Manuskript

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Künstlerisches Wort/Literatur
SWR2 E s s a y
Redaktion: Stephan Krass
Regie: Günter Maurer
Sendung: 26.09.2011, 22.05 – 23.00 Uhr
Der Homer der Insekten
Vom Leben und Staunen des Naturforschers Jean-Henri Fabre
Von Astrid Nettling
Produktionsnummer: 1002003
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
© by the author
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bestellen.
1. Zit.:
Genau das habe ich mir gewünscht: ein Stück Land, oh! nicht groß,
aber umzäunt und den Unannehmlichkeiten der öffentlichen Straße
entzogen, vernachlässigt, unfruchtbar, ausgedörrt, gut für Disteln
und Hautflügler. Hier könnte ich, von Passanten ungestört,
Sandwespe und Grabwespe befragen. Ja, das war mein Wunsch,
mein lang gehegter Traum. Der Wunsch ist wahr geworden. Ein
bisschen spät meine schönen Insekten! Ja, ein bisschen spät. Um
mich Ruinen, nur ein Stück Mauer steht noch unerschütterlich auf
seinem Fundament aus Kalk und Sand: meine Leidenschaft für die
wissenschaftliche Wahrheit. Reicht das, meine lieben fleißigen
Hautflügler, für das Unternehmen, eurer Geschichte gebührlich ein
paar Seiten hinzuzufügen?1
Spr.:
Sechsundfünfzig Jahre alt ist er bereits, als er sich seinen
Herzenswunsch erfüllen kann. In Sérignan-du-Comtat, einem kleinen
Dorf im Süden Frankreichs, findet er das, wovon er so lange schon
geträumt hatte.
1. Zit.:
Es ist ein Harmas. So nennt man hier steinige, von Thymian
überwucherte Brachen. Sie sind zu mager und lohnen das Pflügen
nicht. Von solcher Art ist oder war das liebliche Paradies, als ich es
in Besitz nahm. Paradies sagte ich; und aus meiner Sicht ist dieses
Wort nicht fehl am Platz. Dieses verfluchte Fleckchen, dem keiner
ein paar Rübensamen anvertrauen mochte, erweist sich für die
Hautflügler als ein Paradies auf Erden. Die gewaltige Wildnis aus
Disteln und Flockenblumen lockt alle herbei. Wer ist denn das? Eine
Wollbiene. Sie kratzt den spinnwebartigen Stängel der SonnwendFlockenblume ab und sammelt so ein Bällchen Wolle, das sie stolz
in ihren Kiefernzangen davonträgt. Unter der Erde wird sie daraus
2
Säcklein von verfilzter Watte herstellen, in die sie mit einem Vorrat
von Honig ein Ei einschließt. Und jene, die so scharf auf Beute sind?
Es sind Blattschneiderbienen, die unter dem Bauch ein
Haarbürstchen tragen, schwarz, weiß oder feuerrot gefärbt, an dem
der Honig klebt. Sie verlassen die Disteln, um die nahen Büsche
aufzusuchen und schneiden dort aus den Blättern ovale Stücke
heraus, die sie zu kleinen Behältern zusammendrehen geeignet zur
Aufbewahrung des Honigs. Und die dort im schwarzen Samt? Das
sind Mörtelbienen, die mit Zement und Kies arbeiten. Auf den
Steinen des Harmas werden wir unschwer ihre Maurerarbeiten
erkennen.2
Spr.:
Ein "Paradies auf Erden" ist er tatsächlich, dieser "Versuchsgarten
lebendiger Insektenforschung", wie er ihn nennt, in dem er im
täglichen "Zwiegespräch" mit seinen geliebten Hautflüglern und
anderen Insekten mehr als dreißig Jahre zubringen wird. Jean-Henri
Fabre, der legendäre Naturbeobachter, der seine faszinierenden
Einsichten in das Leben der Insekten in der ebenso faszinierenden
Prosa seiner "Souvenirs Entomologiques" der Nachwelt überliefert
hat, in den zehn Bänden der "Erinnerungen eines
Insektenforschers", die er in den Jahren 1879 bis 1907 in seinem
"Versuchsgarten" im provençalischen Sérignan niederschreibt. Als
einen "Homer der Insekten" hat man Fabre bezeichnet, ihn mit
Balzac verglichen, dessen "Comédie humaine" seine "Comédie
entomologique" zur Seite zu stellen wäre, das 'Sittengemälde' der
emsigen Völkerschar von Honigsammlern, Baumwollwebern,
Maurern, Stollenbauern, Pillendrehern und Gottesanbetern, deren
Instinkte und Gewohnheiten, Lebens- und Arbeitsweisen, deren
3
Überlebenskämpfe und Fortpflanzungsgeheimnisse er mit Akribie
und Leidenschaft erforscht. Ein Besessener, ein Liebender, der sich
in der Abgeschiedenheit seines Harmas der einzigen Sache hingibt,
die es für ihn zu tun gibt.
1. Zit.:
Mir ist die Biologie des Insekts zugefallen, ich weiß nicht einmal wie.
Ich bin dabei und ich bleibe dabei, ich habe keine Zeit, nach etwas
Besserem zu suchen. Es gibt Stunden, da schelte ich mich selbst ob
dieser Verschrobenheit, die zu allem hinführt, nur nicht zu dem:
nämlich Geld zu verdienen. Es ist stärker als ich: das Tier führt mich.
Den ganzen Winter habe ich damit zugebracht, die
Prozessionsraupe zum Sprechen zu bringen, und jetzt habe ich ein
Stelldichein mit der Grille, dem Warzenbeißer und mit noch so vielen
anderen. Es endet nie. Selbst ein Methusalem käme damit nie zu
Ende.3
Spr.:
Für die meisten eine fremde Leidenschaft. Wer will schon mit der
Raupe, der Grille, Wespe, Ameise oder dem Käfer derart engen
Umgang pflegen und ihnen, den Lebewesen aus der Klasse der
"Eingeschnittenen", so nahekommen? Diesen uns so gar nicht
verwandten Tieren, die ihren Namen der anatomischen Besonderheit
verdanken, dass ihre deutlich voneinander abgesetzten
Körperpartien, Kopf, Brust, Hinterleib, wie eingeschnitten wirken –
"in-secta" oder "éntoma" wurden sie deswegen schon in der Antike
genannt. Kerbtiere heißen sie auch bei uns, jene sechsbeinigen,
geflügelten, chitingepanzerten, bepelzten, geschuppten oder
gehöckerten Kleinstlebewesen, die immerhin die artenreichste
Klasse der Tiere ausmachen. Erdgeschichtlich sind sie früh und
innerhalb immenser Zeiträume entstanden, die es der Natur gestattet
4
haben, ihre 'Kunstfertigkeit' in Sachen Lebewesen in aller Ruhe und
im Allerkleinsten zu erproben und zu schärfen. Liebhaber blicken seit
je mit Erstaunen, Bewunderung und Hochachtung auf dieses reiche
Wirkungsfeld der Natur, auf dem sie ihre Kreativität in so
vielgestaltiger wie minuziöser Weise entfaltet hat, auf all die
"animalia inmensae subtilitatis", wie der römische Gelehrte Plinius
der Ältere schreibt, auf die "Tiere von unendlicher Feinheit", die sich
allerdings beim Großteil der Menschen keiner besonderen
Beliebtheit erfreuen. Im elften, den Insekten gewidmeten Buch
seiner "Naturalis historiae", seiner "Naturkunde", bittet Plinius daher
die Leserschaft, ihre übliche Geringschätzung gegenüber diesen
Tieren hintanzustellen.
