Futurismus, Dadaismus, Surrealismus

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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus
Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
(W. Eckel)
Zitate zur Vorlesung im WS 2005/06
Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens ............................................................................... 3
Der erweiterte Kunst- und Poesiebegriff ................................................................................... 4
Die Idee der Verschmelzung der Kunstgattungen ..................................................................... 5
Wichtige Vertreter des Futurismus ........................................................................................... 6
Avantgarde als Krieg ................................................................................................................. 7
Zur Begriffsgeschichte des Terminus „Avantgarde“ ................................................................ 8
Avantgarde als Terror und Krieg .............................................................................................. 9
Der Angriff auf die Institutionen der Kunst ............................................................................ 10
Die Idee der ständigen Selbstüberholung ................................................................................ 11
Die Apotheose der Technik im Futurismus............................................................................. 12
Das futuristische Ideal des Menschen: Der Mensch als Maschine ......................................... 14
Die Animierung und Erotisierung der Maschine im Futurismus ............................................ 15
Die futuristische Sensibilität ................................................................................................... 16
Die futuristische Sensibilität ................................................................................................... 18
Der bildnerische Dynamismus der Futuristen ......................................................................... 19
Die futuristische Idee einer Kunst der Geräusche ................................................................... 20
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ .............................................................................. 21
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ .............................................................................. 22
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ .............................................................................. 23
Die futuristische Idee des Theaters ......................................................................................... 24
Die futuristische Idee des Theaters ......................................................................................... 25
Wichtige Vertreter des Dadaismus .......................................................................................... 26
Wichtige Vertreter des Dadaismus .......................................................................................... 27
Die Aufwertung von Augenblick und Zufall im Dadaismus .................................................. 28
Das Wort „DADA“ ................................................................................................................. 29
Das latente Nihilismus Dadas ................................................................................................. 30
Der ,demokratische‘ Charakter Dadas..................................................................................... 31
Dada als Geisteszustand .......................................................................................................... 32
Simultangedicht, Bruitistisches Gedicht ................................................................................. 33
Die Emergenz einer neuen Gattung: Die dadaistische Lautpoesie.......................................... 35
Die dadaistische Lautpoesie und die Kritik an der konventionellen Sprache ......................... 36
Die Konzeption des Lautgedichts bei Raoul Hausmann ......................................................... 37
Der romantische Traum von der Musikalisierung der Sprache als Antizipation des
dadaistischen Lautgedichts .................................................................................................. 38
MERZ-Dada: Kurt Schwitters ................................................................................................. 39
Kurt Schwitters. Lyrik unter dem Einfluß August Stramms ................................................... 40
Kurt Schwitters. Die Merz-Dichtung ...................................................................................... 41
Kurt Schwitters. Die Dichtung der konstruktivistischen Phase .............................................. 42
Die Idee der praktisch werdenden Poesie im Surrealismus .................................................... 43
Die surrealistische Diagnose der Gegenwart .......................................................................... 44
Die Rolle der Imagination im Surrealismus ............................................................................ 45
Der Begriff der „surréalité“ ..................................................................................................... 46
Der Begriff „Surrealismus“ ..................................................................................................... 47
Die automatische Schreibweise ............................................................................................... 48
Ein Beispiel eines automatischen Textes (Auszug) ................................................................ 49
Die surrealistische Idee des Bildes .......................................................................................... 50
Der surrealistische Begriff des Wunderbaren ......................................................................... 51
Die Idee einer modernen Mythologie ...................................................................................... 52
Der Einbruch des Wunderbaren .............................................................................................. 53
Der Zufall als Lebensprinzip ................................................................................................... 54
Die ,halbautomatische‘ Schreibweise von Nadja .................................................................... 55
Nadja als Luftgeist .................................................................................................................. 56
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, postum 1927:
„Sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen. Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst.
Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst.“ (5. März 1916) „Man kann wohl sagen, daß uns die
Kunst nicht Selbstzweck ist – dazu bedürfte es einer mehr ungebrochenen Naivität –, aber sie ist uns
eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden […] So sind unsere Debatten
ein brennendes, täglich flagranteres Suchen nach dem spezifischen Rhythmus, nach dem vergrabenen
Gesicht dieser Zeit. Nach ihrem Grund und Wesen; nach der Möglichkeit ihres Ergriffenseins, ihrer
Erweckung. Die Kunst ist dazu nur ein Anlaß, eine Methode.“ (5. April 1916) „Wir neigen dazu,
das Gewissen nur noch für die Leistung, für das Werk zu haben, das Leben aber und die Person als
inkurabel auf sich beruhen zu lassen. Das aber hieße den Künstler selbst zur Dekoration, zum
Ornament erniedrigen. Die Menschen dürfen nicht weniger wert sein als ihre Werke.“ (19. Mai
1917) „Der kürzeste Weg zur Selbsthilfe: auf Werke zu verzichten und das eigene Dasein zum
Gegenstande energischer Wiederbelebungsversuche zu machen.“ (10. November 1915)
F.T. Marinetti, Al di là del comunismo/ Jenseits des Kommunismus, 1919:
„Die Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein. Kein Alkohol, der Vergessen bringt, sondern
ein Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife
verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt. […] Unser Verdienst ist es, daß die Zeit
kommen wird, in der das Leben nicht mehr einfach ein Leben des Brotes und der Mühe sein wird,
auch kein Leben des Müßigganges, sondern in der das Leben Kunstwerk-Leben sein wird. / Jeder
Mensch wird seinen bestmöglichen Roman leben. Die genialeren Geister werden ihr
bestmögliches Gedicht leben. Es wird kein Wettlaufen mehr nach Besitz und Prestige geben. Die
Menschen werden in lyrischer Inspiration, Originalität, musikalischer Eleganz, Überraschung,
Fröhlichkeit und geistiger Elastizität wetteifern.“
André Breton, Manifeste du Surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924
„La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle peut être
une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime on s’avise de la
prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain du ciel
pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements auxquels
vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie.
N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de chercher à faire prévaloir ce que nous tenons pour notre
plus ample informé?“
„Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie
vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger
persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das Ende
des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es wird noch
Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, den denen teilzunehmen ihr
nicht zu hoffen gewagt habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist
es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was
am meisten von uns zeugt?“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der erweiterte Kunst- und Poesiebegriff
Raoul Hausmann, Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin, Rückblick 1970:
„Aktion, Aktion, vorbei die Zeit der Dichtung auf geschwärztem Papier, diese individuelle
Eitelkeit. […] Der Ober-DADA [Johannes Baader] und ich tragen die Literatur und die
Poesie auf die Straße, im wahren Sinne des Wortes.“
Tristan Tzara, Essai sur la situation de la poésie/ Versuch über die Lage der Poesie, 1931:
„Il s’agit de dénoncer le malentendu qui prétendait classer la poésie sous la rubrique des
moyens d’expression. La production poétique qui ne se distingue des romans et des autres
genres littéraires que par sa forme extérieure, la poésie qui exprime uniquement soit des idées
soit des sentiments, ne saurait plus définir la poésie à son stade actuel. A cette conception
périmée il y a lieu d’opposer la poésie-activité de l’esprit. […] Il est parfaitement admis aujourd’hui qu’on peut être poète sans jamais avoir écrit un vers, qu’il existe une qualité de
poésie dans la rue, dans un spectacle, n’importe où. La confusion elle-même est appelée
,poétique‘ et Proust s’était ingénié à la trouver jusque dans les pissotières.“
„Es gilt das Mißverständnis aufzudecken, das glaubt, die Poesie in der Rubrik der
Ausdrucksmittel klassifizieren zu können. Die poetische Produktion, die sich nur durch ihre
äußere Form von den Romanen und anderen literarischen Gattungen unterscheidet, die Poesie,
die allein entweder Ideen oder Gefühle ausdrückt, vermag die Poesie auf ihrem aktuellen
Entwicklungsstand nicht mehr zu definieren. Es besteht Anlaß, dieser veralteten Konzeption
die Poesie-Aktivität des Geistes gegenüberzustellen. […] Heute wird zugestanden, daß einer
Dichter sein kann, ohne je einen Vers geschrieben zu haben, daß eine poetische Qualität
auf der Straße, in einem Spektakel, egal wo existiert. Die Verwirrung selbst wird ,poetisch‘
genannt, und Proust kam auf die geniale Idee, sie sogar in den Pißbuden zu finden.“
Dadaistisches Manifest, 1918:
„Dada ist eine Geistesart […]. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann,
mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee der Verschmelzung der Kunstgattungen
Umberto Boccioni, Die futuristische Bildhauerkunst, 1912:
„Keine Angst ist dümmer als die, die uns fürchten läßt, die Kunstgattungen, die wir
ausüben, zu überschreiten. Es gibt nicht Malerei, Plastik, Musik, Dichtung. Es gibt nur
Schöpfung! […] Wir behaupten, daß auch zwanzig verschiedene Materialien in einem
einzigen Werk zur Erreichung der bildnerischen Emotionen verwendet werden können. Wir
zählen nur einige davon auf: Glas, Holz, Pappe, Eisen, Zement, Roßhaar, Leder, Stoff,
Spiegel, elektrisches Licht usw. usw.“
Kurt Schwitters, Merz, 1920
„Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der
Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern
das Streben, nicht Spezialist einer Kunst, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das
Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit.
Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten
und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich
habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich
habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische
Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.
Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbühne […]. Die Merzbühne kennt nur die
Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk.“ (5, 79).
Kurt Schwitters, 1920/21
„Die
Merz-Bühne
strebt
fort
von
der
Kunstgattung
zur
Verschmelzung
im
Gesamtkunstwerk. Mein letztes Streben ist die Vereinigung von Kunst und Nichtkunst zum
Merz-Gesamtweltbilde.“ (5, 84)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Wichtige Vertreter des Futurismus
Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), Dichter und Theoretiker
Umberto Boccioni (1882-1916), Maler, Bildhauer und Theoretiker
Antonio Sant’Elia (1888-1916), Architekt
Paolo Buzzi (1874-1956), Dichter
Libero Altomare (1883-1962), Dichter
Luciano Folgore (1888-1966), Dichter
Giacomo Balla (1871-1958), Maler
Enrico Prampolini (1894-1956), Maler
Gino Severini (1883-1966), Maler
Carlo Carrà (1881-1966), Maler und Theoretiker
Fortunato Depèro (1892-1960), Maler, Bühnenbildner, Kostümzeichner
Luigi Russolo (1885-1947), Komponist und Maler, Erfinder der Geräuschkunst
Francesco Pratella (1880-1955), Musiker
Anton Giulio Bragaglia (1890-1960), Erfinder des Fotodynamismus
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Avantgarde als Krieg
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 1832:
„Jede Truppe, welche nicht vollkommen schlachtfertig ist, bedarf einer Vorhut, um des
Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen, bevor sie ihn selbst ansichtig wird, denn der
Gesichtskreis reicht in der Regel nicht viel weiter als der Wirkungskreis der Waffen. Was
aber wäre ein Mensch, dessen Augen nicht weiter reichten als seine Arme? Die Vorposten
sind die Augen des Heeres […]. Ist die Truppe in Bewegung, so bildet ein mehr oder weniger
starker Haufe ihre […] Avantgarde, welche, im Fall die Bewegung rückwärts geschieht, zur
Arrièregarde wird.“
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des
Futurismus, 1909:
„Avevamo vegliato tutta la notte – i miei amici ed io – […]. Un immenso orgoglio gonfiava i
nostri petti, poiché ci sentivamo soli, in quell’ora, ad esser desti e ritti, come fari superbi o
come sentinelle avanzate, di fronte all’esercito delle stelle nemiche, occhieggianti dai loro
celesti accampamenti.“
„Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich – […]. Ein ungeheurer Stolz
schwellte unsere Brust, denn wir fühlten, in dieser Stunde die einzigen Wachen und
Aufrechten zu sein, wie stolze Leuchttürme oder vorgeschobene Wachtposten vor dem Heer
der feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblickten.“
„Noi siamo sul promontorio estremo dei secoli!“
„Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!“
„Non v’è più bellezza, se non nella lotta. Nessuna opera che non abbia un carattere aggressivo
può essere un capolavoro.“
„Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein
Meisterwerk sein.“
„Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriottismo, il
gesto distruttore dei libertarî, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.“
„Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus,
den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt,
und die Verachtung des Weibes.“
(Übersetzung: Jean-Jacques = Hans Jakob, erster deutscher Marinetti-Übersetzer)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Zur Begriffsgeschichte des Terminus „Avantgarde“
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 1832:
„Jede Truppe, welche nicht vollkommen schlachtfertig ist, bedarf einer Vorhut, um des
Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen, bevor sie ihn selbst ansichtig wird, denn
der Gesichtskreis reicht in der Regel nicht viel weiter als der Wirkungskreis der Waffen. Was
aber wäre ein Mensch, dessen Augen nicht weiter reichten als seine Arme? Die Vorposten
sind die Augen des Heeres […]. Ist die Truppe in Bewegung, so bildet ein mehr oder weniger
starker Haufe ihre […] Avantgarde, welche, im Fall die Bewegung rückwärts geschieht, zur
Arrièregarde wird.“
Olinde Rodrigues, L’artiste, le savant et l’industriel, 1825:
„C’est nous, artistes, qui vous servirons d’avant-garde; la puissance des arts est en effet
la plus immédiate et la plus rapide. Nous avons des armes de toute espèce: quand nous
voulons répandre des idées neuves parmi les hommes, nous les inscrivons sur le marbre ou sur
la toile; nous les popularisons par la poésie et le chant; nous employons tour à tour la lyre ou
le galoubet, l’ode ou la chanson, l’histoire ou le roman; la scène dramatique nous est ouverte,
et c’est là surtout que nous exerçons une influence électrique et victorieuse. Nous nous
adressons à l’imagination et aux sentiments de l’homme […].“
„Wir sind es, die Künstler, die euch als Avantgarde diesen werden. Die Gewalt der
Künste ist tatsächlich am unmittelbarsten. Wir haben Waffen aller Art. Wenn wir neue
Ideen unter den Menschen verbreiten wollen, schreiben wir sie auf Marmor oder auf
Leinwand. Wir bringen sie unter das Volk durch Poesie und Gesang. Wir greifen zur Leier
oder zur Flöte, zur Ode oder zum Lied, zur Geschichte oder zum Roman. Die dramatische
Szene steht uns offen, und gerade dort üben wir einen zündenden und erfolgreichen Einfluß
aus. Wir sprechen die Einbildungskraft und die Gefühle des Menschen an […].“
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des
Futurismus, 1909:
„Avevamo vegliato tutta la notte – i miei amici ed io – […]. Un immenso orgoglio gonfiava i
nostri petti, poiché ci sentivamo soli, in quell’ora, ad esser desti e ritti, come fari superbi o
come sentinelle avanzate, di fronte all’esercito delle stelle nemiche, occhieggianti dai loro
celesti accampamenti.“
„Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich – […]. Ein ungeheurer Stolz
schwellte unsere Brust, denn wir fühlten, in dieser Stunde die einzigen Wachen und
Aufrechten zu sein, wie stolze Leuchttürme oder vorgeschobene Wachtposten vor dem
Heer der feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblickten.“
Theo van Doesburg schreibt 1921 in einer Heerschau der Ismen, daß „Avant-garde de
collectieve benaming voor alle revolutionaire kunstenaarsgroepen“ sei.
