ETA Hoffmann, der Künstler

Werbung
68622424
Seite 1 von 64
Ton van der Steenhoven
Des Vetters Eckfenster
E.T.A. Hoffmanns poetologisches Testament
Wohnhaus E.T.A. Hoffmanns Taubenstraße, Ecke Charlottenstraße
Fotografie, 1914 (kurz vor dem Abriss des Hauses), von Friedrich Albert Schwartz
Cursus:
Scriptie/afstudeerproject (200401058)
Periode:
2007/4
Docente:
Jattie Enklaar
Student:
Ton van der Steenhoven (0378399)
68622424
Seite 2 von 64
Ton van der Steenhoven
Inhaltsverzeichnis
E.T.A. Hoffmann, der Künstler ........................................... 3
Hoffmanns Werkzeuge ......................................................... 6
Das Serapionistische Prinzip und Callots Manier .................................................................. 9
Das neue Schauen................................................................................................................. 13
Malerische Elemente ............................................................................................................ 19
Panorama .............................................................................................................................. 21
Fernglas ................................................................................................................................ 22
Physiognomie ....................................................................................................................... 24
Gattung und Strömung ...................................................... 25
Raum und Zeit .................................................................... 30
Des Vetters Wohnung .......................................................................................................... 30
Der Markt ............................................................................................................................. 31
Raum und Zeit: ein Gesamtbild ........................................................................................... 34
Die Vettern .......................................................................... 38
Der Ich-Erzähler ................................................................................................................... 38
Der Vetter ............................................................................................................................. 41
Eine künstlerische Krise ..................................................... 43
Die Beseitigung der Krise .................................................................................................... 51
Isolation und Produktivität ................................................................................................... 56
Schlussfolgerung ................................................................. 59
Literatur .............................................................................. 63
Abstrakt
Der Ich-Erzähler besucht seinen Vetter in seiner Wohnung mit dem Eckfenster am Gendarmenmarkt in
Berlin. Der Vetter ist ein einsamer, isolierter an sich selbst zweifelnder Schriftsteller, dazu noch teilweise gelähmt und seine Lebenskraft versiegt; er ist todeskrank. Auch sein Geist ist desorganisiert, der Gedanke selbst war verstoben und verflogen, ehe sie auf dem Papier erscheinen konnte, sodass er nicht
mehr schöpferisch tätig sein kann.
Anhand des Geschehens auf dem Markt versucht er dem Ich-Erzähler die Primizien der Kunst zu schauen beizubringen. Während dieser Lektion fügt er dem Begriff Schauen in drei Stufen eine neue Dimension zu. Dabei gebraucht er damals moderne Werkzeuge und Begriffe wie Panorama, Fernrohr und Physiognomie.
Hoffmann hat in dieser Erzählung sein poetologisches Konzept, das Serapionistische Prinzip, weiter
herausgearbeitet. Die Erzählung ist eine Kette von fast realistischen Wahrnehmungen der wirklichen
Welt, wobei das wirkende schaffende Leben, welches zur äußeren Form gestaltet aus ihm selbst hinaustritt und sich mit der Welt befreunden kann.
In diesem Aufsatz wird versucht, Hoffmanns „neues Schauen“ mit der Beschreibung des großstädtischen Lebens der Moderne zu verbinden. Die Autoren der Moderne, wie Joyce, Proust, Musil und Döblin, haben diese Sehensart bis im höchsten Grade verfeinert. Die Zeit, als man die gesellschaftlichen
Realitäten ignorierte, war vorbei. Hoffmann ist mit “Des Vetters Eckfenster“ deutlich ein Wegbereiter
der Moderne.