2. Zit.:
Nirgendwo sonst offenbart sich in höherem Grade die Kunstfertigkeit
der Natur. Bei großen Lebewesen war die Bildung leicht: bei diesen
so kleinen und fast in Nichts verschwindenden Tierchen welch
überlegener Geist, welches Vermögen, welch unergründliche
Vollendung! Wo brachte die Natur bei der Mücke so viele
Sinnesorgane an? Wo das Sehvermögen? Wo hat sie den
Geschmackssinn angefügt? Wo den Geruchssinn eingepflanzt? Wo
jene raue und verhältnismäßig starke Stimme eingehaucht? Mit
welcher Feinheit hat sie die Flügel angeheftet, die Beine
langgestreckt und den gierigen Durst nach Blut, besonders nach
menschlichem, entzündet? Mit welcher Geschicklichkeit hat sie den
Stachel mit doppelter Kunst geschaffen, indem er zum Stechen spitz
und zugleich zum Saugen hohl ist. Wir bewundern die
turmtragenden Schultern der Elefanten, die Nacken der Stiere und
ihre trotzigen Attacken, die Raubgier der Tiger und die Mähnen der
5
Löwen, während die Natur doch nirgends vollkommener ist als in den
kleinsten Tieren.4
Spr.:
Dasselbe Erstaunen, dieselbe Bewunderung und Hochachtung vor
solcher 'Kunstfertigkeit' teilt auch Jean-Henri Fabre, der um so vieles
Jüngere, mit Plinius dem Älteren. Doch nicht nur deren Geist
verbeugt sich vor diesen Meisterleistungen der Natur. Will man ihrer
'Kunst' wirklich gerecht werden und ihren 'Werken' tatsächlich
nahekommen, muss sich ebenso der Körper beugen, muss sich tief
hinunter beugen, hinunter zu den Kleinsten, zu Mücke, Ameise,
Biene, Käfer oder Grille, um diesen Lebewesen auf eigener 'Höhe'
und auf eigenem Terrain begegnen zu können. Denn auf dem
Gebiet der Natur und deren Lebewesen zählt vor allem eins:
Erfahrung – "empeiría". Heißt es doch schon bei Aristoteles, dass
Ursprung und Ausgangspunkt sowohl der Weisheit wie von allem,
was die Natur, die "physis", betrifft, einzig und allein in der Erfahrung
liegt. "Was die Grille angeht, lerne von der Grille" – von ihr und den
anderen hat sich der Insektenforscher führen zu lassen, um von
ihnen über das staunenswerte Wunder ihres Daseins belehrt zu
werden. Bisweilen sogar mitten in der Nacht, wenn der erfahrene
Liebhaber draußen in seinem Garten noch ein Stelldichein mit der
Grille hat.
1. Zit.:
Manchmal habe ich mich im Schutze eines Rosmarinbusches auf die
bloße Erde gelegt, um der wunderbaren Nachtmusik des Harmas zu
lauschen. Da oben gerade über mir, reckt das Sternbild des
Schwans sein großes Kreuz in die Milchstraße hinein – da unten, um
mich herum, wogt die Symphonie der Insekten. Über den Jubel der
Winzigen vergesse ich das hehre Schauspiel der Gestirne. Die
6
Wissenschaft erzählt uns von ihren Entfernungen, ihren
Geschwindigkeiten, ihren Massen, ihrer Größe; sie überwältigt uns
mit den ungeheuren Zahlen, sie erregt mit den Unendlichkeiten
unser höchstes Erstaunen, aber sie bringt keine Fiber in uns zum
Erzittern. Warum? Weil ihr das große Geheimnis fehlt, das Leben.
Was hat es da oben? Welten, ähnlich der unseren, behauptet die
Vernunft. Eine herrliche Auffassung des Universums, aber eine
bloße Auffassung, die sich auf keinerlei Tatsachen stützt. In eurer
Gesellschaft jedoch, oh ihr meine kleinen Grillen, spüre ich den
Schauer des Lebens, und deshalb, auf der Erde liegend, an der
Rosmarinhecke, blicke ich nur beiläufig zum Sternbild des Schwans
empor, meine ganze Aufmerksamkeit gilt eurer Serenade. 5
Spr.:
Welch ein Geständnis, welche Liebeserklärung an seine kleinen
Lehrmeister, welch eine Verneigung zugleich vor dem Lebendigen
wie vor der Natur als der alles Leben bewirkenden Kraft. Denn um
wieviel erstaunlicher als die "ganze ungeheure Masse toten Stoffes"
über ihm erscheinen dem Natur- und Insektenforscher die sich
regenden Lebewesen um ihn herum. Steht es für ihn doch außer
Frage, dass man dem Wunder des Lebens nur im Umkreis des
Lebendigen selbst nahezukommen vermag, auch wenn die Natur –
unergründlich in ihrem Sein – letztlich ihr Geheimnis zu wahren weiß.
"Die Natur liebt es, sich zu verbergen", lautet es in einem Fragment
von Heraklit. Aber zugleich hat sie sich immer schon auf diese oder
jene Weise entborgen und liegt in den vielfältigen
Erscheinungsformen der Lebewesen für die menschliche Erfahrung
offen vor Augen. Als ein "offenbares Geheimnis", wie es Fabre im
Geiste Johann Wolfgang von Goethes formuliert. Und mit diesem,
7
dem Morphologen und passionierten Naturbeobachter, kommt er
ebenso in seiner Forscherhaltung überein – dem Respekt vor dem
jeweils wohlgefügten lebendigen Ganzen sowie der Scheu, in solch
intakte Lebenszusammenhänge störend oder gar zerstörend
einzugreifen. Nicht zuletzt deshalb hat Fabre seinen Harmas als ein
Paradies für diese Tiere bezeichnet. Denn geradezu
freundschaftlich-familiär geht es darin zu, wo er im vertrauten
Umgang und im ständigen "Zwiegespräch" mit den Insekten lebt.
Wollte man ihm deswegen einen Mangel an akademischer Strenge
vorwerfen oder ihm das Fehlen harter, exakter Wissenschaftlichkeit
ankreiden, brauchte er bloß seine Hautflügler als Kronzeugen
aufzurufen.
1. Zit.:
Kommt alle herbei und berichtet, wie vertraut ich mit euch lebe, wie
geduldig ich euch beobachte, wie gewissenhaft ich euer Tun
aufzeichne. Ja, meine Seiten sind nicht mit leeren Formeln und
gelehrten Hirngespinsten gespickt; sie berichten, was ich beobachtet
habe, nicht mehr und nicht weniger; und wollte jemand euch
befragen, wird er dasselbe hören. Und dann, meine geliebten
Insekten, wenn ihr diese guten Leute nicht zu überzeugen vermögt,
dann sag ich es ihnen: Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es
lebend; ihr macht aus ihm ein Objekt des Abscheus und des Mitleids,
ich mache es liebenswert; ihr arbeitet in einer Werkstatt, wo gefoltert
und zerstückelt wird, ich beobachte unter blauem Himmel beim
Gesang der Zikaden; ihr behandelt Zelle und Protoplasma mit
Chemikalien, ich studiere den Instinkt in seinen erhabenen Formen;
ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben.6
8
Spr.:
Als Jean-Henri Fabre 1823 das Licht der Welt erblickt – neun Jahre
vor Goethes Tod – ist das Reich der Insekten entomologisch bereits
gut erforscht. Seit dem 18. Jahrhundert war man eifrig dabei, die
vielfältigen Insektenarten zu beschreiben und zu klassifizieren. Carl
von Linné hatte 1735 eine erste Systematik der Insekten anhand
ihrer Flügel entwickelt, 1775 erarbeitete dessen Schüler, Johann
Christian Fabricius, eine Systematik, die auf der Morphologie ihrer
Mundwerkzeuge beruht. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
folgten die Arbeiten von Jean-Baptiste de Lamarck, Georges Cuvier,
William Elford Leach, deren Systematik die Insekten in der noch bis
heute gültigen Klasse zusammenfasste, aus der die achtbeinigen
Spinnentiere, Tausendfüßler und Krebstiere herausgenommen sind.
