Kognitive Psychologie II Prof. Dr. J. Becker, WS 2003/2004 Gedächtnis I 1. Nach Ebbinghaus haben Behaltenskurven einen typischen Verlauf: Schnelles Vergessen am Anfang, das sich immer mehr verlangsamt. Mit der Ersparnismethode lässt sich nachweisen, dass Gedächtnisspuren auch dann noch da sind, wenn nicht mehr erinnert werden kann. 2. Das klassische Modell des Gedächtnisses besteht aus sensorischem Speicher, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis. 3. Wichtige Annahme des klassischen Modells: Wird der Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses (der maximal mögliche Inhalt wird Gedächtnisspanne genannt) memoriert, erhöht sich seine Wahrscheinlichkeit, in das Langzeitgedächtnis überzutreten. 4. Heute wird die Existenz eines besonderen Kurzzeitgedächtnisses abgestritten. Die Schnelligkeit, mit der man vergisst, ist eine Funktion der Lernintensität. 5. Anders als im klassischen Modell wird Lernintensität nicht mit Ausmaß des Memorierens gleichgesetzt sondern mit Tiefe der Verarbeitung. Nur tiefe d.h. bedeutungshaltige Verarbeitung führt zu besserem Verhalten, d.h. langfristigem Behalten. 6. Der Umfang der Gedächtnisspanne hängt davon ab, wie viel wir in einer bestimmten Zeitdauer memorieren können. Etwa 1,5 Sekunden können wir mit verbalem Material füllen. Dann müssen wir wieder zum Anfang zurückkehren. Sonst ist die Information verloren. Man nennt dies die artikulatorische Schleife. Daneben gibt es einen räumlichvisuellen Notizblock und eine zentrale Exekutive, die beides koordiniert. 7. Die Absicht zu lernen (intentionales Lernen) bringt gegenüber Lernen ohne Absicht (inzidentelles Lernen) keinen Behaltensvorteil. 8. Die PQ4R Methode (Preview, Questions, Read, Reflect, Recite, Review) zwingt zu elaborativer Verarbeitung beim Lesen von Texten und erhöht daher die Behaltensleistung. 9. Analog zum Potenzgesetz der Übung gibt es ein Potenzgesetz des Vergessens. Der Erinnerungsverlust verlangsamt sich mit zunehmendem zeitlichem Abstand von der Lernphase. Diese Beziehung zeigt sich auch bei Vergessensanalysen über Zeitintervalle von 30 bis 50 Jahren. 10. Die neuronale Basis für diese psychologische Beziehung ist eine negativ beschleunigte Abnahme der Langzeitpotenzierung an der Synapse. Langzeitpotenzierung ist das Ergebnis von Lernen und wird als neuronale Entsprechung der Gedächtnisspur interpretiert. Die Stärke einer Gedächtnisspur zerfällt synchron zum Zerfall der durch Lernen verursachten Veränderungen an der Synapse. Diese Theorie des Vergessens nennt man daher auch Zerfallstheorie des Vergessens. Seite 2 11. Neben dem Vergehen von Zeit wird als weiterer Faktor, der über den Verlust von Gedächtnisinhalten bestimmt, die Existenz von Interferenzen zwischen Gedächtnisinhalten postuliert. Werden zu einem Reiz zusätzliche Assoziationen gelernt, kann dies ein Vergessen alter Assoziationen bewirken. 12. Ein Beispiel für Interferenzen ist der Fächereffekt: Je mehr Fakten mit einem Begriff assoziiert sind, desto länger dauert der Abruf jedes einzelnen Faktums. Der Fächereffekt kann mit der Theorie der sich ausbreitenden Aktivation erklärt werden. 13. Daß Interferenzen die eigentliche Ursache für Vergessen sind, behauptet die Interferenztheorie des Vergessens. 14. Das Lernen von redundantem Material führt nicht zur Interferenz mit einem Gedächtnisinhalt und kann dessen Abruf sogar erleichtern. 15. Kann man sich an einen Sachverhalt nicht mehr erinnern, besteht die Möglichkeit seiner Rekonstruktion aufgrund von Inferenzen, die zum Zeitpunkt des Abrufs vorgenommen werden. Solche Inferenzen werden auch auf der Basis von schematischem Wissen gemacht, wobei der Prozess des Inferierens häufig automatisiert und ohne bewußte Kontrolle abläuft. 16. Die Aktivation von Schemata führt beim Erinnern zur Einpassung von Texten in die aktivierte Wissensstruktur. 17. Eine Strategie beim Abruf von Gedächtnisinhalten ist, nach solchen Sachverhalten zu suchen, die aus Plausibilitätsgründen als wahrscheinlich erscheinen. Gedächtnis II 1. Je mehr man elaboriert, desto besser behält man. Allerdings steigt auch die Zahl der Inferenzen, die man als Erinnerung wiedergibt. 