgl. Badr, 15; ‘Abd al-Rahman, 220; Khan, 121, 397) nach der Ankunft in Medina, nach der Schlacht von Badr (2h / 624) ein.35 Sie war die einzige seiner Frauen, die er als Jungfrau heiratete, sehr anmutig und seine Lieblingsfrau. Er benachrichtigte sie auch, dass sie seine Frau im Paradies sein wird.36 Seine geschätzteste Frau war Khadidjah. Aisha wird nicht nur als die gelehrteste Prophetengattin, sondern überhaupt als gelehrteste Frau [in der Religion] in der islamischen Geschichte erachtet.37 Sie lebte ab ihrem Eheleben mit dem Propheten (sas) in ärmlichen Verhältnissen, war sehr enthaltsam und überaus großzügig gegenüber Bedürftigen.38 Während ihrem meist sehr glücklichen, auch romantischen Leben mit dem Pro­ pheten (sas) gab es mehrere bewegende Ereignisse. Das wahrscheinlich ein­ schneidendste für sie war das der Verleumdung ('ifk) durch Bezichtigung des Ehebruchs im Jahr 5-6H (626-627). Als sie auf der Suche nach ihrer abhanden gekommenen Kette sich von der Karawane entfernt hatte und diese in der An­ nahme, sie wäre in ihrer Kamelsänfte (welche nicht einsehbar war), ohne sie aufbrach, war sie von Safwan ibn al-Mu‘attil al-Sulami zurückbegleitet worden, nachdem er als Nachhut sie am Lagerplatz vorgefunden hatte. Nachdem die von den Heuchlern angestiftete Verleumdung sich verbreitete, dem Propheten (sas) eine Offenbarung zu Beginn ausblieb und die Situation für Aisha sehr belastend war, wurde die Bestätigung ihrer Unschuld und harte Antwort gegenüber den Verleumdern von Allah im Koran herabgesandt (24:11-20).39 Auch dass sie den Propheten (sas) mit mehreren Ehefrauen teilen musste, war sowohl für sie als 34 35 36 37 38 39 ler Behandlung ihres Alters“ (Mag. Diplomarbeit, Universität Wien, 2009), 54-57, 126. Siehe auch Anmerkungen unter Fußnote 47 auf S.28. al-Dakhil, 30; al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 42. Vgl. Shams al-Dm al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä' (E-Book auf al-Maktabah alshamilah, Vers. 2), II, 135, 139 ff.; Sa‘üd al-Fanisan, Marwiyyät 'umm al-mu'minln Ä 'ishah f i al-tafsir (Riad: Maktabah al-tawbah, 1992), 9, 11 f.; Badr, 15; al-Dakhil, 37; al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 43 f.; al-Tahmaz, 2 1 ,2 7 f. al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 190; IHi, VII, 16: s; Ha, XI, 4; Dha: s; ‘Abd alRahman, 238 ff.; al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 49, 56, 69-73. al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 140 ff. Ebda, 187; al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 73 ff.; al-Tahmaz, 161-170; al-Dakhil, 30 f.; Siehe Bu, XVII, 30; Mu, XIV, 223. al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 153-160; ‘Abdal-Rahman, 231-237. Prologe 11 auch für die anderen Ehefrauen oft nicht einfach. Trotz mancher menschlicher Konkurrenzdispute und Spannungen deswegen zwischen den Prophetenfrauen, haben sie sich doch sehr geschätzt.40 Ihr starker Kinderwunsch blieb unerfüllt, und sie kümmerte sich sehr mütterlich um die Kinder ihrer Angehörigen, wes­ halb ihr der Prophet (sas) auch gestattete, den Beinamen 'Umm ‘Abd Allah (Mutter