Bioethik zwischen Norm- und Nutzenkultur - Ruhr

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Walter Schweidler
Vorwort
Bioethik zwischen Norm- und Nutzenkultur
Es hängt mit der genuinen Legitimationsstruktur des modernen Rechtsstaats zusammen, dass
die politische Kultur einer Gesellschaft sich ihres Fundaments am stärksten in Debatten
vergewissert, in denen politisch um etwas gestritten wird, dass nicht mehr zur Disposition
politischer Meinungsverschiedenheiten stehen darf. Solche Debatten sind in Deutschland wie
in den meisten entwickelten Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten vor allem auf dem
Gebiet der politischen und rechtlichen Bewältigung des technischen und insbesondere des
biomedizinischen Fortschritts geführt worden. In diesen Debatten sind zum Teil
unüberbrückbare Differenzen hinsichtlich der Grundüberzeugungen von Humanität und
ethischer Verantwortlichkeit in gesellschaftliche Kompromisse überführt worden, mit deren
Tragfähigkeit auch unser staatliches Zusammenleben besteht und fällt, das sich in ihnen mehr
denn je als eine Ordnung nicht des Konsenses, sondern immer auch des Dissenses sogar
hinsichtlich der letzten ethischen Überzeugungen erweisen muss.
Nirgendwo sind Politik und Ethik in einschneidenderer Weise verzahnt als in den Bereichen,
die in diesen Debatten geregelt worden sind und weiterhin geregelt werden müssen. Wir sind
durchaus noch weit entfernt davon, die Natur dieser Debatten gänzlich zu verstehen und
eindeutig rekonstruieren zu können. Worüber und auf welcher Basis wird in ihnen eigentlich
gestritten? Einerseits handelt es sich bei ihnen um große öffentliche Auseinandersetzungen, in
denen die verschiedensten Arten von Kompetenz zur Geltung kommen, von der theologischen
und philosophischen über die juristische und gesellschaftliche bis hin zur rein ökonomischen
Betrachtungsweise. Andererseits hat das Ergebnis, in das sie letztlich doch münden, eine
genuin politische Gestalt: Ob innerhalb der Gesellschaft straffrei abgetrieben werden kann, ob
Menschen, deren Hirnfunktionen definitiv erloschen sind, Organe entnommen werden
können, ob „überzählige Embryonen“ zur Durchführung der künstlichen Befruchtung in Kauf
genommen werden oder ob Stammzellen, für deren Gewinnung menschliche Lebewesen
getötet werden mussten, ins Land eingeführt werden dürfen, das haben demokratisch gewählte
Abgeordnete auf Grund ihrer politischen Legitimation zu entscheiden und zu verantworten.
Die Verwicklungen dieses Zusammenhangs zeigen sich vielleicht am deutlichsten in der
typischerweise im Endstadium solcher Debatten beschworenen Kategorie der
„Gewissensentscheidung“. Im Parlament wird, wenn die Entscheidung ansteht, der
„Fraktionszwang“ aufgehoben, den es nach dem Selbstverständnis unserer Verfassung und
unserer politischen Kultur ja eigentlich nicht geben darf. Wenn Abgeordnete immer und nur
ihrem Gewissen verpflichtet sind, welche Rolle spielt dann eine derartig explizite
Hervorhebung des Charakters ihrer „Gewissensentscheidung“ in solchen ethisch
akzentuierten Debatten? Wird in ihr ganz abstrakt die Bedeutung und Schwere der
Entscheidung, die hier zu treffen ist, noch einmal dargelegt – oder spielt der Topos
„Gewissensentscheidung“ hier nicht eher eine entlastende Rolle, insofern er suggeriert, dass,
wie immer die Verantwortlichen sich hier entscheiden werden, ihr handeln letztlich
sakrosankt und der ethischen Überprüfung entzogen ist?
