Die verlorene Streuobstwies`? "Das Paradies kann sich rar machen

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Die verlorene Streuobstwies’?
"Das Paradies kann sich rar machen, das ist so seine Art"
Christa Wolf
Im Jahreslauf wechseln die Obstbäume viermal ihr Kleid und ihre
Funktion, sie wirken wie ein Bilderrahmen des Dorfes im Wechsel der
Jahreszeiten. Die Menschen finden ihr eigenes Leben widergespiegelt im
Wachsen, Blühen, Fruchtbringen, aber auch in der winterlichen Ruhe.
Der Kreislauf der Natur und des Lebens wird hier intensiv erlebbar….
Im Herbst
’…wenn die tiefer stehende Sonne das bunte Laub der hochstämmigen
und breitkronigen alten Obstbäume in ein goldenes Licht taucht, sind die
Streuobstwiesen am schönsten. Immer öfter fallen dann überreife Äpfel
und Birnen mit dumpfen Aufschlag in das Gras und beginnen bald zu
gären. Ein alkoholischer Duft liegt in der Luft. So manch ein Igel hat sich
schon einen Schwips geholt. Auch viele andere Tiere mögen das süße
Fallobst. Wer jetzt nicht satt wird, wird es lange nicht mehr.’
Wann ist ein Baum ein Baum?
"Unter Streuobst ist die traditionelle Form des Obstbaues zu verstehen,
bei der vorwiegend großkronige und hochstämmige Obstbäume
verschiedener Arten und Sorten, Alters- und Größenklassen in
weiträumigen Abständen meist auf Dauergrünland stehen. Die Bäume
wurden ursprünglich meist mit einheitlichen, aber weiträumigen
Abständen in Reihen gepflanzt und sind später durch Ausfälle und
fehlende Nachpflanzungen zu den Namen gebenden, scheinbar wahllos
über die Landschaft 'gestreuten' lückigen und uneinheitlichen Beständen
geworden. Streuobstwiesen sind meist charakterisiert durch eine
Bewirtschaftung ohne Einsatz synthetischer Behandlungsmittel.
Traditionell üblich ist die landwirtschaftliche Mehrfachnutzung der
Flächen: Sie dienen sowohl der Obsterzeugung (Obernutzung) als auch
der Grünlandnutzung (Wiese zur Heugewinnung) oder als Viehweide
(Unternutzung). Die Imkerei spielt zur Bestäubung eine wichtige Rolle.
Darüber hinaus gehören auch Obstalleen und Einzelbäume zum
Streuobstbau. Die intensive Form des Obstanbaues ist dagegen die
Obstplantage aus niederstämmigen Obstsorten in Monokultur.
Was war und wurde?
Der Streuobstanbau hatte im 19. und in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts eine große kulturelle, soziale, landschaftsprägende und
ökologische Bedeutung. Wesentlich durch die Intensivierung der
Landwirtschaft sowie durch das Bau- und Siedlungswesen wurden
Streuobstwiesen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts stark dezimiert.
Heute gehören Streuobstwiesen zu den am stärksten gefährdeten
Mitteleuropas (siehe auch: Rote Liste der Biotoptypen). Größere,
landschaftsprägende Streuobstwiesen finden sich heute noch in
Österreich, in Süddeutschland, am Nordhang des Kyffhäusergebirges und
in der Schweiz. Die ausgedehntesten Bestände finden sich am Fuß der
Schwäbischen Alb. Dort sind auch großflächige Streuobstbestände von
BirdLife International als “Important Bird Areas” benannt sowie vom
Land Baden-Württemberg laut EU-Vogelschutzrichtlinie als
Vogelschutzgebiete bei der EU gemeldet.
Warum sind Streuobstwiesen erhaltenswert?
•
Paradiese aus Menschenhand
•
mehr als 1000 wirbellose Tierarten kann ein einziger Apfelbaum
beherbergen, wie Schmetterlinge, Käfer, Ameisenarten, Wespenarten,
Würmer und Schnecken
•
bis zu 40 Vogelarten können in einer Streuobstwiese leben, wie
verschiedene Meisenarten, Steinkauz, Wiedehopf, Wendehals,
Goldammer oder Gartenrotschwanz
•
Kleinstrukturen fördern den Artenreichtum
•
Streuobstwiesen sind Bausteine für die Biotopvernetzung und
•
sie schützen und prägen ländliche Siedlungen.