von ‘Abd Allah) zu tragen, welcher ihr speziell geschätzter Neffe und Sohn ihrer Schwester 'Asma' und deren Mann al-Zubayr war.41 Nachdem der Prophet (sas) vor seinem Verscheiden sehr erkrankt war, bat er seine Gattinnen, ihm zu erlauben, bei Aisha gepflegt zu werden, und ihm die gerechte Aufteilung seiner Zeit zu erlassen. Sie pflegte ihn die letzte Zeit seines Lebens, und er verstarb in ihrem Schoß, während sich Lippe an Lippe im Ab­ schied ihr Speichel vermischte. Er wurde in ihrem Gemach neben der Moschee beigesetzt. Als ihr Vater und ‘Umar ibn al-Khattab, der zweite Kalif, verstarben, wurden sie ebenfalls darin neben dem Propheten (sas) beigesetzt. Nach dem Ableben des Propheten (sas) wurde sie von anderen Prophetengefähr­ ten und der nächsten Generation häufig aufgesucht, um von ihrem großen ge­ schätzten Wissen in Fragen des Korans, der Sunnah, Islamrechtssprechung, Erb­ anteilsbestimmung, aber auch in der arabischen Geschichte, Abstammungen / Ahnenforschung und der damaligen Medizin zu profitieren und zu lernen.42 Sie äußerte sich auch zu politischen Gegebenheiten und versuchte sogar aktiv nach ihrem Ermessen zu schlichten, als nach der Ermordung des dritten Kalifen ‘Uthman die große „Prüfung“ / der große Konflikt zwischen den Muslimen ent­ fachte, welche schließlich in die bewaffnete Auseinandersetzung in der Kamel­ 40 al-Dhahabi, Siyar 'a ’lam al-nubala', II, 176-; ‘Abd al-Rahman, 224-230. 41 ‘Abd al-Rahman, 223; al-Dakhil, 20 f.; al-Zarkashi, al-'Idjabah, 41. Siehe AD, II, 7 1 1 / Alb: s; Ha, IV, 309: s / Dha: s; IHi, XVI, 54: s: :7738 # 309 4 :4970 #711 2 :7117 # 54 16 42 al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 182 f., 185, 197. 12 Einleitung schlacht (36h / 656) zwischen den Heeren des vierten Kalifen ‘Ali ibn 'Abi Talib und M u‘awiyah mündete. Sie machte sich schwere Vorwürfe, darin verwi­ ckelt gewesen zu sein und es nicht verhindert zu haben.43 Sie verstarb am 17. Ramadan, wobei auch über ihr Todesjahr und vor allem ihr Alter Meinungsverschiedenheiten herrschen. Die Mehrheit geht davon aus, dass sie entweder 57h oder 58h (677 / 678) verstarb.44 Ihr Sterbealter wird allgemein zwischen 63 und annähernd 70 Jahren angenommen.45 Sie wurde nachts in Me­ dina auf ihren Wunsch am Friedhof Baqi‘ mit den Prophetenfrauen beigesetzt, und Abü Hurayrah leitete ihr Totengebet von überaus zahlreichen Teilneh­ mern.46 Die Meinungsunterschiede über ihr Geburtsjahr, Todesjahr, Alter bei ihrem Ehevertrag und Eheführung sowie zu ihrem Todeszeitpunkt sind für die kommenden Forschungsfragen nicht direkt von Bedeutung, weshalb hier auf nähere Darstellungen und Argumentationen verzichtet wird.47 Von größerer Be­ deutung für diese Forschung ist die Bildung, welche sie genoss, ihre kritische Persönlichkeit und ihre Einstellung zur Meinungsäußerung bei Verständnis­ schwierigkeiten und eigener unterschiedlicher Auffassung. Diesen Fragen ist das dritte Kapitel dieser Forschung, die Einführung zu Aishas Bildung und kriti­ schen Persönlichkeit gewidmet. Berichte über ihre Bedeutung als Gelehrte: Aisha wurde nach dem Ableben des Propheten (sas) nicht nur oft zu Rate gezo­ gen und es wurde nicht nur bei ihr studiert,48 sondern ihr breites und authenti­ 43 Ebda, 177 ff., 193; Ah, VI, 52 / Arn: 'Isnad s; IHi, XV, 26: s; vgl. al-Dakhil, 73 ff. (67­ 75). 