Schließlich verfeinerte Léon Dufour durch die Fortschritte in der
Mikroskopie die Morphologie der Insekten weiter, vor allem die der
Käfer. Systematiken, Nachschlagewerke, Lehrbücher gab es also
genug, ebenso Anschauungsmaterial – die seit dem 18. Jahrhundert
gleichfalls beliebten Insektensammlungen, die angefüllt mit
Anschauungsstücken aus allen Teilen der Welt ganze Säle füllen
konnten.
2. Zit.:
Wir gingen dann zu den Insekten, denen ein Raum in der Größe
eines Tanzsaales zugewiesen war. Bepelzte Hummeln drängten sich
zu Legionen, vorwiegend Arten, die man nicht an begangenen
Wegen trifft. Caraben wurden zu Tausenden verwahrt. Daneben
offenbarte sich die Neigung des Professors für die plumpen, dunklen
Pimelien und die buntgefleckten Arten der Gattung Mylabris. Trotz
ihrer Mannigfaltigkeit hatte die riesenhafte Aufsammlung einen
Generalnenner. Ihr Besitzer schien Gruppen zu bevorzugen, die sich
9
durch Streifung auszeichnen. Bei den Pimelien und Caraben waren
die Streifen plastisch und der Länge nach geordnet, bei den
Hummeln und den Mylabriden traten sie als quere Bänder und
Diademe der bunten Haartracht oder des Pigments hervor. Nachdem
er mich in die Sammlung eingewiesen hatte, ließ der Professor mich
allein. Er lud mich ein, seine Schätze nicht nur nach Herzenslust zu
betrachten, sondern auch von den Dubletten auszusuchen, was mir
gefiele. Ich saß am Fenster vor einer Auswahl der gebänderten
Idole; ihr Anblick brachte mich ins Träumen, bis die Farben
ineinanderflossen.7
Spr.:
In seinen entomologischen Erinnerungen "Subtile Jagden" schildert
Ernst Jünger diesen Besuch bei einem namhaften Gelehrten, den er
als junger Insektenliebhaber aufsuchte, einer Gestalt noch des 19.
Jahrhunderts und seiner stolzen Sammlung von Insekten –
prächtigen Schaustücken einer ebenso beeindruckenden wie
seltsamen Leidenschaft, Lebendiges nach Art von Briefmarken zu
sammeln, es nach Muster, Farbe oder Form zu sortieren und an der
schieren, doch toten Vollständigkeit des Gesammelten Genugtuung
und Erfüllung zu finden. Fabres Sache wird das nicht. Im ersten
Band seiner "Souvenirs Entomologiques" beschreibt er, wie er knapp
dreißigjährig als frisch promovierter Physiklehrer in Avignon –
miserabel bezahlt, Familienvater bereits von fünf Kindern, sein
Harmas liegt noch in weiter Ferne – eher zufällig auf einen Aufsatz
stößt, der bei ihm eine Initialzündung bewirkt.
1. Zit.:
Es gibt für jeden Bücher, die dem Geist ungeahnte Horizonte öffnen
und Epoche machen. Sie stoßen die Tore zu einer neuen Welt auf,
sie sind der Funke, der das Feuer im Herd entfacht. Es war eine
10
Schrift des Vaters der Entomologie, des ehrwürdigen Gelehrten Léon
Dufour, über das Verhalten eines Prachtkäfer jagenden Hautflüglers.
Natürlich interessierte ich mich nicht erst seit jenen Tagen für
Insekten, seit meiner Kindheit gehören Käfer, Bienen und
Schmetterlinge zu meinen Freunden. Die Feuerung lag bereit, es
fehlte nur der Funke, sie zu entzünden. Und dieser Funke war der
Aufsatz Dufours. Ich erlebte eine geistige Offenbarung. Schöne
Käfer in einer mit Kork ausgelegten Schachtel aufzureihen, sie zu
benennen und zu klassifizieren, war also nicht die ganze
Wissenschaft; es gab Höheres: das genaue und liebevolle Studium
ihres Lebens, das Untersuchen ihres Organismus und mehr noch
ihrer Fähigkeiten.8
Spr.:
Auch das kann also eine neue Welt öffnen: eine Schrift über das
Verhalten eines "Prachtkäfer jagenden Hautflüglers" – man muss es
sich auf der Zunge zergehen lassen, und dennoch werden die
meisten sich schwer tun, dieses uns Menschen so fremde Aroma zu
goutieren, den Geschmack einer Welt, in der metallisch schillernde
Prachtkäfer und gelbgebänderte Hautflügler die Protagonisten
darstellen. Tiere, die uns eine "derart neue Welt enthüllen", so
Fabre, "dass es uns ist, als pflögen wir Zwiesprache mit den
Bewohnern eines anderen Planeten". Eines Miniplaneten, auf dem
sich die gewohnten Größenverhältnisse ins Kleine verschoben
haben und man sich vorkommen mag wie Gulliver, während er die
Sitten und Gebräuche des Volks der Liliputaner studiert. Bäuchlings
und gegebenenfalls mit einer Lupe in der Hand. Was also hat es mit
jenem von Dufour beschriebenen "Prachtkäfer jagenden Hautflügler"
auf sich? Genauer mit der merkwürdigen Tatsache, dass dieser
11
Hautflügler, es handelt sich um eine Wespenart, die selbst nur von
Blütennektar lebt, ihre Nachkommen mit Fleisch, mit jenen
Prachtkäfern, versorgt, die sie nach der Jagd in unterirdische
Kammern als Proviant für ihren Nachwuchs einlagert. Auf diese zur
späteren Verspeisung durch die geschlüpften Larven gedachten
Beutestücke legt sie ihre Eier ab, verschließt sodann die Kammern
sorgfältig und überlässt alles Weitere dem natürlichen Lauf der
Dinge. Absonderlich schon dies, gibt es doch Hautflügler genug, die
es dabei belassen, ihre Nachkommenschaft mit derselben Nahrung
zu verköstigen, die sie selbst zu sich nehmen. Was Dufour aber vor
allem erstaunte, ist, dass sich die Prachtkäfer in ihrer unterirdischen
Grabkammer während einer langen Zeit unerklärlich frisch halten.
2. Zit.:
Ich wunderte mich, dass diese Kadaver, ganz gleich, wann sie
ausgegraben wurden, noch ihre frische Farbe hatten und auch ihre
Beine, Fühler, Taster und die Membranen, welche die Körperteile
verbinden, geschmeidig und biegsam waren. Und ihre Innereien
waren so unversehrt, als hätte mein Skalpell lebende
Insekteneingeweide seziert. Es gibt bei den von den Knotenwespen
getöteten Prachtkäfern etwas, was sie vorm Austrocknen oder
Verfaulen bewahrt. Aber was ist das?9
Spr.:
Dufour kommt zu dem Schluss, dass es ein tödliches Gift sein muss,
das die Wespen mit ihrem Stachel ihren Opfern injizieren, ein Gift,
das wie ein Antiseptikum wirkt, wie ein Konservierungsmittel, das die
toten Käfer frisch und schmackhaft hält. Eine ebenso elegante wie
effektive Methode, geht man davon aus, dass die Käfer wirklich tot
sind. Doch Fabre zweifelt.