Hauptursachen für den akuten Rückgang von
Streuobstbeständen
1. Ausweitung der Siedlungs- und Industrieflächen
2. Umwandlung in landwirtschaftliche Flächen
3. in früheren Jahren geförderte Rodeaktionen und
4. nachlässige Pflege und Nachpflanzung durch Besitzer, da kein
wirtschaftlicher Anreiz
Argumente für den Schutz von Obstwiesen
•
sie geben Erträge für den Eigenverbrauch und für den Markt,
•
sie sind Schattenspender für Jungvieh,
•
sie sind Reservoir für die biologische Schädlingsbekämpfung,
•
sie sind der Lebensraum bedrohter Tierarten,
•
sie sind Brutplätze und Nahrungsflächen,
•
sie bieten Schutz und Verbindung zu anderen Lebensräumen,
•
sie haben eine wichtige Bedeutung als Bienenweide,
•
sie schützen den Boden vor Erosion,
•
sie sind für das Dorf Windschutz und Wegweiser zugleich,
•
sie bilden eine zusätzliche Einnahmequelle für regionale
Erzeuger
•
sie sind eine wichtige Genressource und
•
wir erhalten damit traditionelle Anbaugebiete – eine
Kulturlandschaft
Biozönose
Vergleicht man die Lebensgemeinschaften von Streuobstwiesen und
Obstplantagen, so schneidet letztere wesentlich schlechter ab, auch dann
noch, wenn gänzlich auf Insektizide und Herbizide verzichtet wird.
Der Grund hierfür ist der eher offene Charakter von Obstwiesen, wo die
geringe Baumdichte auf Streuobstwiesen je nach Obstart 60 bis 120
Bäume pro Hektar beträgt; Obstplantagen können im Vergleich bis zu
3.000 Bäume zählen.
Nimmt man die Ökologie von Obstanlagen (Streuobst, Plantagen,
Niederstammanlagen) etwas genauer unter die Lupe, unterscheidet man
zwischen zwei Hauptlebensräumen: man spricht von der Kronenschicht
und der Krautschicht (dem sogenannten Unterbewuchs).
Insbesondere bei der Krautschicht ist die Artenvielfalt wesentlich von der
Bewirtschaftung des zu untersuchenden Geländes abhängig: ob intensive
oder extensive Beweidung durch welche Tierart zu welchem Zeitpunkt;
ob Früh- oder Spätmahd oder keine Nutzung.
Aber auch die Bodenbeschaffenheit und klimatische Bedingungen üben
ihren Einfluss auf diesen Lebensraum aus.
Wie auch immer trumpft eine Streuobstwiese gegenüber Obstplantagen
mit 2000 bis 5000 Tierarten auf, wobei die Insekten den größten Anteil
darstellen.
Im Besonderen kommt der Honigbiene eine spezielle Aufgabe zu, denn
sie übernimmt den größten Teil der Bestäubungsleistung unter den
Insekten; ein Umstand, der uns vielleicht mal nachdenklich und
ehrfürchtig machen sollte, wenn wir uns Honig aufs Butterbrot schmieren
oder wenn wir in einen knackigen Apfel beißen.
Aber auch Spinnentiere finden hier wegen des günstigen Kleinklimas
einen idealen Lebensraum.
Zu den hier am häufigsten vorkommenden Amphibien zählen in unseren
Regionen Erdkröten und Grasfrösche. Für Reptilien wie etwa
Blindschleichen bieten Totholzhaufen aus Schnittgut interessante
Unterschlupfmöglichkeiten.
Obstbaum als Brutstätte
Für viele Vogelarten bilden besonders alte Obstbaumbestände mit
Asthöhlen beste Brutvoraussetzungen mit einem intakten Umfeld und
einer reichhaltigen Nahrungsgrundlage an Gliederfüßern wie etwa
Insekten und Spinnen.
Zu den eher seltenen Gästen unserer Gegend zählt der Steinkauz,
dessen Bestände stark rückläufig sind. Ein Umstand, der uns zusätzlich
anspornen sollte, Streuobstwiesen zu unterhalten oder neu anzulegen.
Davon profitieren neben den oben genannten Tierarten auch Säugetiere
wie etwa Fledermäuse, Siebenschläfer, Mauswiesel und Igel.
Wie alles begann
Ur-Apfelbaum ist der wilde HOLZAPFEL, als Bestandteil der Laub- und
Kiefernwälder Europas und Asiens. Wie alle wilden Obstarten besiedelt er
lichte Waldrandzonen. Er zählt zu den ältesten Obstbäumen und wurde
schon vor sehr langer Zeit kultiviert. Als Urheimat gelten Turkestan und
der Kaukasus. Großfrüchtige Sorten dürften in Europa entstanden sein,
wie Funde in Pfahlbauten der Jungsteinzeit vermuten lassen. Den
Ägyptern und den Hebräern waren Apfel und Birne unbekannt. Die
ersten veredelten Apfelbäume kamen aus Asien und über die Römer
gelangte er in unsere Breiten.
