Plenum: Migrationsregime In diesem Panel geht es um die aktuellen Fragen der Migration aus einem staatstheoretischem Blickwinkel zu diskutieren. Das staatstheoretische Defizit in der Migrationsforschung gilt längst zu überwinden. Die kritische Forschung richtet sich auf die Frage, inwiefern die staatliche Politik als eine Antwort auf die Migrationsbewegungen zu verstehen ist und fokussiert sich auf die Dynamiken der Bewegung. Genau an dieser Stelle lässt sich an der materialistischen Staatstheorie knüpfen. Fie These wäre: Die Migration wirbelt die mit den Nationalstaat installierten Formen des sozialen Kompromisses immer wieder neu durcheinander und verändert damit die Bedingungen für soziale und politische Kämpfe. Zwei Fragen stehen in diesem komplexen Verhältnis im Vordergrund. Im ersten Vortrag gehen Buckel/Kannankulam/Wissel auf die Entwicklung der europäischen Migrationskontrollpolitiken ein, welche klassische staatstheoretische Argumentationen vor eine neue Herausforderung stellen. Denn sie bedeuten die Herausbildung eines die nationalen Territorien überlagernden Territoriums, einer transnationalen Bevölkerungsregulierung sowie Verschiebungen von Gewaltmonopol und Staatsbürgerschaft. Dieser Beitrag stellt vor dem staatstheoretischem Hintergrund die Frage, welches neuartige Institutionenensemble sich in diesem Prozess herausbildet. Im zweiten Vortrag geht Tobias Pieper auf die Frage ein, inwiefern innerhalb des Migrationsregimes Orte entstehen, an denen geltendes Recht durch staatliche Gewalt ausgesetzt wird. Das Lager gilt hier als variables Instrument der Migrationskontrolle gegenüber Menschen, die durch Entrechtlichungsstrategien gesellschaftlich exkludiert und kontrolliert werden. Koordination: Ilker Ataç Moderation: Manuela Bojadzijev Sonja Buckel/John Kannankulam/Jens Wissel Staatsprojekt Europa? Zur Transnationalisierung der Migrationskontrollpolitiken Kommentar: Helen Schwenken Die Europäische Union (EU) steht selten im Zentrum gesellschaftskritischer Analysen politischer Herrschaft, obwohl wir gerade zu ZeugInnen eines sich herausbildenden neuen Staatsprojektes werden. Doch zeichnet sich dieser Prozess gerade dadurch aus, dass er weitgehend entkoppelt von demokratischen Entscheidungsprozessen und öffentlichen Debatten abläuft. Im gesamten Raum der EU findet eine Rekonfiguration von Recht, Staatsgewalt, Staatsapparaten und Gesellschaft statt – ohne dass dieser grundlegende gesellschaftliche Umbruch unter Einbindung der Subalternen vollzogen würde. Vielmehr geschieht er als ›passive Revolution‹. So präsentiert sich die EU als technokratische, undurchschaubare Verwaltungsorganisation, während sich in den letzten fünfzig Jahren, die seit den Römischen Gründungsverträgen vergangen sind, ein europäisches Staatsapparateensemble herausgebildet hat, welches die nationalen Institutionen politischer Herrschaft nicht nur überformt, sondern längst in eine neue europäische Logik integriert hat. Dies betrifft nicht mehr nur die Agrar-, Finanz- oder Wettbewerbs- und Währungspolitik, also die Felder des europäischen Binnenmarktes, sondern integriert nach und nach alle ehemals nationalstaatlichen Politikbereiche. In der Politik- und Rechtswissenschaft haben diese Veränderungen seit einiger Zeit einen Diskurs um die Staatsform dieser Entwicklung hervorgebracht. Während sich die einzelnen Richtungen noch darüber auseinandersetzen, ob der Nationalstaat darin abstirbt oder unverändert fortbesteht, hat relativ unbemerkt mit der sogenannten ›Vergemeinschaftung‹ der Migrationskontrollpolitiken, das heißt mit dem rechtlichen Übergang der Rechtssetzungskompetenzen an die EU, mittlerweile längst eine Verschiebung von Kernelementen nationaler Staatlichkeit stattgefunden: Territorialität, Gewaltmonopol und Bevölkerungspolitik. Durch den regen politischen Rechtssetzungsprozess der letzten zehn Jahre, der nicht nur diverse Asyl-, Visa-, und Migrationsregelungen sondern auch die neue europäische Grenzschutzagentur FRONTEX hervorgebracht hat, bildet sich mit eigenständigen Apparaten der Kontrolle und Informationsbeschaffung sowie der zunehmenden Europäisierung und europaweiten Vernetzung nationaler Kontrollapparate ein kaum noch zu überschauendes Geflecht von Apparaten, internationalen Institutionen und Organisationen zur Kontrolle der Bevölkerung heraus. Die EU, die sich gerade durch ihre spezifisch e Form bürokratische Herrschaft gegen ein Hinterfragen abschottet, lässt sich politisch und staatstheoretisch nicht mehr ignorieren, sondern muss als Ort politischer Herrschaft erkannt, analysiert und verändert werden. Wir wollen daher zu einer staatstheoretischen Einschätzung der EU beitragen, indem wir zunächst, den Stand der Forschung zur Rolle des Staates in diesem Prozess darstellen und kritisch hinterfragen. Daran anschließend werden wir ein eigenes materialistisches Konzept vorstellen, welches wir in unserem Forschungsprozess entwickelt haben, um daran anschließend den Prozess der Europäisierung der Migrationskontrolle nachzuzeichnen. Tobias Pieper Das Lager als variables Instrument der Migrationskontrolle – Funktionsüberlegungen aus Perspektive einer kritischen Staatstheorie Kommentar: Andrea Kretschmann Ausgangspunkt ist die These, dass es an dem Schnittpunkt der Konstitution der europäischen Nationalstaaten, der von hier organisierten militärischen Durchsetzung (national gebundener) konkurrierender Kapitalinteressen im Verhältnis zur außereuropäischen Welt strukturell zu einer Aussetzung von Recht durch Gewalt kommt. Die an diesen Punkten entstehenden materiellen Strukturen des Staates nehmen diese Aussetzung des Rechts zur Unterwerfung des rassistisch markierten ‚Anderen’ auf und bilden diese in den entstehenden Institutionen ab. An dieser Schnittfläche steht historisch die Entstehung des Lagers als variables Kontroll- und Repressionsinstrument, als Architektur der gewaltsamen kolonialen Unterwerfung. Als repressives Instrument der Biopolitik wird die Etablierung von Lagern aus einer staatskritischen Perspektive diskutiert. Hiervon ausgehend lassen sich Thesen zur Funktion der heutigen Lager innerhalb des Migrationsregimes Europas aufstellen, welches sich sowohl durch die Installation von Lagern im Innern als auch durch deren Export auszeichnet. Lager sind variable Instrumente der Innenbehörden und des Militärs im Rahmen der Migrationspolitik gegenüber Menschen, die aus der herrschenden Perspektive stören und die aufgrund ihrer (potentiellen) Rechtlosigkeit durch Lager gesellschaftlich exkludiert und kontrolliert werden können. Innerhalb des Migrationsregimes entstehen Orte, an denen geltendes Recht durch staatliche Gewalt ausgesetzt wird. Lager schaffen an diesen Orten staatliche Ordnung und setzen diese gegen geltendes Recht um.