68622424
Seite 3 von 64
Ton van der Steenhoven
E.T.A. Hoffmann, der Künstler
Er war Dichter, Maler, Zeichner, Komponist, Musikdirektor und Kapellmeister, Jurist, Richter
am Berliner Kammergericht und Genie, keiner war vielseitiger begabt und interessiert, aber
auch zerrissener als dieser kleine, körperlich schwächliche E.T.A. Hoffmann (1776-1822). Er
hat sich seit seiner Jugend vor allem der Musik gewidmet, aber er ist letztendlich als romantischer Erzähler berühmt geworden mit fantastischen, märchenhaften Erzählungen, die in Horrorszenarien à la Edgar Allen Poe endeten (Poe verehrte Hoffmann). Seine ersten musikalischen Kompositionen stammen aus seiner Zeit als Rechtsreferendar (eine Sinfonie, Klaviersonaten und Lieder). Die Chance zu einer Karriere in der Musik ergab sich am Bamberger
Theater, wo er 1808 eine Stelle als Kapellmeister übernahm. Als die erste Opernaufführung
scheiterte, musste er für seinen Lebensunterhalt auf Privatunterricht zurückfallen und sich in
sein Poetenstübchen in seiner Wohnung am heutigen Schillerplatz zurückziehen. Dort entstanden die ersten großen Erzählungen. Fantasie und Wirklichkeit gehen in diesen Texten
stets ineinander über, ein romantischer Zug seines Schreibstils, der auch realistische und satirische Tendenzen aufweist.
Der erste Band mit fantastisch-skurrilen Erzählungen erschien 1814 in Bamberg (Fantasiestücke in Callots1 Manier), einige Monate, nachdem der Autor die Stadt bereits wieder verlassen
hatte, um wiederum Kapellmeister zu werden. Auch dieser Versuch war ohne Erfolg, und
Hoffmann beschloss, seine Zukunft im Rechtswesen zu suchen. Er wurde ein angesehener
Kammergerichtsrat in Berlin. Hier schuf er den größten Teil seiner literarischen Werke wie
Serapionsbrüder, Kater Murr und Elixiere des Teufels. Die Periode in Bamberg hatte jedoch
manche Spuren hinterlassen. Vor allem gehen zwei Opern auf diesen fünfjährigen Aufenthalt
zurück: Aurora und Undine. Sie sind während Hoffmanns Berliner Zeit mit großem Erfolg
aufgeführt worden. Auch heute ist Musik von Hoffmann immer noch auf CDs erhältlich; leider ist aber viel Blattmusik, unter denen einige Lieder, im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Den Opernbesuchern ist er durch Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen noch heute ein Begriff.
1
Jacques Callot (~1592-1635) französischer Zeichner und Radierer. Arbeitete im frühen Barockstil in Italien
und Frankreich, u.a. für die Commedia dell’Arte. Inspirierte u.a. Rembrandt. Sein Stil hat Direktheit und Intensität. Er radierte das Alltagsleben, zumal die Nachtseite der Gesellschaft.
68622424
Seite 4 von 64
Ton van der Steenhoven
Als Zeichner und Karikaturist ist ihm die Anerkennung lange versagt geblieben, obwohl er
seine eigenen Werke mit vielen Illustrationen versehen hat. Man denke nur an Johannes
Kreisler, den wahnsinnigen Musiker, der in verschiedenen Texten auftritt.
