WS 2015/16 Alfred Noe Die historische Entwicklung literaturwissenschaftlicher Methoden Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden 1. Einleitung Theoretische Betrachtungen dieser Art beginnen üblicherweise mit zahlreichen Definitionen des Begriffes Literatur. Ich möchte mich hier auf eine beschränken, und noch dazu keine sehr ernsthafte. Die von einem französischen Kabarettisten nicht ohne Grund so benannte Joséphine Maria Téfal schreibt in ihrer fiktiven Autobiographie Résistance: „La littérature est à la civilisation ce que la queue est à la casserole: quand il n’y en a pas, l’homme a l’air con.“ Die meisten Definitionen von Literatur, die man in den diversen Handbüchern findet, sind mindestens ebenso unscharf wie die eben zitierte. Das ist sicher darauf zurückzuführen, dass Literatur je nach dem Stand der Theorie und der angewandten Methode definiert wird; es wird gewissermaßen der Fisch nach dem Netz, das man hat, beschrieben. In dieser Hinsicht befinden sich die Geisteswissenschaften in einem scheinbaren Nachteil gegenüber den Naturwissenschaften: wir sind in wesentlich stärkerem Maße das Objekt unseres eigenen Nachdenkens, weil uns kein natürliches Objekt vorliegt. Der Untersuchungsgegenstand ist in uns selbst bzw. in anderen Subjekten, von denen wir annehmen, dass sie so sind, wie wir selbst, oder aber in ihren Produkten, die wir für vergleichbar mit den Produkten unseres eigenen Geistes halten. Ernst Cassirer hat dieses Problem am Unterschied zwischen den Standpunkten Galileis und Platos erläutert, wie er in der englischen Fassung von Studies in the History of Science (New York 1946, S. 277) schreibt: „All this is implied in the saying of Galileo’s that philosophy is written in the great book of nature. For Plato philosophy was not written in nature. It was written in the minds of men.“ Das impliziert natürlich auch den Ort, an dem man den Untersuchungsgegenstand auffindet: im Buch der Natur oder im menschlichen Geist. Ich möchte keineswegs Galilei oder den ihm folgenden Naturwissenschaftlern ernsthaft unterstellen, dass sie ihre Wahrnehmungen von einem klar begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit für die gesamte Wirklichkeit selbst halten, aber es hat sich seit dem 17. Jahrhundert zumindest gezeigt, dass die selbstgewählte Beschränkung auf diesen Ausschnitt von der Wirklichkeit bzw. auf ein daraus abgeleitetes Modell von ihr sehr erfolgreich sein kann. Bei den zunehmend auftretenden Schwierigkeiten der Naturwissenschaften in unserem Jahrhundert hat sich sogar gezeigt, dass Wissenschaft noch immer erfolgreich sein kann, ohne sogar das Objekt eindeutig definieren zu können: in der Physik bestehen m. W. nebeneinander zwei Modelle des Phänomens Licht (Korpuskular- und Wellenmodell), die nach Bedarf ergänzend zu Beschreibungen herangezogen werden. Die Konsequenz aus diesem kleinen Exkurs wäre, dass man sich auch ohne geeichte Instrumente auf unsicheres Gelände wagen sollte, um einerseits die Risiken an Ort und Stelle einzuschätzen und andererseits nachzuprüfen, welche Markierungen bereits vorher gesetzt wurden. Es gibt nämlich nicht nur literaturwissenschaftliche Definitionen von Literatur, denn Literatur ist Teil der 1 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden Gesellschaft und ihr richtiges Funktionieren wird daher von verschiedensten sozialen Faktoren mitdefiniert: a) Von den Juristen in Hinblick auf Übereinstimmung mit Gesetzen: Gustave Flaubert und seine Verleger werden nach Veröffentlichung von Madame Bovary wegen „outrage à la morale publique et religieuse et aux bonnes mœurs“ angeklagt. Der Staatsanwalt Ernest Pinard wirft dem Roman – wie dem Realismus insgesamt – vor, im Grunde unmoralisch zu sein, weil er die Regeln der Tradition missachtet: L’art