12
1. Zit.:
Ein Kadaver! Nein, das ist keine Kost für Larven, diese kleinen
Ungeheuer, die so nach Frischfleisch gieren, die schon gegen Wild,
das nur ein bisschen riecht, einen unüberwindlichen Ekel empfinden.
Sie brauchen frisches Fleisch, ohne Hautgout, das erste Zeichen von
Verwesung. Aber die Knotenwespen können die Beute nicht einfach
lebendig in die Zelle stecken. Was würde aus dem zarten Ei inmitten
lebendigen Proviants? Was würde aus der schwachen Larve, einem
Würmchen, das so verletzlich ist, inmitten kräftiger Käfer, die ihre mit
Spornen besetzen lange Beine noch wochenlang bewegen? Hier
muss – anscheinend ein unlösbarer Widerspruch – sowohl die
Reglosigkeit des Todes als auch die Frische des Lebens
gewährleistet sein.10
Spr.:
Fabres entomologische Neugier ist geweckt. Denn derart frisch wie
die Käfer selbst nach langer Zeit noch sind, muss Leben – passives,
vegetatives Leben – in ihnen sein. Tatsächlich findet er heraus, dass
sie nicht wirklich tot sind. Sie werden vielmehr durch einen von der
Wespe mit äußerster Präzision in ihr Nervenzentrum geführten Stich
gelähmt, was sie bei lebendigem Leib so regungslos wie tot macht.
Welch brillante Lösung von Seiten der Natur, mit jener 'Quadratur
des Kreises' fertig zu werden.
1. Zit.:
An diesem Dolchstoß zeigt sich die Unfehlbarkeit, das angeborene
Wissen des Instinkts in seiner ganzen Großartigkeit. Für diese
Lähmung verwenden die Hautflügler dasselbe Verfahren, das die
fortgeschrittene Wissenschaft von heute den Physiologen an die
Hand gibt: mit ihrem Giftspieß verletzen sie die Nervenzentren,
welche die Bewegungsorgane steuern. Das ist der Fall bei den
Prachtkäfern, die von einem einzigen Stachelstoß gelähmt werden,
13
der die gemeinsame Masse der Nervenzentren im Thorax trifft.
Stolze Wissenschaft; übe dich in Demut!11
Spr.:
Dass die Natur die große Lehrmeisterin des Menschen ist, dieser
Topos ist nicht neu. Der Gedanke, dass sich seine Fertigkeiten,
seine Kenntnisse, seine Techniken in vielem der Natur verdanken,
indem sie deren Vorgehensweisen und Methoden nachahmen, findet
sich ebenso in der antiken Tradition. So lerne der Mensch von der
Spinne das Weben, von den Bienen den Zellenbau, von den
Ameisen die Staatenbildung, staunenswert planvolle Arbeiten und
Werke hervorgebracht von Lebewesen, deren "Leistungen weder auf
gelerntem Können noch auf Ausprobieren noch auf Überlegung
beruhen", schreibt Aristoteles in seiner "Vorlesung über die Natur".
Daher nehme es nicht Wunder, dass sich einige die Frage stellten,
"ob die Leistungen der Spinnen, der Ameisen und dergleichen auf
Intelligenz oder auf eine vergleichbare Fähigkeit zurückzuführen
seien". Denn woraus speist sich deren erstaunliches Können? Worin
besteht ihre Veranlagung zu derartigen Leistungen? Was führt oder
treibt die Tiere zu ihrem Tun? Doch nicht "intellegentia" ist es,
sondern "instinctus", d.h. ein angeborener, natürlicher Antrieb, der
Spinne, Biene, Ameise, Wespe oder Käfer im wahrsten Sinne
instinktsicher in ihrem Verhalten führt.
2. Zit.:
Ohne irgendein Nachdenken, das dieses Verhalten geböte, ohne
Überlegung geschieht alles, was die Natur vorschreibt. Siehst du
nicht die große Feinheit, mit der die Bienen ihre Behausungen
bauen? Siehst du nicht, wie kein Mensch das Netz der Spinne
nachmachen kann, wieviel Mühe es ist, die Fäden zu ordnen, die
teils gerade verlaufen als Halt, teils im Kreis, innen dicht, damit darin
14
kleinere Insekten wie in einem Netz verwickelt festgehalten werden,
nach außen weiter? Angeboren ist diese Fähigkeit, nicht wird sie
erlernt. Daher ist kein Tier gelehrter als ein anderes: du wirst sehen,
gleich sind die Spinnennetze, gleich die Öffnungen aller Zellen in
den Bienenwaben. Ungleich ist, was immer die erlernte Fähigkeit
weitergibt; von gleicher Art ist, was die Natur zuteilt.12
Spr.:
Schreibt Seneca an seinen Freund Lucilius ganz dem Geist der Stoa
verpflichtet in seiner Reverenz gegenüber der Natur, gegenüber der
"Mutter aller Wesen" und höchsten Lehrmeisterin, die ihren
Anschauungsunterricht großzügig einem jeden zuteil werden lässt,
der hinzuschauen versteht. Deshalb das insistierende: "Siehst du
nicht?", die implizite Aufforderung an den Freund: "Schau hin!"
Schau genau hin auf das, was die Natur dich sehen lässt. Auch
Jean-Henri Fabre schaut hin, schaut genau hin und lässt sich
bereitwillig von der Natur belehren. Obwohl ein Kind seiner Zeit,
scheut er sich nicht, deren lernwilliger Schüler zu bleiben, anstatt –
wie Immanuel Kant es in einer berühmten Wendung formuliert hatte
– der Natur als ein Richter gegenüberzutreten, der "die Zeugen
nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt". Diese
Haltung ist Fabre fremd. Statt auf Nötigung setzt er auf Freiwilligkeit,
statt Druck auszuüben, übt er Geduld, beobachtet in aller Ruhe die
Knoten-, Grab- und Sandwespe, den Pillendreher, die Ameise und
Mörtelbiene und wartet, wenn es sein muss über Jahre und oft bei
sengender Sonne, auf dem Bauch vor ihren Behausungen liegend
und mit seinem Vergrößerungsglas vor den Augen, bis er von ihnen
erfahren hat, was er wissen will. Fabre nennt dies seine "méthode
ignorante".
15
1. Zit.:
In vielen Fällen ist es das beste, nichts zu wissen; so bewahrt sich
der Geist die Freiheit des Forschens und Fragens und verirrt sich
nicht in Sackgassen, wie so oft nach zu vielem Lesen. Ich habe es
mir zum Gesetz gemacht, in meinen Forschungen über den Instinkt
die Methode des Nichtwissens anzuwenden. Ich lese sehr wenig.
Statt in Büchern zu stöbern, statt andere zu befragen, bleibe ich
hartnäckig bei meinem Objekt. So steht es mir frei zu fragen, wie ich
will, heute so, morgen so, je nach den Auskünften, die ich erhalten
habe.13
Spr.:
Denn das Mysterium des Instinkts lässt ihn nicht los, die rätselhafte
Fähigkeit der Insekten, sich so zu verhalten, dass "gewisse Ziele
erreicht werden, ohne die Voraussicht dieser Ziele und ohne
vorherige Erziehung oder Erfahrung", wie der Philosoph William
James, ein Zeitgenosse Fabres, notiert. Die meisten Insekten
kommen voll entwickelt und erst nach dem Tod ihrer Erzeuger zur
Welt. Fixfertig sind sie sofort ausgerüstet für das Leben, kennen ihre
Nahrung, erkennen ihre Feinde, ihren Geschlechtspartner, wissen
das Nest für ihre Nachkommenschaft auf dieselbe Art und Weise zu
bauen wie das, in dem sie selbst zur Welt gekommen sind, und
deren Proviant mit derselben unfehlbaren Präzision zu lähmen wie
ihre Erzeuger, die sie nie gesehen haben. Kein "trial and error",
unfehlbar sind sie in ihrem Verhalten, unfehlbar im Verfolgen ihrer
Ziele – Ziele im Dienst des Überlebens, stellt doch der Endzweck all
dieser instinktiven Fähigkeiten das Überleben dar – das Überleben
allerdings der Art, nicht die der Individuen. Denn aus Individuen
macht die Natur sich nichts.