2. Schematische Wissensstrukturen bilden eine Grundlage für Inferenzen, wenn gelerntes Material erinnert werden soll. 3. Der Abruf von Gedächtnisinhalten wird erleichtert, wenn es beim Lernen gelingt, dem Material eine hierarchische Organisation aufzuprägen. Mnemotechniken insbesondere die Methode der Orte basieren auf der Bildung einer Organisation des Lernmaterials, indem es an eine bestehende Organisation (Folge von Orten) angebunden (assoziiert) wird. Das Erinnern erleichternde Reize wie diese Orte bezeichnet man als Schlüsselreize. 4. Generell sind die Chancen, ein zurückliegendes Ereignis zu erinnern am größten, wenn die physikalischen, mentalen und emotionalen Umstände beim Erinnern denen beim Lernen entsprechen, anders formuliert der Kontext, in dem der Gedächtnisabruf stattfindet dem Lernkontext entspricht. Zum Kontext zählen Merkmale des Lernorts, Stimmung beim Lernen, körperlicher Zustand beim Lernen. Man spricht in diesem Zusammenhang von state dependent learning. Seite 3 5. Das Prinzip der Enkodierspezifität besagt, dass Worte besser erinnert werden, wenn ihr Abruf im Kontext derselben Wörter getestet wird, in dem sie gelernt wurden. 6. Die in 4. und 5. angesprochenen Phänomene kommen dadurch zustande, dass Lernen Verbindungen zwischen Gedächtnisinhalten etabliert und diese Verbindungen als Abrufwege dienen.Wege führen von einem Start zu einem Ziel, und um den Weg zu nutzen muss man den Anfang erwischen. Analog führt die Aktivation eines Gedächtnisinhalts über den Abrufweg zu einem weiteren Gedächtnisinhalt. Wenn jedoch das Ausgangsgedächtnis nicht aktiviert wird, ist ein Abrufweg keine Hilfe beim Auffinden eines Zielinhalts. 7. Analog sind Lernstrategien eine Hilfe für bestimmte Gedächtnistests, für andere Tests aber nicht. So führen einige Strategien zu ausgeprägtem Quellengedächtnis und weniger zu Vertrautheit, andere Strategien leisten das Gegenteil. Quellengedächtnis ist essentiell für Erinnern, Wieder erkennen basiert dagegen entweder auf Quellengedächtnis oder auf Vertrautheit plus Inferenz. 6. Neben Gedächtnisinhalten, zu denen wir einen bewussten Zugang haben, existieren auch Gedächtnisinhalte, deren Vorhandensein uns nicht bewusst ist (Beispiel Schreibmaschine). Auch wenn die Lage der einzelnen Buchstaben der Tastatur nicht erinnert werden kann, äußert sich das Wissen darum beim Schreiben. Implizites Gedächtnis (im Gegensatz zu explizitem Gedächtnis) äußert sich in Gedächtnistests, die keine Aufforderung sich zu erinnern enthalten (indirekte Gedächtnistests) nicht aber in direkten Gedächtnistests wie freies Erinnern, die mit einer Aufforderung verbunden sind. Gedächtnisinhalte, die im direkten Gedächtnistest nicht abrufbar sind, können sich durchaus im indirekten Test äußern. Man nennt dieses Phänomen eine Dissoziation. Meist ist der indirekte Test eine Form von priming (Bahnung, Erleichterung), z.B. Wortstammergänzung. Doch äußert sich das implizite Gedächtnis auch in einer Reihe von Gedächtnis basierten Täuschungen. 7. Implizites Gedächtnis kann als Konsequenz einer erhöhten Verarbeitungsflüssigkeit beschrieben werden, die durch die Begegnung mit einem bestimmten Reiz im Kontext einer bestimmten Aufgabe produziert wurde. Die Änderung der Flüssigkeit wird manchmal entdeckt als Gefühl eines mit dem Reiz verbundenen Zustands des Speziellen. Oft wird das „Spezielle“ auf eine Ursache zurückgeführt, die aber nicht unbedingt der Grund sein muss. Die Flüssigkeitsänderung ist reiz- und aufgabenspezifisch. Sie wirkt daher nur, wenn dem gleichen Reiz und der gleichen Aufgabe wieder begegnet wird. Daher wird die Behaltensleistung in einem indirekten Test wie perzeptuelle Identifikation durch eine perzeptuell orientierte Verarbeitung in der Lernphase gefördert, während Erinnern und Wieder erkennen als direkte Tests wie schon erwähnt von einer Bedeutungsorientierten Verarbeitung in der Lernphase profitieren. 