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Avantgarde als Terror und Krieg
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des
Futurismus, 1909:
„Non v’è più bellezza, se non nella lotta. Nessuna opera che non abbia un carattere aggressivo
può essere un capolavoro.“
„Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein
Meisterwerk sein.“
„Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriottismo, il
gesto distruttore dei libertarî, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.“
„Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus,
den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt,
und die Verachtung des Weibes.“
F.T. Marinetti, Uccidiamo il Chiaro di Luna!/ Tod dem Mondenschein!, 1909:
„La guerra?… Ebbene, sì: essa è la nostra unica speranza, la nostra ragione di vivere, la nostra
sola volontà!… Sì, la guerra! Contro di voi, che morite troppo lentamente, e contro tutti i
morti che ingombrano le nostre strade!…“
„Krieg? Gewiß!… Unsere einzige Hoffnung, unsere Existenzberechtigung und unser Wille…
Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr zu langsam sterbt, und gegen alle Toten, die unseren Weg
versperren!…“
Raoul Hausmann, Dada ist mehr als Dada, 1921
„Dada ist die Faust aufs Auge und der Tritt in den verlängerten Rücken […].“
André Breton, Second manifeste du surréalisme/ Zweites Manifest des Surrealismus, 1930:
Es gelte zu begreifen, „que le surréalisme n’ait pas craint de se faire un dogme de la révolte
absolue, de l’insoumission totale, du sabotage en règle, et qu’il n’attende encore rien que de la
violence. L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la
rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“
„[…], daß der Surrealismus vor einem Dogma der absoluten Revolte, der totalen
Unbotmäßigkeit, der obligatorischen Sabotage nicht zurückgeschreckt ist und daß er sich
einzig von der Gewalt etwas verspricht. Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin,
mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in
die Menge zu schießen.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Angriff auf die Institutionen der Kunst
F.T. Marinetti, Gründung und Manifest des Futurismus (1909):
„Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in
die Welt, mit dem wir heute den ,Futurismus‘ gründen, denn wir wollen dieses Land von dem
Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.
Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen
befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken.
Museen: Friedhöfe!… Wahrlich identisch in dem unheilvollen Durcheinander von vielen
Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer
neben verhaßten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler
und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften
Ausstellungswände abschlachten!
Einmal im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf den Friedhof geht… das
gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa
niederlegen, …das gestatte ich euch… Aber ich lasse nicht zu, daß man täglich in den Museen
unser kümmerliches Dasein, unseren gebrechlichen Mut und unsere krankhafte Unruhe
spazierenführt. Warum will man sich vergiften? Warum will man verfaulen?
Und was kann man auf einem alten Bilde schon anderes sehen als die mühseligen
Verrenkungen des Künstlers, der sich abmühte, die unüberwindbaren Schranken zu
durchbrechen, die sich seinem Wunsch entgegenstellen, seinen Traum voll und ganz zu
verwirklichen?… Ein altes Bild bewundern, heißt unsere Sensibilität in eine Aschenurne
schütten, anstatt sie weit und kräftig ausstrahlen zu lassen in Schöpfung und Tat.
Wollt ihr denn eure besten Kräfte in dieser ewigen und unnützen Bewunderung der
Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich erschöpft, ärmer und geschlagen
hervorgehen werdet?
Wahrlich, ich erkläre euch, daß der tägliche Besuch von Museen, Bibliotheken und
Akademien (diesen Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen, diesen Kalvarienbergen
gekreuzigter Träume, diesen Registern gebrochenen Schwunges) für die Künstler ebenso
schädlich ist wie eine zu lange Vormundschaft für manche Jünglinge, die ihr Genie und ihr
ehrgeiziger Wille trunken machen. Für die Sterbenden, für die Kranken, für die Gefangenen
mag das angehen: – die bewunderungswürdige Vergangenheit ist vielleicht ein Balsam für
ihre Leiden, da ihnen die Zukunft versperrt ist… Aber wir wollen von der Vergangenheit
nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen!
Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! Hier! Da sind
sie!… Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken!… Leitet den Lauf der Kanäle
ab, um die Museen zu überschwemmen!… Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten,
ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!… Ergreift die Spitzhacken, die
Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“
(Übersetzung: Jean-Jacques = Hans Jakob, erster deutscher Marinetti-Übersetzer)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee der ständigen Selbstüberholung
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des
Futurismus, 1909:
„I più anziani fra noi, hanno trent’anni: ci rimane dunque almeno un decennio, per compier
l’opera nostra. Quando avremo quarant’anni, altri uomini più giovani e più validi di noi,
ci gettino pure nel cestino, come manoscritti inutili. – Noi lo desideriamo!
Verranno contro di noi, i nostri successori; verranno di lontano, da ogni parte, danzando su la
cadenza alata dei loro primi canti, protendendo dita adunche de predatori, il buon odore delle
nostre menti in putrefazione, già promesse alle catacombe delle biblioteche.
Ma noi non saremo là… Essi ci troveranno alfine – una notte d’inverno – in aperta campagna,
sotto una triste tettoia tamburellata da una pioggia monotona, e ci vedranno accoccolati
accanto ai nostri aeroplani trepidanti e nell’atto di scaldarci le mani al fuocherello meschino
che daranno i nostri libri d’oggi fiammeggiando sotto il volo delle nostre immagini.“
„Die Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre alt: es bleibt uns also mindestens ein Jahrzehnt,
um unser Werk zu vollbringen. Wenn wir vierzig sind, mögen andere, jüngere und
tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir
wünschen es so!
Unsere Nachfolger werden uns entgegentreten; von weither werden sie kommen, von allen
Seiten, sie werden auf dem beflügelten Rhythmus ihrer ersten Gesänge tanzen, ihre
gebogenen Raubtierkrallen werden sie ausstrecken und an den Türen der Akademien werden
sie wie Hunde den guten Geruch unseres verwesenden Geistes wittern, der bereits den
Katakomben der Bibliotheken geweiht ist.
Aber wir werden nicht da sein!… Sie werden uns schließlich finden – in einer Winternacht –
auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger Regen trommelt, sie
werden uns neben unseren Flugzeugen hocken sehen, zitternd und bemüht, uns an dem
kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, das unsere Bücher von heute geben, die unter
dem Flug unserer Bilder auflodern.“ (Übersetzung: Jean-Jacques)
Walter Conrad Arensberg, DADA is American, 1920:
„A true work of DADA shouldn’t live more than six hours.“
Vgl. dagegen Ovid am Ende seiner Metamorphosen, ca. 8 n. Chr.:
„Habe vollbracht nun ein Werk, das nicht Juppiters Zorn, das nicht Schwert noch / Feuer
wird können zerstören und nicht das gefräßige Alter. / Setze der Tag, dem nur ein Recht
auf den Leib hier gegeben, / Wann er nur mag ein Ziel meinem flüchtigen Dasein: ich werde /
Doch mit dem besseren Teil meines Selbst mich über die Sterne / Heben auf ewig und
unzerstörbar wird bleiben mein Name.“ (Übersetzung: Erich Rösch)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Apotheose der Technik im Futurismus
F.T. Marinetti, Das futuristische Italien:
„Oh! wie beneide ich die Menschen, die in hundert Jahren auf meiner schönen Halbinsel
geboren werden, die durch die neuen elektrischen Kräfte völlig neubelebt, in Bewegung
versetzt und aufgezäumt ist!… Da, entlang der ganzen Küste erscheint uns das grüne Meer,
das nichts mehr von der Muße und Trägheit einer bewunderten, verzehrenden und treulosen
Kurtisane hat und endlich gezähmt, tätig und produktiv ist. Das weite grüne Meer, das die
Dichter so törichterweise angebetet haben, arbeitet überall, mit all seinen flinken und
wütenden Stürmen, im emsigen Reigen zahlloser Eisenflöße, die zwei Millionen von
Dynamos betreiben, die auf dem Strand und in den tausend arbeitsamen Golfen aufgestellt
sind. Durch ein Netz von Metallkabeln steigt die vereinte Kraft des Mittelmeeres und der
Adria bis zu den Gipfeln des Apennin empor, um sich in großen Käfigen aus Eisen und
Kristall zu konzentrieren, furchtbare Akkumulatoren, enorme Kraftzentren, die in Abständen
auf dem gebirgigen Rückgrat Italiens aufgestellt sind. Durch die Muskeln, Arterien und
Nerven der Halbinsel verbreiten sich die Energien ferner Winde und die Revolten des Meeres,
die das Genie des Menschen in mehrere Millionen Kilowatt verwandelt hat, überall hin, ohne
Leitungen, mit einer befruchtenden Fülle, die die von Ingenieuren bedienten Tastaturen
regulieren. Diese Ingenieure leben in Hochspannungskammern, in denen 100 000 Volt
zwischen den großen Glastüren vibrieren. Sie sitzen vor Verteilertischen, rechts und links
Zähler, Steuer- und Schaltapparate, und überall der mächtige Blitz glänzender Kurbeln. […]
Von der Höhe ihrer Eindecker lenken sie durch drahtlose Telephone den blitzschnellen Lauf
der Saat-Züge, die zwei- oder dreimal im Jahr die Ebenen zum frenetischen Säen
durchqueren. Jeder Waggon trägt auf seinem Dach einen riesigen Eisenarm, der sich
horizontal dreht und dabei rundherum Saatkorn ausstreut. Und die Elektrizität sorgt auch für
ein beschleunigtes Aufgehen der Saat. Die gesamte in der Luft enthaltene Elektrizität, die
gesamte unberechenbare Elektrizität des Erdinnern wird endlich nutzbar gemacht. Die
unzähligen Blitzableiter und Dynamo-Fang-Masten, die in endloser Reihe in Gemüsekulturen
und Gärten stehen, kitzeln mit ihren Spitzen den aufgeblähten und stürmischen Bauch der
Wolken, damit sie ihre stimulierenden Kräfte bis zu den Wurzeln der Pflanzen fließen lassen
können… Die Erde gibt endlich ihren ganzen Ertrag. […] Hunger und Armut verschwinden.