16
2. Zit.:
Ihre Kinder sind ohne Zahl. Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem
Nichts hervor, und sagt ihnen nicht woher sie kommen und wohin sie
gehen. Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie.
Spr.:
Lautet es in einem Fragment mit dem Titel "Die Natur" eines
unbekannten Autors, das Goethe in seinen Schriften zur
Morphologie aufgenommen hat. Wespe, Biene, Ameise und Käfer
folgen dieser vorgeschriebenen Bahn – blindlings, nachtwandlerisch
bis zu ihrem Ende.
1. Zit.:
Nach der Paarung putzen die beiden Pelzbienenölkäfer ihre Beine
und Fühler, indem sie diese durch ihre Kieferzangen ziehen, dann
geht jeder seiner Wege. Das Männchen hockt sich in eine Spalte der
Böschung, lebt noch zwei oder drei Tage und stirbt. Nach der
Eiablage, die sofort erfolgt, stirbt auch das Weibchen am Eingang
des Gangs, in dem es seine Eier abgelegt hat. Die Sitaris leben also
nur solange, wie es für die Paarung und Eiablage nötig ist. Ich sah
immer nur welche auf dem Schauplatz ihrer Liebe und somit auch
ihres Todes; nie sah ich einen auf den Pflanzen in der Nähe grasen.
Was für ein Leben! Als Larve fünfzehn Tage Völlerei in einer
Schatzkammer voll Honig, ein Jahr Schlummern in der Erde, eine
Minute Liebe im Sonnenlicht; dann der Tod!14
Spr.:
Was für ein Leben! "Ephémeroi" – Eintagsgeschöpfe hatten die
Griechen die Menschen genannt, die im Vergleich mit den
ewigseienden Göttern so flüchtigen Lebewesen. Doch alles ist eine
Sache der Blickrichtung – aus der Sicht der kurzlebigen Insekten
mögen wir Menschen als geradezu immerseiend erscheinen. Denn
"ephémeroi", Eintagsgeschöpfe, sind diese Lebewesen im wahrsten
17
Sinne. Ihre Zeit währt oft nicht viel länger als einen Tag oder wie
beim männlichen Nachtpfauenauge oft nur eine einzige Nacht.
1. Zit.:
Die Hochzeit ist das alleinige Ziel seines Daseins. Auf weiter
Entfernung, durch alle Finsternisse hindurch und über alle
Hindernisse hinweg weiß er das ersehnte Weibchen zu entdecken.
Aber nur wenige Stunden stehen ihm für sein Suchen und für sein
Fest zur Verfügung. Vermag er die Zeit nicht zu nutzen, ist alles zu
Ende. Das Nachtpfauenauge ist nur Schmetterling, um sich
fortzupflanzen; Nahrungsaufnahme ist ihm unbekannt. Während so
viele seiner fröhlichen Genossen von Blume zu Blume flattern, die
Spirale ihres Saugrüssels entrollen und in die süßen Blütenkronen
tauchen, kann er sich mit nichts stärken und erlaben. Seine
Mundwerkzeuge sind nämlich bloße Trugbilder, Attrappen, keine
wirklichen, zum Gebrauch bestimmten Organe. Kein Schluck Nektar
gelangt in seinen Magen. Das Nachtpfauenauge verzichtet darauf,
aber gleichzeitig muss es damit auf ein langes Leben verzichten.
Zwei oder drei Abende, was zur Vereinigung des Paares notwendig
ist, und das ist alles. Schon hat das Dasein des großen
Schmetterlings sich vollendet.15
Spr.:
Was für ein Leben! Für manche ein ganz und gar sinnloses
Geschehen, für Fabre jedoch bleibt es eine Quelle nie versiegenden
Staunens. Gleichgültig, wen er beobachtet, sei es das
Nachtpfauenauge oder den Pelzbienenölkäfer, sei es die ihre
Männer nach Hochzeit und Befruchtung ungerührt verspeisende
Gottesanbeterin, seien es Kreiselwespe, Biene, Ameise,
Fleischfliege und die vielen anderen. Sie alle folgen der Entelechie
ihres Instinkts, an deren Endpunkt neues Leben, die
18
Nachkommenschaft, steht. In der Tat – die Natur macht sich nichts
aus Individuen, oder wie der Autor jenes Fragments über die Natur
pointiert: "Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr
Kunstgriff viel Leben zu haben." Indifferent gegenüber dem
Einzelnen beeindruckt ihr 'Erfindungsreichtum' dort am stärksten, wo
es um die Sorge für dieses neue Leben geht, um die Sorge für den
Nestbau und die Nahrung, um die sich die Insekten zu kümmern
haben. So fertigt die Wollbiene feine Wattebeutel an, in die sie ihre
Eier ablegen wird, die Blattschneiderbiene stellt Körbe aus ovalen
Blattstücken her, die Mörtelbiene baut winzige Kammern aus Zement
und Kies, eine andere formt Ton zu bauchigen Krügen und wieder
eine andere gräbt unterirdische Gewölbe, in denen die Luft feucht
und warm bleibt. Dann kommt die Nahrung für den Nachwuchs an
die Reihe: ein Vorrat aus Honig wird angelegt, Kuchen aus
Blütenstaub zusammengepresst, Proviant aus kunstgerecht
gelähmter Beute bereitgestellt.
1. Zit.
"In all diesen Arbeiten",
Spr.
so Fabre,
1. Zit.
"die einzig und allein der Zukunft der Familie dienen, werden die
höchstentwickelten Instinkte offenbar".
Spr.
Selbst ein liebevoller Familienvater, gehört seine ganze Sympathie
diesen familiär Engagierten. Doch das 'Sittengemälde' seiner
"Comédie entomologique" wäre nicht vollständig, fehlten darin die
Gebräuche all derer, die nichts davon besitzen. Etwa die der
Parasiten unter den Insekten, die wie die Fleischfliege ihre Eier in die
Kinderstube der Kreiselwespe ablegen, wo die geschlüpften
Fliegenlarven
19
1. Zit.
"neben dem rechtmäßigen Pflegling ihren spitzen Mund so ungeniert
in den Haufen schlagen, als wären sie zu Hause".
Spr.
Oder die der sklavenhalterischen Roten Ameisen, der Amazonen, die
1. Zit.
"unfähig, ihre Nachkommen aufzuziehen, unfähig, sich Nahrung zu
suchen",
Spr.
Kindesraub begehen, um sich mit der nötigen Dienerschaft für ihren
Haushalt auszustatten.
1. Zit.:
Wenn die warmen Wochen im Juni und Juli kommen, sehe ich
nachmittags die Amazonen aus ihrer Kaserne zur Expedition
ausziehen. Die Kolonne ist fünf bis sechs Meter lang. Sie überquert
Gartenwege, verschwindet im Gras, taucht wieder auf, zieht durch
einen Laubhaufen und ist stets auf Abenteuer aus. Endlich ist ein
Nest von Schwarzen Ameisen gefunden. Eilig steigen die Roten
Ameisen in die Schlafräume hinunter, wo die Puppen ruhen, und
kommen bald mit ihrem Fang hinaufgeklettert. An den Toren der
unterirdischen Stadt gibt es ein betäubendes Getümmel von
Schwarzen, die ihr Eigentum verteidigen, und Roten, die versuchen,
es wegzutragen. Der Sieg gehört den Roten, die heimwärts rennen,
in ihren Kiefernzangen eine Puppe in Windeln.16
Spr.:
Keine Frage – Jean-Henri Fabre macht mit seiner hinreißenden
Prosa seinem Ruf als "Homer der Insekten" alle Ehre. "Études sur
l'instinct et les moeurs des insectes", "Studien über den Instinkt und
die Sitten der Insekten", lautet der Untertitel seiner "Erinnerungen".
