Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Marlis von Rössing WISSENSWERT Die Zukunft der Erinnerung Erinnerung und Gedächtnis Von Anne Baier und Gudrun Rothaug Montag, 23.01.2005, 08.30 Uhr, hr2 Sprecherin: Sprecher: 06-009 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1 Musikakzent: O-Ton (p) GUE 1 neu 0‘30 Droste Helwig: Mein großes Problem an die ganz frühen E. ist dass meine Mutter mir immer sehr viel von meiner Kindheit erzählt hat und ich das nicht mehr auseinanderhalten kann, was denn da war, was sie mir erzählt hat oder was ich tatsächlich selber erlebt habe. Für mich ist Erinnerung die größte Hure der Welt. Und zwar weil sie manipulierbar ist, weil sie in einer Weise verformbar ist, auch zum Verschwinden zu bringen ist. Es gibt eigentlich nichts was ich mit meiner Erinnerung nicht machen kann. Spr: Was wir im Gedächtnis behalten, ist auch von unseren Gefühlen beeinflusst. Erinnerungen sind nicht ein für alle Mal abgespeichert. Wenn wir uns an Vergangenes erinnern, funktioniert das Gedächtnis nicht wie eine Wachstafel, eine Bibliothek oder ein Computer. Gedächtnis ist ein dynamischer und kreativer Prozess in unserem Gehirn, sagt Harald Welzer. Er ist Professor für Sozialpsychologie und Leiter des interdisziplinären Forschungsprojekts “Gedächtnis und Erinnerung” in Essen. O-Ton (p) GUE 2 O-Ton Welzer 0‘48: Gedächtnis verändert sich immer, Gedächtnis ist extrem gegenwartsbezogen. Das hat auch einen evolutionären Grund, dass das so ist. Das Gedächtnis dient funktional eigentlich nur dazu sich erinnern zu können wo man irgendwie Nahrung versteckt hat oder ein Versteck gefunden hat. Es hat einen Überlebenswert weil man sich daran erinnern kann und es wieder benutzen kann. Das bedeutet auch Gedächtnis hat gar nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern es ist funktional rein gegenwartsbezogen. Wir schreiben ständig unsere eigene Lebensgeschichte um nach den Erfordernissen der Gegenwart und Gesellschaften schreiben ihre eigenen Vergangenheit auch nach den Erfordernissen der Gegenwart um. Spr: “Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers”, sagt ein geflügeltes Wort. Selbsterlebtes vermischt sich in der Rückerinnerung häufig mit nachträglich Gelesenem oder Gehörtem und wird immer aus der gegenwärtigen Sicht erinnert. Auch das Gedächtnis einer Gesellschaft ist dynamisch und gegenwartsbezogen und hält sich nicht immer an historische Fakten. O-Ton (p) GUE , 1‘00 Welzer: Es gibt geschichtliche Ereignisse, auf die Gesellschaften große Stücke halten, wo man staunt, wenn Historiker das konstruieren, dass solche Ereignisse zum Teil über hunderte von Jahren im Gedächtnis der Gesellschaft überhaupt keine Rolle gespielt haben, aber hervorgeholt werden, wenn es angebracht scheint. Also die Schlacht auf dem Amselfeld für die Serben ist so ein Ereignis, der Rütlischwur für die Schweizer. Wir denken immer, wenn Gesellschaften so etwas so hoch halten und auch rituell begehen mit Jahrestagen oder sonst was, dass das tatsächlich ein historisches Ereignis gewesen ist, was die ganze Zeit für diese Gruppe ein Rolle gespielt hat, das ist häufig nicht der Fall, sondern das sind zum Teil erfundene Traditionen woran man sehen kann, dass der Gegenwartsbezug für das Benutzen 2 von Gedächtnis, Erinnerung, Geschichte viel viel wichtiger ist als das was geschichtlich tatsächlich passiert ist. Musikakzent Spr: In unserem Gehirn arbeiten drei bis vierhundert Milliarden Nervenzellen miteinander. Sie sind miteinander zu neuronalen Netzwerken verknüpft, verbunden durch sogenannte Synapsen. Je häufiger sich ein Erlebnis wiederholt, desto stärker wird das Neuronennetz – und umso dauerhafter die Erinnerung. Was wir wahrnehmen, lernen und erinnern, wird im Gehirn in unterschiedlichen Regionen und Gedächtnissystemen verarbeitet. Neben dem Kurzzeitgedächtnis, mit dem sich beispielsweise ein Kellner Bestellungen merkt, haben Wissenschaftler mehrere