Der einzige von den Germanen in Kultur genommene Obstbaum war der
Apfelbaum, und zwar der Holzapfel. Zwar waren den Germanen auch die
Kirschbäume: Sauerkirsch, Süßkirsche sowie die Kriechpflaume bekannt,
aber sie wurden nicht angepflanzt. Die meisten Obstbäume lernten sie
erst durch die römische Kultur und durch die kolonisatorische Tätigkeit
der Mönche kennen. Hochwertige Obstsorten wurden so eingeführt:
Cerasus (Kirsche), Prunus (Pflaume), Persicum (Pfirsisch) sind
lateinische Namen, die der deutschen Zunge recht gemacht wurden.
Auch Mandeln, Aprikosen, Walnuss und Weinrebe hielten jetzt ihren
Einzug.
und dann… Zeitsprung
Seit 1971 sind Größe und Aussehen der Früchte europaweit
standardisiert, was den Großflächenanbau begünstigt. Niedrigstämmige
Obstbaumplantagen sind leicht abzuernten. Seit Jahrzehnten
verschwinden die herkömmlichen hochstämmigen Bäume aus den
Gärten, von den Wegrändern und den Wiesen. Ungezählte Sorten sind
bereits verloren. Pomologen –Experten für Obstsorten – sprechen von
einer „Gen-Erosion“ enormen Ausmaßes.
„Ach schüttele mich, rüttele mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif“
Agra-Ost hat seit 2004 mehr als 500 Früchte nach Gembloux
(CRA-W) zur Identifizierung gebracht. Fast die Hälfte der Früchte war
unbekannt, aber mehr als 40 Obstsorten sind interessant, sie zu erhalten
und in einer Streuobstwiese anzupflanzen. Sie sind vom CRA-W
auserwählt worden, weil sie an extremen Klimabedingungen angepasst
und somit krankheitsresistenter sind. Außerdem spielen andere
Faktoren, wie Geschmack, Form, lange Haltbarkeit usw. eine wichtige
Rolle. Manche Sorten wurden schon in der bestehenden Obstwiese von
Gembloux eingeführt aber andere befinden sich noch in privaten
Obstwiesen und es ist Zeit, sie zu reproduzieren und zu erhalten. Die
alten Sorten können schon bald für die Züchtung wichtig werden, weil sie
anders als die jungen Standartpflanzen, oft über Resistenzen gegen
Schädlinge und Krankheiten wie Feuerbrand, Mehltau oder Schorf
verfügen.
Da die Fläche für hochstämmige Obstbäume in den letzten Jahren auch
bei uns stark zurück gegangen sind- in der Wallonischen Region waren
es noch mehr als 20.000 Ha in den 50er Jahren, in den 70er Jahren nicht
einmal 1000 Ha- drohen die lokalen Sorten zu verschwinden. Unter
diesen Gegebenheiten leitet Agra-Ost seit einigen Jahren folgende
Projekte:
•
Identifizierung von lokalen Sorten, in Zusammenarbeit mit dem
Wallonischen Zentrum für Agrarforschung (Abteilung Biologische
Bekämpfung und Phytogenetische Ressourcen). Seit 2004 wurden mehr
als 500 Früchte eingereicht und viele sind unbekannt. Von den
unbekannten Sorten gibt es mehr als 35 zu erhaltende Sorten und rund
15 Sorten wurden zur Erhaltung in die Obstanlage von Gembloux
eingeführt.
•
Anlegen einer Obstwiese zur Erhaltung der lokalen Sorten, die
als unbekannt identifiziert, aber regional beibehalten werden sollen.
•
Sammelbestellung und -verkauf von hochstämmigen und alten
Obstbaumsorten
Früher hatte jeder landwirtschaftliche Betrieb seinen eigenen
Obstgarten. Die hochstämmigen Obstbäume sind demnach Teil unseres
Landschaftsbildes. Die hochstämmigen Obstbäume bieten wie erwähnt
einen günstigen Platz für die Wildfauna und sind zudem weniger
pflegebedürftig, da sie weniger anfällig für Krankheiten sind. Aus all
diesen Gründen werden seit 2002 jährlich über 1000 hochstämmige
Obstbäume von Privatpersonen und Landwirte über Agra-Ost erworben.
•
Vorführung zum Erziehungsschnitt der hochstämmigen
Obstbäume
•
Vorführung zur Veredelung der Obstbäume. Die Veredelung
ermöglicht die nützlichen, seltenen und unbekannten oder nicht
vermarktete Sorten zu reproduzieren. Auch wenn es möglich ist, einen
Obstbaum durch Saatgut oder Nachtriebe zu vermehren, so haben diese
gezüchteten Bäume doch oft andere Eigenschaften und die Früchte
tendieren zu verwildern. Dagegen ist die Veredelung eine Möglichkeit,
eine Obstsorte zu vermehren und dabei ihre Eigenschaften zu erhalten.