E.T.A. Hoffmann hat sich als romantischer Künstler vor allem als Dichter und Musiker ausgezeichnet. Musik war für ihn die höchste aller Künste, und es war sein tiefster Wunsch, sich
als Künstler mit seinen Kompositionen (besonders „Undine“) durchzusetzen. Dass es nicht
dazu kam und er heute als romantischer Schriftsteller zur Weltliteratur zählt, verdanken wir
einer Kette von Zufällen und Umständen, die in Bamberg ihren Anfang nahm. In Bamberg
knüpfte er Beziehungen zur Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung an, die ihn als Rezensenten und Musikschriftsteller einstellte und fand er seinen ersten literarischen Verleger
(Carl Friedrich Kunz). Aus Bamberg stammen die Themen und Stoffe, auf die er als Schriftsteller immer wieder zurückgegriffen hat. Dazu gehört nicht nur die von ihm idealisierte dreizehnjährige Gesangschülerin Julia Mark, die fortan als Inbegriff der „Liebe des Künstlers“ in
immer neuen Variationen durch sein Werk geistert, sondern auch das Philistererlebnis, die
Einsicht in den schwer zu überbrückenden Gegensatz zwischen den realistischen Spießbürgern und den realitätsfernen Künstlern. Auch hatte er in Bamberg die Möglichkeit Informationen und Erfahrungen aus der Medizin und der Psychologie kennenzulernen: die zeitgenössischen Theorien über den Traum, die Heil- und Behandlungsmethoden des Magnetismus, des
Somnambulismus und der Hypnose, die Frage, wie die Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität verläuft, die ihn sein Leben lang beschäftigt hat - das alles wurde ihm in Bamberg
durch damals weitberühmte Mediziner wie Marcus und Speyer nahe gebracht.2
In Berlin stehen zwei Denkmäler des großen Dichters. An der Ecke Charlotten-/ Taubenstraße
weist eine Tafel auf seine übergroße Liebe für Lutter & Wegner hin, wo er allein (selten) oder
im Kreise seiner Anhänger (häufiger) oder mit seinem besten Freunde, dem Schauspieler
Ludwig Devrient (fast täglich) zechte. Seine letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster, diktierte
der todkranke, aber immer optimistische Dichter, schon im Rollstuhl, an seinem Fenster zum
Gendarmenmarkt sitzend:
[…] dass er einem Schreiber, der zugleich Krankenwärterdienste versah, und deshalb
immer um ihn war, diktierte, da nun eine totale Lähmung der Hände sich eingefunden
hatte; und diese Beschäftigung ergötzte ihn so sehr, dass er eines Tag gegen Hitzig
äußerte: „Er wolle es sich schon gern gefallen lassen, dass er an Händen und Fußen
2
Quelle: Segebrecht: §1
68622424
Seite 5 von 64
Ton van der Steenhoven
gelähmt bliebe, - wenn er nur die Fähigkeit behielte, fort und fort diktando zu arbeiten.3
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich der Universalkünstler Hoffmann nicht nur darin
unterscheidet, dass er in mehreren Kunstgattungen bedeutende Kunstwerke schuf, sondern
dass er die verschiedensten Ausdrucksmittel auch virtuos beherrschte.
Er schrieb viele bedeutende Kunsterzählungen, wie Don Juan und Rat Krespel und er war mit
dem Goldenen Topf der Autor eines fantasievollen und hintergründigen Märchens, mit dem
Fräulein von Scuderi eine der ersten Detektivgeschichten. Er blickte in die Abgründe der Seele, wie es Der Sandmann zeigt und wurde zum Vorbild psychologischer Analysen; er war ein
vielseitiger romantischer Künstler und ein scharfsinniger Musikkritiker, der zum Beispiel als
einer der ersten Beethovens Genie erkannt hat. Hoffmanns Werk bildet in dem Jahrhundert
zwischen Goethe und Thomas Mann einen bedeutenden Beitrag zur Weltliteratur.
Wenn wir die deutsche Literaturgeschichte seit Goethes Tod 1832 betrachten, ist es evident,
dass Goethes und Schillers Werke zur europäischen – und damit zur Weltliteratur gehören.
