bochnovf wordcount 6576 [email protected] MENSCHENWÜRDE, TRANSKULTURELL ODER KULTURRELATIV? Hans-Martin Sass MENSCHENWÜRDE UND EINHEIT DER MENSCHHEIT Wir alle sind Teil unserer Kultur und definieren uns, unser Verhältnis zu Mitmenschen und unsere Handlungen innerhalb eines diskursiven Verhältnisses zu dieser Kultur und der von anderen. Kulturen sind geprägt von Traditionen, auch von Konfrontationen und Mischungen mit anderen, ebenso von internen evolutionären oder revolutionären Entwicklungen. Konfrontationen zwischen Kulturen sind nicht neu und Grenzziehungen zu anderen Traditionen gehören zum Charakter einer Kultur wie ja auch Individuen ihre Identität aus dem Verhältnis zu ihrer sozialen und sonstigen Umwelt bestimmen und bestätigen. Rückbindung ethischer Prinzipien oder Gebote an 'letzte' oder 'absolute' Werte ist Markenzeichen von Kultur, gleichgültig ob diese Rückbindung durch göttliche Offenbarung oder Vertragstheorie, Naturrecht, Herrscherdiktat oder eine Mischung aus allen innerhalb der Kultur oder in der Interaktion zwischen Kulturen validiert wird. Gibt es dann aber überhaupt universale Werte, die allen Kulturen, Religionen oder Verhaltensnormen gemeinsam sind. Oder sind Werte und Wünsche, Hoffnungen und Ängste kulturrelativ? Die Idee der Menschenwürde und die Idee der einen Menschheit gehören zusammen: Zum Konzept der Einheit der Menschheit und der Idee von der Unveräusserlichkeit von Menschenrechten für jeden Menschen gehört die Vermutung auf eine Universalität menschlicher Werte und menschlicher Würde jenseits aller kulturellen oder religiösen Ausprägungen. Die gegenteilige Position müsste zwischen Menschen und Unter-Menschen, zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheiden und kann keinen Begriff von Menschenwürde bilden. Die allgemeine Akzeptanz eines allgemeinen Sittengesetzes ist nach Kant die Bedingung der Möglichkeit überhaupt über Ethik reden und ethisch handeln zu können. Die inhaltliche Ausgestaltung dieses von Kant als kategorisch verbindlich beschriebeben Sittengesetzes allerdings war und ist kontrovers (das ist ja unser Thema), deshalb hat Kant sich bemüht, den formalen Charakter des kategorischen Geltungsanspruchs so kompromisslos zu unterstreichen. 'Anima humana originaliter religiosa' heisst es bei den christlichen Kirchenvätern. Ihres spezifisch religiösen Gehalts entkleidet, heisst das wohl, dass es zur 'materia humana' gehört, sich an etwas rückzubinden, das Identität 1 stiftet, das orientiert und Handeln rechtfertigt. Zu diesen Rückbindungen wären dann auch die säkularen Rückbindungen demokratischer, sozialistischer, anarchistischer, faschistischer, hedonistischer oder umweltbesorgter Weltanschauungen ebenso zu rechnen wie säkulare und nichtsäkulare Jungendkulte oder Neoreligionen. Die theologische Diskussion hat übrigens immer auch die 'Bösen' unter die Religiösen gerechnet und als falsche Propheten, als 'Götzendiener' oder 'Ketzer' bezeichnet. Das 'Böse' oder personifiziert der 'Satan' waren und sind immer potentielle Autoritäten für Referenz von Rückbindung und Auftrag. Sowohl in den heiigen Schriften von Judentums, Christentum und Islam erscheint der Satan als reale Gegenmacht Gottes, des ALlmächtigen und Barmherizigen. In anderen Religionen und Weltanschauungen wird weder das Böse als solches noch die Existens 'böser Menschen' bestritten. Im Gegenteil, Kultur wird als Überwindung des Bösen und als Daueraufgabe zu dessen Kontrolle verstanden. Über Jahrhunderte war die jeweils von interessierten Staaten geschützte oder sogar geförderte Seeräuberei auf den wichtigsten Handelsrouten endemisch, bis vom Ende des 18. Jahrunderts an die Engländer damit begannen, sie brutal zu bekämpfen und auszurotten; andere Länder, die ebenso wie die Engländer früher im eigenen Interesse die Piraten gefördert hatten, unterstützten sie. Jetzt wurden sie auch als das bezeichnet, was sie immer schon waren 'hostes humani generis', Feinde der menschlichen Rasse. Die Methoden des Umgangs mit dem 'Bösen', das nach biblischem Zeugnis und allgemeiner Erfahrung bevorzugt gern auch in der Maske des 'Guten' auftritt, waren unterschiedlich, teils diskursiv oder adhortativ, teils vernichtend und abschreckend. Zu den Methoden gehörten Feuer, Schwert, Inquisition, Folter, aber auch Mission, Vorbild, Diskurs. Innerhalb unserer Thematik scheint mir die Erinnerung an das Böse wichtig zu sein, vor allem aber der Hinweis, dass das Böse auch und nicht selten und dann in besonders gefährlicher Form unter der Maske des Guten, der Kultur, im Namen Gottes oder im Interesse der Menschenwürde auftreten kann und auftritt. TRANSKULTURALITÄT, ETHISCHES HANDELN UND ETHISCHES THEORETSIEREN Die Fragestellung: sind ethische Maxime kulturspezifisch oder kulturelativ, ist nicht neu. Sie wurde von Jesus in der Narration vom barmherzigen Samariter [Luk 10] mitdiskutiert und von Voltaire in einem grösseren Szenarium abgebildet. Jesus erzählt die Geschichte von dem Opfer eines Strassenraubs, dem zwei vorbeigehende Geistliche nicht halfen, danach aber jemand, 2 der einer nicht ganz so angesehenen Religion anhörte. Jesus und seine Gesprächspartner waren sich einig, dass derjenige, der geholfen hatte, dem Hilfsbedürftigen der 'Nächste' gewesen war, nicht die anderen. In seinem 'Dictionaire Philosophique Portatif' stellt Voltaire die Problematik wie folgt dar: Während sich die Christen seit dem Konzil von Nicaea gegenseitig verbrannt, gefoltert oder totgeschlagen haben über so komplizierte Fragen, ob Gott eine oder drei Personen oder drei in einer seien, haben gläubige Juden, Christen unterschiedlicher Konfession, Mohamedaner, Mazedonier, chinesische Deisten, Hindi und Brahmanen auf den Märkten von Basra, Amsterdam und London Geschäfte von grossem Wert im Vertrauen und durch Handschlag abgeschlossen. [30] Jesus wie Voltaire scheinen sich bezügliche eines Primats des ethischen Handelns über dem ethischen Reden einig zu sein, auch in einer