44 (57h / 677): 'Ahmad ibn Hanbal nach al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 192 f.; alZarkashi, al-'Idjäbah, 44; ‘Abd al-Rahman, 235. (58h / 678): al-Tahmaz, 155; al-Dakhil, 88; al-‘Aqqad, 82. Maqsood (5, 24) erachtet am wahrscheinlichsten (672 / 52h). 45 al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 192 f.: (63 Jahre); al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 44: (65 Jahre); al-Tahmaz, 157: (66 Jahre); al-Dakhil, 88: (67 Jahre); al-‘Aqqad, 82: (annä­ hernd 70 Jahre); vgl. Maqsood, 5, 24: (sie favorisiert ebenfalls 67 Jahre). 46 Vgl. al-Fanisän, 17; al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 192 f.; ‘Abd al-Rahman, 245; al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 44; al-Tahmaz, 155 ff. 47 Für mehr Details siehe die Studie zum Thema von Ruqaiyyah Maqsood und die von Adnan Ibrahim, 54-57, 100-127; ‘Abd al-Rahman, 208 ff., 221; al-Dakhil, 34-37; al-‘Aqqad, 49 f. (Bei klassischen muslimischen Quellen ist allgemein davon auszugehen, dass ihr Al­ ter in den kürzeren Lunarjahren angegeben wird.) al-‘Aqqad (48) erwähnt, dass die Un­ gewissheit des Alters und das damit verbundene Geburts- und Todesjahr nichts Außer­ gewöhnliches in der damaligen Zeit und Gesellschaft war. Dazu ist noch anzumerken, dass die fehlende Aufzeichnung und Datierung des Geburtsjahres bis ins letzte Jahrhun­ dert nichts Außergewöhnliches im orientalischen Raum war. Häufig ist bei später bekannt gewordenen Gelehrten erst das Todesjahr aufgezeichnet worden. Vgl. Ibrahim, 122 ff. 48 Vgl. al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 136-139; al-Dakhil, 86; al-Zarkashi, al'Idjäbah, 44-48; al-Tahmaz, 203-221. Prologe 13 sches Wissen wurde von zahlreichen Persönlichkeiten unter den Prophetenge­ fährten und der nächsten Generation auch explizit bestätigt und höchst ge­ schätzt. al-Dhahabi und al-Zarkashi listen viele Berichte dahingehend auf.49 Die folgenden Überlieferungen sollen einen kleinen Auszug davon darstellen. Masrüq wurde gefragt; »„Hat Aisha das Erbrecht beherrscht?“ Er sagte; „Ja (das hat sie). Bei dem, in dessen Hand mein Leben ist, gewiss habe ich ja die Gelehr­ ten [Großen] von den Gefährten Muhammads (sas) sie nach dem Erbrecht fra­ gen gesehen.“« (Ha, IV, 12, #6736; s).5° » Abü Müsä [al-'Ash'ari] sagte; „Wir, die Gefährten des Gesandten Allahs (sas), hatten mit keinem Hadith (Prophetenüberlieferung) je [Verständnis­ Schwierigkeiten, worauf wir Aisha [dazu] befragten, ohne dass wir bei Aisha darüber [klarlegendes] Wissen vorfanden.“« (Ti, V, 705, #3883; hs / Alb; s).51 »‘Atä' sagte; „Aisha war die mit dem besten [Rechst]verständnis unter den Leu­ ten und die Wissendste unter den Leuten und im Allgemeinen die mit der besten [stärksten/ schlüssigsten] Meinung unter den Leuten.“« (Ha, IV, 15; s).52 »Müsä ibn Talhah sagte; „Ich habe niemanden besser / reiner in der Sprache ge­ sehen als Aisha.