Dazu gehören im 19. Jahrhundert jedoch noch zwei andere Namen aus dem deutschen
Sprachgebiet: Heinrich Heine und E.T.A. Hoffmann. Ihre Namen weisen auf eine neue Wendung in der Entwicklung des Bürgertums zu Kunst und Literatur hin. Schon im Goldnen Topf
weist Hoffmann uns den Weg zur Moderne. Das Leben als Künstler ist in der bürgerlichen
Gesellschaft nur möglich als ein Doppelleben. Anselmus führt ein armseliges Leben in Dresden, aber er besitzt, wie Lindhorst erklärt, ein Rittergut in Atlantis. Der Schluss des Goldnen
Topfs lautet: Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der
Poesie […]? Das heißt ein Leben außerhalb der Wirklichkeit, indem Kunst als Gegenwelt
verstanden wird. „Das wird hier zum ersten Mal in grandioser Form in Hoffmanns Erzählung
aus dem Dresden von 1809 erläutert“.4 In gewisser Hinsicht kann man Richard Wagner auch
zur Weltliteratur rechnen; Wagner selbst hat seine schriftlichen Werke, inklusiv die Libretti
seiner Opern, zu der Literatur gezählt. Wagners Tannhäuser ist ein merkwürdiges Gebilde aus
Hoffmanns und Heines Ideengut. Im ersten und dritten Akt findet sich das Gedicht Der Tannhäuser aus Neue Gedichte von Heinrich Heine, in dem der Tannhäuser wieder von der Oberwelt zur Frau Venus zurückkehrt. Der Wartburg-Akt entspricht Hoffmanns Der Kampf der
Sänger, einer Erzählung aus dem zweiten Band der Serapionsbrüder. Nachdem Baudelaire,
3
4
Hitzig: aus Hoffmanns Leben und Nachlass
Mayer: S.8
68622424
Seite 6 von 64
Ton van der Steenhoven
dessen Name mit den Anfängen der Moderne verbunden wird, Richard Wagners Tannhäuser
gesehen hatte, schrieb er ihm:
Ich habe das alles erlebt und ich muss Ihnen sagen, ich war sehr tief bewegt. Ich hatte
das Gefühl, dass alles, was ich gehört und gesehen habe, mein war. Dass ist meine
Welt und die haben Sie gestaltet. Ich habe mich in Ihnen wiedererkannt.5
Bei Hoffmann beginnt ein Zweifel an den Voraussetzungen der Literatur des Bürgertums:
Goethe hat das sehr genau gespürt; er konnte Hoffmann nicht ausstehen. Es öffnet sich der
Abgrund mitten im bürgerlichen Wohnzimmer. Inmitten der Bürgerwelt erhebt sich eine Gegenwelt, und die Kunst allein ist fähig, sie sichtbar zu machen.
Hoffmanns Bedeutung für die Kunst des 19. Jahrhunderts ist evident. Tschaikowskis Nussknacker, Offenbachs Contes d’Hoffmann, die Wirkung Hoffmanns auf Wagner, Schumanns
Fantasiestücke und Kreisleriana, die Integration dieser Fantasiestücke in Mahlers erste Symphonie, 3. Satz (der durch ein Bild von Jacques Callot inspiriert ist)6 beweisen es.
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, der eigentlich Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann hieß,
den dritten Vornamen aber zugunsten des von ihm vergötterten Mozarts in Amadeus änderte,
wurde nur 46 Jahre alt. Er starb 1822 und liegt - bewundert bis heute - auf dem JerusalemKirchhof am Halleschen Tor in Berlin. Dort allerdings unter seinem Geburtsnamen: E.T.W.
Hoffmann.
Hoffmanns Werkzeuge
Es ist ein Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes. (Des
Vetters Eckfenster S. 1066)
Dieses Fenster auf die Welt und ein Auge, welches wirklich schaut, sind die „Werkzeuge“,
womit Hoffmann die Welt und seine Mitbürger beobachtet hat. Auch die Künstlerfiguren in
seinen Werken wie Rat Krespel und Lebensansichten des Kater Murr hat er mit diesen Werkzeugen gerüstet. In Des Vetters Eckfenster sieht Hoffmann die Möglichkeit einer Sichtbarma5
Zitiert nach: Mayer, S. 8
Mahler, 1. Symphonie, 3. Satz: Gestrandet. Ein Totenmarsch in Callots Manier. Die äußere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Süddeutschland allen Kindern wohlbekanntes parodistisches Bild
„Des Jägers Leichenbegängnis“ aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Tiere des Waldes geleiten den Sarg
des verstorbenen Försters zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Kapelle böhmischer Musikanten,
begleitet von musizierenden Katzen, Unken, Krähen usw. und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und
gefiederte Tiere des Waldes geleiten in possierlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als
Ausdruck einer bald ironisch lustigen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht, auf welche dann sogleich
den 4. Satz: Dall Inferno al Paradiso (Allegro furioso) folgt, als der plötzliche Ausdruck eines im Tiefsten verwundeten Herzens.