Geringschätzung theoretischer Argumentationen, Spitzfindigkeiten oder Zänkereien im Vergleich mit kulturellen und Leistungen: Die ethische Praxis einer Theorie ist selbst von ethischer Autorität. Die Rolle ethischer Theorien für die ethische Praxis wird überschätzt. Letztbegründungen sind kulturrelativ. Philosophien und Religionen tragen nicht immer zur Menschenwürde bei; sie sind oft Teil des Problems ihrer Verletzung. Nicht an ihrem Reden, sondern an ihrem Handeln sollt Ihr sie erkennen, oder wie Deng Xiao Ping theoriefolgenabschätzend sagte : 'es ist egal, ob eine Katze weiss oder schwarz ist; die Hauptsache ist, sie fängt Mäuse'. Die Narrationen von Jesus und Voltaire leben aus der Evidenz der These, dass die gelungene Praxis die Beweise in der ethischen Theoriefolgenabschätzung liefern muss. Im Anschluss an Jesus, Voltaire und Deng Xiao Ping lassen sich sieben 'prima facie' Thesen zur Frage nach universalen ethischen Prinzipien angesichts einer wertpluralen Welt aufstellen, die insgesamt von der regulativen Idee eines allgemeinen Sittengesetzes auszugehen. Jesus wie Voltaire thematisieren die Einheit und Unteilbarkeit des Menschlichen und der Menschheit und setzen je in anderer Weise eine zumindest latent vorhandene gemeinsame Idee von Menschenwürde voraus, die einen ersten Zugriff zur Frage nach der dem Verhältnis unterschiedlicher und wertpluraler Kulturen zur einen Welt zwischenmenschlichen Handelns, Komunizierens und Verantwortens erlaubt [23]: (1) Es gibt mittlere ethische Prinzipien, die im Regelfall kultur- und religionsübergreifend akzeptiert und gefordert werden, unabhängig davon, wie sie selbst innerkulturell oder theologisch begründet werden. Das Prinzip der Nächstenliebe oder Solidarität beispielsweise lät sich moraltheologisch, 3 naturrechtlich oder vertragstheoretisch begründen. Solidarität, Barmherzigkeit, Nächstenliebe gehören auch in buddhistischen, konfuzianischen und taoistischen Modellen von Glauben und Orientierung, ebenso im Christentum und Islam, aber auch in agnostischen Weltanschauungen, in humanistischer Aufklärung und sozialistischer wie anarchistischer Gesellschaftstheorie zu den Grundprinzipien ethischen Orientierens und Handelns. Der Anarchist Kropotkin gab seinem Hauptwerk den Titel 'Mutual Aid' (1902). (2) Von allen möglichen ethischen Forderungen sind diejenigen ethischen Grundprinzipien, die sich auf die Sicherung der Bedingungen von Freiheit, Sicherheit und Lebensqualität beziehen, am ersten universalisierbar und vermutlich a-priori einsichtig [18]. Freiheit von Folter, Hunger, Durst, Vergewaltigung, Ausbeutung, Recht auf eigene Gedanken und Selbstverteidigung, das sind solche ethischen Grundforderungen in Religionen und Kulturen, die einen Litmustest im Respekt vor einer zunächst nur formal beschreibbaren Würde vom Menschen und Menschsein bestehen könnten. Insofern jeder Mensch Krankheit, Schmerzen, Ausbeutung und Unterdrückung erfahren kann, sind diese negativen Primärerfahrungen Grund für eine quasi a-priori (aus der ethischen Intuition und Erfahrung, aber ohne jede weitere Begründung) universalisierbar. 'Wir können die Person als Freiheitssubjekt nur respektieren, wenn wir die Sphäre tabuisieren, in der sie erscheint: ihr Dasein als natürliches Wesen', bemerkte Robert Spaemann einmal [25]. Je mehr die elementare und biologische Existenz und die Fähigkeit zu Selbstentwurf und Selbstentfaltung betroffen sind, umsomehr können solche 'negativen Freiheiten' als 'Freiheit von ...' formuliert und verabredet werden [18]. (3) Ohne sogenannte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Verlälichkeit, Ehrlichkeit, Vertragstreue sind persönliche und berufliche Interaktionen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Glaubens-, Rechts- oder Verhaltenskulturen nicht möglich, gleichgültig ob diese speziellen Sekundärtugenden innerhalb der kulturinternen Verhaltenskultur eine hohe oder niedrige Priorität haben. Je mehr ethische Prinzipien in Alltagszenarien innerhalb einer Kultur oder zwischen Kulturen und Lebensformen für die Kommunikation und Kooperation unentbehrlich sind, umso mehr erhalten sie einen transkulturellen Charakter. (4) Der 'Fremde', als 'moral stranger' (kulturell, religiös, ethnisch, geschlechtlich anders) kann und darf ausdrücklich aus Kommunikation und Kooperation nicht ausgeschlossen werden. Im Gegenteil, der 'Andere' soll in besonderer Weise gerade wegen eines unterschiedlichen Wert- und 4 Weltverständnisses ein Recht der Akzeptanz und des Respektes der Würde des anderen Gewissens und der anderen Glaubens- und Lebensweise anmelden und erwarten können [3. Mos 19:34]. (5) Es gibt einen Unterschied zwischen den theoriereichen Inhalten von Kulturen und dem faktischen und praktischen Verhalten kulturell Anderer und insbesondere ihrer erwählten oder gott- oder selbsternannten Autoritäten. Die ethische Praxis einer ethischen Theorie ist selbst von ethischer Autorität. Die intellektuelle oder revelationistische Ästhetik einer Theorie besagt zunächst noch garnichts über ihre Qualität in der Theoriedurchsetzung oder die Bereitschaft und Fähigkeit ethischen Handelns von denen, die sie propagieren oder an sie glauben. Kulturelle oder religiöse Systeme können Disziplinierungs- und Ausbeutungssysteme sein oder als solche missbraucth werden; sie waren es in der globalen Kultur- und Ideengeschichte bis in unsere Tage immer wieder. (6) Die Rolle ethischer Theorien für die ethiche Praxis wird von Ethikern und Moraltheologen häufig überschätzt. Beides, die Situation, in der gehandelt und verantwortet werden muss, und die ethischen Prinzipien, die Anwendung finden, bestimmen gemeinsam bestimmen die gelungene ethische Tat. Der Verantwortungserfahrene weiss, dass gutes Abwägen erst das Gelingen ethischen Handelns sichern kann. Theorien spielen dabei natürlich eine Rolle; insofern ist die abwägende differentialethische Methode nicht mit der untilitaristischen zu verwechseln. Nicht die Utilität, sondern die Angemessenheit der der Auswahl und Gewichtung von ethischen Prinzipien sind entscheidend für ein an religiösen oder nichtreligiösen Normen sich orientierendes Handeln. 