Systeme des Langzeitgedächtnisses definiert. Sie bilden sich in der Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen in einer Hierarchie heraus. O-Ton (p) GUE 4, 0’45 O-Ton Welzer: Menschen haben nicht ein Gedächtnissystem, sondern wie man gegenwärtig annimmt fünf. Können auch noch mehr werden, die auch in unterschiedlichen Arealen des Gehirnes verarbeitet werden, also so etwas wie ein Körpergedächtnis, die Fähigkeit Klavierspielen oder Fahrradfahren zu können Erinnerungen, die affektiv neutral sind, wie etwa die Information der Eiffelturm steht in Paris, hat ja keine emotionale Bedeutung, Wissen wird anders verarbeitet als die Erinnerung an den ersten Kuß unter dem Eiffelturm in der Hauptstadt Frankreichs. Spr: Das Gedächtnis, in dem wir unser Weltwissen abspeichern, etwa dass Paris die Hauptstadt Frankreichs ist oder H20 für Wasser steht, wird als semantisches Gedächtnis bezeichnet. Es enthält alle Fakten, die wir gelernt haben. Wer unter dem Eiffelturm den ersten Kuss bekam, erinnert sich daran mit einem anderen Gedächtnissystem, mit dem episodischen Gedächtnis. Es nimmt nicht nur Wissen, sondern auch die dazugehörigen Gefühle mit auf, erklärt der Neurowissenschaftler und Gedächtnisforscher Hans-Joachim Markowitsch. O-Ton (p) GUE 4a Markowitsch (0’47) Was wir episodisch, autobiografisches Gedächtnis nennen und was immer auch ermöglicht ne geistige Reise in die Vergangenheit anzutreten oder auch ne Zeitreise in die Zukunft anzutreten, wo wir Erinnerungen auch immer bewertet. D.h. wenn wir uns erinnern: wie war das, als wir uns zum ersten Mal verliebt haben; wie war das, als wir die Schule beendet haben, dass wir dann immer mitbewerten war das was Positives war das was Negatives und entsprechend ist das biografische Gedächtnis auch auf Hirnebene komplex vernetzt, dh. es bedarf immer eine Synchronaktivität einmal von der emotional bewertenden Ebene und einmal von der kognitiven Faktenebene. Spr: Das autobiografische Erinnern gleicht einem Puzzlespiel: Wissen und Erlebtes werden im Kontext zusammengestellt und Lücken der Erinnerung so gut es geht ergänzt. O-Ton (p) GUE 5 0’17 Droste: Wenn Sie mir was auf spannende Art und Weise erzählen würden, dann weiß ich nach geraumer Zeit, wenn sie mir z.B. sehr lebendig einen Film erzählen, dann weiß ich nicht mehr hab ich 3 ihn gesehen oder waren da ihre Erzählungen! Ich neige eher dazu, zu glauben ich habe ihn selbst gesehen! Spr: Wie manipulierbar das Gedächtnis ist, haben Psychologen nachgewiesen. So ist es scheinbar ganz einfach, neue Szenen in die Lebenserinnerungen von Versuchspersonen einzuschmuggeln. Neurowissenschaftler nennen die Manipulation der Erinnerung “false memory-Syndrom”. Solche “falschen Erinnerungen” haben auch Kinder, da sie noch nicht über gefestigten Vorstellungen von “wahr” und “falsch” verfügen, erklärt Hans-Joachim Markowitsch. O-Ton (p) GUE 6 Markowitsch 4 (0’48)Da gibt es Untersuchungen in Amerika die Frau Loftus (beispielsweise hat das so gemacht, dass sie aus dem Familienalbum sich Fotos rausgesucht hat, ein Bild Sohn und Vater zusammen und hat dann das Bild genommen und ein anderes reingemacht, so dass jetzt das Kind mit dem Vater in einem Heißluftballon über der Erde fliegen. Und wenn so ein kleines Kind sich dann sieht sich mit dem Vater im Heißluftballon sitzend, dann versucht es die Dissonanz zwischen dem Bild und woran es sich erinnert zu vermindern und erzählt wie schön es war von oben die kleinen Autos zu sehen, obwohl das Kind noch nie im Heißluftballon geflogen ist. O-Ton (p) GUE 7, 0’48 Blunk Mein großes Problem an die ganz frühen E. ist dass meine Mutter mir immer sehr viel von meiner Kindheit erzählt hat und ich das nicht mehr auseinanderhalten kann, was denn da war, was sie mir erzählt hat oder was ich tatsächlich selber erlebt habe. Das ist für mich völlig unentwirrbar. Daran hab ich mit meiner Mutter gearbeitet, weil wir es spannend finden,.. und das haben wir uns manchmal richtig auseinander schneiden können, was denn da wahr war und was sie mir alles erzählt hatte! Wobei das, was sie mir erzählt hatte schon richtig war, aber das war bei mir falsch eingeordnet. Musikakzent Spr: Unser Gedächtnis entwickelt sich durch ein höchst subtiles Zusammenspiel biologischer, psychologischer, sozialer und kultureller Prozesse. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines autobiografischen Gedächtnisses ist die Sprache. So erinnerten sich beispielsweise Kinder, die eine Ausstellung besuchten, nur an die Bilder über die sie gemeinsam mit Erwachsenen gesprochen hatten. O-Ton (p) GUE 8a Cordula O-Ton Dialog 2 Jähriges Kind mit Mutter Spr: Erinnerung will gelernt sein. Memory Talk wird ein solcher Dialog zwischen Erwachsenen und Kindern genannt. Erst auf diese Weise, werden Erlebnisse für kleine Kinder zu Erfahrungen. Erwachsene helfen Ereignisse sprachlich zu strukturieren und das Kind lernt so Erinnertes in einer bestimmten Form zu ordnen und wieder abzurufen. O-Ton (p) GUE 9 0’20 Welzer: in sofern ist alles das wie wir erinnern und was wir erinnern Produkt von sozialen Kommunikationen und deshalb ist Gedächtnis nicht zureichend zu betrachten von der biologischen Seite einerseits oder einer rein sozialwissenschaftlichen andererseits. Spr: ...sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer, der gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler Hans-Joachim Markowitsch ein interdisziplinäres Forschungsprojekt am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen leitet. Die Projektgruppe “Gedächtnis und Erinnerung” untersucht auch die Wechselwirkung 4 zwischen Gehirn und Psyche und möchte erforschen, wie stark unser Gedächtnis durch soziale Einflüsse geprägt ist. Die Arbeitsthese lautet: das autobiografische Gedächtnis hat von Anfang an eine soziale Komponente: unser Erinnern ist immer auch eine Rückschau in der Kommunikation mit und für die anderen. Und das bedeutet, dass Erinnerung sich mit dem Gebrauch verändert. O-Ton (p) GUE 10, 0’40 Welzer: Was u.a. daran liegt, dass wenn man sich wieder erinnert an etwas ja eine Erinnerung abruft, sie in irgendeiner Weise kommuniziert, also sich selbst vor Augen stellt und jemand anderem erzählt und sie irgendwann wieder zurückschreibt die Erinnerung. Und es ist so, wenn man eine Erinnerung zurückschreibt immer Teile des Kontextes mit zurückgeschrieben werden in der man die Erinnerung benutzt hat, kommuniziert hat. Insofern ist Erinnerung immer die Erinnerung an ein Ereignis plus die Erinnerung an seine Erinnerung. Spr: Der soziale Raum, in dem Menschen ihre Sichtweisen miteinander austauschen und sich über Dinge die geschehen sind verständigen, wird als “kommunikatives Gedächtnis” bezeichnet. Es ist Erinnerung, die sich durch Kommunikation ständig verändert. Das kommunikative Gedächtnis umfasst in der Regel drei Generationen. Es ist von der mündlichen Weitergabe des Erlebten abhängig und bricht dann ab. O-Ton (p) GUE 11, 0’32 Assmann: Das kommunikative Gedächtnis verlängert sich, stellt sich her durch Kommunikation, kommunikativen Austausch. Das bedeutet Kommunikation ist, was Erinnerungen lebendig hält. Spr: erklärt Aleida Assmann, Professorin für Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz. Sie hat gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, die Begriffe kommunikatives und kulturelles Gedächtnis geprägt. Gedächtnis ist die Grundlage von Gemeinschaft und Kultur, diese Theorie entwickeln die beiden seit gut 20 Jahren. Das kommunikative Gedächtnis ist eine Art “Kurzzeitgedächtnis”; das kulturelle Gedächtnis, ist das Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft. O-Ton (p) GUE 13, 0’34 Assmann Es basiert nicht nur auf Kommunikation und Austausch, sondern vor allem auch auf gewissen Medien und Rahmenbedingungen, dazu zählen wir im Raum solche Dinge wie Denkmäler, in der Zeit solche Dinge wie Jahrestage und es gibt