Sie ermöglicht es, ebenfalls Arten zu vermehren, deren Wurzeln nicht für
den Boden geeignet sind. In diesem Fall benutzt man eine
„Zwischensorte“, die sich für den Boden eignet und worauf man dann
veredelt. Die Veredelung ermöglicht zudem eine schnellere
Fruchtbildung.
Agra-Ost organisiert bereits seit einigen Jahren einen gruppierten
Einkauf hochstämmiger Obstbäume mit dem Ziel, alte Sorten, die an die
rauen und kalten klimatischen Bedingungen unserer Gegend angepasst
sind, zu erhalten oder wieder in das Landschaftsbild einzugliedern.
Da der Zeitpunkt der möglichen Pflanzung und des gruppierten Einkaufs
wieder näher rückt, haben wir eine Liste mit einigen Ratschlägen für die
Pflanzung hochstämmiger Obstbäume aufgestellt. Diese Liste ist eine
Empfehlung und keine Einschränkung!
Einige Empfehlungen
Auswahl einer geeigneten und angepassten Sorte
1. Es sollten mindestens 40 – 50 cm Boden vorhanden sein
2. Der Boden sollte nicht zu schwer sein (Lehm, Ton)
3. Der Boden sollte nicht zu nass sein und eine gute
Wasserleitfähigkeit besitzen
4. Der Boden sollte nicht zu hart sein und nicht zu trocken
5. Wenn möglich die Bäume nicht in gefrorenen Böden pflanzen
6. Der PH-Wert des Bodens sollte zwischen 6-7 sein
7. Nicht in feuchten Täler und in der Nähe von Wasserläufen
pflanzen
8. Nicht entlang eines Waldes pflanzen
9. Zwischen den Bäumen sollte eine Distanz von min. 8 m in
Gärten, und von mindestens 10-12 m auf landwirtschaftlich genutzten
Flächen sein
10. Man sollte den Baum nie tiefer als die untere Veredelungsstelle
pflanzen
11. Man sollte einen Mäuseschutz vorsehen
12. Der Baum sollte immer an einem Pfahl befestigt werden
13. Der Baum sollte im Falle einer Trockenheit während der
Pflanzung bewässert werden
14. Der Baum sollte in den ersten 4 Jahren jährlich beschnitten
werden
Interessante Links
Les Livrets de l’Agriculture
(Livret n°6, nur auf Französisch).
L’arboriculture fruitière en haute-tige, une voie de diversification agricole
en région herbagère
Wenn Intensivierung der Landwirtschaft und das Bau- und
Siedlungswesen die Streuobstwiesen stark dezimieren und
Einheitsware die alten Obstbaumsorten aus dem
Fruchtgeschäft verdrängt, geht mit jedem Apfel, jeder
alten Birne oder Quitte ein Geschmack verloren, ein Duft,
eine Portion Gesundheit und ein Stück Kultur. Um sie zu
erhalten, müssen wir wieder lernen, unser Kulturgut
Streuobstwiese und Obstbaum mit all unseren Sinnen zu
erleben, es wieder aus allen Perspektiven zu betrachten, es
mit dem Hirn zu genießen. Denn schon in den Berliner
Blättern von 1803 ist zu entnehmen: „Das Obst ist die
Schönste, wohltätigste Frucht der Erde, und sollte als ein
höchst ergiebiges Beschäftigungs-, Erwerbs-,
Nahrungsmittel und Verschönerungszweig sein.“
Obstbäume sind das Poesiealbum einer Landschaft. Sie
sind eines der artenreichsten Biotope in Mitteleuropa. Sie
bieten Rückzugsflächen für die Flora und Fauna von
Hecken, Waldrand und Wiese und sind Bindeglied zwischen
Dorf und Feld. Der Obstanger am Dorfrand war auch für
die Bevölkerung eine neutrale Zone. Auch die Gottesäcker
waren früher mit Obstbäumen bestückt. Das interessante
Ökosystem von Menschenhand geschaffen ist stark
gefährdet. Ein Stück Lokalgeschichte…
Die Bedeutung des Obstes in der Gesellschaft von morgen hängt nicht
vom Obst ab, sondern von dem, was wir tun und von der Botschaft, die
wir vermitteln.
Helmut Eiselberg
Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
Lautlos davonträgt…
Hilde Domin
Text: E li sabeth
Fotos : @Naturpark
H. Hahn
S. Mertes
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