'Quanto magis ad particularia descenditur' hatte Thomas von Aquin [S.Th.I-II,art 4], ein Meister nicht nur der Theoriekonstruktion, sondern auch der Theoriefolgenabschätzung bemerkt: je mehr man sich in die komplexen Handlungsituationen des Alltags einlät, umso mehr spielen nichttheoretische Variable eine Rolle. An anderer Setelle habe ich versucht, die komplexe Interaktion von ethischen und nichtethischen Kriterien in komplexen Handlungssituationen zu beschreiben und will hier nicht im einzelnen darauf eingehen [20]. Es geht nicht ohne Prinzipien und Theorien. Aber Prinzipien werden nicht einfach angewandt wie Rezepte; das ist ein Ergebnis auch der neueren Überlegungen und Erfahrungen in der Bioethik. Schreibt Onora O'Neill: 'The ethical principles that have received the most attention are highly indeterminate rather than quasi-alogorithmic. They may constrain but do not regiment action; they are more likely to recommend types of action, policy and attitudes than offer 5 detailed instructions for living' [13:21]. (7) Verordnungen und Gesetze werden nicht eingehalten, wenn die Motivation nicht vorhanden ist. Sie werden aber eingehalten, wenn situative Rahmenbedingungen, die nicht die nicht durch Theorien begründet werden, gegeben sind. 'Je mehr Tabus und Verbote vorhanden sind, umso ärmer werden die Leute. Je genauer die Gesetze und Verordnungen, umso mehr Räuber und Diebe wird es geben' heisst es bei Laotse [8:57]. Es ist eie Frage ordnungspolitischer Klugheit, entsprechend dem ethischen Prinzip der Subsidiarität inhaltliche Überzeugungen von Gruppen nd Individueen für die Lösung gemeinschaftlicher Aufgaben zu akzeptieren und zu fördern. In einem Commom Framework for the Ethics of the 21rst Century [6] der UNESCO heisst es: 'Too much legislation numbs the sense of individual responsibility. Too little legislation leads to anarchy and disorder. legislation is best when it is conductive to promotion of individual responsibility'. Jesus, Voltaire und Kant, Deng Xiao Ping und auch Laotse, hätten dem zustimmen können; ich schliesse mich an. Wenn wir mit Kant von der Existenz eines trotz aller kulturellen Unterschiede allgemeinen Sittengesetzes als der leitenden Idee für ethisches Argumentieren und ethisches Handeln ausgehen, dann ergibt sich daraus eine These nicht sehr zum inhaltlichen als vielmehr zum prozedurelen Ermessen konkreter Inhalte moralischen Handelns von Individuen und Gruppen: Idee und Realisierung von Menschenwürde verlangen nach einer kleinen Zahl ethischer Prinzipien, die transkulturell verstehbar und durchsetzbar sein müssen. Zu den Grundprizipien gehören der Schutz vor Totschlag, Hunger, Folter, sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit; zu den mittleren ethischen Prinzipien sind Solidarität, Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit zu rechnen. Individuen und ethische, kulturelle und religiöse Gemeinschaften müssen sich der Herausforderung stellen, traditionelle und individuelle Werte, Prinzipien und Ziele ethischen Handelns für sich selbst und untereinander in fairer Kommunikation und Kooperation und im gegenseitigen Respekt vor der Würde von Gewissensentscheidungen und Glaubensüberzeugungen abzuwägen und angfesichts von kulturellem und ethischen Dissens nach zivilisierten und kultivierten Wegen des Zusammenlebens suchen, innergesellschaftlich und global. Die Bedeutung sowohl der Transkulturalität wie der Kulturrelativität der regulativen Idee der Menschenwürde kann für drei Szenarien genauer skizziert werden: (a) das Szenarium von Dissens, Toleranz und Grenzen der Toleranz, (b) die Respektierung der Würde des individuellen Gewissens bei ethisch und kulturell unterschiedlichen Antworten beim Umgang mit dem 6 Anfang und Ende des menschlichen Lebens, (c) ordnungsethische und kulturethische Modelle von Harmonisierung in bestehenden Werte- und Rechtsgemeinschaften. WÜRDE DES GEWISSENS UND GRENZEN DER TOLERANZ Kulturelle Unterschiede sind ein reicher Ausdruck der Ausgestaltung von Menschenwürde. Individuen und Gemeinschaften haben kulturelle Werte für sich selbst und in fairer Kommunikation und Kooperation abwägen und ihre Kultur dadurch bestätigen, dass sie auch im Dissens zivilisiert miteinander leben. Dennoch besteht für die religiöse Ethik wie für die Ethik der pluralistischen Gesellschaft das Problem der Harmonisierung von religiösen und nichtreligiösen Geboten oder des friedlichen Zusammenlebens in Dissens innerhalb einer wertpluralen Gesellschaft bestehen. 'Die Leute sollen nicht versuchen, ihre eigene "Wahrheit" anderen aufzuzwingen', sagte Papst Johannes Paul II in seiner Neujahrsansprache 1991. Wenn versucht wird, das religiöse Gesetz zum Bürgergesetz zu machen, dann, so fährt er fort, 'erstickt es die Freiheit der Religion, engt andere Menschenrechte ein oder vereweigert sie .., Intoleranz kann das Resultat aufkeimender Versuchungen des Fundamentalismus sein, der leicht zu ernsthaftem Missbrauch, zum Beispiel der radikalen Unterdrückung aller öffentlichen Manifestationen von Pluralität führt'. Der Papst wandte sich in seinem Plädoyer für die 'öffentliche Manifestation von Pluralität' gegen den intoleranten islamischen Fundamentalismus; seine Argumente lassen sich jedoch auf Unterdrückungen und Usurpationen christlicher und anderer Religionen und ihrer Hierarchien anwenden. Die päpstlichen Enzykliken 'Quadrogesimo Anno'[27] und 'Veritatis Splendor'[29] geben für konfliktreduziertes ethisches Handeln im Dissens einen Hinweis sowohl für die Glaubensgemeinschaften wie für die wertplurale Gesellschaft selbst. Es geht um die beiden Prinzipien des Respekt vor dem Gewissen und der Subsidiarität. Das Prinzip der Subsidiarität [27;21] besagt, dass die jeweils der Herausforderung am nächsten