sans règle n’est plus l’art; c’est comme une femme qui quitterait tout vêtement. Imposer à l’art l’unique règle de la décence publique, ce n’est pas l’asservir, mais l’honorer. On ne grandit qu’avec une règle. Voilà, messieurs, les principes que nous professons, voilà une doctrine que nous défendons avec conscience. (Œuvres I, éd. A. Thibaudet / R. Dumesnil. Paris 1951, S. 633) Eine Argumentation, die z.B. auf den Juristen und Theologen Pierre de Blois (Petrus Blesensis) zurückgeht, welcher in einem Brief kurz vor 1200 die Beschäftigung mit einem allzu realistischen Thema und die Konsequenzen daraus in die geistige Verwirrung abschiebt: „Insani capitis est amores illicitos canere et se corruptorem virginum iactitare.“ Der vom selben Staatsanwalt wegen seiner Fleurs du Mal attackierte und in einigen Punkten verurteilte Charles Baudelaire stellt dazu resignierend fest: Cette morale-là irait jusqu’à dire: Désormais on ne fera que des livres consolants et servant à démontrer que l’homme est né bon, et que tous les hommes sont heureux – abominable hypocrisie! (Œuvres complètes I, éd. C. Pichois. Paris 1975, S. 196) In der Urteilsbegründung zu Madame Bovary, veröffentlicht in der Gazette des Tribunaux vom 9. 2. 1857 lauten die wichtigsten Passagen für den Freispruch von Flaubert: Attendu qu’à ces divers titres l’ouvrage déféré au tribunal mérite un blâme sévère, car la mission de la littérature doit être d’orner et de récréer l’esprit en élevant l’intelligence et en épurant les mœurs plus encore que d’imprimer le dégoût du vice en offrant le tableau des désordres qui peuvent exister dans la société; [...] Attendu qu’il y a des limites que la littérature, même la plus légère, ne doit pas dépasser, et dont Gustave Flaubert et coinculpés paraissent ne s’être pas suffisamment rendu compte; Mais attendu que l’ouvrage dont Flaubert est l’auteur est une œuvre qui paraît avoir été longuement et sérieusement travaillée, au point de vue littéraire et de l’étude des caractères; [...] Attendu que Gustave Flaubert proteste de son respect pour les bonnes mœurs et tout ce qui se rattache à la morale religieuse; [...] Le tribunal les acquitte de la prévention portée contre eux et les renvoie sans dépens. (Œuvres I, S. 683) Beachten Sie dabei vor allem die ethisch-moralischen Begriffe wie „blâme sévère, dégoût du vice, respect pour les bonnes mœurs“ und die Anerkennung der Arbeit („longuement travaillé“) als Kriterium für Ernsthaftigkeit. 2 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden b) Von den Staatsphilosophen: In seinem Vortrag Plato und die Dichter erläutert Hans-Georg Gadamer 1934, dass Plato im 10. Buch seiner Politeia den Dichter als einen Zauberkünstler einstuft, der nur täuschende Scheinbilder verfertigt und durch Aufrührung der vielfältigen Leidenschaften die Seele verdirbt. Die überlieferte Dichtung ist folglich zu reinigen, damit sie ihre erzieherische Funktion im Rahmen der Gesellschaft erfüllen kann. Die Erlebniswelt der trughaften Nachahmung ist schon selbst das Verderben der Seele und hat folglich keinen Platz in dem philosophischen Idealstaat, wo die Idee des Guten der Seinsgrund von allem und damit zugleich der Erkenntnisgrund von allem ist. Nur die lehrhafte Dialogdichtung kann den hohen ethischen Ansprüchen Platos gerecht werden und zur Verbesserung der Menschen beitragen. c) Von den Theologen: Auch für Thomas von Aquin ist die Funktion des Kunstwerks im allgemeinen, durch das ausgelöste Wohlgefallen den Menschen zu einer höheren Erkenntnis zu führen. Das Kunstwerk soll in seiner menschlichen factio durch proportio sive consonantia, claritas und integritas sive perfectio möglichst überzeugend die göttliche creatio nachempfinden. Mit ihrer bildlichen Sprache soll die Literatur den menschlichen Geist