Die bittere soziale Frage ist abgeschafft.“
Altomare, Boccioni, Bonzagni u.a., Manifest gegen das passatistische Venedig, 1910:
„Wir lehnen das alte, von jahrhundertelanger Wollust erschöpfte und verblühte Venedig ab,
obwohl auch wir es einst in einem nostalgischen Traum liebten und besaßen. […] / Wir
wollen die Geburt eines industriellen und militärischen Venedig vorbereiten, das in der
Lage ist, die Adria, das kleine italienische Binnenmeer, zu beherrschen. / Beeilen wir uns, die
kleinen stinkenden Kanäle mit dem Schutt der alten fallenden Paläste zuzuschütten. /
Verbrennen wir die Gondeln, Schaukelstühle für Dummköpfe, und errichten wir bis zum
Himmel die imposante Geometrie der Metallbrücken und der rauchgekrönten Fabriken,
um die erschlafften Kurven der alten Bauten abzuschaffen. / Es komme endlich das Reich des
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göttlichen elektrischen Lichtes, um Venedig von seinem käuflichen Mondschein der
möblierten Zimmer zu befreien.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Das futuristische Ideal des Menschen: Der Mensch als Maschine
F.T. Marinetti, Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine:
„Es gilt daher, die unmittelbar bevorstehende Identifikation des Menschen mit der
Maschine vorzubereiten, indem man einen ununterbrochenen Austausch von Intuition,
Rhythmus, Instinkt und metallischer Disziplin erleichtert und vollendet, wovon die Mehrheit
noch keinerlei Begriff hat und nur die erleuchtetsten Köpfe etwas ahnen. / Akzeptiert man
Lamarcks transformistische Hypothese, so wird man sicher anerkennen, daß wir die
Schaffung eines a-humanen Typus anstreben. Gewissenspein, Güte, Gefühl und Liebe
stellen nichts als zerfressende Gifte der unerschöpflichen vitalen Energie dar, bloße Barrieren
für den Fluß unserer mächtigen physiologischen Elektrizität. Sie werden eliminiert werden. /
Wir glauben an die Möglichkeit einer unabsehbaren Zahl menschlicher Verwandlungen und
erklären in vollem Ernst, daß im Fleisch des Menschen Flügel schlafen. / Wenn es dem
Menschen möglich sein wird, seinen Willen in der Weise Gestalt annehmen zu lassen, daß er
sich außerhalb seiner wie zu einem immensen, unsichtbaren Arm verlängere, werden Traum
und Begehren, heute nichts als leere Worte, souverän über den gebändigten Raum und die
gezähmte Zeit herrschen. / Der für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffene ahumane und mechanische Typus wird natürlich grausam, allgegenwärtig und
kampfbereit sein. / Er wird mit Organen ausgestattet sein, angepaßt an die Erfordernisse
seiner Umwelt voller unablässiger Erschütterungen. […] Wie ihr des weiteren mit
Leichtigkeit feststellen könnt, stößt man heute ohne Zweifel immer häufiger auf einfache
Leute aus dem Volk, die zwar über keinerlei Kultur verfügen, denen aber dessen ungeachtet
das gegeben ist, was ich die große mechanische Vergöttlichung oder den metallischen Sinn
nenne. / Und zwar deshalb, weil diesen Arbeitern ihre Erziehung bereits durch die Maschine
zuteil wird und sie sich auf irgend eine Weise den Motoren anverwandeln. / Obschon das
Bedürfnis nach Gefühl in den Adern des Menschen noch nicht zerstörbar ist, muß man es
unbedingt verringern, will man die Bildung des a-humanen, mechanischen, durch die
Veräußerlichung seines Willens potenzierten Menschen vorbereiten. […] Man begegnet heute
Menschen, die in schöner, stahlfarbener Stimmung beinahe ohne Liebe durchs Leben
schreiten. Sorgen wir dafür, daß die Zahl dieser exemplarischen Menschen stetig zunehme.
Anstatt abends eine süße Geliebte aufzusuchen, lieben es diese energischen Wesen, morgens
mit liebender Sorgfalt dem perfekten Betriebsbeginn in ihrer Werkstatt beizuwohnen.“
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„Wir werden die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser menschliches
Fleisch vom Metall der Motoren trennt. / Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das
Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die
Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten
wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor.
Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien, und folglich auch vom Tode, dieser höchsten
Definition logischer Intelligenz.“
Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi, Vinicio Paladini, Die mechanische Kunst, 1922:
„WIR FÜHLEN WIE MASCHINEN, WIR FÜHLEN UNS AUS STAHL ERBAUT, AUCH
WIR MASCHINEN, AUCH WIR MECHANISIERT!“
14
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Animierung und Erotisierung der Maschine im Futurismus
F.T. Marinetti, Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine:
„Deshalb entwickeln und verkünden wir eine neue große Idee aus dem zeitgenössischen
Leben: die Idee der mechanischen Schönheit; und daher preisen wir die Liebe zur Maschine,
wie wir sie auf den versengten und rußgeschwärzten Wangen der Mechaniker aufflammen
sahen. Habt ihr nie einen Lokomotivführer beobachtet, wie er liebevoll den großen und
mächtigen Körper seiner Lokomotive wäscht? Es sind die präzisen und wissenden
Zärtlichkeiten eines Liebhabers, der die angebetete Frau liebkost. / Beim großen Streik der
französischen Bahnarbeiter war festzustellen, daß die Organisatoren dieser Sabotage sich
vergeblich mühten, auch nur einen Lokomotivführer zur Beschädigung seiner Lokomotive zu
bewegen. / Mir scheint dies absolut natürlich. Wie hätte einer dieser Männer seine treue und
ergebene Freundin mit ihrem glühenden und hingebungsvollen Herzen verletzen können?
Seine schöne, stählerne Maschine, die so oft vor Wonne unter seiner einölenden Zärtlichkeit
glänzte? / […] Ihr werdet sicher schon Betrachtungen der Art vernommen haben, in denen
sich für gewöhnlich Besitzer von Automobilen und Leiter von Werkstätten zu ergehen
pflegen: ,Die Motoren‘, sagen sie, ,sind wirklich geheimnisvoll… Sie haben ihre Launen,
unerwartete Grillen. Es scheint so, als hätten sie eine Persönlichkeit, eine Seele, einen
Willen. Man muß sie streicheln und mit Respekt behandeln, niemals schlecht; und nie darf
man sie zu sehr ermüden. Wenn ihr es so macht, wird diese Maschine aus Gußeisen und Stahl,
wird diese nach präzisen Angaben konstruierte Motor euch nicht nur seine ganze Leistung
schenken, sondern die doppelte und dreifache, viel mehr und viel besser als nach den
Berechnungen des Konstrukteurs – seines Vaters! – zu erwarten stand.‘ Nun – für mich
bergen diese Sätze eine tiefe, offenbarende Bedeutung. Sie kündigen mir die baldige
Entdeckung der Gesetze einer wirklichen Sensibilität der Maschinen an!“
15
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Sensibilität
F.T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte, 1913:
„Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität, die eine Folge der großen wissenschaftlichen Entdeckungen ist. Wer heute den
Fernschreiber, das Telephon, das Grammophon, den Zug, das Fahrrad, das Motorrad, das
Auto, den Überseedampfer, den Zeppelin, das Flugzeug, das Kino, die große Tageszeitung
(Synthese eines Tages der Welt) benutzt, denkt nicht daran, daß diese verschiedenen Arten
der Kommunikation, des Transportes und der Information auf seine Psyche einen
entscheidenden Einfluß ausüben. / Jeder Mensch kann sich mit einer
vierundzwanzigstündigen Fahrt im Zug von einer kleinen, toten Stadt mit verlassenen Plätzen,
auf denen sich die Sonne, der Staub und der Wind still vergnügen, in eine große Metropole
versetzen, die vor Licht, Gebärden und Geschrei starrt… Der Bewohner eines Alpendorfes
kann durch eine Zeitung jeden Tag angsterfüllt um die Aufständischen in China, die
Suffragetten in London und in New York, um Dr. Carrel und die heroischen Schlitten der
Polarforscher bangen. Der ängstliche und unbewegliche Einwohner jeder beliebigen
Provinzstadt kann sich den Rausch der Gefahr leisten, wenn er im Kino einer Großwildjagd
im Kongo beiwohnt. Er kann japanische Athleten, schwarze Boxer, Amerikaner von
unerschöpflicher Exzentrik und hochelegante Pariserinnen bewundern, wenn er eine Mark für
das Varieté ausgibt. Wenn er dann zu Hause in seinem Bett liegt, kann er die ferne und teure
Stimme eines Caruso oder einer Burzio genießen. / Diese heute allen zugänglichen
technischen Mittel erwecken in oberflächlichen Gehirnen keinerlei Neugierde […]. Diese
technischen Errungenschaften bedeuten hingegen für den aufmerksamen Beobachter ebenso
viele Veränderungsmöglichkeiten unserer Sensibilität, denn sie haben die folgenden
bedeutenden Phänomene geschaffen.
1. Beschleunigung des Lebens, das heute einen raschen Rhythmus hat. […] Vielseitige und
gleichzeitige Bewußtseinslagen in ein und derselben Person. / 2. Abscheu vor allem Alten
und Bekannten. Liebe zum Neuen, zum Unvorhergesehenen. / 3. Abscheu vor dem
ruhigen Leben, Liebe zur Gefahr und Heroismus im täglichen Leben. […] / 12. Der von
der Maschine vervielfältigte Mensch. Neuer mechanischer Sinn, Verschmelzung des
Instinktes mit der Leistungsfähigkeit des Motors und den geschulten Kräften. / 13.
Leidenschaft, Kunst und Idealismus des Sports. Begriff des ,Rekords‘ und Liebe zu ihm.
/ 14. Neues Gefühl für den Reiseverkehr, die Überseedampfer und die großen Hotels
(jährliche Synthese der verschiedenen Völker). Begeisterung für die Stadt. Überwindung der
Entfernungen und der sehnsüchtigen Einsamkeit. Verspottung der himmlischen Ruhe im
Grünen und der unantastbaren Landschaft. / 15. Die Welt schrumpft durch Geschwindigkeit
zusammen. Neues Weltgefühl […]. Daraus ergibt sich für den einzelnen die Notwendigkeit,
mit allen Völkern der Welt in Verbindung zu treten. Deshalb muß sich jeder als Mittelpunkt
fühlen […]. Das menschliche Gefühl nimmt gigantische Ausmaße an […]. / 16. Ekel vor der
gekrümmten Linie, der Spirale und dem Tourniquet. Liebe zur Gerade und zum Tunnel.
Gewöhnung an die verkürzten Ansichten und optischen Synthesen, die von der
Geschwindigkeit der Züge und Autos erzeugt werden, die sich Städte und Landschaften von
oben ansehen. Abscheu vor der Langsamkeit, der Pedanterie, den Analysen und den
16
detaillierten Erklärungen. Liebe zur Geschwindigkeit, zur Abkürzung und zum
Resümee. ,Erzähl mir schell alles, in zwei Worten.‘“
17
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Sensibilität
F.T. Marinetti, Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà, 1913:
„Il Futurismo si fonda sul completo rinnovamento della sensibilità umana avvenuto per effetto
delle grandi scoperte scientifiche.“ „Ecco alcuni degli elementi della nuova sensibilità
futurista che hanno generato il nostro dinamismo pittorico, la nostra musica antigraziosa senza
quadratura ritmica, la nostra Arte dei rumori e le nostre parole in libertà.“
Wiss.-techn. Neuerungen
→
(Telefon, Fernschreiber usw.
Auto, Zug, Flugzeug usw.)
Wiss.-techn. Neuerungen
←
Futurist. Sensibilität
→
(Gefühl der geschrumpften Welt
Liebe zur Geschwindigkeit
Abscheu vor dem ruhigen Leben
Horror vor dem Alten
Liebe zum Neuen, zur Gefahr
Leidenschaft für den Sport
Begeisterung für die Stadt
Simultanperzeption
Bedürfnis nach Schocks
usw.)
Futurist. Sensibilität
←
Futurist. Kunst
(bildn. Dynamismus
Geräuschkunst
Worte in Freiheit)
Futurist. Kunst
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936:
„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise
der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und
Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem
sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. […] Und wenn
Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall
der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.“
„Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die
sie bedrohenden Gefahren.“
18
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der bildnerische Dynamismus der Futuristen
Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Die futuristische Malerei – Technisches Manifest,
1910:
„Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur
steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich.
Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung
befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum.
So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind
dreieckig. / In der Kunst ist alles Konvention, und die Wahrheiten von gestern sind für uns
heute lauter Lügen.“
Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Futuristen. Die Aussteller an das Publikum, 1912:
„Der Wunsch, den ästhetischen Eindruck zu verstärken, der gleichsam das Bild mit der Seele
des Betrachters in eines zusammenschweißt, hat uns bewogen zu erklären, ,daß der
Beschauer von nun an in der Mitte des Bildes stehen solle.‘ / Er wird dem Vorgange nicht
nur beiwohnen, sondern auch teil an ihm haben. Wenn wir malen, so übersetzen sich die
Phasen eines Aufstandes, die sich mit Faustschlägen bedeckende Menge und der Angriff der
Kavallerie auf der Leinwand durch Linienbündel, die allen in Konflikt geratenen Kräften
entsprechen, indem sie dem Gesetz der allgemeinen Gewalttätigkeit des Bildes folgen. –
Diese ,Linienkräfte‘ müssen den Betrachter einhüllen und mit sich fortreißen; er muß
gleichsam mit den Persönlichkeiten des Bildes kämpfen müssen.“
19
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Idee einer Kunst der Geräusche
Luigi Russolo, Die Geräuschkunst, 1913:
„Das Leben der Vergangenheit war Stille. Mit der Erfindung der Maschine im 19.