“« (Ti, V, 705, #3884; hs gharib / Alb; s; Ha, IV, 12; s).53 al-Dhahabi und al-Zarkashi erwähnen auch, dass Aisha 2210 (unterschiedliche) Überlieferungen über den Propheten (Hadith) zugeschrieben werden, wobei da­ 49 al-Dhahabi, Siyar 'a ’lam al-nubala', II, 182-185, 191; al-Zarkashi, al-'Idjabah, 61-65; vgl. al-Dakhil, 33 f., 80 f.; al-Tahmaz, 174 ff., 178-197. 50 6736 #12 4 51 3883 #705 52 6748 #15 5 4 5 53 3884 #705 6735 #12 4 14 Einleitung von 174 übereinstimmend bei Bukhari und Muslim und zusätzlich 54 bei Bukhari und 69 (68 nach al-Zarkashi) bei Muslim zu finden sind.54 Prolog zu den Authentizitätsklassen von Überlieferungen gemäß der Hadith-Forschung Grund dieses Prologs und allgemeine Einführung in die Authentizitätsfrage: In der Bearbeitung von überlieferten mündlichen Aussagen, verschriftlichten Texten und Berichten über Begebenheiten stellt sich immer auch die Frage nach deren Authentizität und Verlässlichkeit. Dies betrifft Geschichts-, Literatur-, Re­ ligionswissenschaften und im Prinzip alles nicht unmittelbar selbst Wahrge­ nommene und genau genommen stellt sich sogar die Frage nach der „Authenti­ zität“ oder besser gesagt nach der Verlässlichkeit der eigenen korrekten Wahr­ nehmung. Der Grad der Gewissheit der Authentizität kann, egal ob es sich um mündliche Berichte oder schriftlich Aufgezeichnetes handelt, sehr unterschied­ lich sein und selbst mehrfach beglaubigte Dokumente könnten gefälscht werden. Um die ursprüngliche reine Religion und Botschaft des Islam zu sichern, haben schon der Prophet (sas) persönlich, seine Gefährten und die späteren Gelehrten Vorkehrungen getroffen, um ihre primäre Quelle, den Koran, und ihre sekundäre Quelle, die Sunnah (Prophetenwort und Prophetenverhalten), so gut wie möglich zu sichern. Die Hadith-Forschung setzt sich speziell mit der Authentizitätsfrage, -prüfung und -klassifizierung auseinander und beschränkt ihre Forschung nicht nur auf die Überlieferungen über den Koran und vor allem der Sunnah, sondern untersucht meist auch überlieferte Aussagen und Handlungen der Prophetenge­ fährten selbst nach dem Verscheiden des Propheten (sas). Somit wurden auch die Überlieferungen von und über Aisha, der Frau des Propheten (sas), aufge­ zeichnet, nachverfolgt, untersucht und im großen Maße gemäß den Authentizi­ tätskategorien klassifiziert. Da in dieser Forschung zur Ergründung ihrer Metho­ dik die als angenommen authentisch (sahih und hasan) klassifizierten Überliefe­ rungen Berücksichtigung finden, ist es sinnvoll die Klassifizierung gemäß der Hadith-Wissenschaft hier zuvor zu erläutern. Erklärung der Authentizitätsklassen und ihrer generellen Kriterien gem äß der Hadith-Forschung: Unterscheidung zwischen Mutawätir-Überlieferung (viellinig) und 'ÄhädÜberlieferung (einzellinig): Überlieferungen gelten nur dann als definitiv authentisch (qat’iyy al-thubüt), wenn diese mutawätir (viellinig) überliefert sind. Dies bedeutet, dass in deren lückenloser Überlieferungskette (Sanad) in jeder Überliefererebene (Tabaqah) 54 al-Dhahabi, Siyar 'a ’läm al-nubalä', II, 139; al-Zarkashi, al-'Idjäbah, 44. Prologe 15 die Anzahl der voneinander unabhängigen Überlieferer