8. Dissoziationen sind bei Normalen, besonders gut aber bei Amnestikern zu beobachten. Korsakoff-Amnestiker (Amnesie aufgrund einer bei Alkoholikern häufigen Fehlernährung) zeichnen sich durch eine starke anterograde Amnesie aus. Sie können keine neu aufgenommenen Informationen dauerhaft so speichern, dass sie diese Informationen bewusst erinnern können. In indirekten Gedächtnistests zeigt sich dann doch, dass sich eine Gedächtnisspur gebildet hat. 9. Neben implizitem Gedächtnis gibt es auch ein implizites Lernen. Man lernt Prozeduren (prozedurales Wissen) zur Ausführung von Aufgaben, ohne dass man beschreiben kann, worin sie bestehen, also keinen verbalen Zugriff auf sie hat. Seite 4 Denken I 1. Kognitive Aktivitäten sind ihrem Grunde nach Problemlöseprozesse, da sie zweckgerichtet sind. Wesentliche Merkmale sind Zielgerichtetheit, Zerlegung in Teilziele und Anwendung von Operatoren, also Handlungen zur Erreichung von Teilzielen. 2. Problemlösen kann als Absuchen eines Problemraumes beschrieben werden, der aus verschiedenen Problemzuständen besteht. Es gibt einen Ausgangszustand, einen Zielzustand und intermediäre Zustände. Operatoren überführen einen Zustand des Raumes in einen anderen. 3. Operatoren werden hauptsächlich erworben durch Entdecken, Analogiebildung und direkte Instruktion. 4. Problemlösewissen bezeichnet man auch als prozedurales Wissen oder Wissen darüber, wie etwas zu tun ist im Gegensatz zu deklarativem Wissen oder Faktenwissen. 5. Prozedurales Wissen kann man als Produktionensystem formal repräsentieren. Diese bestehen aus einzelnen Produktionsregeln, die sich zusammensetzen aus einem Bedingungsteil, einem Handlungsteil und einer "wenn, dann" Beziehung. 6. Muss zwischen verschiedenen Operatoren gewählt werden, wenden Menschen häufig folgende Auswahlkriterien an, Vermeidung der Zustandswiederholung, Unterschiedsreduktion und Mittel-Ziel-Analyse. 7. Um Probleme lösen zu können, müssen sie so repräsentiert werden, dass sich Lösungswege eröffnen. 8. Voraussetzung dafür ist, Objekte in neuen funktionalen Zusammenhängen sehen zu können und nicht der funktionalen Fixierung zu erliegen. 9. Ein anderes Hindernis für erfolgreiches Problemlösen sind sog. Einstellungseffekte. Bestimmte Operatoren werden aufgrund früherer Erfahrungen gegenüber anderen Operatoren bevorzugt. 10. Unter Inkubationseffekten versteht man das relativ schnelle Finden einer Lösung für ein Problem, nachdem man das Suchen nach einer Lösung für einige Zeit eingestellt hat. Inkubationseffekte treten bei sog. Einsichtsproblemen auf, Problemen, deren Lösung von einer einzigen entscheidenden Einsicht abhängt. 11. Problemlösekompetenzen für bestimmte Inhaltsbereiche lassen sich durch intensives Üben erwerben. Man spricht dann von Experten im Gegensatz zu Novizen. 12. Spezielle Fertigkeiten werden typischerweise in drei Phasen erworben, der kognitiven, der assoziativen und der autonomen Phase. 13. Der Leistungszuwachs durch Übung folgt einer Potenzfunktion sowohl bei einfachen als auch bei komplexen Problemen wie mathematische Beweisführungen. Seite 5 14. Übung bezieht sich sowohl auf taktisches Lernen, also dem Lernen von Operationen, die der Lösung von Teilproblemen dienen, als auch auf strategisches Lernen, worunter man die optimale Organisation der Lösung des Gesamtproblems versteht. 15. Ein wichtiger Aspekt von Expertentum ist eine Repräsentation von Problemen, die die Anwendung von effektiven Problemlöseprozeduren ermöglicht. Experten sehen bei Problemen Muster aufeinander bezogener Elemente, die mit Lösungsmöglichkeiten verknüpft sind. 16. Experten sind besser in der Lage, Problembezogene Informationen zu behalten und abzurufen. 17. Für einen Inhaltsbereich erworbene Fähigkeiten lassen sich nicht auf einen anderen Inhaltsbereich übertragen. Nach der Theorie der identischen Elemente ist ein positiver Transfer von Übung in einem Gebiet auf ein anderes Gebiet in dem Maße möglich, in dem die Gebiete gemeinsame Elemente haben. Elemente bezeichnen dabei abstrakte Wissenseinheiten. 