erfreuen und einer Läuterung zuführen. Aus ähnlichen Überlegungen beschließt das Konzil von Trient 1564 den Index librorum prohibitorum, der bis vor kurzem immer wieder aktualisiert wurde, und erscheinen Hetzschriften gegen die Literatur wie z.B. Gottfried Ephraim Scheibel in Die Unerkannten Sünden der Poeten Welche man Sowohl in ihren Schriften als in ihrem Leben wahrnimmt Nach den Regeln des Christenthums und vernünftiger Sittenlehre geprüfet (Leipzig 1734). Auf diese Anschuldigungen antwortete stellvertretend und vorausschauend der englische Dichter Philip Sidney in An Apology for Poetry (1595), sinngemäß: Da der Dichter nie etwas behauptet, kann er auch nicht lügen. Die Frage der lügenhaften Täuschung stellt sich in Zusammenhang mit Fiktion überhaupt nicht, wie schon Boccaccio in seiner Genealogia deorum gentilium (XIV, 13) um 1360 festgestellt hat: Poeta, quantumque fingendo mentiatur, mendacis ignominiam non incurrit, cum suum officium, non ut fallat, sed ut fingat, iustissime exequatur. Angesichts der Skepsis von Juristen und Theologen lässt Teofilo Folengo in seinem maccheronischen Epos Baldus (1517; endgültig posthum 1552) selbstironisch die Dichter gemeinsam mit den Sängern und den Astrologen in einem Höllenkürbis leiden, wo ihnen für ihre Lügen 3000 Barbiere unaufhörlich die Zähne reißen: Quottidie quantas illi fecere bosias, quottidie tantos bisognat perdere dentes, qui quo plus streppantur ibi, plus denuo nascunt. (XXV, v. 639-641) Literaturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts würden diese Behandlung der Dichter in manchen Fällen wohl begrüßt haben. Für Alexandre Vinet z.B. herrscht der moralische Gesichtspunkt bei der 3 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden Betrachtung von Literatur vor und er hat keinen geringen Einfluss auf den Moralismus von Ferdinand Brunetière. d) Von den ironischen Konkurrenten: Cervantes beschreibt im 6. Kapitel des ersten Teiles, wie der Pfarrer und der Barbier die Bibliothek Don Quijotes von schädlichen Büchern säubern, die im Hof verbrannt werden sollen. Diese Szene gibt Cervantes Gelegenheit, sich über die Epigonen in einer Literaturmode, hier der Ritterromane in der Amadis-Tradition, lustig zu machen. Einige Konkurrenten, nämlich die originellen, lässt der Autor durchaus gelten. Das Kriterium des Pfarrers ist dabei offensichtlich die Gewaltfreiheit, während die Nichte Quijotes ein wesentlich radikaleres Urteil über die Gefahren der Dichtung im Allgemeinen fällt: CAPITULO VI Del donoso y grande escrutinio que el cura y el barbero hicieron en la libreria de nuestro ingenioso hidalgo Y abriendo uno, vio que era La Diana de Jorge de Montemayor, y dijo, creyendo que todos los demás eran del mesmo género: – Estos no merecen ser quemados, como los demás, porque no hacen ni harán el daño que los de caballerias han hecho; que son libros de entendimiento, sin perjuicio de tercero. – ¡Ay, señor! – dijo la Sobrina. – Bien los puede vuestra merced mandar quemar, como a los demás; porque no sería mucho que, habiendo sanado mi señor tío de la enfermedad caballeresca, leyendo éstos se le antojase de hacerse pastor y andarse por los bosques y prados cantando y tañendo, y, lo que sería peor, hacerse poeta, que, según dicen, es enfermedad incurable y pegadiza. Wie kann man dem Gegenstand Literatur und seinen Autoren nun mit geisteswissenschaftlichem Interesse begegnen und vielleicht sogar gerecht werden? Ich habe oben bereits angedeutet, dass das methodische Problem der Geisteswissenschaften in der besonderen Stellung des Subjekts zu seinem Gegenstand liegt. Diese Stellung hat natürlich Konsequenzen bei der Erarbeitung von wissenschaftlicher Erkenntnis und von Erkenntnis im Allgemeinen. Wie Jürgen Habermas in Erkenntnis und Interesse (Frankfurt 