Wie wunderbar altmodisch klingt die Rede von den Sitten und
zugleich wie 'menschlich', macht doch die Beschreibung dieser von
uns so grundverschiedenen Lebewesen als wären sie bloß
unbekannte Völkerschaften, deren Sitten und Gebräuche sich – lässt
20
man sich nur darauf ein – ohne weiteres nachvollziehen lassen, viel
vom Charme seiner Studien aus. Zudem schreibt er für die Jungen.
Nicht allein für die Fachwelt, sondern für junge Menschen, die er die
"Naturgeschichte wieder lieben lehren möchte", die ihnen – so Fabre
– durch "die sogenannte wissenschaftliche Schreibweise, die leider
allzu oft einem Kauderwelsch gleicht", verleidet wurde. In seinen
"Souvenirs Entomologiques" weiß der Nonkonformist aus Sérignan
beides aufs Glücklichste miteinander zu verbinden: Forschergeist
und schriftstellerische Gabe, die es mühelos versteht, seiner
Leserschaft die Welt der Insekten nahezubringen. Der Schweizer
Schriftsteller Kurt Guggenheim berichtet:
2. Zit.:
Die Bände wurden von den Kennern verschlungen: Philosophen,
Biologen, Dichter zählten die Bücher Fabres zu den Kostbarkeiten.
Dabei war es buchstäblich so, daß jeder, der lesen konnte, mitten in
die wunderbarsten, die kompliziertesten Vorgänge des
Insektenlebens hineingeführt wurde. Es gibt in dem gewaltigen Werk
schlechthin keinen Satz, den nicht ein fünfzehnjähriger Schüler
verstehen konnte; dabei bestand sein Werk vor den Koryphäen der
Wissenschaft. So wie Fabre es immer ablehnte, seine Tiere zu
sezieren und das Mikroskop zu seinen Beobachtungen
heranzuziehen, sondern sich immer nur der einfachen Lupe
bediente, durch die er das Insekt beobachtete, womöglich in Freiheit,
allerdings stunden-, tage-, wochenlang, so verzichtete er in seiner
Darstellung auf jeden wissenschaftlichen Jargon.17
Spr.:
Gleichwohl wäre es verfehlt, Fabres Haltung auf einen
liebenswerten, aber harmlosen Anachronismus zu reduzieren. Sie ist
vielmehr Ausdruck eines tiefen Missbehagens an dem bereits zu
21
seiner Zeit spürbaren Siegeszug moderner Wissenschaft, eine
Antwort auf den neuzeitlichen Rationalismus und seinem an
mathematisch-naturwissenschaftlicher Exaktheit orientiertem
Objektivitätsideal. Haben wir nicht seit René Descartes gelernt, der
eigenen Wahrnehmung und Erfahrung gründlich zu misstrauen und
dem Wissen des Wissenschaftlers, seinen Messungen, Analysen,
Berechnungen sowie seinem technischen Instrumentarium,
uneingeschränkten Vorzug zu geben, um Aufschluss über die
vermeintlich 'wahre' Natur der Dinge zu erhalten? Einen Käfer,
Schmetterling, eine Ameise, Wespe oder Biene mit der Lupe vor den
Augen zu beobachten – schön und gut –, aber wenn wir wissen
wollen, was diese Tiere 'wirklich' sind, legen wir sie unters
Mikroskop, zählen die Facetten ihrer Sehorgane, messen die
Geschwindigkeit ihrer Flügelschläge, untersuchen ihre biochemische
Zusammensetzung, analysieren ihre Genstruktur. Fabres
Weigerung, ein Mikroskop zu verwenden und seine Insekten zu
sezieren, sein: "Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es lebend", ist
seine unmissverständliche Antwort darauf. Und mehr als ein halbes
Jahrhundert später wird Maurice Merleau-Ponty als Phänomenologe
formulieren:
2. Zit.:
Immer werden die Atome der Physik wirklicher erscheinen als die
historisch-qualitativen Gestalten der Welt, physikalisch-chemische
Reaktionen wirklicher als organische Gebilde – solange man dabei
bleibt, die Gestalt dieser Welt, das Leben, die Wahrnehmung, den
Geist konstruieren zu wollen, anstatt in der Erfahrung, die wir von all
dem haben, die nächste Quelle und das letzte Richtmaß aller
Erkenntnis von alledem zu erkennen.18
22
Spr.:
"Empeiría" – hieß es bei Aristoteles, Erfahrung als der Ursprung und
Ausgangspunkt von allem, was die Natur betrifft. Eine solche
Erfahrung aber lässt sich nicht im künstlichen Umfeld des Labors mit
seiner ausgedachten Versuchsanordnung unter Ausschluss aller
natürlichen Lebenszusammenhänge gewinnen. Deshalb besteht
Fabre auf seinem Harmas, seinem "Versuchsgarten lebendiger
Insektenforschung", wo seine Insekten immer auch ein 'Wörtchen
mitzureden' haben: Wenn sich etwa der Pillendreher bei seiner
unterirdischen Eiablage durch seinen Beobachter gestört fühlt und
sein Tun einstellt, die im tiefsten Dunkel stattfindende Hochzeit des
Nachtpfauenauges Fabres Blick für immer entzogen bleibt, er den
Nestbau der Gottesanbeterin, die aus ihrem Hinterleib ein
schaumiges Nest schlägt, wegen der Schnelligkeit des Vorgangs
nicht richtig verfolgen kann, oder ihm das phänomenale
Ortsgedächtnis der Wegwespe aller Versuche zum Trotz ein Rätsel
bleibt. Wie oft muss er im Verlauf seiner Beobachtungen die
Erfahrung machen:
1. Zit.
"Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht einmal ahnen. Die Lösung muss
ich andern überlassen."
Spr.
Ein solches Eingeständnis, nicht zu wissen, einzuräumen, dass der
Einblick suchende Geist immer wieder auf Dunkelheiten stößt – auch
das gehört dazu, macht einen Teil menschlicher Erfahrung aus. Und
außerdem: an den vermeintlichen Grund der Natur, die Ursache
allen Lebens, kommt man selbst mit den feinsten und präzisesten
Instrumenten nicht heran. Im Gegenteil:
23
2. Zit.
"Es wäre möglich, dass man sich durch allzu große Näherung, etwa
mit dem Mikroskop, wieder von dem entfernte, dem man sich nähern
kann",
Spr.
hatte schon Georg Christoph Lichtenberg, Mathematiker und
Physiker, ein Zeitgenosse Goethes, in seinen berühmten
"Sudelbüchern" notiert. In diesem Sinne wahrt Fabre Distanz,
Zurückhaltung – eine Mäßigung, worin sich zugleich sein
Forscherethos bekundet, wohlwissend, dass der Wille zum Wissen
zwar beeindruckende Ergebnisse erzielen kann, dass das lebendige
Ganze dennoch stets mehr ist als die Summe seiner exakt
analysierten Teile. Als "ein Herantasten durch die sichtbare Ordnung
der Dinge an die unsichtbare Harmonie", so hat Ernst Jünger in
seinem Buch "Subtile Jagden" diese Haltung beschrieben, als ein
Herantasten "aus dem Stückwerk des Wissens an das, was nur
erahnt werden kann". Eine solche Zurückhaltung wahrende und
Respekt vor den sichtbaren Gestaltungen des Lebens bekundende
Haltung aber war schon zu Fabres Zeiten ebenso im Schwinden
begriffen wie viele der Tiere selbst, deren phantastischen Arten- und
Verhaltensreichtum mit Staunen zu betrachten, sich Insektenforscher
wie Liebhaber seit je verschrieben hatten. Bei Ernst Jünger heißt es:
2. Zit.:
Das hier erwachsende Unbehagen ist nur eines der Symptome
innerhalb einer Zeitwende, eine Wahrnehmung auf einem kleinen,
entlegenen Gebiet, auf dem der verehrende Geist Erholung genoß.