Jahrhundert entstand das Geräusch. Heute triumphiert und herrscht das Geräusch souverän
über die Sensibilität der Menschen. Viele Jahrhunderte lang hat sich das Leben still oder
wenigstens in gedämpften Tönen abgespielt. Die stärksten Geräusche, die diese Stille
durchbrachen, waren weder intensiv noch andauernd, noch abwechslungsreich. Denn sieht
man von den seltenen Erdbeben, den Orkanen, Stürmen, Lawinen und Wasserfällen ab, ist die
Natur still. / Bei diesem Mangel an Geräuschen setzten die ersten Töne, die der Mensch aus
einem durchbohrten Rohr oder einem gespannten Seil herauszuholen verstand, als etwas
Neues und Bewunderungswürdiges in Erstaunen. Die primitiven Völker führten den Ton auf
die Götter zurück, er galt als heilig und war den Priestern vorbehalten, die sich seiner
bedienten, um die Riten mit mehr Geheimnis zu umgeben. / So entstand der Begriff des
Tones als eine selbständige Sache, die sich vom Leben unterscheidet und von ihm
unabhängig ist. Daraus ging die Musik als eine phantastische, unverletzliche und heilige
Welt hervor, die über der wirklichen Welt liegt.“
„WIR MÜSSEN ÜBER DIESEN ENGEN KREIS DER REINEN TÖNE HINAUSGEHEN
UND DIE UNENDLICHE VIELFALT DER ,GERÄUSCH-TÖNE‘ HINNEHMEN. […]
Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann
werden wir das Glück haben, den Sog des Wassers, der Luft oder des Gases in den
Metallröhren, das Brummen der Motoren, die zweifellos wie Tiere atmen und beben, das
Klopfen der Ventile, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke, die Sprünge
der Straßenbahn auf den Schienen, das Knallen der Peitschen und das Rauschen von
Vorhängen und Jalousien zu unterscheiden. Wir haben Spaß daran, den Krach der Jalousien
der Geschäfte, der zugeworfenen Türen, den Lärm und das Scharren der Menge, die
verschiedenen Geräusche der Bahnhöfe, der Spinnereien, der Druckereien, der
Elektrizitätswerke und der Untergrundbahnen im Geiste zu orchestrieren. / WIR WOLLEN
DIESE SO VERSCHIEDENEN GERÄUSCHE AUFEINANDER ABSTIMMEN UND
HARMONISCH ANORDNEN.“
„Hier die 6 Geräuschfamilien des futuristischen Orchesters, die wir bald mechanisch
verwirklichen werden: 1. Brummen, Donnern, Bersten, Prasseln, Plumpsen, Dröhnen; 2.
Pfeifen, Zischen, Pusten; 3. Flüstern, Murmeln, Brummeln, Surren, Brodeln; 4. Knirschen,
Knacken, Knistern, Summen, Knattern, Reiben; 5. Geräusche, die durch Schlagen auf Metal,
Holz, Leder, Steine, Terrakotta usw. entstehen; 6. Tier- und Menschenstimmen: Rufe,
Schreie, Stöhnen, Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln, Schluchzen. / In dieser Aufstellung
sind die charakteristischen Grundgeräusche enthalten; alle anderen sind nur Verbindungen
und Kombinationen von ihnen.“
20
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers,
da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches
Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu
ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen
Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht
gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen und fast sofort wieder anzuhalten! / Das hat
mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern über
die mächtigen Schlote von Mailand flog. Und er fügte hinzu: / 1. MAN MUSS DIE
SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS
GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN. / 2. MAN MUSS DAS VERB
IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem Substantiv anpaßt, und es nicht
dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet oder erfindet. Nur das Verb im
Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch
die sie wahrgenommen wird, vermitteln. / 3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN,
damit das Substantiv seine wesenhafte Färbung beibehält. Da das Adjektiv seinem Wesen
nach nuancierend ist, ist es mit unserer dynamischen Vision unvereinbar, denn es setzt
einen Stillstand, eine Überlegung voraus. / 4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN,
diese alte Schnalle, die ein Wort an das andere bindet. Das Adverb gibt dem Satz einen
lästigen einheitlichen Ton.“
F.T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte,1913:
„Stellt euch vor, ein Freund von euch, der über diese lyrische Fähigkeit verfügt, befindet sich
in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erdbeben usw.) und
kommt gleich darauf, um euch seine Eindrücke zu erzählen. Wißt ihr, was euer lyrischer und
erregter Freund instinktiv machen wird?… / Er wird zunächst beim Sprechen brutal die
Syntax zerstören. Er wird keine Zeit mit dem Bau von Sätzen verlieren. Er wird auf
Interpunktion und das Setzen von Adjektiven pfeifen. Er wird nicht darauf achten, seine Rede
auszufeilen und zu nuancieren, sondern er wird ganz außer Atem in Eile seine Seh-, Gehörund Geruchsempfindungen in eure Nerven werfen, so wie sie sich ihm aufdrängen. Das
Ungestüm seiner Dampf-Emotion wird das Rohr des Satzes zersprengen, die Ventile der
Zeichensetzung und die Regulierbolzen der Adjektive. Viele Handvoll von essentiellen
Worten ohne irgendeine konventionelle Ordnung. Einzige Sorge des Erzählers: alle
Vibrationen seines Ichs wiederzugeben.“
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN, d.h. jedem Substantiv muß ohne
Bindewort das Substantiv folgen, dem es durch Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann–
Torpedoboot, Frau–Meerbusen, Menge–Brandung, Platz–Trichter, Tür–Wasserhahn.“
21
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers,
da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches
Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu
ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen
Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht
gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen und fast sofort wieder anzuhalten!
Das hat mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern
über die mächtigen Schlote von Mailand flog. Und er fügte hinzu:
1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE
SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.
2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem
Substantiv anpaßt, und es nicht dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet oder
erfindet. Nur das Verb im Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die
Elastizität der Intuition, durch die sie wahrgenommen wird, vermitteln.
3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN, damit das Substantiv seine wesenhafte
Färbung beibehält. Da das Adjektiv seinem Wesen nach nuancierend ist, ist es mit unserer
dynamischen Vision unvereinbar, denn es setzt einen Stillstand, eine Überlegung voraus.
4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN, diese alte Schnalle, die ein Wort an das
andere bindet. Das Adverb gibt dem Satz einen lästigen einheitlichen Ton.
5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN, d.h. jedem Substantiv muß ohne
Bindewort das Substantiv folgen, dem es durch Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann–
Torpedoboot, Frau–Meerbusen, Menge–Brandung, Platz–Trichter, Tür–Wasserhahn.
Da die Fluggeschwindigkeit unsere Kenntnis der Welt vervielfacht hat, wird die
Wahrnehmung durch Analogien immer natürlicher für den Menschen. Man muß folglich die
Redewendungen wie, gleich, so wie, ähnlich unterdrücken. Besser noch sollte man direkt den
Gegenstand mit dem von ihm heraufbeschworenen Bild verschmelzen und so das Bild mit
einem einzigen, essentiellen Wort in Verkürzung wiedergeben.
6. AUCH DIE ZEICHENSETZUNG MUSS ABGESCHAFFT WERDEN. Sind Adjektive,
Adverbien und Konjunktionen erst beseitigt, dann ist die Zeichensetzung natürlich
aufgehoben in der wechselnden Dauer eines lebendigen, durch sich selbst geschaffenen Stils,
ohne die absurden Unterbrechungen durch Kommata und Punkte. Um gewisse Bewegungen
hervorzuheben und ihre Richtung anzugeben, wird man die mathematischen Zeichen: + – × :
= > < und die musikalischen Zeichen verwenden.“
22
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„11. MAN MUSS DAS ,ICH‘ IN DER LITERATUR ZERSTÖREN […]. An seine Stelle
muß endlich die Materie treten, deren Wesen schlagartig durch Intuition erfaßt werden muß
[…]. An die Stelle der längst erschöpften Psychologie des Menschen muß DIE LYRISCHE
BESESSENHEIT DER MATERIE treten. […] Nur der asyntaktische Dichter, der sich der
losgelösten Worte bedient, wird in das Wesen der Materie eindringen und die dumpfe
Feindschaft, die sie von uns trennt, zerstören können.“
„Man ruft uns zu: ,Eure Literatur wird nicht schön sein! Wir werden keine Wortsymphonie
mit harmonischen Schwankungen und beruhigenden Kadenzen mehr haben!‘ Richtig! Ein
Glück! Wir werden im Gegenteil alle brutalen Töne gebrauchen, alle ausdrucksvollen Schreie
des heftigen Lebens, das uns umgibt. FÜHREN WIR MUTIG DAS ,HÄSSLICHE‘ IN DIE
LITERATUR EIN, UND TÖTEN WIR DIE FEIERLICHKEIT, WO IMMER WIR SIE
FINDEN. Los! nehmt nicht die Allüren von Hohenpriestern an, wenn ihr mir zuhört! Man
muß jeden Tag den Altar der Kunst anspeien! Wir betreten das grenzenlose Reich der freien
Intuition. Nach dem freien Vers, nun endlich DIE BEFREITEN WORTE!“
Marinetti, Schlacht. Gewicht + Geruch, 1911, Auszüge:
„Mittag ¾ flöten gestöhn gluthitze bumbum alarm Gargaresch krachen knattern marsch
Geklirr tornister gewehre hufe nägel kanonen mähnen räder kisten juden schmalzgebäck
ölkuchen kantilene kramläden dunstwolken schillern augenbutter gestank zimt“
„Vorhut: 20 meter bataillone-ameisen reiterei-spinnen straßen-furten general-inselchen
meldereiter-heuschrecken sand-revolution haubitzen-volksredner wolken-gitter gewehremärtyrer schrapnells-heiligenscheine multiplikation addition division haubitzen-abziehen
granate-tilgung triefen fließen erdrutsch blöcke lawine“
23
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Idee des Theaters
F.T. Marinetti, Il Teatro di Varietà/ Das Varieté, 1913:
„DER FUTURISMUS VERHERRLICHT DAS VARIETÉ, denn: / 1. Das Varieté, das
gleichzeitig mit der Elektrizität entstanden ist, hat zum Glück weder Tradition noch Meister
noch Dogmen, sondern lebt von Aktualität. / 2. Das Varieté dient rein praktischen Zwecken,
denn es sieht seine Aufgabe darin, das Publikum durch Komik, erotischen Reiz oder
geistreiches Schockieren zu zerstreuen und zu unterhalten. / 3. Die Autoren, die
Schauspieler und die Techniker des Varietés haben eine einzige Daseinsberechtigung und
Erfolgschance: ständig neue Möglichkeiten zu ersinnen, um die Zuschauer zu
schockieren. Auf diese Weise sind Stagnation und Wiederholung völlig unmöglich, und die
Folge ist ein Wetteifer der Gehirne und Muskeln, um die verschiedenen Rekorde an
Geschicklichkeit, Geschwindigkeit, Kraft, Komplikationen und Eleganz zu überbieten.“
„15. Das Varieté zerstört das Feierliche, das Heilige, das Ernste und das Erhabene in der
Kunst. Es hilft bei der futuristischen Vernichtung der unsterblichen Meisterwerke mit, weil es
sie plagiiert, parodiert, auf zwanglose Art präsentiert, ohne Apparat und ohne Zerknirschtheit,
wie eine x-beliebige Attraktion. So billigen wir bedingungslos die Aufführung des Parsifal in
40 Minuten, die in einem großen Varieté in London vorbereitet wird.“
„Das Varieté ist das einzige Theater, das sich die Mitarbeit des Publikums zunutze macht.
Dieses bleibt nicht unbeweglich wie ein dummer Gaffer, sondern nimmt lärmend an der
Handlung teil, singt mit, begleitet das Orchester und stellt durch improvisierte und
wunderliche Dialoge eine Verbindung zu den Schauspielern her. […] Das Varieté nützt auch
den Rauch der Zigarren und Zigaretten aus, um die Atmosphäre des Publikums mit der der
Bühne zu verschmelzen. Und weil das Publikum auf diese Weise mit der Phantasie der
Schauspieler zusammenarbeitet, spielt sich die Handlung gleichzeitig auf der Bühne, in
den Logen und im Parkett ab. Sie setzt sich nach Schluß der Aufführung zwischen den
Bataillonen der Bewunderer in Smoking mit Monokel fort, die sich am Ausgang drängen, um
sich den Star streitig zu machen.“
„Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer
des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar
Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so
die allgemeine Heiterkeit erregen (der Frack oder das beschädigte Kleid werden
selbstverständlich am Ausgang ersetzt). – Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen
verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. – Herren und Damen, von denen
man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze,
damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander
verursachen. – Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.“
24
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Idee des Theaters
F.T. Marinetti, E. Settimelli, B. Corra, Das futuristische synthetische Theater, 1915:
„Wir schaffen das futuristische Theater:
SYNTHETISCH
also sehr kurz. In wenigen Minuten, in wenige Worte und in wenige Gesten wird eine Unzahl
von Situationen, Empfindungen, Ideen, Sinneswahrnehmungen, Ereignissen und Symbolen
zusammengedrängt.