Stehenden auch die primären Verantwortungs- und Handlungsträger sein sollen, also beispielsweise Eltern für ihre Kinder, die Nachbarschaft für die in ihres Schutzes oder der Hilfe der Nachbarschaft oder Gemeinde Bedürftigen. Erst wenn diese primär Geforderten versagen, dann sind höhere Verantwortngsebenen gefragt und zur Aktion berechtigt und gefordert. Im Gebiet der neueren Sozialethik hat sich dieses vor Jahrhunderten entwickelte Prinzip christlicher Ethik bewährt. Es läßt sich aber auch mit Gewinn in andere Bereiche angewandter Ethik, beispielsweise der Medizin- und 7 Bioethik übertragen und ist ein bewährtes Prinzip zur Herausforderung der Veranwortungskompetenz der zunächst Betroffenen und zur Entlastung des Zwanges zum Konsens bei kontroversen Problemen in einer multikulturellen Gesellschaft mit reichen und sehr verschiedenen kulturellen Werten und Inhalten. Das Modell der ethischen Subsidiarität erhält immer dann verantwortungsethische und ordnungsethische Bedeutung in einer wertpluralen Gesellschaft, wenn Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker verschiedener Couleur sich streiten, wie im Fall des moralischen Status von embryonalen Stammzellen, des frühen Embryo oder der Kriterien des menschlichen Todes. Solange kein 'volontee generale', keine plausible und vom 'volontee des tous' getragene ethische Wertung beispielsweise des Status von embryonalen Stammzellen erreichbar ist, sollten die zunächst Betroffenen ihre Verantwortung und Wertung einbringen: das sind die Partner, von denen die Zellen kommen, die Forscher oder Ärzte, die mit ihnen umgehen und die prospektiven Rezipienten von Medikamenten oder Geweben, die aus diesem Material gewonnen werden. Wenn jemand stellvertretend für diese Zellen sprechen soll, sofern man ihnen überhaupt Willen und Interesse unterstellen kann, was hier dahingestellt bleiben soll, dann wären das die Partner, die sie verursacht haben. Wann immer Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker in einer pluralistischen Gesellschaft keinen breiten und von der öffentlichen Kultur getragenen inhaltlichen Konsens finden, dürfen die primär betroffenen und nächststehenden Individuen und natürlichen Kleingruppen nicht in ihrer Verantwortung eingeschränkt werden; gesellschaftliche, weltanschauliche und religiöse Gruppen sollten im Gegenteil alles tun, um die individuelle Kompetenz der Güterabwägung und der Verantwortung zu stärken. Aber es gibt Grenzen der Toleranz dort, wo ethische Grundprinzipien und mittlere Prinzipien, die vielfältig gestützt sind, verletzt werden [17]. Diese Grenzen der Toleranz gelten selbstverständlich für die Sklaverei, Gewalt gegen Gewaltlose, den sexuellen Missbrauch, die Ausbeutung oder die Folter von Mitmenschen. Die Grenzen der Toleranz gelten aber auch für kulturell sanktionierte eindeutige Eingriffe in die körperliche Unversehrheit, wie schon Kant am Beispiel der Kastration zum Zweck eines wirtschaftlichen Erfolgs als Sänger in der Opera Sera begründet hat und wie die aktuelle bioethische Diskussion sie kritisiert an der euphemistisch 'female circumcision' genannten Verstümmelung der Genitalorgane bei jungen Mädchen aus kultureller Tradition [7;11]. Diese Prozedur ist grausam und schmerzhaft; dem Mädchen wird keine Gelegenheit zur Aufklärung 8 und Zustimmung gegeben; es handelt sich um eine Verstümmelung, die ungesund und möglicherweise lebensgefährlich sein ist; es schränkt das Opfer ein in der künftigen individuellen und sexuellen Entwicklung und Freiheit; es ist ein Eingriff in das natürliche Recht auf den eigenen Körper und dessen Unversehrheit. Gleiches gilt wohl auch für die frühere Sitte des Fussbindens bei weiblichen Kleinkindern in China [9]. Es gilt wohl nicht für die rituelle Beschneidung von Knaben, über die keine gesundheitlichen Risiken berichtet werden, eher schon über das Kennzeichnen von Kindern mit Stammeszeichnungen im Gesicht oder an sichtbaren Stellen des Körpers, wenn diese Zugehörigkeitszeichen sichtbar bleiben und nicht beseitigt werden können. Die sogenannten Mensurnarben der Angehörigen schlagender Verbindungen in Deutschland sind demgegenüber selbstgewollt und werden vom Träger und seiner Umwelt je individuell und unterschiedlich bewertet; sie schaden keinem Dritten und fallen nicht unter das Toleranzverbot ebensowenig wie wie selbstgewählte Tätowierungen oder sogenannter Körperschmuck, auch wenn Tatoos später vom Träger bereut werden. Ich bin nicht sicher, ob Toleranz auch für das Kastenwesen in Indien gilt, in dem der Mitmensch nach der Kastenzugehörigkeit definiert wird oder sich definiert. Falls jeder ohne gesellschaftliche oder berufliche Sanktionen aus der Kaste aussteigen könnte, wären die Kastenwesen eine Angelegenheit, in die man hineingeboren aber in der man aber nicht bleiben muss. Falls das Kastenwesen aber die freie Entfaltung hindert oder zu Diskriminierung führt, dann ist es mit der Idee der gleichen und unteilbaren und unveräuerbaren Würde des Menschseins von uns allen nicht vereinbar und unakzeptabel [12]. Das Institut der 'Unberührbaren' in der indischen Kultur verstosst dagegen endeutig gegen das Recht auf Nichtdiskriminierung. Unaussprechliche Grausamkeiten und Missachtungen der Menschenwürde wurden und werden im Namen religiöser Gebote, auch im Namen Gottes verübt. Das Abschlachten und Verbrennen der Bürgerinnen und Bürger der Städte Jericho und Ai [Jos 6-8] gehört ebenso dazu wie die Folterungen und Verbrennungen der sogenannten heiligen Inqusition, die feige Ermordung tausender Unschuldiger im New Yorker World Trade Center durch den sogenannten islamischen Fundamentalismus. Auch viele der unzählbaren Judenprogrome wurden im Namen Gottes ausgeführt. Die Apokalypse des Johannes beschreibt sehr detailliert den massiven Missbrauch religiöser Sprache und Inhalte durch den Antichristen in der Postmoderne. Insofern müssen sich auch theologische Äusserungen und Kampagnen religiöser Hierarchien gefallen 