Manchmal gewinnt man in der Tat den Eindruck, das mit der Berufung auf eine
„Gewissensentscheidung“ eine Art Freiraum beschworen wird, innerhalb dessen jeder und
jede, die hier eine Entscheidung zu fällen haben, auf subjektive Überzeugungen
zurückkommen, hinsichtlich derer es gar keinen Streit über Wahrheit und Falschheit,
Humanität und Inhumanität geben könnte. Mit einer ethisch akzeptablen Interpretation
dessen, was „Gewissen“ heißt, hätte dies natürlich nichts mehr zu tun. Das Gewissen, so hat
es Augustinus definiert und so ist es der Sache nach noch bei Kant und bis heute immer
gesehen worden, ist „das sittliche Gesetz, insofern es in unsere Brust geschrieben ist“. Das
heißt, das jede moralisch relevante Entscheidung auf der Anstrengung des Gewissens aufruht.
Wenn man in einem konkreten Fall unter dem Titel „Gewissensentscheidung“ diesen Aspekt
besonders hervorhebt, dann kann das in der Sicht der philosophischen Definition des
Gewissens nur eines bedeuten, nämlich, dass das sittlich gebotene Handeln den Handelnden
in einen Konflikt mit anderweitigen Verpflichtungen führt. Das klassische Beispiel bei
Thomas von Aquin ist die Frau, die ihren Mann vor dem Richter versteckt und zwischen ihrer
Verpflichtung für das Wohl der Familie und dem Gebot des Gesetzes eine Entscheidung
finden muss. Wer sich in seinem Handeln auf sein Gewissen beruft, entlastet sich deshalb in
keinem Fall von der Pflicht der ethischen Rechtfertigung seines Handelns, sondern er erlegt
sich höchstens eine zusätzliche Bürde auf. Denn seinem Gewissen zu folgen, ist selbst eine
sittliche Pflicht, so dass man, wenn das eigene Gewissen dem ethisch gebotenen Handeln
widerspricht, eigentlich nur noch schlecht handeln kann, weil man entweder das falsche tun
oder sein Gewissen verraten muss. Was aber das sittliche Gebot ist, was in einer
Entscheidungsfrage falsch oder richtig, human oder inhuman bedeutet, das ist ja eben das
Thema jener großen öffentlichen Debatten, in denen zu Recht darüber gestritten wird, wie die
Gewissensentscheidung der politisch Verantwortlichen ausfallen soll.
Aber selbstverständlich lassen sich die Auseinandersetzungen, die in den Gesprächen dieses
Bändchens dokumentiert sind, philosophisch nicht einfach so lösen, dass man aus einem
angeblichen Kanon bestimmter Inhalte des „Sittengesetzes“ gewissermaßen ethisch deduziert,
welches die richtige Entscheidung in so schwierigen Konfliktbereichen sei. Gerade zu den
biomedizinischen und bioethischen Themen gibt es verschiedene einander teilweise völlig
entgegengesetzte ethische Standpunkte, und selbst, wenn man auf Grund einsichtiger
Abwägung des Für und Wider zu einem eindeutigen Ergebnis hinsichtlich der Bewertung
bestimmter in Frage stehender Handlungsweisen kommt, erhebt sich immer noch die Frage
nach den Grenzen, in denen der Staat das moralisch gebotene mit Hilfe juristischer Gesetze
durchzusetzen legitimiert ist. Es ist wichtig, zu sehen, das gerade in den Debatten der jüngsten
Zeit über bioethische Probleme nicht immer nur einfach über die richtige ethische
Betrachtungsweise in Frage stehender Konflikte, sondern oft auch über die Grenzen und
Möglichkeiten gestritten wird, an denen sich das staatliche Handeln auszurichten hat, wenn es
per Gesetzgebung in das Leben der Bürger eingreift. Die Abtreibungsfrage ist das eklatanteste
Beispiel dafür, wie ein ethischer Streit über die Erlaubtheit der Tötung menschlichen Lebens
auf der rechtstheoretischen Ebene der Reflexion über die Durchsetzbarkeit staatlicher
Strafgebote entschieden bzw. einem mehr oder weniger dilatorischen Kompromiss zugeführt
worden ist.