Wir sind überzeugt, daß man durch die Kürze auf mechanischem Wege zu einem völlig neuen
Theater gelangen kann, das in vollkommenem Einklang mit unserer sehr raschen und
lakonischen futuristischen Sensibilität steht. Bei uns kann ein Akt ein Augenblick sein, also
nur wenige Sekunden dauern. […]
ATECHNISCH
[…] Mit unserem Streben nach einem synthetischen Theater wollen wir den technischen
Aufbau zerstören, der, anstatt sich zu vereinfachen, von den Griechen bis heute immer
dogmatischer, töricht logisch, peinlich genau und pedantisch geworden ist und alles erstickt.
[…]
AUTONOM, ALOGISCH, IRREAL
Die futuristische Theater-Synthese wird nicht der Logik unterworfen sein, sie wird nichts
Photographisches enthalten, sie wird autonom sein, nur sich selbst gleichen, obwohl sie die
Elemente, die sie nach ihrer Laune kombiniert, aus der Wirklichkeit zieht.“
25
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Wichtige Vertreter des Dadaismus
Hugo Ball (1886-1927)
Richard Huelsenbeck (1892-1974)
Hans Arp (1887-1966)
Tristan Tzara (1896-1963)
Marcel Janco (1895-1963)
Emmy Hennings (1885-1948)
Hans Richter (1888-1976)
Raoul Hausmann (1886-1971)
Hanna Höch (1889-1978)
Johannes Baader (1875-1955)
George Grosz (1893-1959)
John Heartfield (1891-1968)
Kurt Schwitters (1887-1948)
André Breton (1896-1966)
Louis Aragon (1897-1982)
Philippe Soupault (1897-1990)
Francis Picabia (1879-1953)
Ribemont-Dessaignes (1884-1974)
Marcel Duchamp (1887-1968)
26
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Wichtige Vertreter des Dadaismus
Dada Zürich
Hugo Ball (1886-1927)
Richard Huelsenbeck (1892-1974)
Hans Arp (1887-1966)
Tristan Tzara (1896-1963)
Marcel Janco (1895-1963)
Emmy Hennings (1885-1948)
Hans Richter (1888-1976)
Dada Berlin
Richard Huelsenbeck (1892-1974)
Raoul Hausmann (1886-1971)
Hanna Höch (1889-1978)
Johannes Baader (1875-1955)
George Grosz (1893-1959)
Hans Richter (1888-1976)
John Heartfield (1891-1968)
Wieland Herzfelde (1896-1988)
Jefim Golyscheff (1897-1971)
MERZ-Dada Hannover
Kurt Schwitters (1887-1948)
Dada Holland
Theo van Doesburg (1883-1931)
Kurt Schwitters (1887-1948)
Dada Paris
Tristan Tzara (1896-1963)
André Breton (1896-1966)
Louis Aragon (1897-1982)
Paul Eluard (1895-1952)
Philippe Soupault (1897-1990)
Francis Picabia (1879-1953)
Ribemont-Dessaignes (1884-1974)
Dada New York
Marcel Duchamp (1887-1968)
Man Ray (1890-1976)
Walter Conrad Arensberg (1878-1954)
Arthur Cravan (1887-1920)
E.E. Cummings (1894-1962)
27
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Aufwertung von Augenblick und Zufall im Dadaismus
Raoul Hausmann, Am Anfang war Dada, 1972:
„DADA suchte nichts als den PREsenten Augenblick herbeizuführen.“
Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918:
„Abschaffung des Gedächtnisses: DADA – Abschaffung der Archäologie: DADA –
Abschaffung der Propheten: DADA – Abschaffung des Künftigen: DADA“.
Francis Picabia, Dadaisme, Instantanéisme 391, 1924:
„L’INSTANTANEISME: ne veut pas d’hier. L’INSTANTANEISME: ne veut pas de demain
[…] L’INSTANTANEISME: ne croit qu’à aujourd’hui. […] L’INSTANTANEISME: ne
croit qu’au mouvement perpétuel.“
Hans Richter, DADA – Kunst und Antikunst, 1964:
„Arp hatte lange in seinem Atelier am Zeltweg an einer Zeichnung gearbeitet. Unbefriedigt
zerriß er schließlich das Blatt und ließ die Fetzen auf den Boden flattern. Als sein Blick nach
einiger Zeit zufällig wieder auf diese auf dem Boden liegenden Fetzen fiel, überraschte ihn
ihre Anordnung. Sie besaß einen Ausdruck, den er die ganze Zeit vorher vergebens gesucht
hatte. Wie sinnvoll sie dort lagen, wie ausdrucksvoll! Was ihm mit aller Anstrengung
vorher nicht gelungen war, hatte der Zu-Fall, die Bewegung der Hand und die
Bewegung der flatternden Fetzen, bewirkt, nämlich Ausdruck. Er nahm diese
Herausforderung des Zufalls als ,Fügung‘ an und klebte sorgfältig die Fetzen in der vom ,ZuFall‘ bestimmten Ordnung auf. […] Die Schlußfolgerung, die Dada daraus zog, war, den
Zufall als ein neues Stimulans des künstlerischen Schaffens anzuerkennen. Dieses Erlebnis
war so erschütternd, daß man es sehr wohl als das eigentliche Zentral-Erlebnis von Dada
bezeichnen kann, welches Dada von allen vorhergehenden Kunst-Richtungen unterscheidet.“
Tristan Tzara, Um ein dadaistisches Gedicht zu machen, 1920:
„Nehmt eine Zeitung. / Nehmt Scheren. / Wählt in dieser Zeitung einen Artikel aus, die Ihr
Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. / Schneidet den Artikel aus. / Schneidet dann sorgfältig
jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. / Schüttelt leicht. / Nehmt dann einen
Schnipsel nach dem anderen heraus. / Schreibt gewissenhaft ab / in der Reihenfolge, in der
sie aus der Tüte gekommen sind. / Das Gedicht wird Euch ähneln. / Und damit seid Ihr ein
unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten
unverstandenen Sensibilität.“
28
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Das Wort „DADA“
Richard Huelsenbeck, Einleitung zur Dokumentation DADA, 1964:
„Ich habe oft erzählt, daß das Cabaret Voltaire, kurz ehe die Dadaperiode begann, dem
Bankrott nahe war und daß Ball, dem Rat des Besitzers, des Herrn Ephraim folgend,
Cabaretschauspieler und Sänger interviewte. Wir hatten eine Sängerin befragt, deren Name
mir aus dem Gedächtnis geschwunden ist, aber es war ein Name, der für das Auftreten im
Cabaret ungeeignet war. So saßen Ball und ich eines Nachmittags in seinem Zimmer
zusammen und überlegten. Der Larousse lag auf dem Tisch, hinter dem ich saß. Wir
blätterten und stießen dabei auf das Wort Dada, das in diesem Lexikon als Kinderwort
gleichbedeutend mit Hottehotte oder Holzpferdchen erklärt wurde. Mein Finger blieb bei
dem Wort stehen und ich sagte DADA. […].“
Hugo Ball, 1916:
Tagebuch, 18. April: „Tzara quält wegen der Zeitschrift. Mein Vorschlag, sie Dada zu
nennen, wird angenommen. […] Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hottound Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher
Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“
Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, 14. Juli: „Dada ist eine neue
Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand davon wusste und morgen
ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach.
Im Französischen bedeutets Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Rücken
runter, auf Wiedersehen ein ander Mal! Im Rumänischen: ,Ja wahrhaftig, Sie haben Recht, so
ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir‘. Und so weiter. / Ein internationales Wort. […] Dada
ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.“
Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918:
„Den Zeitungen entnimmt man, daß die Kru-Neger den Schwanz einer heiligen Kuh DADA
nennen. ,Würfel‘ und ,Mutter‘ heißen in einer bestimmten Gegend Italiens DADA. ,Holzpferd‘, ,Amme‘, die zweifache Bejahung auf russisch und auf rumänisch heißen DADA.“
Hugo Ball, Tagebuch 1921:
„Als mir das Wort ,Dada‘ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysos [Dionysos
Areopagita]. D.A. – D.A. (über diese mystische Geburt schrieb H…k [Huelsenbeck]; auch ich
selbst in früheren Notizen. Damals betrieb ich Buchstaben- und Wort-Alchimie).“
Johannes Baader, Wer ist Dadaist?, 1918:
„Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und
der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben!“
29
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Das latente Nihilismus Dadas
Richard Huelsenbeck, 1916:
„Wir haben beschlossen unsere mannigfaltigen Aktivitäten unter dem Namen Dada
zusammenzufassen. Wir fanden Dada, wir sind Dada, und wir haben Dada. Dada wurde in
einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts.“
Hugo Ball, 1916/1915:
„Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen
verwickelt sind“
„Bei genauerem Hinsehen lösen sich die Dinge in Phantasmata auf. Das ganze Arrangement
erscheint als ein verhängnisvoller Ablauf optischer Täuschungen, worin der bewußte Irrtum
und die gefaßte Lüge am ehesten noch eine Art von Sinn und Halt, eine Perspektive
aufrechterhalten. Was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, ist, exakt gesprochen, ein
aufgebauschtes Nichts.“
Francis Picabia, 1920:
„Was Dada angeht: es riecht nicht, es bedeutet ja nichts, gar nichts. / Dada ist wie Euere
Hoffnungen: nichts / wie Euer Paradies: nichts / wie Euere Idole: nichts / wie Euere
politischen Führer: nichts / wie Euere Helden: nichts / wie Euere Künstler: nichts / wie Euere
Religionen: nichts.“
Theo van Doesburg, 1923:
„Dada ist die Verneinung des allgemeinen, gängigen Lebenssinns. […] Dada sieht in allen
Einbildungen, die uns von der Wirklichkeit abgelenkt haben – mögen wir sie Tao, Om,
Brahma, Jahwe, Gott, Zahl, Geist usw. nennen – lediglich verschiedene Etiketten für den
gleichen Artikel, der, ,aus einem Nichts sich entwickelnd‘, mit viel Trara den Menschen
aufgeschwatzt wird. / Dada spricht dem Leben, der Kunst, der Religion, der Philosophie
oder der Politik jeden höheren geistigen Inhalt ab.“
30
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der ,demokratische‘ Charakter Dadas
Pressenotiz in der Zürcher Post vom 5. Feb. 1916:
„Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat sich eine Gesellschaft junger Künstler und
Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu
schaffen. Das Prinzip des Kabaretts soll sein, daß bei den täglichen Zusammenkünften
musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und
es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine
besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden.“
Hugo Ball, Tagebucheintrag, 5. Februar 1916:
„Das Lokal war überfüllt; viele konnten keinen Platz mehr finden. Gegen sechs Uhr abends,
als man noch fleißig hämmerte und futuristische Plakate anbrachte, erschien eine orientalisch
aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unterm Arm; vielmals diskret
sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco
und ein vierter Herr, dessen Name mir entging. Arp war zufällig auch da und man
verständigte sich ohne viel Worte. Bald hingen Jancos generöse ,Erzengel‘ bei den übrigen
schönen Sachen, und Tzara las noch am selben Abend Verse älteren Stiles, die er in einer
nicht unsympathischen Weise aus den Rocktaschen zusammensuchte.“
Hugo Ball über die von ihm herausgegebene Anthologie Cabaret Voltaire, 4. Juli 1916:
„,Cabaret Voltaire‘ enthält Beiträge von Apollinaire, Arp, Ball, Cangiullo, Cendrars,
Hennings, Hoddis, Huelsenbeck, Janco, Kandinsky, Marinetti, Modigliani, Oppenheimer,
Picasso, van Rees, Slodki und Tzara. Es ist auf zwei Bogen die erste Synthese der modernen
Kunst- und Literaturrichtungen. Die Gründer des Expressionisme, Futurisme und Kubisme
sind mit Beiträgen darin vertreten.“
31
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Dada als Geisteszustand
Theo van Doesburg, Was ist Dada?, 1923:
„Dada will gelebt sein.“ „Es ist ein Irrtum, zu glauben, Dada gehöre zur Kategorie neuer
Kunstformen wie Impressionismus, Futurismus, Kubismus, Expressionismus. / Dada ist
keine Kunstrichtung.“
Tristan Tzara, Vortrag auf dem Dada-Kongress 1924:
„Dada ist ein Geisteszustand. Sie können vergnügt, traurig, bedrückt, fröhlich, schwermütig
oder dada sein.“
Richard Huelsenbeck, Dadaistisches Manifest, 1918:
„Dada ist eine Geistesart, die sich in einem Gespräch offenbaren kann, so daß man sagen
muß: dieser ist ein DADAIST – jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen
Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New-Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann
unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur
zufällig Künstler sein“
32
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Simultangedicht, Bruitistisches Gedicht
Richard Huelsenbeck, En avant dada, 1920:
„Wir fanden Marinettis Weltauffassung realistisch und liebten sie nicht, obwohl wir den von
ihm oft verwendeten Begriff von Simultaneität gern übernahmen. […] Von Marinetti
übernahmen wir auch den Bruitismus […]. Bruitismus ist das Leben selbst, das man nicht
beurteilen kann wie ein Buch, das vielmehr ein [sic] Teil unserer Persönlichkeit darstellt, uns
angreift, verfolgt und zerfetzt. […] Simultaneität (von Marinetti in diesem Literatur-Sinne
zuerst gebraucht) ist eine Abstraktion, ein Begriff für die Gleichzeitigkeit verschiedener
Geschehnisse. […] Simultaneität ist direkter Hinweis aufs Leben und sehr eng mit dem
Problem des Bruitismus verwandt.“
Dadaistisches Manifest, 1918:
„Das BRUITISTISCHE GEDICHT / schildert eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der
Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen. / Das
SIMULANISTISCHE GEDICHT / lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge,
während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein
jammert im Keller des Schlächters Nuttke.“
Tristan Tzara, Anmerkung zu: L’amiral cherche une maison à louer, 1916:
„Les poèmes de Mrs Barzun et Divoire sont purement formels. Ils cherchent un effort musical, qu’on peut imaginer en faisant les mêmes abstractions que sur une partiture [sic]
d’orchestre. / Je voulais réaliser un poème basé sur d’autres principes. Qui consistent dans la
possibilité que je donne à chaque écoutant de lier les associations convenables. Il retient
les éléments caractéristiques pour sa personalité [sic], les entremêle, les fragmente etc.,
restant tout-de-même dans la direction que l’auteur a canalisé [sic].“
Hugo Ball, Tagebuch, 30. März 1916:
„Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem ,Poème simultan‘ auf. Das ist ein
kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen,
pfeifen oder dergleichen, so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder
bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Der Eigensinn eines Organons kommt in solchem
Simultangedichte drastisch zum Ausdruck, und ebenso seine Bedingtheit durch die
Begleitung. Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder
Sirenengeheul und dergleichen), haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene
Existenz. / Das ,Poème simultan‘ handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ
vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die
Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. Das
Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß
verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie
33
bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf
unentrinnbar sind.“
34
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Emergenz einer neuen Gattung: Die dadaistische Lautpoesie
Hugo Ball, Tagebuch, 23. Juni 1916:
„Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ,Verse ohne Worte‘ oder
Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe
erwogen und ausgeteilt wird.“
Raoul Hausmann, Introduction à une histoire du poème phonétique (1910-1939), 1965:
„Si l’on veut arriver à une histoire véritable du poème phonétique, on doit distinguer trois
tendances: / La première concerne une trouvaille due au hasard, qui n’aboutit pas à un exercice continuel; / La deuxième représente la création d’un genre nouveau de poésie, basée
sur une conviction ou sur une théorie; / La troisième comprend l’application des créations
de la deuxième catégorie dans un sens conventionnel.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die dadaistische Lautpoesie und die Kritik an der konventionellen Sprache
Hugo Ball, Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, am 14.