9 lassen, auf Doppelzüngigkeit, Unkultur und Inhumanität geprüft und nach ihrem Beitrag zur Respektierung und Durchsetzung von Menschenwürde befragt zu werden. Religionen sind nicht als solche schon oder wegen ihrer Berufung auf Offenbarung ein sicherer Hort der Menschenwürde. Das zeigt leider auch die Geschichte der jüdischen, christlichen und islamischen Religionsgruppen. Hegel hat es in seiner Rechtsphilosophie (1817) deutlich gemacht, dass die Idee von Menschenrechten irgendwann auch einmal in einklagbarer Form von Bürgerrechten festgelegt und einklagbar sein muss. Ein Menschenrecht des Schutzes vor Verstümmelung des eigenen Körpers durch andere und der Nichtdiskriminierung wegen Religions- oder kasten- oder Rassenzugehörigkeit muss als Bürgerrecht einklagbar sein, wenn es mehr sein soll als eine philosophische proklamation oder eine unverbindliche staatliche oder zwischenstaatliche Absichtserklärung. Die Missachtung der Menschenwürde unterscheidet die Unkultur von der Kultur, insbesondere auch dort, wo Unkultur sich im Gewande Gewande religiöser oder philosophischer Sprache und Ziele versteckt. Toleranz gegenüber der Unkultur ist ethisch und kulturell kontraproduktiv und nicht akzeptabel. ETHISCHES HANDELN AM ANFANG UND ENDE DES MENSCHLICHEN LEBENS Anfang und Ende des menschlichen Lebens waren bis vor etwa einer Generation mehr oder weniger naturgegeben oder gottgegeben. Sie entzogen sich weitgehend dem Einfluss menschlichen Handelns. Religionen und Kulturen hatten je ihre eigenen Erklärungen für das Unerklärte und Unbekannte. Sie umgaben das, wa sie nicht beeinflussen konnten, von dem sie aber abhingen, das sie wie den Tod verhindern oder wie die Schwangerschaft oder Geburt befördern wollten, mit Riten und Zeremonien, auch Glaubenshoffnungen und mehr oder weniger wirksamen Interventionen mit Kräutern oder allerlei Zauberei. Die moderne Medizin, vor allem als Intensivmedizin am Lebensende und Infertilitätstherapie am Lebensanfang, hat die natürlich gegebenen Grenzen ausgeweitet und in die manipulierende, heilende, helfende, lebensrettende und lebenermöglichende Hand des biomedizinischen und ärztlichen Fachmanns gegeben. Für das Ende des Lebens hatte sich im Abendland in den durch jüdische, christliche und islamische Traditionen von Gottesebenbildlichkeit und Auferstehungshoffnung geprägten Einstellungen das Konzept der Identifizierung des Todes eines Menschen mit dem irreversiblen Ausfall des Hirnorgans durchgesetzt, dann aber neuerdings auch wieder Kritik gefunden 10 [19;21]. In shintoistisch oder buddhistisch geprägten Kulturen Japans und Indiens dagegen ist dieses Modells kaum durchsetzbar, weil die abendländische dualistische Vorstellung eines sterblichen Körpers und einer unsterblichen Seele nicht geteilt wird. Für den Beginn des moralisch zu respektierenden und rechtlich schützenden menschlichen Lebens hat es im Abendland unterschiedliche ethische Vorstellungen und Rechtsvorschriften gegeben, die sich zumeist an dem bibilischen Schöpfungsbericht und an dem Glauben an eine verzögerte direkte Animation jedes einzelnen Menschen durch den Schöpfergott orientierte [3;5;16;21]. Für das rabbinische und talmudische Judentum war es der Zeitpunkt nach der Geburt, mit Sicherheit 30 Tage nach der Geburt [;1.Nidda 44b]. Davor war das potentielle Leben [1. Sanhedrin 72b] zunächst 'blosse Flüssigkeit' und dann nach etwa 40 Tagen post conceptionem in jedem Fall als 'ubar yerekh imo' ein Teil der Mutter, 'pars viscerum matris'. Fötizid nach diesem Verständnis war also nicht Homozid; es war nur die 'Entreissung einer Sache aus ihrem Wachstum' [1. Sabbat 107b] und wurde entspreched auch im mosaischen Gesetz nicht als Homizid bestraft [2. Mos 21:22f]. Würde die Rechtsprechung in der Bundesrepublik die religiös gegründete Wertverantwortung einer israelischen Schwangeren und eines ihrer Religion angehörenden deutschen Arztes akzeptieren, wenn beide unter Berufung auf das mosaische und rabbinische Glaubensgesetz im zweiten Trimester eine Abtreibung vornehmen? Sollten Christen in Deutschland oder anderswo diesen israelischen Glauben tadeln, weil er bei der Wertung des moralischen Status des ungeborenen Lebens unter Einschluss isolierter embryonaler Stammzellen einen anderen Wertmassstab anlegt als es die römisch-katholische Kirchenlehre tut? Aber auch die heutige Position der römisch-katholischen Spielart des westlichen Christentums war nicht immer die gleiche. Für den römischen Katholizismus galt bis zum 1. Vatikanischen Konzil im Jahre 1870 die Lehre der verzögerten Animation, die besagte, dass etwa zum Ende der Organogenese zwiwchen dem 40. und 80. Tag der Schwangerschaft mit einer Beseelung des Embryo zu rechnen sei [19]. Entsprechend differenzierend waren auch die kirchenrechtlichen Regelungen des Corpus Juris Canonici, dessen Kommentare noch bis zum Ende des 19. Jahrhundert kirchenrechtlich und sellsorgerlich von dieser Unterscheidung zwischen frühem (unbeseeltem) und späterem (beseeltem) ungeborenen menschlichen Leben ausgingen [10]. Erst im Zusamenhang mit dem Dogma der unbefleckten Empfängnis der Maria auf dem 1. Vaticanum wurde dann die neue Kirchenlehre von 11 der unmittelbaren Beseelung zum Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei und Samen entwickelt, eine Lehre, die in der Theoriefolgenabschätzung zu den internen und externen moraltheologischen Adhortationen der römisch-katholischen Kirche zu Sexualkultur und Schwangerschaftsabbruch in pluralistischen Gesellschaften geführt hat [19;21]. Diese neuere vatikanische Doktrin hat über den Kreis der Gläubigen dieser Konfession hinaus einen erheblichen externen Einfluss auf die Gesetzgebung von Staaten mit einer ansonsten reicheren Vielfalt von Kulturen und Religionen ausgeübt und auch neuere akademische Schulen des Naturrechts beeinflusst. Diese externe Einflussnahme über den Kreis der Kirche hinaus hat zusätzlich zu Zynismus und Selbstbeschädigung von Rechtspraxis