6
68622424
Seite 7 von 64
Ton van der Steenhoven
chung des wahren Zusammenhangs in der Reduktion; diese Methode erinnert an die eines
Detektivs. Mit soliden Kenntnissen der Physiognomie ausgerüstet, beobachtet er den aufgespürten Exzentriker auf dem Markt, vergewissert sich all seiner Gewohnheiten, kennt seine
Kleidung, folgt ihm längere Zeit, bildet sich eine Meinung und analysiert sein Tun und Treiben. Erst nach Beendigung dieser Maßnahmen verarbeitet er das alles in seiner Fantasie und
schafft eine oder mehrere Geschichten um diese Person.
Hoffmann bleibt Voyeur, argwöhnischer Zeuge eines Panoptikums an bürgerlichen Missgestalten, das er freilich wie in Kindertagen durch einen vergrößernden Kristall betrachtet. […]
nie aber zum Moralisten. Das Verderben schwebt über mir und ich kann’s nicht vermeiden.7
Den Zeitgenossen sind Hoffmanns Augen schon aufgefallen. Sein stechender Blick, dem
nichts entging, war berühmt und gefürchtet. Dieser Blick brachte Sachen ans Licht, die man
geheimhalten wollte oder derer man sich überhaupt noch nicht bewusst war: Hoffmann hatte
das Vermögen, die Nachtseiten der menschlichen Existenz, die verborgenen Abgründe der
Seele und die Hintergründe der bürgerlichen Fassaden zu entdecken.
Hoffmann war von sehr kleiner Statur, hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe, dunkles,
beinahe schwarzes Haar, das ihm tief bis in die Stirn gewachsen war, graue Augen,
die nichts Besonderes auszeichneten, wenn er ruhig vor sich hinblickte; die aber wenn
er, wie er oft zu tun pflegte, damit blinzelte, einen ungemein listigen Ausdruck annahmen. Die Nase war fein und gebogen, der Mund fest geschlossen.8
Hoffmann, der sich immer wieder als Zeichner und Maler betätigte, fühlte sich zu den Stichen
des französischen Radierers Jacques Callot hingezogen.9 Callot betont in seinen seltsam burlesken, der Fantasiewelt entstammenden Figuren das Absonderliche und Ungewöhnliche so
sehr, dass Hoffmann sich mit seiner Schattenwelt verwandt fühlte. In seinem Aufsatz über
diesen geistesverwandten Künstler gibt er uns in einem Satz den Schlüssel für seine ganze
Kunstauffassung in die Hand:
Denn selbst in seinen aus dem Leben genommenen Darstellungen […] ist es eine lebensvolle Physiognomie ganz eigener Art, die seinen Figuren […] etwas fremdartig
Bekanntes gibt. Selbst das Gemeinste aus dem Alltagsleben […] erscheint in dem
Schimmer einer gewissen romantischen Originalität, so dass das dem Fantastischen
hingegebene Gemüt auf eine wunderbare Weise davon angesprochen wird.10
7
Schiff: S. 1
Julius Eduard Hitzig: Aus Hoffmanns Leben und Nachlass, Berlin 1986, S. 431, zitiert nach Partouche: S. 7
9
Hoffmanns Werke I: S. 58
10
Hoffmann, Jacques Callot S. 65
8
68622424
Seite 8 von 64
Ton van der Steenhoven
Auch der niederländische Kritiker, Literat und Zeichner Cornelis Veth hat sich zu Hoffmanns
Verbundenheit mit Callot geäußert, indem er zugleich auf Jeroen Bosch und Breughel hinweist. In der Einleitung zu einer niederländischen Übersetzung des Goldnen Topfes (1905)
heißt es:
Seine Märchen sind feiner, schöner, reicher als die soviel berühmteren von Hauff […],
künstlerischer als die oft didaktischen und ärmeren von Andersen sind. Es ist eine psychologische Clairvoyance in ihm, die seine fantastische Pantomime und Possenfiguren, kapriziös und frappant und originell wie die Gestalten von Breughel oder Jeroen
Bosch oder Callot präsentiert […].11
1821 erschien in La Revue de Paris eine gekürzte Fassung von Walter Scotts Du merveilleux
dans le roman12, eine Auseinandersetzung mit dem Werk E.T.A. Hoffmanns. Sir Walter Scott
nannte Hoffmann bei allen Vorhaltungen13 einen scharfen Beobachter.