Juli 1916:
„Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu
verzichten, ad acta zu legen […]. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle
Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus
und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. […] Da
kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Vokale
kobolzen. Ich lasse die Laute ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut… Worte tauchen
auf, Schultern von Worten; Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, uh. Man soll nicht zu
viel Worte aufkommen lassen. Ein Vers ist die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich
wollte die Sprache hier selber fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der der
Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will
ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte.“
Hugo Ball, Tagebuch, 24. Juni 1916:
„Vor den Versen hatte ich einige programmatische Worte verlesen. Man verzichte mit dieser
Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene
und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes
zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten
heiligsten Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu
übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen
Gebrauch erfunden habe.“
Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel: „Poème phonétique“), 1958:
„Le langage, si on le pétrifie dans les académies, s’enfuit chez les enfants et les poètes
fous.“ „C’est la langue qui se venge des poètes! Et le phonétisme pur a pris forme, non
parce que quelqu’un le VOULAIT, mais parce que c’était là le chemin vers la purification,
que le langage complexe, concert atonal de quatre, cinq, littératures européennes s’est vu forcé de réaliser contre l’aboiement lamentable de ce qu’on appelle communément Littérature
mondiale (Weltliteratur de Gœthe). Le langage indo-européen a un esprit vengeur, et c’est
lui qui revient à ses sources, là où il n’y avait pas encore de pluriel, ni encore de pronom et
où le penser (c’est-à-dire voir-ouïr-parler) était catégorisant surindividuel. C’est le langage,
ce parler, qui cherche un sens nouveau, pour un usage nouveau. Et ce ne sont pas (comme
les soi-disant grand poètes d’aujourd’hui le prétendent) les rénovateurs dadaïstes ou surréalistes qu’il faut blâmer pour cela! La langue veut créer inlassablement des formes, elle veut
élargir, rénover son esprit, qui, lui, est canalisé par les fonctionnaires des pompes funèbres
nationales, les poètes reconnus comme tels!“
36
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Konzeption des Lautgedichts bei Raoul Hausmann
Raoul Hausmann, Cauchemar, entstanden während des zweiten Weltkriegs:
„bbg bbg bgg jjj ji jj zzzuuuu oooooo O! / uuuachtachtj hhh hzz hhzzz ggggzzzggg zgg z’ – /
kkk i i u kkiuu kki […]“
Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel: „Poème phonétique“), 1958:
„Je me croyais, comme de juste, le premier inventeur. Je dois dire que c’était Ball. Mais les
phonétismes de Ball étaient formés de ,mots inconnus‘, cependant que mes poèmes se basaient directement et exclusivement sur les lettres, ils étaient ,lettristes‘. Le poème phonétique, purification de la poésie ,poétique‘ était tellement nécessaire, que je le créais encore une
fois.“
„Je pensais que le poème est le rythme des sons. Pourquoi des mots? De la suite rythmique des consonnes, diphtongues et comme contre-mouvement de leur complément de
voyelles, résulte le poème, qui doit être orienté simultanément, optiquement et phonétiquement. Le poème est la fusion de la dissonance et de l’onomatopée. Le poème jaillit du regard
et de l’ouïe intérieurs du poète par le pouvoir matériel des sons, des bruits et de la forme tonale, ancrée dans le geste même de la langue.“
„C’est en quoi je me distingue de Ball. Ses poèmes créaient des mots nouveaux, des sons,
surtout des onomatopées musicalement arrangées; les miens sont fondés sur la lettre, là où il
n’y a plus la moindre possibilité de créer un langage offrant un sens, des déroulements
coordonnés.“
„Ich hielt mich, vermeintlich zu Recht, für den ersten Erfinder. Ich muß indes sagen, daß es
Ball war. Aber die Phonetismen Balls waren aus ,unbekannten Wörtern‘ gebildet, während
meine Gedichte direkt und ausschließlich auf Buchstaben gründeten, sie waren
,lettristisch‘. Das phonetische Gedicht, Reinigung der ,poetischen‘ Poesie, war dermaßen
notwendig, daß ich es noch einmal erfand.“
„Ich dachte, daß das Gedicht der Rhythmus der Klänge ist. Warum Wörter? Aus der
rhythmischen Folge der Konsonanten, Diphthonge und aus ihrer Vokalergänzung als
Gegen-Bewegung resultiert das Gedicht, das gleichzeitig optisch und phonetisch ausgerichtet
sein muß. Das Gedicht ist die Verschmelzung der Dissonanz und der Lautmalerei. Das
Gedicht entspringt dem inneren Blick und Gehör des Dichters durch die materielle Gewalt der
Töne, der Geräusche und der in der Geste der Sprache verankerten tonalen Form.“
„Das ist der Punkt, an dem ich mich von Ball unterscheide. Seine Gedichte schufen neue
Wörter, Klänge, vor allem musikalisch arrangierte Lautmalereien; die meinen sind auf dem
Buchstaben begründet, dort, wo es nicht die geringste Möglichkeit mehr gibt, eine einen
Sinn anbietende Sprache zu schaffen, koordinierte Abläufe.“
37
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der romantische Traum von der Musikalisierung der Sprache als Antizipation des
dadaistischen Lautgedichts
Novalis, Fragmente und Notizen, Ende der 1790er Jahre:
„Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte – blos
wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang –
höchstens einzelne Strofen verständlich – sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den
verschiedenartigsten Dingen [seyn]. Höchstens kann wahre Poësie einen allegorischen Sinn
im Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. thun –“
„Unsre Sprache – sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so
prosaisirt – so enttönt. Es ist jezt mehr Schallen geworden – Laut, wenn man dieses schöne
Wort so erniedrigen will. Sie muß wieder Gesang werden. Die Consonanten verwandeln den
Ton in Schall.“
„Man muß schriftstellen, wie Componiren.“
Friedrich Schlegel, Notizen:
„Die Methode des Romans ist die der Instrumentalmusik.“
„Jede K[unst] hat mus[ikalische] Princ[ipien] und wird vollendet selbst Musik.“
„Ist Musik die tellurische Grundkunst, so muß alle Sprache sich wieder in Musik
auflösen.“
Wilhelm Heinrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst, 1799:
„Aber was streb ich Törichter, die Worte zu Tönen zu zerschmelzen? Es ist immer nicht,
wie ich’s fühle.“
38
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
MERZ-Dada: Kurt Schwitters
Kurt Schwitters, Merz 20, 1927:
„MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merzbilde, einem Bilde, auf
dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer
Anzeige der KOMMERZ- UND PRIVATBANK, zu lesen war. Dieses Wort MERZ war
durch Abstimmen gegen die anderen Bildteile selbst Bildteil geworden, und so mußte es dort
stehen. Sie können verstehen, daß ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZbild nannte,
wie ich ein Bild mit ,und‘ das und-Bild und ein Bild mit ,Arbeiter‘ das Arbeiterbild nannte.
Nun suchte ich, als ich zum ersten Male diese geklebten und genagelten Bilder im Sturm in
Berlin ausstellte, einen Sammelnamen für diese neue Gattung, da ich meine Bilder nicht
einreihen konnte in alte Begriffe wie Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder sonstwie.
Ich nannte nun alle meine Bilder als Gattung nach dem charakteristischsten Bild MERZbilder.
Später erweiterte ich die Bezeichnung MERZ erst auf meine Dichtung, denn seit 1917 dichte
ich, und endlich auf all meine entsprechende Tätigkeit. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ.“
(V, 252f.)
Kurt Schwitters, 1923:
„Es ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich alle Teile aufeinander beziehen,
gegeneinander gewertet werden. […] Was das verwendete Material vor seiner Verwendung
im Kunstwerk bedeutet hat, ist gleichgültig, wenn es nur im Kunstwerk seine künstlerische
Bedeutung durch Wertung empfangen hat. / So habe ich zunächst Bilder aus dem Material
konstruiert, das ich gerade bequem zur Hand hatte, wie Straßenbahnfahrscheine,
Garderobemarken, Holzstückchen, Draht, Bindfaden, verbogene Räder, Seidenpapier,
Blechdosen, Glassplitter usw. Diese Gegenstände werden, wie sie sind, oder auch verändert in
das Bild eingefügt, je nachdem es das Bild verlangt. Sie verlieren durch Wertung
gegeneinander ihren individuellen Charakter, ihr Eigengift, werden entmaterialisiert und sind
Material für das Bild. Das Bild ist ein in sich ruhendes Kunstwerk. Es bezieht sich nicht
nach außen hin. Nie kann sich ein konsequentes Kunstwerk außer sich beziehen, ohne seine
Beziehung zur Kunst zu verlieren.“ (V, 133f.)
Kurt Schwitters, 1920/21:
„Ende 1918 erkannte ich, daß alle Werte nur durch Beziehungen untereinander bestehen,
und daß Beschränkung auf ein Material einseitig und kleinlich sei. Aus dieser Erkenntnis
formte ich Merz […].“ (V, 84)
39
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters. Lyrik unter dem Einfluß August Stramms
Erhabenheit
Kirchen türmen ein Mensch
Lastet Sonne Hochgebirge
Steil durchbrechen
Glut verrinnt umragen Zacken
Leiberheiß – seelennah,
Wärme umglutet Gluten!
–––
Klein ich?
Groß!
Arm ich?
Reich!
Wuchtet Riesen Hochgebirge,
Wuchtet Riesen ich!
Kirchen türmen, lastet steil!
Gluten Mensch wuchtet lasten Sonne.
Ich?
Umglute
Steil!
!
40
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters. Die Merz-Dichtung
An Anna Blume
Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir?
Das gehört beiläufig in die kalte Glut!
Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1.) Anna Blume hat ein Vogel,
2.) Anna Blume ist rot.
3.) Welche Farbe hat der Vogel.
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares,
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,
Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir?
Das gehört beiläufig in die – – – Glutenkiste.
Anna Blume, Anna, A – – – – N – – – – N – – – – A!
Ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es Anna, weißt Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten wie von vorne:
A – – – – – N – – – – – N – – – – – A.
Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
Anna Blume,
Du tropfes Tier,
Ich – – – – – – – liebe – – – – – – – Dir!
41
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters. Die Dichtung der konstruktivistischen Phase
Cigarren [elementar]
Cigarren
Ci
garr
ren
Ce
i
ge
a
err
err
e
en
Ce
CeI
CeIGe
CeIGeA
CeIGeAErr
CeIGeAErrEr
CeIGeAErrErr
CeIGeAErrErr
ErrEEn
EEn
En
Ce
i
ge
a
err
err
e
en
Ci
garr
ren
Cigarren
(Der letzte Vers wird gesungen).
42
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee der praktisch werdenden Poesie im Surrealismus
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle
peut être une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime
on s’avise de la prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et
rompe seule le pain du ciel pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements auxquels vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se
donne seulement la peine de pratiquer la poésie. N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de
chercher à faire prévaloir ce que nous tenons pour notre plus ample informé?“
„Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen.
Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer
weniger persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme,
da sie das Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es
wird noch Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, den denen
teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die
Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem
größere Geltung zu verschaffen, was am meisten von uns zeugt?“
43
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Diagnose der Gegenwart
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„So lange wendet sich der Glaube dem Leben zu, dem Zerbrechlichsten im Leben, im realen
Leben, versteht sich, bis dieser Glaube am Ende verlorengeht. Der Mensch, dieser
entschiedene Träumer, von Tag zu Tag unzufriedener mit seinem Los, vermag kaum alle die
Dinge ganz zu begreifen, die er zu gebrauchen gelernt hat und die ihn zu seiner
Gleichgültigkeit geführt haben oder zu seiner Anstrengung, fast immer zu seiner
Anstrengung, denn er hat eingewilligt zu arbeiten, zumindest hat er sich nicht gesträubt, sein
Glück zu versuchen (das, was er sein Glück nennt!). Eine große Bescheidenheit ist nun sein
Teil: er weiß, welche Frauen er gehabt hat, auf welche lächerlichen Abenteuer er sich
eingelassen hat; sein Reichtum oder seine Armut helfen ihm nichts, in dieser Hinsicht bleibt
er ein neugeborenes Kind, und was die Stimme seines Gewissens angeht, so muß ich
gestehen, daß er sehr gut ohne sie auskommt. Wenn er sich einige Hellsichtigkeit bewahrt hat,
dann kann er nicht anders, als sich nun wieder seiner Kindheit zuzuwenden, die ihm, sosehr
sie auch durch die Bemühungen seiner Dresseure verpfuscht sein mag, dennoch als von
Zauber erfüllt scheint. Das Fehlen jeglichen sonst üblichen Zwangs läßt ihm dort die
Hoffnung auf mehrere, zu gleicher Zeit geführte Leben; an diese Illusion klammert er sich;
nur noch von der augenblicklichen, extremen Leichtigkeit aller Dinge will er wissen. Jeden
Morgen brechen Kinder ohne Bangen auf. Alles ist nahe, die schlimmsten materiellen
Bedingungen sind großartig. Die Wälder sind weiß oder schwarz, man muß niemals schlafen
gehen.
Indessen, nie könnte man so weit gehen, es handelt sich nicht nur um die Entfernung. Die
Bedrohungen häufen sich, man gibt nach, man gibt einen Teil des zu erobernden Landes auf.
Und jener Phantasie, die keine Grenzen kannte, erlaubt man nur noch, sich nach den Gesetzen
einer willkürlichen Nützlichkeit zu betätigen; diese untergeordnete Rolle durchzuhalten, ist
sie nicht lange fähig, und um das zwanzigste Lebensjahr zieht sie es im allgemeinen vor, den
Menschen seinem lichtlosen Schicksal zu überlassen.
Selbst wenn er später ab und zu versucht, sich auf sich zu besinnen, weil er gespürt hat, daß er
allmählich immer weniger Sinn im Leben findet, da er unfähig geworden ist, eine
außerordentliche Situation, die Liebe etwa, zu erleben – es wird ihm kaum gelingen. Denn er
ist nun mit Leib und Seele einer gebieterischen, praktischen Notwendigkeit unterworfen, die
es nicht duldet, daß man sie unbeachtet läßt.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Rolle der Imagination im Surrealismus
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann
ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als
wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist der
Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr
die Zufälligkeit, richtig zu denken?“
„Daß sie [die Wahnsinnigen] gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich
durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt,
ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt,
daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und
selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie verhängt – sie läßt die
Vermutung zu, daß sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr
Delirium hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit
besitzt. Und tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine geringzuachtende Quelle
des Genusses. […] Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren
Bekenntnissen zu provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und von einer
Unschuld, die sich nur mit der meinen vergleichen läßt. Kolumbus mußte mit Verrückten
ausfahren, um Amerika zu entdecken. Und seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt gewonnen
hat – und Dauer.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Begriff der „surréalité“
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que
sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi
dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma
mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession.“
„Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von
Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann:
Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert
jedoch um meinen Tod, um nicht die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Begriff „Surrealismus“
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„SURREALISME, n. m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit
verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement de la pensée. Dictée
de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.
ENCYCL. Philos. Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines
formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé
de la pensée. Il tend à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à se
substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie. Ont fait acte de SURREALISME ABSOLU MM. Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos,
Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“
(36f.)
„SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich
oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken
sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder
ethischen Überlegung.
ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere
Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des
Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller
anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen
Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Zum ABSOLUTEN SURREALISMUS haben sich bekannt:
Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour,
Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“ (26f.)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die automatische Schreibweise
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Eines Abend also, vor dem Einschlafen, vernahm ich, so deutlich ausgesprochen, daß es mir
unmöglich war, ein Wort daran zu ändern, abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner Stimme,
einen recht merkwürdigen Satz; er hatte keinen Bezug zu irgendwelchen Geschehnissen, in
die ich nach bestem Gewissen zu diesem Zeitpunkt verwickelt war, es war ein Satz, der mir
eindringlich erschien, ein Satz, möchte ich sagen, der ans Fenster klopfte. Rasch nahm ich
davon Kenntnis und wollte es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig
machte. Dieser Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute
behalten könnten; er lautete etwa so: ,Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten
wird‘, doch war das durchaus eindeutig gemeint, da er von der schwachen bildhaften
Vorstellung eines gehenden Mannes begleitet war, der in der Mitte senkrecht zu seiner
Körperachse von einem Fenster durchschnitten wurde. Ohne Zweifel handelte es sich einfach
um die aufrechte Stellung eines Mannes, der sich aus dem Fenster gelehnt hat. Da aber dieses
Fenster die räumliche Veränderung des Mannes mitgemacht hatte, wurde mir klar, daß ich es
hier mit einem Bild ziemlich seltener Art zu tun hatte, und sogleich hatte ich keinen anderen
Gedanken, als es meinen poetischen Baumaterialien einzuverleiben. Kaum hatte ich es derart
aufgezeichnet, als es auch schon von einer fast ununterbrochenen Reihe von Sätzen abgelöst
wurde, die mich kaum weniger überraschten und mir den Eindruck einer solchen
Willkürlichkeit vermittelten, daß die Selbstkontrolle, mit der ich bis zu diesem Tag gelebt
hatte, mir illusorisch erschien und ich nur noch daran dachte, dem endlosen Streit in meinem
Innern ein Ende zu bereiten. / Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und
war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Krieg gelegentlich selbst bei
Kranken hatte anwenden können, und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man
von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem
kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der infolgedessen keinerlei
Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre“
„[…] un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du
sujet ne fasse aucun jugement, qui ne s’embarrasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit
aussi exactement que possible la pensée parlée.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Ein Beispiel eines automatischen Textes (Auszug)
André Breton, Philippe Soupault, Gants blancs/ Weiße Handschuhe, erster Abschnitt, aus: Les
champs magnétiques/ Die magnetischen Felder, 1919:
„Les couloirs des grands hôtels sont désert et la fumée des cigares se cache. Un homme descend les marches du sommeil et s’aperçoit qu’il pleut: les vitres sont blanches. On sait que
près de lui repose un chien. Tous les obstacles sont présents. Il y a une tasse rose, un ordre
donné et sans hâte les serviteurs tournent. Les grands rideaux du ciel s’ouvrent. Un bourdonnement accuse ce départ précipité. Qui peut courir aussi doucement? Les noms perdent leurs
visages. La rue n’est qu’une voie déserte.“
„Die Gänge der großen Hotels sind verlassen, und der Rauch der Zigarren versteckt sich. Ein
Mensch steigt die Stufen des Schlafes herab und bemerkt, daß es regnet: die Scheiben sind
weiß. Man weiß, daß neben ihm ein Hund ruht. Alle Hindernisse sind gegenwärtig. Es gibt
eine rosafarbene Tasse, einen gegebenen Befehl, und ohne Eile drehen sich die Kellner. Die
großen Vorhänge des Himmels öffnen sich. Ein Summen unterstreicht diese überstürzte
Abreise. Wer kann so leise laufen? Die Namen verlieren ihre Gesichter. Die Straße ist nur ein
verlassener Weg.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Idee des Bildes
Pierre Reverdy, 1918, zitiert von Breton im Manifest des Surrealismus von 1924:
„L’image est une création pure de l’esprit. / Elle ne peut naître d’une comparaison mais du
rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. / Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance
émotive et de réalité poétique…“ (31)
„Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. / Es kann nicht aus dem Vergleich entstehen,
vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten
Wirklichkeiten. / Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten
Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild – um so mehr emotionale Wirkung und
poetische Realität besitzt es…“ (23)
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Meines Erachtens ist es verkehrt, zu behaupten, daß von den zwei gegebenen Wirklichkeiten
,der Geist die Beziehungen erfaßt habe‘. Zuerst einmal hat er überhaupt nichts bewußt erfaßt.
An der sozusagen zufälligen Annäherung der beiden Ausdrücke hat sich ein besonderes Licht
entzündet, ein Licht des Bildes, für das wir unendlich empfänglich sind. Der Wert des Bildes
hängt ganz von der Schönheit des erzielten Funkens ab; ist also folglich die Funktion des
Spannungsunterschiedes zwischen den beiden Leitern. Wenn dieser Unterschied nur schwach
ist, wie im Vergleich, kommt es zu keinem Funken. Nun ist aber nach meinem Dafürhalten
der Mensch nicht befähigt, die Annäherung zweier so weit voneinander entfernter
Wirklichkeiten zu bewerkstelligen. Das Prinzip der Ideenassoziation, wie wir es kennen, stellt
sich dem entgegen. […] Man muß also wohl oder übel zugeben, daß die beiden Begriffe, die
das Bild ausmachen, vom Geist nicht etwa mit Absicht auf den zu produzierenden Funken
voneinander abgeleitet wurden, sondern das sie das Ergebnis eines Vorgangs sind, den ich
surrealistisch nenne, wobei die Vernunft sich darauf beschränkt, das Licht-Phänomen
festzustellen und zu würdigen.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der surrealistische Begriff des Wunderbaren
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Für dieses Mal wollte ich nur mit dem Haß auf das Wunderbare, der bei manchen Menschen
herrscht, abrechnen, und mit der Lächerlichkeit, der sie es preisgaben wollen. Sagen wir es
geradeheraus: das Wunderbare ist immer schön, gleich welches Wunderbare ist schön, es
ist sogar nur das Wunderbare schön.“ (18)
„Pour cette fois, mon intention était de faire justice de la haine du merveilleux qui sévit chez
certains hommes, de ce ridicule sous lequel ils veulent le faire tomber. Tranchons-en: le merveilleux est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui soit beau.“ (24f.)