Den Herausgebern dieses Bändchens scheint die Frage, welcher Art eigentlich eine Debatte
wie die, welche sich in den letzten Jahren um die Möglichkeiten der Stammzellforschung und
die Probleme des Embryonenschutzes in Deutschland und Europa ergeben hat, sei, so
klärungsbedürftig, das sie eben aus diesem Grunde das Gespräch selbst in seiner Eigenart
möglichst kongenial zu dokumentieren versuchen. Die Gespräche fanden um die Jahreswende
2001/2002 in einer Situation statt, in der die parlamentarische Entscheidung um die Zulassung
der Einführung von Stammzellen zur Forschung nach Deutschland getroffen und
gerechtfertigt werden musste. Es erschien den Herausgebern sinnvoll, die in diesen
Gesprächen vorgetragenen Erwägungen in dieser für die konkrete Gestaltung der
parlamentarischen Entscheidung relevanten Situation festzuhalten und die Verbindung
zwischen grundsätzlicher Begründung und konkretem Entscheidungsbezug, die in ihnen
gezogen ist, für die künftigen und der Sache nach wahrscheinlich noch zugespitzten Etappen
des Streites um die rechtliche Bewältigung der Probleme des biomedizinischen Fortschritts
fruchtbar zu machen.
Die Gespräche bewegen sich entlang einer Grenzlinie, die für die gesamte künftige
Entwicklung der politischen Kultur in modernen Verfassungsstaaten von charakteristischer
Bedeutung sein wird. Man kann sie ohne Übertreibung als eine kulturelle Spaltung innerhalb
der entwickelten modernen Gesellschaften bezeichnen. Es handelt sich bei ihr um ein schon
insofern höchst interessantes Phänomen, als diese Spaltungsdynamik den kulturellen
Vereinheitlichungstendenzen, wie sie eigentlich für die internationale „Globalisierung“
charakteristisch sind, entgegengesetzt ist. Während ethnische, nationale und religiöse
Kulturen sich ungeachtet aller retardierenden Momente einem immer größer werdenden
Vereinheitlichungsdruck ausgesetzt sehen, klaffen innerhalb der modernen Gesellschaften
Gegensätze zwischen Lagern auf, die man als „ethische“ Kulturen bezeichnen könnte; das
heißt, der gesellschaftliche Konsens gerät in eine Zerreißprobe zwischen
Grundüberzeugungen von Humanität und zwischenmenschlicher Verpflichtung, die einander
in ihrem Kern so entgegengesetzt sind, dass sie hinsichtlich wesentlicher moralischer
Konfliktfragen zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen führen, durch welche die Träger
der gesellschaftlich relevanten Handlungs- und Entscheidungssysteme quer zu allen
professionellen, ideologischen und religiösen Identitäten getrennt werden und durch die jene
für jede politische Kultur so entscheidende „Einigkeit über das Unabstimmbare“ verloren zu
gehen droht. Es gibt eine Tendenz zur sozialen und kulturellen Teilung entlang mentaler
Grenzlinien, die sehr konkrete Konsequenzen für die politischen und vor allem die rechtlichen
Institutionen hat, weil sie den Citizens’ Rights and the New Technologies: A European
Challenge. Report of the European Group on Ethics in Science and New Technologies on the
Charter on Fundamental Rights related to technological innovation as requested by President
Prodi on February 3, 2000 in: Biomedical Ethics, vol. 5 (2000), No. 2, 52-62, 54. ethischen
Konsens in Frage stellt, der für die institutionelle Stabilität jeder politischen und insbesondere
der demokratischen Ordnung ausschlaggebend ist. Entscheidend ist dabei, das der
intrakulturelle Streit in dieser Hinsicht die tragenden begrifflichen Fundamente der modernen
Verfassungsstaatlichkeit verfasst hat, nämlich die Ideen der Menschenrechte, der
Menschenwürde und der politischen Freiheiten, wie sie im modernen Staat als dem
politischen Streit entzogene Vorgegebenheiten betrachtet werden. Schon jetzt haben sich
Tendenzen tiefer Inkonsistenz und Widersprüche innerhalb der Normen, durch die das
gesellschaftliche Zusammenleben und die Verantwortlichkeit für die Bewahrung der Grenzen
der Humanität getragen werden, eingestellt. Der Unfrieden in demokratischen Gesellschaften
könnte gerade in der Zukunft mehr durch diese intrakulturellen Differenzen, die man
zunehmend über die verschiedensten geographischen Regionen der Welt hinweg
wiederfindet, als durch interkulturelle Streitigkeiten geprägt werden.