51979, S. 14f.) ausführt: Der Kritizismus verlangt, daß sich das erkennende Subjekt, bevor es seinen geradezu erworbenen Erkenntnissen traut, der Bedingungen der für es prinzipiell möglichen Erkenntnis vergewissert. Erst anhand von zuverlässigen Kriterien der Geltung unserer Urteile können wir prüfen, ob wir unseres Wissens auch gewiß sein dürfen. Allein, wie könnte vor dem Erkennen das Erkenntnisvermögen kritisch untersucht werden, wenn doch auch diese Kritik selber Erkenntnis zu sein beanspruchen muß? [...] Jede konsequente Erkenntnistheorie verstrickt sich von Anbeginn in diesen Zirkel. Habermas entweicht aus diesem Kreis, indem er den kritischen Rationalismus auf seine Voraussetzungen hin befragt. Für ihn liegt die Grundlage des Rationalismus nicht in seinem radikalen Zweifel allein, sondern vor allem in dem vorausliegenden kritischen Bewusstsein, das Resultat eines ganzen Bildungsprozesses ist und das, hier sind wir nun direkt betroffen, einen normativen Begriff von Wissenschaft voraussetzt, nämlich die Wissenschaft nach cartesianischen Prinzipien. Sobald dieser normative Begriff seinerseits der Kritik unterzogen wird, bleibt als einziges Kriterium der Wissenschaftlichkeit nur mehr der von der Forschergemeinschaft akzeptierte, 4 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden methodisch gesicherte Erkenntnisfortschritt. „Methodisch gesichert“ bedeutet, dass er sich in einem Theoriensystem bewegen sollte, das laut Karl Poppers Logik der Forschung (Tübingen 5. Aufl. 1973, S. 13) drei Forderungen erfüllt: 1. Es muß synthetisch sein (eine nicht widerspruchsvolle, ‚mögliche‘ Welt darstellen); 2. es muß dem Abgrenzungskriterium genügen, darf also nicht metaphysisch sein (es muß eine mögliche ‚Erfahrungswelt‘ darstellen); und 3. es soll ein auf irgendeine Weise gegenüber anderen derartigen Systemen (als ‚unsere Erfahrungswelt‘ darstellend) ausgezeichnetes System sein. Das bedingt laut Popper auch, dass die gemachten Aussagen von anderen nachvollziehbar sein müssen: „Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen.“ (S. 18) Weil diese Frage nicht erst seit Umberto Eco auch Gegenstand der Kriminalromane ist, gestatten Sie mir ein kurzes Zitat dazu aus The Moonstone von Wilkie Collins 1868: „This question has two sides, he said. An Objective side, and a Subjective side. Which are we to take?“ (S. 46) Das Problem der Objektivität liegt vor allem in der Tatsache, dass jede Erfahrung bereits ein Urteil über die Wahrnehmung beinhaltet. Denn, wie Habermas in vollkommener Übereinstimmung mit Popper feststellt: „Selbst die einfachste Wahrnehmung ist Produkt eines Urteils und das heißt eines impliziten Schlusses.“ (S. 124) Die methodische Sicherung des Erkenntnisfortschrittes bedingt daher eine Untersuchung der Elemente des Denkprozesses und der diese in Formulierungen umsetzenden Sprache. Die eminente Bedeutung der Sprachphilosophie und der Linguistik in diesem Bereich erkennt natürlich Popper, wenn er schreibt: „Unsere Sprache ist von Theorien durchsetzt: es gibt keine reinen Beobachtungssätze.“ (S. 76) Bei Gottfried Wilhelm Leibniz hieß das ebenso aufklärerisch-kritisch (Philosophische Schriften, Bd. 4, S. 158): „veritas pendeat a definitionibus terminorum, definitiones autem terminorum ab arbitrio humano.