18. Eine pädagogische Folgerung daraus ist, Inhalte auf ihre Grundbausteine hin zu analysieren und diese besonders intensiv zu üben (Komponentialanalyse). Dabei muss bei jeder Komponente die Beherrschung durch den Schüler begleitend kontrolliert werden (beherrschungsorientiertes Lernen). Intelligente Tutorensysteme können diese Kontrolle übernehmen. Denken II 1. Durch schlussfolgerndes Denken gelangt man von schon Bekanntem zu weiterem Wissen, das im Bekannten implizit enthalten ist. 2. Zu richtigen Schlüssen gelangt man, wenn man sich an die Vorgaben der mathematischen Logik hält. 3. Die Regeln der Logik sind jedoch nicht identisch mit kognitiven Prozessen, wie der Mathematiker Boole irrtümlich annahm. 4. Die deduktive Logik betrifft das Schließen in Fällen, in denen sich die Folgerungen mit Gewissheit aus den Prämissen ableiten, während beim induktiven Schließen die Folgen sich nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus den Prämissen ergeben. 5. Bei bedingten Aussagen der Art "wenn Sie die Vorlesung genossen haben, dann schreiben Sie die Klausur" ist eine wichtige Schlussfolgerungsregel der modus ponens. Ist das Antezedens gegeben, kann die Konsequenz erschlossen werden. Die andere Schlussregel ist der modus tollens: Von der Verneinung des Konsequenz kann auf die Verneinung des Antezedens geschlossen werden. "Sie haben an der Klausur nicht teilgenommen, also haben sie die Vorlesung nicht genossen". 6. Menschen wenden den modus ponens ohne größere Schwierigkeiten an nicht aber den modus tollens. Weiterhin neigen Menschen zu Fehlschlüssen, die als Ablehnung des Antezedens und als Bestätigung der Konsequenz bezeichnet werden. Seite 6 7. Erklärungen dafür sind, dass Menschen konditionale Aussagen bikonditional interpretieren und dass sie die Prämissen nicht als sicher sondern nur als wahrscheinlich betrachten. 8. Die bekannteste Demonstration für die Schwierigkeit bei der Anwendung des modus tollens ist die Auswahlaufgabe von Wason. Bei dieser Aufgabe kann das Verhalten mit der Annahme erklärt werden, dass die Probanden Karten auswählen, die aus einer probabilistischen Perspektive informativ sind. 9. Kleidet man die Wason-Aufgabe textlich als Vorschrift ein (Erlaubnisschema der logischen Konjunktion wenn), schneiden die Probanden besser ab, was von einigen Autoren mit deiner evolutionär erworbenen Fähigkeit, Lügner zu entlarven, erklärt wird. 10. Häufig beinhalten Schlüsse den Umgang mit Quantoren, also quantitative Angaben wie einige, alle, kaum, kein, meistens. In der Psychologie ist der kategoriale Syllogismus besonders intensiv untersucht worden. Beispiel: alle A`s sind B`s, alle B`s sind C`s, also sind alle A`s C`s. Die meist diskutierte Theorie dieser Schlüsse ist die Theorie der mentalen Modelle. Aus den Prämissen wird ein mentales Modell konstruiert, das dann für Schlussfolgerungen inspiziert wird. Dieses Modell muss nicht zwangsweise das richtige sein, so dass es zu Fehlschlüssen kommen kann. 11. Das wichtigste Modell des induktiven Schließens ist das Bayes-Theorem. Dieses Theorem beschreibt wie man aus einer a priori Wahrscheinlichkeit und einer bedingten Wahrscheinlichkeit eine a posteriori Wahrscheinlichkeit als Wahrscheinlichkeit der Konklusion berechnen kann. 12. Ein wichtiger Grund für Wahrscheinlichkeitsschätzungen, die von den Vorschriften des Bayes-Theorems abweichen, ist die mangelnde Berücksichtigung von a priori Wahrscheinlichkeiten. 13. Bewusste Wahrscheinlichkeitsurteile stimmen häufig nicht mit dem Bayes-Theorem überein, tatsächliches Verhalten dagegen schon eher. 14. Das Schätzen von Wahrscheinlichkeiten wird dadurch beeinträchtigt, dass es von Merkmalen des Gedächtnisabrufs und von Ähnlichkeitsbeziehungen beeinflusst wird. 15. Wahrscheinlichkeitsschätzungen spielen eine große Rolle beim Treffen von Entscheidungen, wenn die in der Zukunft liegenden Konsequenzen einer Entscheidung nicht mit Sicherheit eintreten. In diesem Fall müssen Eintretenswahrscheinlichkeiten für die Konsequenzen kalkuliert und mit deren Nutzen multipliziert werden. Der resultierende erwartete Nutzen für die einzelnen Alternativen ist die Basis für Entscheidungen. Die Alternative mit dem höchsten erwarteten Nutzen wird gewählt. 16. Menschen weichen in systematischer Weise von diesem normativen Modell des Entscheidens ab.