Man kann diese kulturelle Spaltung als einen Konflikt zwischen einer Norm- und einer
Nutzenkultur charakterisieren. Die Prinzipien unserer geschriebenen Verfassungen und der
internationalen Konventionen, die sich auf Menschenwürde und Menschenrechte berufen und
die die Gesellschaft als die Organisation des Respekts und des Schutzes aller menschlichen
Wesen gegen jeden Versuch zur Teilung der Menschheit verstehen, basieren auf unteilbaren
Normen, die als Grundlage des Zusammenlebens aller Menschen auf der Welt angesehen
werden. Die Idee einer derartigen Normkultur geht davon aus, dass es eine Verbindung
zwischen allen Angehörigen des Menschengeschlechts gibt, die es uns verbietet, irgendeinen
Angehörigen der Menschheit daraufhin zu beurteilen, ob sein Leben es „wert“ ist, gelebt zu
werden oder ob es für anderes menschliches Leben zu opfern oder zu instrumentalisieren sei.
Zu einer Normkultur in diesem Sinne bekennt sich auch noch die sogenannte „Bioethik-
Konvention“1 des Europarats, in der Menschenrechte und Menschenwürde als die
Leitprinzipien der europäischen Gesetzgebung angesehen werden und zu der in einem ihr
beigegebenen „Erläuternden Bericht“ ausdrücklich präzisiert wird, dass die Menschenwürde
und die Identität des menschlichen Lebewesens „von Beginn des Lebens an“ zu respektieren
sind. Eine solche Normkultur ist vorausgesetzt im Bericht des US-Gesundheits- und
Bildungsministeriums über die Grenzen der Stammzellforschung, wenn dieser
„grundlegenden Respekt“ auch für Embryonen außerhalb des Mutterleibes verlangt. In der
universalen Erklärung der Vereinten Nationen über das menschliche Genom und die
Menschenrechte von 1998 wird festgehalten, dass das Prinzip der Menschenwürde es
unbedingt gebietet, „Individuen nicht auf ihre genetischen Eigenheiten zu reduzieren und ihre
Einmaligkeit und Diversität zu respektieren“.2 Und im Bericht der „European Group on Ethics
in Science and New Technologies“ für den Entwurf einer europäischen Grundrechtecharta
werden als spezifische Gefahrenfaktoren, die für die Bewahrung der Grundrechte der
europäischen Bürger aus neuen Möglichkeiten und Ergebnissen der molekulargenetischen und
biotechnologischen Forschung folgen, insbesondere „die Instrumentalisierung menschlicher
Wesen durch genetische Manipulation“, „neue Formen der Diskriminierung auf Grund des
Wissens über die genetischen Eigenschaften von Menschen“ und „die Kommerzialisierung
des menschlichen Körpers“ genannt.3 In einer Normkultur kann es ihrem Selbstverständnis
nach eine Abstufung oder Relativierung des Schutzes eines menschlichen Wesens zu
irgendeinem Zeitpunkt seiner Existenz nicht geben.