und Rechtsbewusstsein beigetragen, was die ethisch wie juristisch umstrittene pragmatische obrigkeitliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in der Bundesrepublik zeigt. Die kulturellen Interpretationsunterschiede zur Würde des Menschen, wie sie sich in den speziellen Diskussion um den ethischen Umgang mit Anfang und Ende ausdrücken, machen die Nachteile von uniformen Rechtsregelungen sehr deutlich. Auch das symmetrische Modell des Lebensschutzes vom Ende des vorpersonalen Lebens bis zum Eintritt des nachpersonalen Lebens (also vom Beginn der ersten Synapsenbildung in der künftigen Neokortex bis zu deren Zerfall), das ich vor einigen Jahren vorgeschlagen hatte und das mit den Kriterien von Hirnleben und Hirntod arbeitete [19], war noch uniform und liess dem individuellen Gewissen entsprechend der eigenen Glaubens- oder Wertposition keinen Spielraum. Auch innerhalb einer allgemeinen Wertegemeinschaft im europäischen Abendland dürfte es bei Respektierung der unterschiedlichen individuellen und kollektiven ethischen und weltanschaulivhen Interpretationen keine uniforme Regelung weder der ethischen Probleme bei der Todesdefinition noch bei des des Respekts vor dem ungeborenen menschlichen Leben geben können. Wo theologische, juristische und medizinische Experten sich streiten und keine existentielle oder normative Autorität in der moralischen Würdigung embryonalen Lebens begründen können, da sollte die Frau als Betroffene entscheiden, als diejenige, unter deren Herzen das neue Leben heranwächst, die es austrägt und die es aufziehen wird. Einzig eine Freigabe individueller Gewissensentscheidungen in einem vorgegebenen Rahmen würde dem Respekt vor der Würde des Menschen im Respekt vor der Würde des Gewissens und Glaubens gerecht. Es müsste also, wie bei anderen weltanschaulich umstrittenen Fragen, eine Gewissensklausel bei gesetzlichen 12 Regelungen geben, damit Angst, Gewissensterror und ein unlösbarer ordnungsethischer Konflikt zwischen Recht und Gewissen vermieden werden können. Die Angst vor dem gerichtlichen und staatlichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und vor dem Zwang des Gewissens beruht auf der Ohnmacht des individuellen Gewissens, sich gegen obrigkeitliche Regelungen nicht durchsetzten zu können. Die Angst vor der unpersönlichen Kälte der Kriterien des klinischen Todes als Gesamthirntodes beruht darauf, daß der einzelne keinen Einfluß auf eine von anderen - Ärzten, Juristen und Ethikern gemachte Definition und ihre technische Umsetzung hat. Uniforme Lösung der rechtlichen Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch versäumen es, angesichts der Pluralität weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen in der offenen Gesellschaft zunächst einmal die Menschenwürde in der Pflicht und dem Recht auf Gewissen und Selbstverantwortung zu respektieren und zu schützen. Anders als beim Lebensbeginn haben Parlamente und Verwaltungen beim Lebensende Gesetze und Verordnungen gegeben, die es gestatten, Gewissensentscheidungen durchzusetzen. Vom Betreuungsgesetz her ist es rechtlich zulässig, sich verbindlich über die Kriterien zu äußern, die für die Bestimmung des Eintritts des eigenen Todes gelten sollen, auch zwischen der Akzeptanz eines natürlichen Verlaufs von Krankheit und Sterben und intensivmedizinischem Kampf zu wählen [24]. Nicht zuletzt auch unter dem Eindruck von immer mehr vegetabilen Menschen auf Intensivstationen und einem oft nur an technischen Möglichkeiten, nicht an individuellen Notwendigkeiten sich orientierenden Einsatz der Apparatemedizin am Lebensende wächst der Wunsch nach vorsorglicher Selbstbestimmung für die letzten Stunden des Lebens, die Beeinflussung der Begleitumstände des Übergangs vom Leben zum Tod und der Kriterien des eigenen Todes. Gleiches sollte angesichts des Streites zwischen Theologen, Philosophen, Neurologen und Embryologen, Männern und Frauen, Richtern und Bürgern mit gesundem Menschenverstand auch für den Anfang des Lebens als Maxime einer Gewissensregelung gelten: Solange die ethische Wertung und der rechtliche Schutz der Würde des beginnenden und des endenden menschlichen Lebens zwischen und innerhalb von Schulen, Religionen und Staaten umstritten sind, sollten Gewissensklauseln in Gesetzen die Würde des individuellen Gewissens respektieren und schützen, sofern nicht andere Bürger unzumutbar geschädigt werden. Wie anders als in der Würdigung der Würde dess Gewissens lässt sich Menschenwürde besser bestätigen und schützen.des einzelnen als Ausdruck individueller Menschenwürde. Die 13 Gewissenslösung für die verantwortungsethischen und ordnungsethischen Probleme am Anfang und Ende des menschlichen Lebens im Sinne der Subsidiaritätsprinzips würde eine ordnungspolitische Regelung mit einer Gewissensklausel verbinden, die es Bürgern erlaubt, aus der Unformität einer generell geltenden heteronomen Formel auszubrechen, wenn sie es wollen, die aber als Rüchfallposition für diejenigen gilt, die mit der geltenden Regelung keine Gewissensprobleme haben. Eine solche Formel als Kombination des abendländischen Naturrechtsmodells der Animationstheorie und dem der ethischen Subsidiarität aus der Theorie von Selbstverantwortung und Verantwortung für andere könnte lauten: (1) Die Würde eines Menschen ist unantastbar von dem Moment an, in dem integrierte Funktionen des Hirns sich entwickeln, bis zu dem Moment, in dem diese Integration irreversibel erloschen ist. Die im Mutterleib heranwachsende Leibesfrucht steht unter dem Schutz der Verfassung, wenn entweder (a) die Nidation erfolgt ist, oder (b) integrierte Funktionen des Hirns sich von der zehnten Schwangerschaftswoche ab entwickeln, oder (c) die Leibesfrucht auch außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre. Die Verfassung schützt das Leben eines Menschen nicht mehr, wenn entweder (a) Herz und Kreislauf oder (b) die Gesamtfunktion von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm oder (c) die Funktionen des Großhirns irreversibel erloschen sind. (2) Der Staat kann im Interesse von Rechtsschutz und ethischer wie medizinischer Sicherheit der Bürger je eines der Kriterien als generelle Norm für den Anfang und das Ende des ethisch zu respektierenden und gesetzlich zu schützenden menschlichen Lebens festschreiben, muß aber eine Gewissensklausel zulassen, die es Bürgern erlaubt, für sich andere ethische und religiöse Kriterien für den Beginn und das Ende der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in freier Gewissensentscheidung festzulegen. (3) Der Staat muß Bürgern Beratung bei Schwangerschaftskonflikten und Betreuungsverfügungen sichern. [21] Wenn Philosophen, Theologen, Ethiker, Mediziner, Juristen und Politiker sich über Lebensanfang und Lebensende, Sterblichkeit und Unsterblichkeit, den Todeszeitpunkt und den Zeitpunkt der Beseelung des sterblichen Körpers mit der unsterblichen Seele und über die Notwendigkeiten und Grenzen staatlicher oder medizinischer oder juristischer Bevormundung von Bürgern, Patienten und Ärzten streiten, gibt es kein Mandat für eine einzige wasserdichte Formel und Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Tod bekommen je wieder ihre eigene Wertigkeit im individuellen und im gesellschaftlichen Leben, von der sie einiges in der Uniformität genereller Formeln verloren 14 hatten. HARMONISIERUNGEN ETHISCH RELEVANTER RECHTSREGELN Wenn wir die Problematik des globalen Diskurses um die Existenz, die Geltung und die Grenzen universaler Regeln im Respekt vor der Würde von Menschen verlassen und uns dem näherliegenden und engeren Problem der europäischen Wertegemeinschaft zuwenden, dann geht um die aktuelle Frage nach der kulturspezifischen oder kulturrelativen Autorität eurpäischer Werte. In einem nicht wertuniformierten Europa gibt es heute für europäische Bürgerinnen und Bürger bei Freizügigkeit des Reisens die Möglichkeit der Abkopplung des eigenen Gewissens von der jeweiligen nationalstaatlichen Gesetzgebung und Verordnung. Die bürokratische Harmonisierung von Verordnungen und Gesetzen soll zu einem neuen spezifisch europäischen zivilisierten und kultivierten Umgang unter Europäern führen. Euroharmonisierung ist das Schlagwort der Europapolitik. Wie lassen sich aber Gesetze harmonisieren, wenn jeweils unterschiedliche kulturelle, ethische und auch parteipolitische Vorbedingungen für nationalstaatliche Gesetze gegeben waren. Das heutige Verfahren, Euroharmonisierung als Ergebnis obrigkeitlicher Verhandlungen zu erreichen, nimmt die kulturspezifischen und ethischen Voraussetzungen, die zu jeweils anderen Regelungen in Europa geführt haben, nicht ernst. Eurokratische Harmonisierungen bei der Zahl der Lastwagenachsen auf Europas Strassen oder bei Heringsfangquoten können nicht auf ethisch und kulturell zentrale Fragen angewandt werden; das wäre ethisch und kulturell bedenklich und ordnungspolitisch fragwürdig. Es entsteht der Eindruck, dass traditionelle für Recht und Verordnung geltende ethische Vorannahmen um des wirtschaftlichen Vorteils oder einer politischen Uniformisierung willen aufgegeben werden sollen. Das stärkt nicht das Vertrauen europäischer Bürger in ihre jeweiligen Obrigkeiten und den europäischen Hasrmonisierungprozess. Wie lät sich jenseits von Verordnungsharmonisierung eine Werteharmonisierung diskursfähig machen? An anderer Stelle habe ich den Vorschlag einer Umkehrharmonisierung (reverse harmonisation) gemacht, die man auch grenzüberschreitende Toleranzharmonisierung nennen könnte und die an die bestehenden Rechts- und Verordnungskulturen in den europäischen Staaten anknüpfen würde [23:216f]. Dieser Vorschlag geht von der Voraussetzung aus, dass kein europäischer Staat in die europäische Gemeinschaft aufgenommen wurde oder werden dürfte, in dem nicht Werte respektiert und geschützt werden, deretwegen es auch in anderen europäischen Staaten freiheitseinschränkende 15 Gesetze und Verordnungen gibt. Sollten entgegen den Beteuerungen der europäischen Obrigkeiten und ihrer zwichenstaatlichen Behörden aber dennoch Staaten aufgenommen worden sein, deren Gesetze und Verordnungen den Vorstellungen von Menschenwürde der Bürger und Regierungen anderer europäischer Staaten widersprechen, dann sollten unverzüglich solche Staaten ihre Regelungen ändern oder aber aus der Wertegemeinschaft ausgeschlossen werden. Wenn dem aber nicht so ist und trotz unterschiedlicher Rechts- und Verordnungssysteme in allen europäischen Staaten ein vergleichbarer und akzeptabler Respekt vor der Menschenwürde herrscht, dann könnte der Prozess europäischer Harmonisierung vom Bestehenden ausgehen und die weitere Entwicklung einem demokratischeren Prozess von harmonisierender Gesetzgebung und Verordnung und einem gewachsenen Verständnis des Umgangs miteinander in einem durch mehr Migration und mehr Verständnis für andere Formen des Lebens- und Verantwortungsentwurfs überlassen. Eine europäische ordnungsethische Formel für politische Entscheidungen entsprechend der Maxime einer Toleranzharmonisierung könnte lauten: Solange in einer auf gemeinsamen Werten beruhenden Staatengemeinschaft für Gewissensentscheidungen unterschiedliche staatliche Regelungen existieren, sollten im Einzelfall Bürgerinnen und Bürger des einen Staates das Recht haben, für sich Regelungen eines der anderen Staaten in Anspruch zu nehmen, ohne in diesen Staat reisen zu müssen. Das kann natürlich nur für weltanschaulich umkämpfte Gewissensprobleme gelten; Fragen des Steuer- und Verkehrsrechts beispielsweise würden nicht unter diese Maxime fallen. Die Geltung einer solchen Maxime würde bestehende Regierungen und zwischenstaatliche Behörden zwingen, bestehende und geplante Gesetze und Verordnungen einer Ethikfolgenabschätzung und einer Kulturfolgenabschätzung zu unterwerfen und damit überhaupt der Prüfung, ob enge Regelungen im Interesse mündiger Bürger und einer funktionierenden Verantwortungsgesellschaft überhaupt