dazu die wichtigen Institutionen, die es verankern, Bibliotheken, Museen, Archive, usw. Diese ganzen Institutionen kommen dazu, es ist die symbolische Auslagerung von Medien, die es ermöglicht, dass Menschen sich über Generationen hinweg auf dieselben Themen und Texte beziehen können! Spr: Im kulturellen Gedächtnis wird aufbewahrt, was einer kulturellen, ethnischen und politischen Gemeinschaft wichtig ist. Das kulturelle Gedächtnis sichert die Kommunikation über die Lebenszeit der Individuen hinaus. Früher, so Aleida Assmann, hatte das kulturelle Gedächtnis eine relativ geschlossene Gestalt. Staat, Kirche, Schule und Familie waren Institutionen, die einen festgelegten Wissensfundus an immer neue Generationen vermittelten. 5 O-Ton (p) GUE 14, 0’20 Assmann: ....so etwas wie einen einheitlichen innerhalb einer Schicht, verbindlichen Wissenskanon, an dem man partizipierte, so wie etwas wie ein nationales Gedächtnis. All das hat sich in unserer Zeit sehr stark geändert. Wir leben in einer Mediendemokratie, d.h. an was wir uns erinnern und was wir für wichtig halten, das wird uns sehr stark von den Medien vorgegeben....Es hat sich die Struktur des kulturellen Gedächtnisses sehr stark gewandelt. O-Ton (p) GUE 15 0’15 Collage : Rundfunkansprache….evtl Collage?!… Spr: So vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht von Fernsehen, Radio oder Zeitung an die verschiedensten Jahrestage erinnert werden. Sei es an das Ende des 2. Weltkrieges, sei es an den Mauerfall oder den 11. September in New York. Diese Jahrestage oder auch andere Rituale halten Erinnerung wach. Dadurch bleiben auch Ereignisse, die schon lange zurückliegen, als Teil des kommunikativen Gedächtnisses lebendig. O-Ton (p) GUE 16 0’20 julia Jedes Jahr wenn Tschernobyl Jahrestag hat, geht das dann auf einmal wieder: stimmt der 26. April, da war ich ja damals in der 9. Klasse das war bei uns wahnsinniges Thema in der Klasse, dass da dieses Atomkraftwerk kaputt gegangen ist, das kommt dann immer wieder durch die Zeitung, ach ja heute ist ja Jahrestag Tschernobyl, dann erinnert man sich auf einmal wieder dran. Während man es sonst während des Jahres nicht so präsent hat. Und das wird dann natürlich schon durch öffentliche Diskussionen immer wieder hervorgeholt. Spr: Nicht jeder Jahrestag ist mit solchen persönlichen Erinnerungen verknüpft. Zum Beispiel der 27. Januar; seit 2005 ist er UN-Weltgedenktag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Ein Gedenktag, der für Aleida Assmann ein Beispiel für die manchmal große Kluft zwischen individuellem und offiziellem Erinnern ist: O-Ton (p) GUE 17 0’22 Assmann: Wir haben das Paradoxon, wenn wir den 27. Januar nehmen, der seit 96 als ein offizieller Gedenktag im Kalender steht. So muss man sagen, dass die Mehrheit, die Masse der Deutschen dazu keinen persönlichen Erinnerungsbezug hat. Das ist ein Datum, das man über Geschichtsbücher über Bücher, über Lernen über mediale Vermittlung sich sehr nahe bringen kann, angefangen damit, dass man ein Buch von Primo Levi aufschlägt. Aber es gibt kein persönliches Link dazu. Spr: Die autobiografische oder persönliche Erinnerung an die Zeit und die Verbrechen des Nationalsozialismus verschwindet langsam; die Generation, die jetzt noch ein lebendes Korrektiv für unseren Umgang mit der Erinnerung daran ist, wird bald nicht mehr leben. Dadurch wird sich die deutsche Erinnerungskultur verändern. O-Ton (p) GUE 18 0’40 Assmann: Wir sind im Moment in einer Phase, die können wir als eine Art Schattenlinie bezeichnen, die wir gerade überschreiten, Zeitzeugen, jetzt gerade was den Krieg und den Holocaust angeht, zwei Daten die zentrale Bezugspunkte für die Zukunft sind, also nicht Dinge, 6 die wir einfach hinter unserem Rücken lassen, sondern, auf die wir uns weiter beziehen werden, da ist es entscheidend, wo das Erfahrungsgedächtnis verschwindet und wir immer mehr auf die vermittelten Formen zurückgreifen. 7