Die gesamte Brisanz der bioethischen Debatte, die in den hier versammelten
Gesprächsbeiträgen geführt wird, ergibt sich daraus, dass dieser scheinbar
selbstverständlichen Berufung auf die Normkultur eben in den fortgeschrittenen
Gesellschaften, die sich als ihre rechtlichen und politischen Anwälte betrachten, eine die
Realität unseres Zusammenlebens tendenziell immer stärker bestimmende Gegenkraft
erwachsen ist, die sich auf konkurrierende, mit der Normkultur in unweigerliche Konflikte
führende gegensätzliche ethische Prinzipien und moralische Überzeugungen beruft. Es
handelt sich um die Entwicklung zu dem, was man eine „Nutzenkultur“ oder „Kultur der
Nützlichkeit“ nennen könnte. Charakteristisch für eine derartige Kultur ist die mehr oder
weniger explizite Grundannahme, dass es eine bestimmte „Qualität“ des menschlichen Lebens
ist, die es zu etwas schützens- und respektierenswertem macht. In einer Kultur der
Nützlichkeit wird das menschliche Leben als ein Vorrat erwünschter Zustände gesehen, um
deren Verwirklichung es normalen Exemplaren der menschlichen Art von Natur aus geht; sie
sind es, was wir eigentlich fordern, wenn wir unser Recht als Menschen einfordern und
einfordern wollen. In dieser Sichtweise kann sowohl ein menschliches Leben als qualitativ
„höherwertig“ betrachtet werden als ein anderes, als auch von Zuständen gesprochen werden,
in denen zwar ein biologisch als Exemplar der Menschheit zu klassifizierendes Wesen
existiert, dies jedoch kein im eigentlichen Sinne „menschliches“ Leben hat und womöglich
nie mehr haben kann. In der Konsequenz wird das menschliche Leben in dieser Sichtweise in
zwei Teile aufgespalten: Das Leben vollgültiger Personen, die von anderen ihresgleichen
respektiert und geschützt werden müssen einerseits und Zonen des menschlichen Lebens, die
nicht Personen angehören, sondern eine Art „Rohmaterial“ für die Lebensrettung,
Lebensverbesserung und Lebensgestaltung der eigentlichen menschlichen Wesen zur
Verfügung stehen können andererseits. In diese letztere Kategorie fallen etwa die Organe der
1
Vgl. Unten S. 69.
Vgl. Artikel 2 b) der Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights der UN von 1998.
3
Vgl. „Citizens’ Rights and the New Technologies: A European Challenge. Report of the European Group on
Ethics in Science and New Technologies on the Charter on Fundamental Rights related to technological
innovation as requested by President Prodi on February 3, 2000“, in: Biomedical Ethics, vol. 5 (2000), No. 2, 5262, 54.
2
für Hirntod erklärten Menschen, die man dringend Hilfsbedürftigen Transplantation überträgt,
die bei der künstlichen Befruchtung „anfallenden überzähligen Embryonen“, die zur
Forschung und zur Aufbewahrung für bestimmte medizinische Zwecke freigegeben werden
können, zu züchtendes Gewebe, Stammzellenmaterial, aber, wenn man die Logik der
Denkweise konsequent ernst nimmt, auch die Embryonen und Föten, die einer
vorgeburtlichen Untersuchung unterzogen werden, um daraufhin beurteilt zu werden, ob ihr
Leben wirklich lebenswert ist oder einem anderen, lebenswerteren zu weichen habe.
Überhaupt ist die Frage nach der Grenze zwischen diesen beiden Teilen der Menschheit eines
der Hauptprobleme, dem sich die theoretische Reflexion einer solchen Nutzenkultur zu stellen
hat.
Auf diesem Gebiet und in verschiedenen an es angrenzenden Kernfragen werden nun
wiederum eine ganze Reihe verschiedenartiger Debatten geführt, bei denen der theologische,
der ethische, der rechtstheoretische und der politische Aspekt oft in schwer
nachzuverfolgender Weise ineinander spielen. Die Auseinandersetzung um den Konflikt und
auch um die mögliche Vereinbarung zwischen Norm- und Nutzenkultur spielt sich auf so
unterschiedlichen Ebenen ab wie der spezifisch philosophischen Debatte um die Natur der
menschlichen Personalität und um die Frage, ob alle Menschen Personen seien oder das
Personsein nur in einem bestimmten Stadium des Menschseins anzusiedeln wäre, in der
juristischen Auseinandersetzung um mögliche Konzepte einer abgestuften Menschenwürde, in
der rechtstheoretischen Diskussion darüber, wo die Notwendigkeit der Durchsetzung
staatlichen Rechts gegenüber der Selbstbestimmung der Bürger gegebenenfalls zu enden
habe, aber auch in der politischen und ökonomischen Diskussion um Wettbewerbsvorteile
und Globalisierungszwänge im Umgang mit den Möglichkeiten der neuen biomedizinischen
Forschung.