so groß ist, dass es ge­ wöhnlich unmöglich ist, dass alle Überlieferer falsch liegen.55 Die Anzahl der nötigen unabhängigen Überlieferer ist nicht wirklich numerisch festgelegt. Vielmehr ist die maßgebliche Grenze dann erreicht, wenn es gewöhnlich nicht mehr möglich ist, dass die überlieferte Information falsch ist. Als klar veran­ schaulichendes Beispiel ist mir folgendes untergekommen, von dem mir jedoch die Quelle nicht mehr in Erinnerung ist, das ich aber dennoch erwähnen möchte. Dass der erste Weltkrieg wirklich stattgefunden hat, wissen wir mit definitiver Gewissheit (obwohl die danach Geborenen es nicht selbst wahrgenommen ha­ ben), denn die Anzahl der unabhängigen Überlieferer / Zeitzeugen ist so groß, dass es gewöhnlich unmöglich ist, dass sie sich irren oder auf eine Lüge einig­ ten. Alleine auf Grund dieser Tatsache würde kein vernünftiger Mensch behaup­ ten, dass diese Information falsch / nicht authentisch sein könnte. Für diese Ge­ wissheit ist es nicht mehr nötig, die Verlässlichkeit einzelner Überlieferer oder die Vollständigkeit einzelner Überlieferungsketten (Sanad) zu überprüfen, was eine reale Mutawätir-Überlieferung ausmacht. Diese Art der definitiven Ge­ wissheit der Authentizität ist auch schon bei geringer verbreiteten Informationen erfüllt als dem erwähnten Beispiel und wird generell auch für den Korantext be­ ansprucht. Auch manche Überlieferungen aus der Sunnah werden als Sunnah mutawätirah bezeichnet. Entweder mutawätir lafziyy - im genauen Wortlaut oder mutawätir m a’nawiyy - in einer einheitlichen Bedeutung, aber mit unter­ schiedlichem Wortlaut. Ersteres wird als äußerst selten, letzteres als häufiger erachtet. Wobei al-Djuday‘ dazu wertvoll anmerkt, dass die Erachtung von Sun­ nah als mutawätir nicht im erwähnten zwingenden (darüriyy) Sinne gemeint ist, sondern sich aus Untersuchungen zahlreicher verlässlicher Überlieferungswege ('Asänid, Sing. Sanad) ergibt, weshalb er dies als theoretisch (nazariyy) mutawätir bezeichnet.56 Wird diese geforderte Anzahl in einer Überliefererebene (Tabaqah) nicht er­ reicht und ist somit ein Fehler gewöhnlich nicht mehr definitiv ausgeschlossen, dann spricht man von einer 'Ähäd-Überlieferung (einzellinig), selbst wenn dies von zwei oder mehreren Tradenten gleichartig überliefert ist. Die Authentizitäts­ stärke dieser Überlieferungen ist Gegenstand näherer Untersuchungen und vari­ iert auf Grund der Vollständigkeit der Überlieferungskette ('ittisäl al-sanad), Vertrauenswürdigkeit ( ’Adälah) und Genauigkeit (Dabt) der einzelnen Traden­ ten, eventueller Widersprüchlichkeit des Inhalts zu stärkeren Überlieferungen 55 Vgl. M. ‘Adjdjadj al-Khatib, 'Usül al-hadith (Beirut: Dar al-fikr, 1999), 301; ‘Abd Allah al-Djuday‘, Tahrir ’ilm al-hadith (Leeds (GB): Al Juday Research & Consultations, 2003), I, 42 f.; Mahmüd Tahhan, Taysir mustalah al-hadith (Riad: Maktabh al-ma‘arif, 9. Aufl. 1996), 19 f.; Ferid Heider, Einführung in die Hadithwissenschaften (Berlin, Karls­ ruhe: DIdI, 2007), 105 ff. 56 al-Djuday‘, Taysir ’ilm 'usül al-fiqh, 138 f.; al-Djuday‘, Tahrir ’ilm al-hadith, I, 43 f. 16 Einleitung (Shudhüdh) und verborgenen Schwachpunkten ( ’Ilal, Sing. ’Illah)57 welche in der Hadith-Forschung untersucht werden.58 Authentizitätsklassen der 'Ähäd-Überlieferungen und ihre Bestimmung: Da bei 'Ähäd-Überlieferungen (einzellinige) Fehler nicht mehr kategorisch aus­ geschlossen werden können, sind sie Gegenstand der erwähnten näheren Unter­ suchungen und werden je nach Ergebnissen eingeteilt in die folgenden, abstei­ gend angeordneten Authentizitätsklassen. Die Beschreibung ihrer Bestimmung ist im Sinne der Einführung nur allgemein angeführt und in der Hadith­ Forschung noch differenzierter (siehe weitere Details in entsprechender Fachli­ teratur). • sahih („gesund“ / richtig): hoch wahrscheinlich authentisch; da alle Tradenten der vollständig bekannten, lückenlosen Überlieferungskette (Sanad) bekannt, überprüft vertrauenswürdig ( ’ädil), genau (däbit) sind,59 und auch im Inhalt der Überlieferung keine unscheinbaren Mängel ( rIlaI) oder Widersprüch­ lichkeit zu stärkeren Überlieferungen (Shudhüdh) auftreten.60 • hasan („gut“ / akzeptabel): wahrscheinlich authentisch; da kleinere Män­ gel in den bei sahih erwähnten Bedingungen existieren, wie beispielsweise eine etwas vermindert verlässliche Genauigkeit (Dabt) eines bekannten Überlieferers. (Von manchen wird auch die Bezeichnung hasan(un) sahih in Kombination verwendet, über dessen Bedeutung aber Meinungsverschiedenheit besteht. Meist wird es schwächer als sahih verstanden.)61 57 Dieser Fachausdruck in der Hadith-Forschung ist nicht zu verwechseln mit dem gleich­ lautenden Fachausdruck der ' Usül-Wissenschaft in Bedeutung von Wirkungsursache für eine Bestimmung (siehe Erläuterung S. 106). 58 Vgl. al-Khatib, 301 ff.; al-Djuday‘, Tahrir rilm al-hadith, I, 43-52; Heider, 107-115. 59 Die Bedingungen für die Lückenlosigkeit der Überlieferungskette sind teilweise unter­ schiedlich streng. So reicht es für Muslim, dass es möglich war, dass sich beide verlässli­ chen Überlieferer getroffen haben. al-Bukhari verlangt in seinem Werk al-Djämi’ alsahih aber zusätzlich den Nachweis, dass eine Begegnung wirklich stattgefunden hat. (Siehe: al-Khatib, 313, 316; John Burton, An Introduction to the Hadith (Edinburgh: EdinburghUniversity Press: 1994, Reprinted2001), 125). Die Vertrauenswürdigkeit - ’Adälah ist allgemein gegeben wenn von der bekannten Person keine großen Sünden (auch Mitgötterei / Shirk), Lügen, Betrug oder Vernachlässigung von religiösen Grundpflichten berichtet werden. Die Genauigkeit - Dabt ist allgemein gegeben wenn von der bekannten Person keine Ver­ gesslichkeit und Verwechslung, sondern hohe und genaue Merkfähigkeit bekannt sind (vgl. folgende Quellen). 60 al-Khatib, 303-306; al-Djuday‘, Tahrir ’ilm al-hadith, II, 791, 794-800; Heider, 116-119; Scott Lucas, Constructive Critics, Hadith Literature, and the Articulation o f Sunni Islam, Band 51 von Islamic History and Civilization, ed. Wadad Kadi und Rotraud Wielandt (Leiden, Boston: Brill, 2004), 29. 