“ Die Stellungnahme zu den Objekten wird daher wesentlich durch eine Haltung bestimmt, die Habermas das erkenntnisleitende Interesse an diesen Gegenständen bezeichnet (S. 180): Der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften muß deshalb auf die ‚Verhaltungsweise‘ des erkennenden Subjekts, auf dessen Stellung zu den Objekten zurückgeführt werden. Die Ergebnisse der Forschung sollten daher so formuliert sein, dass sie den Gesetzen der Logik entsprechen, dass dieses erkenntnisleitende Interesse erkennbar ist und dass sie einer intersubjektiven Kritik ausgesetzt werden können. Für Popper bedeutet das vor allem, dass die Ergebnisse in Form von Hypothesen zu formulieren sind, die durch neue Erkenntnisse falsifiziert und verändert werden können. Wenn ich z.B. nach der Analyse einiger Romane der französischen Romantik die (sicher vorschnelle und vereinfachende) Hypothese aufstelle, dass romantische Heldenfiguren lungenkrank sind, so entspricht das diesen Kriterien, denn der Satz kann durch andere überprüft und durch neue Erkenntnisse korrigiert werden. Die Hypothese, dass z.B. die Lyrik 5 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden Alfred de Mussets den Rhythmus seiner (medizinisch tatsächlich nachgewiesenen) AortaInsuffizienz widerspiegelt, wird kaum diesen Anforderungen entsprechen, denn ich wüsste nicht durch welche Beobachtungen man dem widersprechen könnte. Ich übergehe hier die ausführlichen theoretischen Überlegungen, auf Grund derer Popper das induktive Verfahren und das Bemühen um Verifikation ablehnt und als einzige Methode der Logik der Forschung die Falsifikation akzeptiert. Er leitet daraus jedenfalls folgendes ab (S. 26): (1) Das Spiel Wissenschaft hat grundsätzlich kein Ende; wer eines Tages beschließt, die wissenschaftlichen Sätze nicht weiter zu überprüfen, sondern sie etwa als endgültig verifiziert zu betrachten, der tritt aus dem Spiel aus. (2) Einmal aufgestellte und bewährte Hypothesen dürfen nicht ‚ohne Grund‘ fallengelassen werden; als ‚Gründe‘ gelten dabei unter anderem: Ersatz durch andere, besser nachprüfbare Hypothesen, Falsifikation der Folgerungen. Hier komme ich auf die oben von mir angeführten, bereits vorfindbaren Markierungen in unserem unsicheren Gelände zurück, deren Untersuchung ebenfalls eine Art Methode darstellt, wie Popper im Vorwort zu englischen Ausgabe 1958 formuliert (S. XVf.): Sie besteht einfach darin, daß man versucht herauszufinden, was andere über das vorliegende Problem gedacht und gesagt haben; wie sie es zu lösen versucht haben. Das scheint mir ein wesentlicher Schritt in der allgemeinen Methode der rationalen Diskussion zu sein. Denn wenn wir ignorieren, was andere Leute denken oder gedacht haben, dann muß die rationale Diskussion aufhören, mag auch jeder von uns weiter vergnügt mit sich selbst diskutieren. Als wesentliche Orientierung jeder zeitlich zurückblickenden, d.h. sich mit im Laufe der Zeit entstandenen Produkten des menschlichen Geistes beschäftigenden Wissenschaft gilt nach wie vor Gustav Droysens Hauptargument für die Geschichtswissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts (Historik. München 5. Aufl. 1967, S. 275): Das, was war, interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinn noch ist, indem es noch wirkt, weil es in dem ganzen Zusammenhang der Dinge steht, welche wir die geschichtliche, d.h. sittliche Welt, den sittlichen Kosmos nennen. Oder wie vor kürzerer Zeit Raymond Aron in seinen Leçons sur l’histoire (Paris 1989, S. 14f.) ebenfalls festgehalten hat: Le passé que nous cherchons à reconstruire ou à réanimer n’existe pour nous que par les traces qu’il a laissées. [...] On peut donc dire que ce que nous faisons quand nous pensons l’histoire consiste à interpréter. [...] Toute connaissance historique est une connaissance de l’homme par l’homme et, pour ainsi dire, un déchiffrement [...] Aus dieser Sicht der Historie leitet Wilhelm Dilthey in seiner grundlegenden Analyse Das Erlebnis und die Dichtung (Leipzig 1906) schon ab, dass die Geisteswissenschaft auf das Verstehen von Gegenständen und nicht auf deren gesetzmäßiges Erklären ausgerichtet sind. In dieser Tradition setzt Emil Staiger in Grundbegriffe der Poetik (Zürich 1946) fort, wenn er das Beschreiben als das 6 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden Ziel aller Literaturwissenschaft bestimmt und die sehr subjektive Methode dazu in eine Kurzformel prägt: dass wir begreifen, was uns ergreift. Das Buch als Handschrift oder Druck steht ohne Zweifel im Zentrum dieser Konstruktion des Menschen von der eigenen Vergangenheit, vor allem innerhalb der westlichen Kultur. Die mehr oder weniger fiktiven Texte, die aus verlorenen Kontexten hervorgegangen sind, bieten sicher einen privilegierten Zugang zu sozialen Organisationsformen und intellektuellen Modellen dieser Vergangenheit. Ist aber die historische Aufarbeitung der literarischen Produktion die wichtigste Methode, um das Phänomen Literatur zu beschreiben? Enthält die alleinige Kunde von Literatur auch schon die Erkenntnis vom Wesen der Literatur? Die wesentliche Entscheidung einer Literaturtheorie, die nicht ausschließlich Literaturgeschichte sein will und, wie es Herder (ed. Suphan, Bd. II, S. 112) ausgedrückt hat, „im stillen Gange eines Müllertiers Völker und Zeiten durchschreitet“, liegt in der Haltung zum literarischen Werk: wird es als Dokument oder als Monument betrachtet. Als Monument steht das literarische Werk für sich selbst, und deshalb „a work of literature is not a link in a chain and is above the world of movement“. (W. P. Ker, zit. nach Wellek) René Wellek führt in The Fall of Literary History ein treffendes Beispiel für seine Haltung an, denn für ihn ist (S. 429): [...] the radical difference between literary study and military, social and political history, not least in this that you cannot have an edition of the battle of Waterloo or of George III’s madness. Die Literaturgeschichte hat zu lange Zeit Dokumente zur Literatur, darunter auch die literarischen Werke selbst, als Beweismaterial für eine kausale Entwicklung gesehen. Dem hält Wellek entgegen (S. 440): There is no progress, no development, no history of art except a history of writers, institutions and techniques. This is, at least for me, the end of an illusion, the fall of literary history. Dem stimmt auch Hans Robert Jauß in Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt 1970, S. 144): „Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf gekommen. Die Geschichte dieser ehrwürdigen Disziplin beschreibt in den letzten 150 Jahren unverkennbar den Weg eines stetigen Niedergangs.“ Die Rettung besteht für Jauß hauptsächlich in einer Neuorientierung am Leser: nicht mehr Autor oder Text, sondern die Frage der Kenntnis von diesem Text bei den Konsumenten soll im Mittelpunkt stehen. Die der schlichten Kenntnis nachfolgenden Phasen von Interesse und Wirkung können in drei Kategorien der Aufnahme eines literarischen Werkes abgestuft werden (Maria Moog-Grünewald: Einfluß- und Rezeptionsforschung. In: Manfred Schmeling (Hg.): Vergleichende Literaturwissenschaft. Wiesbaden 1981, S. 49-72): 1. die passive Rezeption durch die breite Lesermasse; 2. die reproduzierende Rezeption durch Kritik und andere Dokumente der Vermittlung; 3. die reproduktive Rezeption durch Autoren. Zu Punkt 1 7 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden zählt dabei sowohl der weitgehend fremdgesteuerte Bestsellerkonsument, als auch der kritische Literaturliebhaber, dessen Interessen von der Entwicklung des Gegenstandes bestimmt werden. Der Hinweis auf die breite Lesermasse lässt erkennen, dass die aus der Analyse von Verkaufs- oder Verbreitungszahlen gewonnenen Erkenntnisse in der Regel nicht auf Individuen übertragbar sind. Der Nachvollzug spezifischer Interessen von Einzellesern – in Punkt 2 als reproduzierende Rezeption oder aktives Interesse definiert – ist nämlich nur möglich mittels kritischer Äußerungen über die zur Kenntnis genommenen Werke oder aber in Form anderer Dokumente der Vermittlung, zu welchen ohne Zweifel