Die Herausgabe der in diesem Band vereinigten Gespräche soll einerseits gerade die Vielfalt
und Komplexität dieser Gesichtspunkte noch einmal aktuell vor Augen führen und insofern zu
ihrer analytischen Differenzierung beitragen, sie soll aber vor allem auch andererseits das
Bewusstsein für die gravierenden Probleme schärfen, die sich jenseits aller theoretischen
Fragestellungen hier und jetzt für unsere Gesellschaften aus diesem Konflikt zwischen
Nutzen- und Normkultur ergeben. Es handelt sich bei ihm keinesfalls um eine akademische
Angelegenheit. Die Inkonsistenzen und Widersprüche, die sich hier ergeben, finden sich
zunehmend als elementare Probleme gesellschaftlicher Kommunikationsbarrieren,
Destabilisierungen politischer Grundwertüberzeugungen, vor allem aber auch konkret
greifbarer Rechtsunsicherheit wider. Das menschliche Leben ist nach der deutschen
Verfassungsrechtsprechung von der Nidation an geschützt, aber von der Abtreibung bis zur
Verwendung von Stammzellen ist dieser Grundsatz mit einer ihrerseits rechtlich geordneten
und angeordneten entgegengesetzten Praxis der Gesellschaft konfrontiert. Behindertes
menschliches Leben darf nach unserem Grundrechtsverständnis in keiner Weise diskriminiert
werden, aber zwei Senate des höchsten deutschen Gerichts kommen zu diametralen
gegengesetzten Entscheidungen hinsichtlich der Frage, ob die Geburt eines behinderten
Menschen ein Schadensfall sei, der zu finanzieller Kompensation zu führen hat. 4 Ein
„menschliches Wesen“ ist nach der Bestimmung der Bioethik-Konvention des Europarats
gegen jede Instrumentalisierung für Zwecke, die nicht seiner Erhaltung oder Heilung dienen,
geschützt. Aber in Erläuterung dieses Rechtssatzes wird ausdrücklich gesagt, dass die
Definition dessen, was ein „menschliches Wesen“ sei und wann es beginne, dem nationalen
4
Vgl. dazu im einzelnen: Eduard Picker: Menschenwürde und Menschenleben. Das Auseinanderdriften zweier
fundamentaler Werte als Ausdruck der wachsenden Relativierung des Menschen. Stuttgart 2002, S. 43 ff., S. 195
f.
Gesetzgeber überlassen bleibe.5 Ein und dasselbe Lebewesen kann in einem Staat der
europäischen Gemeinschaft als Mensch zu betrachten sein, in einem anderen nicht, so wie
man auf Grund unterschiedlicher Anwendung der Hirntod-Definition in einem
amerikanischen Bundesstaat (juristisch) heute als Leiche und in einem anderen als lebendiger
Mensch klassifiziert wird. Gerade in so entscheidenden Lebensfragen kann es natürlich gar
nicht anders sein, als dass der nationale Gesetzgeber sich die letzte Entscheidung über die
Anwendung bioethischer Standards in seiner Gesetzgebung vorbehalten muss. Zugleich ist
wiederum klar, dass durch die finanziellen und ökonomischen Zwänge der „Globalisierung“
der Spielraum der nationalen Gesetzgebung gegenüber Entwicklungen, die durch das
Voranschreiten anderer Länder ausgelöst werden, tendenziell geringer wird. Insofern ist eine
internationale Regelung der wesentlichen Fragen auf diesem Gebiet, nicht zuletzt aber auch
eine konsistente Bestimmung der wichtigsten Begriffe, auf die Gesetze hier rekurrieren
müssen, dringend geboten.
Walter Schweidler
5
Abschnitt 6 des Explanatory Report zur Bioethik-Konvention vom 17.12.1996 (DIR/JUR (97) 5).
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