Ein Schwund des Eros ist nicht nur hinsichtlich der Morphologie der
Tiere zu beobachten, auch ihr Verhalten wird mit schärferen und
zugleich kälteren Augen verfolgt, und immer mit messenden,
quantifizierenden, statistischen Absichten. Ein Symptom ganz
24
allgemeiner Schwächung, wachsender Impotenz, die sich ebenso
fruchtlos mit jedem Verhalten, auch dem des Menschen, beschäftigt,
mit seinem "behaviour". Wie aber nach Aristoteles ein Haus mehr ist
als Lehm, Holz und Ziegel, der Körper des Menschen mehr als Blut,
Muskeln, Knochen, so ist auch sein Grundverhalten – Ethos – mehr
als ein Bündel von Reaktionen, die aus einem Fragebogen
abzulesen sind. Was bedeuten all diese Kurven und Tabellen
gegenüber der Liebe, mit der ein Fabre Aufstieg und Untergang
eines Scarabäus in der Provence belauscht? Da ist noch innerste
Anteilnahme, etwas vom großen Erstaunen des "Das bis Du". 19
Spr.:
Es ist ein Staunen über die Bewegung des Lebens selbst, ein
Staunen über die geheimnisvolle Selbstentfaltung der Natur, wie sie
sich seit Millionen von Jahren auf der Erde vollzieht und in die alles
Lebendige einbezogen ist.
2. Zit.
"Ich bin alles, was da ist, was da war, was da sein wird, und meinen
Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt",
Spr.
zitiert Immanuel Kant die berühmte Aufschrift über dem Tempel der
ägyptischen Göttin Isis, der "Mutter Natur". Gewiss können wir
Menschen nicht hinter diesen Schleier schauen, weshalb, so Kant,
es auch keinen "Newton des Grashalms" geben werde, aber wir
können den phänomenalen Reichtum wahrnehmen, den die Natur
vor unseren Augen einem vielfarbig bewegten Schleier gleich immer
wieder neu und anders ausbreitet. Daher wird Fabre niemals müde,
dem Ausschlüpfen seiner geliebten Hautflügler beizuwohnen, dem
nahezu magischen Augenblick, wenn sie anfangen, ihre
schleierzarten Flügel zu entfalten, um in ihr kurzes Leben
auszufliegen.
25
1. Zit.:
Nach vierundzwanzig Tagen im Nymphenstadium ist das Insekt
vollendet. Es zerreißt den Kokon, öffnet sich einen Korridor durch
den Sand und erscheint eines schönen Morgens im Licht, das es
noch nicht kennt. Sonnengebadet, bürstet die Grabwespe Fühler und
Flügel, streicht die Beine über dem Hinterleib vor und zurück, putzt
sich die Augen mit speichelfeuchten Vorderkrallen und fliegt nach
beendeter Toilette fröhlich auf: Sie hat zwei Monate zu leben. – Ihr
schönen Grabwespen, die ihr unter meinen Augen geschlüpft seid,
ihr, deren Metamorphose ich Schritt für Schritt verfolgt habe,
derentwegen ich nachts hochfuhr in der Angst, den Moment zu
verpassen, wenn die Nymphe ihre Windeln zerreißt, wenn der Flügel
aus dem Etui kommt! Ihr habt mich so vieles gelehrt und selbst
nichts gelernt, denn ihr wisst ohne Lehrer alles, was ihr wissen
müsst. Oh, meine schönen Grabwespen: Fliegt in diesen warmen
Sonnenschein, den die Zikaden so lieben. Zieht hin in Frieden, grabt
eure Höhlen und erhaltet eure Art, um eines Tages anderen das zu
gewähren, was ihr mir verschafft habt: einen der wenigen
Glücksmomente in meinem Leben!20
Spr.:
Wie lange hatte es gedauert, seinen Lebenstraum zu verwirklichen.
Hartnäckigkeit und nicht zuletzt die großzügige Hilfe seines
Freundes, des Philosophen John Stuart Mill, der eine Zeitlang in
Südfrankreich lebte, hatten ihm schließlich das Anwesen in
Sérignan-du-Comtat eingebracht. Das schöne alte Wohnhaus für
sich und seine Familie, den verwilderten Harmas, den Anbau mit
dem großen Arbeitszimmer und seinen Glaskästen voller
Schneckenhäuser, Vogeleier, Muscheln und Insekten, dem großen
Tisch in der Mitte mit seinen Drahtglocken für die genaue
26
Tierbeobachtung sowie dem berühmten Tischchen vor dem Kamin.
"Ma petit table, groß wie ein Schnupftuch", das ihm gerade so viel
Platz lässt, seine Feder zu führen und mit seiner feinziselierten
Schrift die Notizhefte mit den täglichen Beobachtungen zu füllen.
Systemen und Theorien gegenüber zurückhaltend, vertraut er lieber
dem, was sich deutlich erkennbar vor seinen Augen abspielt. Die
einzelnen Phasen im Lebenszyklus seiner Insekten, das Kommen
und Gehen ganzer Generationen, ihr unbeirrbar gleichbleibendes
Tun und Treiben. – Ein Verhalten freilich am "Gängelband" der
Natur, wie es bei Goethe heißt. So sehr Fabre von den instinktiven
Fähigkeiten der Tiere fasziniert ist –
1. Zit.
"Für den Instinkt ist nichts unmöglich, so schwierig das Problem auch
sein mag" -,
Spr.
so sehr beeindrucken ihn zugleich die Grenzen dieses Könnens –
1. Zit.
"Für den Instinkt ist wiederum nichts leicht, wenn irgendetwas anders
ist als sonst."
Spr.
Denn eine Sache verliert er niemals aus dem Blick: den Unterschied
zwischen "intellegentia" und "instinctus". Im Gegensatz zu seinen
jüngeren Zeitgenossen, die längst unter dem wirkmächtigen Einfluss
Darwins und seiner Lehre von der Entstehung der Arten davon
ausgehen, dass "diese beiden Fähigkeiten aller Wahrscheinlichkeit
nach denselben Ursprung haben, aus derselben Quelle fließen und
eines Wesens sind", wie der Schriftsteller und Insektenforscher
Maurice Maeterlinck in seiner Schrift "Das Leben der Termiten"
erklärt, bleiben für Fabre "intellegentia" und "instinctus" zwei
getrennte 'Konzepte'. Kein Freund davon,
27
1. Zit.
"den Menschen herunter- und das Tier hochzustufen, damit sie
schließlich zusammenkommen, das übliche System der
fortschrittlichen Theorien, die jetzt in Mode sind",
Spr.
wird er als Fazit seiner Beobachtungen stets erneut festhalten:
1. Zit.
"Welche Kluft zwischen Intelligenz und Instinkt!"
Spr.