61 al-Khatib, 331-335; al-Djuday‘, Tahrir ʿilm al-hadith, I, 813-818; al-Tahhan, 48; Heider, 122 ff.; Lucas, 29. Prologe 17 Beide Überlieferungsklassen werden in der Islamrechtsgewinnung generell als ausreichend berücksichtigt, insofern sie keinen stärker erachteten Belegen wi­ dersprechen,62 denn auch bei äußerst verlässlichen Überlieferungen dieser Kate­ gorie kann die Möglichkeit des menschlichen Fehlers im Überlieferten, sei es in der Wahrnehmung, durch Vergessen oder andere Gründe, nicht kategorisch aus­ geschlossen werden, auch wenn dies als sehr unwahrscheinlich erachtet werden sollte.63 • d a ! f („schwach“): ungewiss bis unwahrscheinlich authentisch; da größere Mängel in den erwähnten Bedingungen vorhanden sind, wie oft die Unvollstän­ digkeit der Überlieferungskette oder Unbekanntheit eines genannten Überliefe­ rers (mit Ausnahmen) oder die begründete Beschuldigung eines Überlieferers mancher Lüge.64 • mawdüʿ: erfunden, nachweislich erlogen.65 62 al-Khatib, 333; al-Djuday‘, Tahrlr ’ilm al-hadlth, II, 791-794, 815, 901 f.; Heider, 116. 63 Unter sunnitischen Gelehrten aller Rechtsschulen gibt es im Allgemeinen keine Mei­ nungsverschiedenheiten über die grundlegende Maßgeblichkeit dieser Einteilungen, auch wenn in der konkreten Bestimmung sich teilweise die Geister über den Authentizitätsgrad scheiden. Seitens der Orientalisten ist man diesen Einteilungen und ihrer Verlässlichkeit vor allem anfangs äußerst skeptisch, beziehungsweise vollkommend zurückweisend gegenüberge­ standen. Die Überlieferungen speziell über den Propheten (sas), welche Rechtsangelegenheiten betreffen und allgemein erst ab dem zweiten Jhdt. n. H. immer häufiger verschriftlicht wurden, wurden angeführt von Goldziher und Schacht, als Erfindung zur Legitimierung der unterschiedlichen Islamrechtsauffassungen erachtet (siehe Joseph Schacht, „A Revaluation of Islamic Traditions“, in Hadlth - Origins and Developments, ed. Harald Motzki, Band 28 von Formation of the Classical Islamic World, ed. Lawrence Conrad (Hants (GB): Ashgate Publishing Limited, 2004), 27-32, 37 f.; John Burton, „Notes to­ wards a Fresh Perspective on the Islamic Sunna“, in ebda, 39 f.) In späterer Folge sind auch Orientalisten immer mehr von Teilen der Theorien beider in diesem Zusammenhang abgekommen. Der zeitgenössische Orientalist Harald Motzki hat grundlegende Ergebnis­ se in der Authentizitätsnegierung von Schacht und auch von Juynboll weitgehend wider­ legt (siehe Harald Motzki et al., Analysing Muslim Traditions, Band 78 von Islamic History and Civilization, ed. Sebastian Günther und Wadad Kadi (Leiden, Boston: Brill, 2010), 1-4, 44 ff., 49, 122 ff.; vgl. Lucas, 11). Da die ausführliche Behandlung dieser Theorien nicht Thema dieser Dissertation sind und ihr Kernthema die Grundlagenforschung der sunnitischen Islamrechtswissenschaft ist, werden die unterschiedlichen Argumentationen hier nicht näher beleuchtet und die Überlieferungen zur Forschung in Betracht gezogen, welche zumindest unter Sunniten im Sinne der dargestellten Kategorisierung gemäß der Hadlth-Forschung allgemeine Aner­ kennung finden. 64 al-Khatib, 337-350; al-Djuday‘, Tahrlr ’ilm al-hadlth, II, 905 f.; Heider, 124-139; Lucas, 29. 65 al-Khatib, 315; al-Djuday‘, Tahrlr ’ilm al-hadlth, II, 1039 ff.; Heider, 139 f.