notwendig sind. Wenn und solange europäische Bürger das Recht der Freizügigkeit eines ethischen Tourismus aus Gewissensdruck haben, dann sollte es möglich sein, dass anstelle der zusätzlichen Fahrkarte dieses Recht auch im eigenen Land wahrgenommen werden kann. Eine solche Regelung würde auch zu mehr Gleichheit unter europäischen Bürgern beitragen bei Fragen, in denen Reiche ohne viel Mühe und Geld ihr Gewissen abkoppeln können von der jeweiligen nationalstaatlichen Obrigkeit, Arme aber nicht. Für andere Bereiche europäischer Harmonisierung, beispielsweise für das Wirtschaftsbinnenrecht, gelten seit dem 'Cassis di Dijon' Urteil des Europäischen Gerichtshofes in 16 Luxenburg über die Berechtigung, französischen Johannisbeerlikör unter der Bezeichnung 'Wein', als (hochprozentigen) Wein auch ausserhalb Frankreichs anzubieten und zu verkaufen in der Europäischen Union bereits solche Harmonisierungen. Auch das Reinheitsgebot für Bier, auf das wir Deutsche stolz sind, gilt nicht ausserhalb der Bundesrepublik und innerhalb Deutschland kann nach diesem Harmonisierungsmodell als Bier auch verkauft werden, was nicht diesem Reihheitsgebot entspricht. Warum werden die Gewissen europäischer Bürgerinnen und Bürger anders behandelt als der 'Cassis di Dijon' und die verschiedenen Formen Bier zu brauen? In der gegenwärtigen europäischen Diskussion scheint die Frage nach den primären ethischen Verantwortungs- und Handlungsträgern für bestimmte ethisch relevante Regelungen ohne Bürgerbeteiligung schon auf eine voraufklärerische Weise von den nationalstaatlichen Regierungen beantwortet worden zu sein. In der Diskussion um den moralischen Status von embryonalen Stammzellen schlägt beispielsweise niemand vor, die mit den embryonalen Stammzellen verwandten Partner oder die Patienten als potentielle Nutzniesser zu befragen oder ihnen gar die Verantwortung und Gewissensentscheidung zu überlassen. Wie in den Anfangstagen der konfessionellen Streitigkeiten in Mitteleuropa gilt in Europa das Entscheidungsmodell des 'cuius regio, ejus religio': unter welcher europäischen Obrigkeit ich lebe, daran entscheidet sich das Schicksal embryonaler Stammzellen, nicht am Gewissen der Partner, von denen sie kommen, der Kranken oder der Forscher und Ärzte. Die Alternative zum juridisch uniformierenden Obrigkeitsstaat ist der verantwortungsbasierende Mündigkeitsstaat ethikkompetenter Bürgerinnen und Bürger. Für die kirchliche Hierarchien und staatliche Institutionen gilt es zu unterscheiden zwischen der internen Verantwortung den Angehörigen der eigenen Glaubens- oder Kulturgemeineschaft gegenüber und denen, die dieser nicht angehören [4]. Innerhalb der wertpluralen Gesellschaft kann Kirchenleitungen und bestimmten Naturrechtstheorien keine adhortative, autoritative, regulative oder direktive Zuständigkeit zugesprochen werden, sondern nur eine missionarische, diskursive, edukative und adjuvantive in der gesellschaftlichen Bemühung um Konsens in inhaltlichen Fragen oder um Kooperation und Toleranz innerhalb von Dissens. Es ist aber nicht nur den Hierarchien, sondern auch den demokratischen Obrigkeiten vorzuwerfen, dass dieselben den Hierarchien eine höhere Wertkompetenz und gesellschaftliche Mitsprache einräumen als dem individuellen Gewissen der einzelnen Gläubigen. Der Beitrag kirchlicher Hierarchien zur 17 gesellschaftlichen und kulturellen Meinungs- und Wertbildung gehört primär in die Hirten- und Patoralbriefe, in die Kirchen, Moscheen und Synagogen, nicht auf den Marktplatz oder in die Hallen der politischen Lobby [4]. Auch philosophische Theorien, unter Einschluss unterschiedlicher Naturrechtstheorien, können keine autoritative Rolle beanspruchen; sie müsssen sich an die Regeln des Diskurses, der Argumentation und der Werbung für den eigenen Standpunkt bei Bürgern und anderen kulturellen oder religiösen Gruppen halten. Jeder Begriff von Natur enthält immer schon ein religiösxes, kulturelles oder ethisches Vorverständnis von Natur und des Verhältnisses von uns Menschen zu ihr. Individuelle Verantwortung und gesellschaftlicher Konsens, inklusive des Konsenses, dass Dissens in entscheidenden Fragen des Gewissens unumgänglich ist, das sind die moralischen Subjekte des Abwägens, bei dem hilfsweise orientierend, aber nicht dominierend, klassische Naturrechtskonzeptionen beigezogen werden können. MENSCHENWÜRDE ALS WÜRDE MENSCHLICHEN LEBENS UND GEWISSENS Es war Spinoza, Nachfahre einer den Judenverfolgungen in Spanien entkommenen Marannenfamilie und selbst Verfolgter, der in bezug auf die Freigabe des Gewissens in seinem 'Theologischpolitischen Traktat' (1670) schrieb, dass durch dieselbe in keiner Weise Anarchie, Mord und Totschlag in Europa einziehen würde, wie von den Vertretern des hierarchisch gegliederten Establishment vorausgesagt wurden, sondern dass im Gegenteil nur der Respekt vor der Würde des Gewissens Frieden und Sicherheit überhaupt erst begründen könne [26]. In kleinerem Rahmen kann diese Einsicht auch auf die inhaltlichen wie methodischen Diskussionen um den Anfang und das Ende des ethisch zu respektierenden menschlichen Lebens übertragen werden. Wie sollen wir das menschliche Leben respektieren, wenn nicht zunächst und primär in der Würde seines Gewissens und der Entscheidung nach Werten und Prinzipien und in der Verantwortung vor unseren Nachbarn und Mitmenschen und deren Gewissen. Nur dann werden wir Menschenwürde und Menschenleben transkulturell respektieren und schützen, wenn wir sie auch in der reichen Vielfalt kultureller und individueller Interpretationen des Anfangs und Endes des menschlichen Lebens respektieren und schützen. LITERATUR 18 1. Baumann E (2001) Die Vereinnahmung des Individuums im Universalismus, Münster: Lit 2. Bleich JD (1999) An obligation to heal in the Judaic tradition. Cross-Cultural Perspectives in Medical Ethics Veatch EM ed, Sudbury, MA: James & Bartlett, 63-77 3. 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