„Das Wunderbare ist nicht zu allen Zeiten dasselbe; dunkel nimmt es teil an einer Art
allgemeiner Offenbarung, die uns nur in ihren Einzelheiten überkommt: das sind die
romantischen Ruinen, das moderne Mannequin oder jedes andere Symbol, das geeignet ist,
die menschliche Phantasie eine zeitlang zu beschäftigen.“ (20)
„Le merveilleux n’est pas le même à toutes les époques; il participe obscurément d’une
sorte de révélation générale dont le détail seul nous parvient: ce sont les ruines romantiques,
le mannequin moderne ou tout autre symbole propre à remuer la sensibilité humaine durant
un temps.“ (26)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee einer modernen Mythologie
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Préface à une mythologie moderne“/ „Vorwort zu einer modernen Mythologie“):
„Ich will mir die Irrtümer meiner Finger, die Irrtümer meiner Augen nicht mehr versagen. Ich
weiß jetzt, daß sie nicht nur plumpe Fallen sind, sondern eigenartige Wege zu einem Ziel, das
nur sie allein mir enthüllen können. Jedem Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen der
Vernunft. Prachtvolle Gärten der absurden Glaubensüberzeugungen, der Vorahnungen, der
Zwangsvorstellungen und der Delirien. Dort nehmen unbekannte, sich immer wieder
verändernde Götter Gestalt an. Ich werde diese bleiernen Gesichter betrachten, diese
Hanfsamen der Phantasie. Wie schön ihr seid, ihr Rauchsäulen, in euren Sandburgen! Neue
Mythen entstehen unter jedem unserer Schritte. Dort, wo der Mensch gelebt hat, beginnt
die Legende, dort, wo er lebt. Ich will mein Denken nur noch mit diesen verachteten
Verwandlungen beschäftigen. Täglich verändert sich das moderne Daseinsgefühl. Eine
Mythologie baut sich auf und zerfällt wieder. Es ist eine Wissenschaft vom Leben, die jenen
vorbehalten ist, die keine Lebenserfahrung haben. Es ist eine lebendige Wissenschaft, die sich
selbst zeugt und sich selbst tötet. Kommt es mir noch zu – ich bin schon sechsundzwanzig
Jahre alt –, dieses Wunders teilhaftig zu sein? Werde ich noch lange das Gefühl für das
Wunderbare des Alltäglichen [merveilleux quotidien] haben? Ich sehe, wie es in jedem
Menschen verloren geht, der in seinem Leben wie auf einem immer besser gepflasterten Weg
voranschreitet, der sich mit wachsender Leichtigkeit immer mehr an die Welt gewöhnt, der
sich nach und nach vom Gefallen am Ungewöhnlichen und dessen Wahrnehmung löst. Genau
das werde ich zu meiner Verzweiflung niemals erfahren können.“ (12f.)
„Le passage de l’Opéra“ / „Die Opernpassage“, Anfangsabschnitt:
„Heute betet man die Götter nicht mehr auf den Höhen an. Der Tempel Salomons ist in die
Metaphorik eingegangen, in der er Schwalbennestern und bleichen Eidechsen Unterschlupf
gewährt. Der Geist der Kulte hat die heiligen Stätten verlassen, indem er sich in Staub
auflöste. Aber es gibt andere Orte, die unter den Menschen blühen, andere Orte, an denen die
Menschen sorglos ihrem geheimnisvollen Leben nachgehen und die sich allmählich einer
tiefen Religion öffnen. Die Gottheit bewohnt sie noch nicht. Sie formt sich dort erst, es ist
eine neue Gottheit, die sich in diesen modernen Ephesoi niederschlägt wie von einer Säure
zersetztes Metall auf dem Grund eines Glases; es ist das Leben, das hier diese poetische
Gottheit ans Licht bringt, an der tausend Leute vorbeigehen werden, ohne etwas zu sehen, die
aber für jene, die sie ungeschickterweise einmal wahrgenommen haben, plötzlich spürbar und
zu etwas entsetzlich Quälendem wird. Metaphysik der Orte, du wiegst die Kinder ein, du
suchst die Träume heim. Unsere ganze geistige Materie säumt diese Strände des
Unbekannten und des Erschauerns. Bei jedem Schritt, den ich zurück in die Vergangenheit
tue, finde ich dieses Gefühl des Seltsamen wieder, das mich, als ich noch ganz Staunen war,
in einer Szenerie überkam, in der mir zum erstenmal ein ungeklärter Zusammenhang und
seine Auswirkungen auf mein Herz bewußt wurden.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Einbruch des Wunderbaren
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Le passage de l’Opéra“/ „Die
Opernpassage“):
„Ein Spazierstockhändler nimmt den Raum zwischen dem Café Le Petit Grillon und dem Eingang des
Hotels in Beschlag. Es ist ein achtbarer Stockhändler, der einer fragwürdigen Kundschaft zahlreiche
und verschiedenartige Luxusartikel anbietet, die in einer Weise aufgestellt sind, daß man sowohl den
eigentlichen Stock als auch den Griff beurteilen kann. Eine ganze Kunst der Präsentation ist hier zur
Entfaltung gebracht: Die unteren Stöcke sind fächerförmig angeordnet, die oberen neigen, sich zu
einem X kreuzend, in einem einzigartigen Tropismus ihren Blütenknauf den Blicken zu: Rosen aus
Elfenbein, Hundeköpfe mit Steinen als Augen, tauschiertes Halbdunkel aus Toledo, rührendes kleines
nielliertes Blattwerk, Katzen, Frauen, Hakenschnäbel, zahllose Materialien vom gebogenen Rohr über
den blonden Zauber der Karneole bis hin zum Rhinozeroshorn. […] Wie überrascht war ich, als ich,
angezogen von irgendeinem mechanischen, monotonen Geräusch, das wohl aus dem Schaufenster des
Spazierstockhändlers drang, bemerkte, daß dieses in ein blaßgrünes, gewissermaßen submarines Licht
eingetaucht war, dessen Quelle unsichtbar blieb. Das ähnelte der Phosphoreszenz der Fische, wie ich
sie einst als Kind auf der Mole von Port-Bail im Contentin sehen konnte; doch mußte ich mir
eingestehen, daß Spazierstöcke zwar die Leuchteigenschaften der Meeresbewohner durchaus besitzen
mögen, daß es aber eine physikalische Erklärung für diese übernatürlich Helligkeit und vor allem für
das Geräusch, das das Gewölbe dumpf erfüllte, nicht zu geben schien. Das Geräusch erkannte ich
wieder: Es war das Muschelrauschen, das immer wieder Dichter und Filmstars in erstaunen versetzt.
Das ganze Meer in der Passage de l’Opéra. Die Spazierstöcke wiegten sich sanft hin und her wie
Seegras. Ich war noch ganz von diesem Zauber gefangen, als ich sah, daß eine schwimmende Gestalt
sich zwischen die verschiedenen Etagen des Schaufensters gleiten ließ. Sie hatte nicht ganz die
normale Körpergröße einer Frau, wirkte aber keineswegs wie eine Zwergin. Der Eindruck ihrer
Kleinwüchsigkeit schien sich eher aus der Entfernung zu ergeben, und doch bewegte sich ihre
Erscheinung unmittelbar hinter der Glasscheibe. Ihre Haare hatten sich gelöst, und ihre Finger hielten
sich momentweise an den Stöcken fest. Ich hätte geglaubt, es mit einer Sirene im herkömmlichsten
Sinn dieses Wortes zu tun zu haben; mit schien nämlich, daß diese zauberhafte, bis zu dem recht tief
sitzenden Gürtel nackte Erscheinung in einem Stahl- oder Schildpattkleid oder vielleicht in
Rosenblättern endete, aber als ich meine Aufmerksamkeit auf das Hin- und Herschwingen
konzentrierte, das sie in die von Streifen durchzogene Atmosphäre trug, erkannte ich plötzlich diese
Person wieder, trotz der abgezehrten Züge und des verstörten Ausdrucks, die ihr Gesicht zeichneten.
In der Zweideutigkeit der schmählichen Besetzung der Rheinprovinzen und des Taumels der
Prostitution war ich am Ufer der Saar der Liesel begegnet, die es abgelehnt hatte, dem Rückzug der
Ihren in die Katastrophe zu folgen, und die in der Sophienstraße ganze Nächte lang Lieder sang […].
Was hatte sie hier unter den Stöcken zu suchen? Und sie sang immer noch, nach der Bewegung ihrer
Lippen zu urteilen; denn die Brandung des Schaufensters übertönte ihre stimme und stieg über sie
hinweg zur Spiegeldecke empor, über der man weder den Monde noch das bedrohliche Dunkel der
Klippen wahrnahm: ,Das Ideal!‘ rief ich aus, in meiner Verwirrung fand ich nichts besseres zu sagen.
Die Sirene wandte mir ein erschrecktes Gesicht zu und streckte mir ihre Arme entgegen. Da wurde das
Schaufenster von einer allgemeinen Konvulsion gepackt. Die Spazierstöcke drehten sich um neunzig
Grad nach vorn, so daß die obere Hälfte der Xe ihr V zur Glasscheibe hin öffnete und dabei den
Fächervorhang der unteren Stöcke vor der Sirenen-Erscheinung vervollständigte. Es war, als hätten
Spieße jäh den Blick auf eine Schlacht versperrt. Die Helligkeit erstarb mit dem Rauschen des Meeres.
/ Der Portier, der schleppenden Schrittes daherkam, um das Gitter der Passage zu schließen, fragte
mich unwirsch, ob ich nun endlich hinausgehen wolle oder nicht.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Zufall als Lebensprinzip
André Breton, Nadja, 1928:
„Je n’ai dessein de relater, en marge du récit que je vais entreprendre, que les épisodes les
plus marquants de ma vie telle que je peux la concevoir hors de son plan organique, soit
dans la mesure même où elle est livrée aux hasards, au plus petit comme au plus grand, où
regimbant contre l’idée commune que je m’en fais, elle m’introduit dans un monde comme
défendu qui est celui des rapprochements soudains, des pétrifiantes coïncidences, des réflexes primant tout autre essor du mental, des accords plaqués comme au piano, des éclairs
qui feraient voir, mais alors voir, s’ils n’étaient encore plus rapide que les autres.“ (19f.)
„Am Rand des Berichts, den ich hier beginne, will ich nur die hervorstechendsten Episoden
meines Lebens wiedergeben, so wie ich es außerhalb seines organischen Aufbaus erfassen
kann, das heißt in dem Maße, wie es den Zufällen, dem kleinsten wie dem größten,
ausgeliefert ist, sich der gängigen Vorstellung, die ich mir von ihm mache, widersetzt und
mich in eine gleichsam verbotene Welt einführt, die der plötzlichen Annäherungen, der
versteinernden Koinzidenzen, der jedem Aufschwung des Geistigen vorausgehenden
Reflexe, der wie an einem Klavier angeschlagenen Akkorde, der Blitze, die sehen ließen,
wirklich sehen, wenn sie nicht noch schneller wären als die anderen.“ (16)
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926:
„J’aime à me laisser traverser par les vents et la pluie: le hasard, voilà toute mon expérience.“ (109)
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Telle idée, telle femme lui fait de l’effet. Quel effet, il serait bien incapable de le dire […].
En désespoir de cause, il invoque alors le hasard, divinité plus obscure que les autres, à qui
il attribue tous ses égarements. Qui me dit que l’angle sous lequel se présente cette idée qui le
touche, ce qu’il aime dans l’œil de cette femme n’est pas précisément ce qui le rattache à
son rêve, l’enchaîne à des données que par sa faute il a perdue?“ (23)
„Jene Idee, jene Frau macht Eindruck auf ihn. Aber er wäre keineswegs fähig zu sagen,
welchen Eindruck […] Weil er keine Erklärung weiß, beschwört er dann den Zufall, eine
dunklere Gottheit als jede andere, schreibt ihm alle seine Verwirrungen zu. Wer kann
behaupten, daß der Blickwinkel, unter dem ihn diese Idee berührt, daß das, was er in den
Augen jener Frau liebt, nicht eben das ist, was ihn mit seinem Traum verbindet, ihn an
Gegebenheiten kettet, die ihm durch seine eigene Schuld entfallen sind?“ (17)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die ,halbautomatische‘ Schreibweise von Nadja
André Breton, Nadja, 1928:
„Qu’on n’attende pas de moi le compte global […]. Je me bornerai ici à me souvenir sans
effort de ce qui, ne répondant à aucune démarche de ma part, m’est quelquefois advenu, de ce
qui me donne, m’arrivant par des voies insoupçonnable, la mesure de la grâce et de la disgrâce particulière dont je suis l’objet; j’en parlerai sans ordre préétabli, et selon de caprice
de l’heure qui laisse surnager ce qui surnage.“ (22f.)
„Man erwarte von mir keine umfassende Rechenschaft […]. Ich werde mich hier darauf
beschränken, mir zwanglos in Erinnerung zu rufen, was, ohne daß es auf irgendeine Initiative
meinerseits zurückginge, mir einige Male zugestoßen ist, was, auf unverdächtigen Wegen zu
mir gekommen, mich die besondere Gnade und Ungnade ermessen läßt, die mir widerfahren;
ich werde ohne vorgegebene Ordnung davon sprechen, der Laune des Augenblicks
folgend, die oben schwimmen läßt, was oben schwimmt.“ (18)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Nadja als Luftgeist
André Breton, Nadja, 1928:
„J’ai pris, du premier au dernier jour, Nadja pour un génie libre, quelque chose comme un de
ces esprit de l’air que certaines pratiques de magie permettent momentanément de s’attacher,
mais qu’il ne saurait être question de se soumettre.“ (130)
„Vom ersten bis zum letzten Tage habe ich Nadja für einen freien Geist gehalten, für so etwas
wie einen jener Luftgeister, die man durch gewisse magische Praktiken für Augenblicke an
sich binden kann, nie aber sich unterwerfen könnte.“ (94)
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