der Erwerb und die spezifische Zusammensetzung einer Büchersammlung gehören. Die Bibliothek stellt ja das sichtbare Zeichen für die konkrete Vermittlung des primären Rezeptionsgegenstandes an bestimmte Personen dar, so dass für die privaten Besitzer nicht nur die Kenntnis von diesen Texten, sondern auch ihr spezielles Interesse an ihnen angenommen werden darf. Darüber hinaus bedeutet der Aufbau einer Büchersammlung an einem bestimmten Ort, dass die darin befindlichen Schriften je nach dem Grad der Zugänglichkeit dieser Bibliothek in ihrer neuen geographischen Umgebung danach im Original oder in der durch die Präsenz im interessierten Umfeld geförderten Übersetzung eine produktive Rezeption auslösen können. Solche Prozesse von Wirkung und Rezeption beschränken sich natürlich nicht auf literarische Texte, sondern implizieren auch andere Kommunikationsformen, was sie zu einem fächerübergreifenden Fragenkomplex macht. Als Konsequenz daraus tritt Gunter Grimm (Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie. München 1977) für das Zentrum der Rezeptionsforschung bei einer Sozialgeschichte der Leser ein, wobei aber Empirie seines Erachtens nicht auf Demoskopie einzuschränken wäre, wie das bei Norbert Groeben (Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Kronberg 1977) in Form einer Reduktion der Literaturwissenschaft auf eine empirische Leserpsychologie entworfen wird. Mit welcher Beschreibung kann man also dem literarischen Werk gerecht werden? Ist das literarische Werk innerhalb eines historischen Ablaufes als Dokument oder als Monument zu betrachten, oder vielleicht auch als beides? Gibt es eine Literaturgeschichte, die dem literarischen Kunstwerk gerecht wird? Die unterschiedlichen Antworten auf diese Grundfragen sollen hier in einem chronologischen Überblick mögliche und vielleicht noch aktuelle Aspekte aufzeigen und damit Ansätze zum Verständnis des Gegenstandes durch die Geschichte der Beschäftigung mit ihm liefern. Für die Epochen der Literaturbetrachtung gilt sicher, was Alistair C. Crombie in seiner Einleitung zu Styles of Scientific Thinking in the European Tradition (3 Bände. London 1994) bezüglich kultureller Einflüsse auf die wissenschaftlichen Methoden im Allgemeinen feststellt: The general style of any culture, and the particular styles of the activities within it, both produce their own subject-matters and objective and at the same time are produced by them. 8 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden Gustav Gröber nennt in der ersten großen Bilanz der Romanistik des 19. Jahrhunderts, seinem Grundriß der Romanischen Philologie von 1888, fünf große Zeiträume der Literaturbetrachtung: Ein erster, mittelalterlicher, erstreckt sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert; der zweite über das 16. und 17. Jahrhundert; der dritte vom Beginn des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhundert (ca. 1815), ein vierter bis ca. 1860. Der fünfte über die verbleibenden ca. 30 Jahre, der für Gröber bis an seine Gegenwart heranreichte, ist aus heutiger Sicht bis zum ersten Weltkrieg zu erweitern, und schließlich zumindest durch einen sechsten für den Rest des 20. Jahrhunderts auszudehnen. Ich möchte die Frage der Periodisierung von Literatur nach derartigen Zeiträumen bewusst hier zunächst ausklammern – sie wird uns bei der Besprechung des Positivismus im 19. Jahrhundert beschäftigen. Jedenfalls, wie es Hans Blumenberg in Die Legitimität der Neuzeit (Teil 4. Frankfurt 2. Aufl. 1982) ausdrückt: „Epochen werden nicht nur und nicht primär geschieden, sondern als vergleichbar gesehen.“ (S. 10) und: „Nicht der Zeitpunkt, sondern die durch ihn getrennten Zeiträume beginnen den Epochenbegriff zu bestimmen.