Exzerpt_Goering (III) - Friedrich-Schiller

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Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften
Seminar: Einführung in die Medizinsoziologie
Dozent: Tobias Franzheld
Ralph Göring
23.06.2013
Exzerpt: Der medizinische Code
Der vorliegende Ansatz untersucht das Krankenbehandlungssystem (der Begriff
Gesundheitssystem scheint bewusst nicht gewählt worden zu sein, um wirtschaftliche und
andere Komponenten in den Hintergrund treten zu lassen) unter dem systemtheoretischen
Ansatz der Soziologie und versucht nachzuweisen, dass es sich bei diesem System um ein
autonomes Funktionssystem der Gesellschaft handelt. Das entscheidende Kriterium bei dieser
Frage sei die binäre Codierung der Funktionslogik dieses Systemes, wie sie laut Luhmann
allen autonomen Funktionssystemen (Politik, Recht, Wirtschaft, Religion, etc.) inne wohnt.
Diese binäre Codierung müsse asymmetrisch angelegt, d.h. nur einer ihrer beiden Werte ist
ein positiver Designationswert (nach Gotthard Günther), dem ein Reflektionswert auf der
anderen Seite gegenüber steht.
Im Krankenbehandlungssystem sei dieser binäre Code die Unterscheidung zwischen krank
und gesund, wobei entgegen normativer Erwartung der Wert krank den positiven
Designationswert darstellt. Denn nur der Krankheitszustand sei es, bei dem ein Individuum
mit dem Krankenbehandlungssystem in Berührung komme und ihm eine Leistung abverlangt.
Der Zustand gesund ist lediglich der Reflexionswert, der – durchaus erwünscht – nur die
Abwesenheit einer für das Krankenbehandlungssystem instruktiven Krankheit darstellt. Denn
sobald
etwas
als
krank
deklariert
wird,
werden
Mittel
und
Ressourcen
des
Krankenbehandlungssystems in Gang gesetzt, während im Gegenzustand nichts geschieht.
Diese Weisungsautorität gewinnt eine Krankheit vor allem durch ihre zeitliche Einheit mit
dem Körper eines Betroffenen, dem sie in gewisser Weise Schmerzen und andere
Unannehmlichkeiten androht und zufügt und was ihr uneingeschränkte Priorität einräumt.
Vor Schwierigkeiten gestellt wird diese Codierung mit der zunehmenden Modernität des
Krankenbehandlungssystems und der damit einhergehenden Verlagerung des Schwerpunktes
von Infektionskrankheiten auf Zivilisationskrankheiten, die diese Codierung unterlaufen.
Nimmt man diese zum Maßstab der Codierung, wird jeder früher oder später krank. Die
rationale Einstellung des Krankenbehandlungssystems setzt ihre Ressourcen daher nicht zur
(kostenintensiveren) Vorbeugung dieser Krankheitszustände ein, sondern reagiert erst, wenn
die Krankheit akut auftritt. Denn eine wirksame Vorbeugung wäre organisatorisch nicht
umsetzbar. Dieser Umstand zeigt außerdem, dass der Zustand gesund dem derzeitigen
Krankenbehandlungssystem keinen Anschluss ermöglicht – nur Krankheiten sind dieser
Logik folgend behandelbar.
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften
Seminar: Einführung in die Medizinsoziologie
Dozent: Tobias Franzheld
Ralph Göring
23.06.2013
Allerdings weist der Autor darauf hin, dass mit der neueren Entwicklung der Gentechnik
auch der Gesundheitsfaktor differenzierter betrachtet wird. Hier wird eine Zweitcodierung zu
Hilfe genommen: genetisch in Ordnung und genetisch bedenklich. Allerdings kollidiert diese
Unterteilung im Krankenbehandlungssystem noch mit ethischen Schranken, die ihm ein
Eingreifen auf der Ebene dieser Zweitcodierung größtenteils verwehren. Da die ethischen
Vorgaben in dieser Hinsicht variabel sind, wird sich das Krankenbehandlungssystem in
Zukunft mit dieser Unterteilung beschäftigen müssen – und in dieser Hinsicht dabei
wahrscheinlich einen Teil seiner Autonomie an andere Funktionssysteme wie etwa Politik und
Recht, vielleicht aber auch Wirtschaft und Religion abtreten müssen.
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