Welch ein Unterschied zwischen intelligentem Tun, frei und spontan
auf veränderte Umstände antworten zu können, und dem bloßen
Getriebensein instinktiven Verhaltens, das, wird es in seinem
gewohnten Gang unterbrochen, mechanisch und unnütz ins Leere
hinein weitermacht. Entfernt man etwa das halbfertige Nest einer
Mörtelbiene, wird sie beim Zurückkommen, anstatt den Bau von
Neuem anzufangen, dort weiterarbeiten, wo sie aufgehört hat, wird
das letzte Klümpchen Mörtel als Verschlusskappe auf eine Kammer
setzen, die überhaupt nicht vorhanden ist, und befriedigt von dannen
fliegen in dem 'Glauben', aufs Beste für ihre Nachkommenschaft
gesorgt zu haben.
1. Zit.:
Durch einen seltsamen Widerspruch, der für die instinktiven
Fähigkeiten typisch ist, gehen großes Wissen mit ebenso großem
Unwissen einher. Bei der Herstellung ihrer sechseckigen Zellen mit
einem Boden aus drei Rauten löst die Biene mit absoluter Präzision
das komplizierte Problem von Maximum und Minimum, das nur
Menschen mit hoher mathematischer Intelligenz bewältigen. Die
Hautflügler, deren Larven von Beute leben, haben bei ihrer
mörderischen Kunst Methoden, zu denen selbst ein in den
Geheimnissen der Anatomie und Physiologie bewanderter Mensch
kaum in der Lage wäre. Das Insekt, das uns durch seine Fähigkeiten
28
erstaunt, verblüfft uns einen Moment später durch seine Dummheit
bei einer ganz einfachen Sache, die aber für es ungewohnt ist. 21
Spr.:
Welch eine Kluft zwischen Intelligenz und Instinkt! Ein entschiedener
Gegner Darwins stehen für Fabre Getrenntheit und Konstanz der
Arten außer Frage. Die "präetablierte Ordnung der Dinge", wie er
schreibt, die allem zeitlichen Wandel entzogen ist. Denn für ihn liegt
die Schöpfung außerhalb der Zeit, während für Darwin Schöpfung,
d.h. das Entstehen der Arten, ein Geschehen innerhalb der Zeit
darstellt. Daher Darwins Augenmerk auf die allmählichen Übergänge
und den Wandel der Arten, wohingegen für Fabre allein die
Annahme ihrer unwandelbaren Gestalt Sinn ergibt.
1. Zit.:
Hat das Insekt seine Gewandtheit nach und nach, von Generation zu
Generation erworben, in endlosen zufälligen Versuchen und blindem
Tasten? Kann aus dem Chaos solche Ordnung, aus dem Zufall
solche Voraussicht, aus dem Stumpfsinn solche Weisheit
hervorgehen? Ist die Welt, vom ersten Eiweißatom, das zu einer
Zelle koagulierte, den Verhängnissen der Evolution ausgeliefert,
oder wird sie von einer Intelligenz regiert? Je mehr ich sehe, je mehr
ich beobachte, desto stärker erstrahlt diese Intelligenz hinter dem
Geheimnis der Dinge.22
Spr.:
Fabre wird es mit dieser Überzeugung bewenden lassen, die es ihm
erlaubt, sich ganz in das Wirkungsfeld dieser Strahlkraft zu begeben.
Einer Kraft, die er nicht erklären kann und auch nicht erklären will,
deren sichtbares Wirken er jedoch exemplarisch mit Blick auf das
Leben der Insekten zu beobachten und zu beschreiben vermag.
Rund dreißig Jahre lang hat er sich dieser Tätigkeit gewidmet,
draußen in seinem Harmas und an seinem winzigen Arbeitstisch, an
29
dem in kontinuierlicher Folge die zehn Bände seiner "Souvenirs"
entstehen. Den letzten Band beendet er 1907, im Alter von bereits
84 Jahren, acht Jahre vor seinem Tod. Im neunten Band seiner
"Erinnerungen" findet sich eine Huldigung an seinen Tisch, "ma petit
table", der ihn seit seiner Studienzeit begleitet. Eine Ecke der
Arbeitsplatte ist inzwischen abgebrochen, deren Bretter beginnen
sich zu trennen, vom Messer gekerbt und tintenbekleckst sind aber
mit der Zeit dieser Tisch, Fabres Leben, sein Werk und das Leben
seiner geliebten Insekten auf wundersam sinnfällige Weise zu einem
einzigartigen Biotop zusammengewachsen.
1. Zit.:
Kleine, armselige Tischplatte, mehr als ein halbes Jahrhundert bin
ich dir treu geblieben. Von Zeit zu Zeit höre ich den Hobelschlag des
Holzwurms, des Ausbeuters alter Möbel. Von Jahr zu Jahr bohrt er
neue Gänge und nimmt dir etwas von deiner Festigkeit; die alten
münden mit kleinen runden Löchlein ins Freie. Ein Fremdling, ein
anderes Insekt, bemächtigt sich ihrer, ausgezeichnete Wohnstätten,
die sie sind, und ohne eigene Mühe errichtet. Ich sehe den Kühnling
wohl, wie er mir während des Schreibens unter dem Ellbogen
hindurchschlüpft und in dem vom Holzwurm verlassenen Tunnel
verschwindet. Ganze Völkerstämme beuten dich aus, lieber alter
Tisch, ich schreibe auf einem Gewimmel von Getier. Doch keine
Unterlage passt besser, um darauf die Erinnerungen eines
Insektenforschers niederzuschreiben.23
30
1
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, II, Aus dem
Französischen von Friedrich Koch, Matthes & Seitz Berlin, 2010, 7f.
2
Jean-Henri Fabre, a.a.O., 9ff, und ders., Das offenbare Geheimnis, Aus dem
Französischen übertragen von Kurt Guggenheim, Artemis Verlag Zürich, 1961, 15ff.
3
Jean-Henri Fabre, zitiert aus: Kurt Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, Die
Begegnung mit J.-H. Fabre, Artemis Verlag Zürich, 1959, 201.
4
C. Plinius Secundus d.Ä., Naturkunde, Buch XI, Zoologie: Insekten,
herausgegeben und übersetzt von Roderich König, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Darmstadt, 1990, 19f.
5
Jean-Henri Fabre, zitiert aus: Kurt Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, a.a.O.,
186.
6
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, II, a.a.O., 8f.
7
Ernst Jünger, Subtile Jagden, Ernst Klett Verlag Stuttgart, 1967, 42f.
8
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, I, Aus dem
Französischen von Friedrich Koch, Matthes & Seitz Berlin, 2010, 38f.
9
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, I, a.a.O., 46.
10
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, I, a.a.O., 63.
11
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, I, a.a.O., 87f.
12
Seneca, An Lucilius. Briefe über Ethik, Brief 121, Philosophische Schriften, Vierter
Band, Übersetzt von Manfred Rosenbach, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Darmstadt, 1984, 813.
13
Jean-Henri Fabre, zitiert aus: Kurt Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, a.a.O.,
94.
14
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, II, a.a.O., 243f.
15
Jean-Henri Fabre, Das offenbare Geheimnis, a.a.O., 289f.
16
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, II, a.a.O., 124.
17
Kurt Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, a.a.O., 203.
18
Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, aus dem
Französischen von Rudolf Boehm, Walter de Gruyter & Co. Berlin, 1966, 43.
19
Ernst Jünger, Subtile Jagden, a.a.O., 136f.
20
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, I, a.a.O., 104f.
21
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, I, a.a.O., 147f.
22
Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, II, a.a.O., 89.
23
Jean-Henri Fabre, zitiert aus: Kurt Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, a.a.O.,
153f.
31
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