“ (S. 11) Vorläufig ist nur von Bedeutung, dass zumindest die ersten dieser Zeiträume auch für die theoretische Beschäftigung mit Literatur eine gewisse Gültigkeit beanspruchen können. Ich werde daher in meiner Besprechung einen groben chronologischen Ablauf respektieren, weil die Positionen der Theorie in vielfacher Hinsicht auch als Reaktion auf vorangehende Ansichten zu verstehen sind. Ich möchte daher in einem ersten Abschnitt die mittelalterliche Kanonbildung behandeln, anschließend bei den Poetiken der Frühen Neuzeit die Auseinandersetzung mit antiken Theorien und deren Adaptierung auf Bedürfnisse einer entstehenden Nationalliteratur. Ein dritter Teil, der sich vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erstreckt, enthält dann ausgehend von der Querelle des Anciens et des Modernes die Ästhetik der Aufklärung. Der vierte Abschnitt, zeitlich ungefähr in Übereinstimmung mit Gröbers Einteilung, stellt die romantisch-nationale Literaturwissenschaft in Frankreich und Italien vor, der fünfte die Reaktion darauf, den von 1850 bis 1900 dominierenden Positivismus. Ab dann bestehen natürlich zahlreiche Schulen nebeneinander, so dass von keiner chronologischen Abfolge sondern nur von vorherrschenden Strömungen gesprochen werden kann, die ich einigermaßen zu gliedern versuche. Ich behandle in einer Einheit hier zunächst die französische Schule Lansons mit der Explication de texte, die Stilkritik Spitzers, anschließend die Philosophie Benedetto Croces, im nächsten Abschnitt dann den weiten Bereich der Hermeneutik einschließlich der Rezeptionsästhetik von Jauß, der Theorie des Offenen Kunstwerks von Eco und der Stilistik von Riffaterre. Der Teil Strukturalismus wird die wichtigsten Positionen der 50er und 60er Jahre vorstellen, und schließlich wird ein Schlussabschnitt von Texttheorie bis Literary Computing einige Entwicklungen der letzten Jahre beinhalten. Die in den letzten Jahren durch die politischen Ereignissen beinahe verschwundenen marxistischen Methoden auf der einen Seite und auf der 9 Noe: Literaturwissenschaftliche Methoden anderen Seite die stark polemisierten Ansätze zur Dekonstruktion und zu feministischen Literaturbetrachtungen werden bewusst nicht mehr behandelt, weil im Sinne einer ideologisierenden Gruppendynamik von deren Vertretern selbst eine ‚objektive‘ Diskussion abgelehnt wird. Höhnische Parodien, wie der Rundschlag von David Lodge in Small World (New York 1984) oder von Umberto Ecos Weiterführung der Palimpsestes (Paris 1982) von Gérard Genette, zeigen ebenso wie zynische Forderungen nach einer physiologisch orientierten Literaturtheorie der Vegetarier, der Langschläfer oder der Kiltträger – all bodies that matter – die von beiden Seiten ausgekostete Konfrontation. Wenn auch der Einfluss von Geschlechterdifferenzen auf die Produktionsrolle bei Texten und auf den Zugang dazu eine allgemein anerkannte Tatsache darstellt, bleibt dennoch das geschlechtsgebundene Textverstehen eine bis jetzt sehr diffuse Angelegenheit, möglicherweise nur wieder eine methodische Konstruktion, die mehr über deren Vertreter als über den Gegenstand selbst aussagt. Ich werde hingegen versuchen, die Ansätze zur Vergleichenden Literaturwissenschaft dort speziell zu würdigen, wo sie ausdrücklicher Bestandteil der Theorie sind, wie z.B. in der Romantik. Die spezifischen Probleme der Komparatistik in den letzten Jahrzehnten ergeben sich natürlich aus der Umkehrung der Wissenschaftsgeschichte, in welcher die Nationalphilologien ursprünglich zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der vergleichenden Methode entstanden sind und nun die sprachlich, zeitlich und räumlich beschränkte Anwendung dieser Vorgangsweise verteidigen. Jede Philologie, jede Literaturtheorie ist letzten Endes vergleichend, weil Konzepte bzw. Texte diese Beschränkungen ja nicht respektieren. 10