Ungeachtet des bunten lärmenden Gedränges eines Marktplatzes sei Hoffmann in der
Lage gewesen, ähnlich dem scharfen Beobachter aus Des Vetters Eckfenster, inmitten
des Kriegsgewühls bei der Bombardierung von Dresden eines hungernden Kindes gewahr zu werden, für das kein Anderer sonst ein Auge gehabt hätte. Sofort eilte er, dem
Mädchen Pflaumen zu schenken. Allein die sich daraus ergebende Zwangsvorstellung
Hoffmanns, er habe das Mädchen vielleicht mit jenen ominösen Pflaumen vergiftet,
diese paranoide Gedankenkombination, nennt Scott eine Absurdität.14
Man mag sich fragen, warum der schon längst mit Ruhm gesegnete Verfasser, der Vater des
historischen Romans, seinen ganzen Eifer einem noch wenig bekannten, seiner eigenen Meinung nach nicht ernstzunehmenden, irrsinnigen Autor verschwendet? Es ist höchst verwunderlich, dass Scott Hoffmanns Erzählungen am Maßstab des historischen Romans beurteilt.
Noch erstaunlicher ist die Parteilichkeit, mit der er den stets um Gerechtigkeit bemühte Hoffmann an den Pranger stellt. Auch steht sein vehementer Tonfall im Widerspruch zu dem
maßvollen, ausgewogenen Wesen seiner Romane. Bei einem solchen heftigen Versuch der
Distanzierung drängt sich der Verdacht auf, Scott stößt in Hoffmann auf die verdrängte Seite
seines eigenen Wesens. Hoffmann entgeht hingegen seine Verwandtschaft mit Walter Scott
nicht. Hoffmann, der das geschichtlich Wahre, die Verankerung in der Realität als Grundlage
fantastischer Wirksamkeit und die Konstruktion einer Geschichte als notwendiges Mittel fan-
11
Zitiert nach Koning: S. 27
Walter Scott: On the supernatural in fiction compositions
13
Partouche, S. 6: „Hoffmann sei geistesgestört, sein Werk nichts als das traurige Zeugnis fieberhafter Anfälle.
Seine Erzählungen ließen jeglichen Zusammenhang, jede Regelhaftigkeit und Ordnung vermissen“.
14
Zitiert nach Partouche: S. 9
12
68622424
Seite 9 von 64
Ton van der Steenhoven
tastischer Effekte sieht, überträgt hier das eigene Prinzip auf Walter Scott, den er zum fantastischen Autor umdeutet. Scott deutend, bedient sich Hoffmann eines Vokabulars, welches für
Hoffmanns eigene Prinzip des Fantastischen angewendet wird. So wird in Der Zusammenhang der Dinge Walter Scotts besondere Fähigkeit gelobt, plastische und fantastische Figuren
zu gestalten:
Dabei besitzt Scott eine seltene Kraft mit wenigen starken Strichen seine Figuren so
hinzustellen, dass sie alsbald lebendig herausschreiten aus dem Rahmen des Gemäldes und sich bewegen in dem eigentümlichsten Charakter […] die (er) wie durch einen
Zauberschlag (und) mit wenigen starken Strichen (ins Leben zu rufen vermöge).15
Daraus ließe sich schließen, dass Scotts lange Tirade gegen Hoffmann eine unbewusste Abrechnung mit dem latent Fantastischen des eigenen Schreibens darstellt. Er erkennt in Hoffmann etwas, wovor er sich fürchtet, das er aber dazu braucht, sein eigenes Ideal (die historisch verbürgte, Zusammenhang stiftende narrative Großkonstruktion) umso schärfer davon
abzusetzen. Damit fügt Scott seiner Neigung zur versteckten Selbstanklage eine neue Variante
hinzu: „Hatte er bisher oft in Artikeln unter Pseudonym seine eigenen Werke kritisiert16, so
hinterfragt er sich nun in eigenem Namen, aber an einem fremden vorgeschobenen Ersatzobjekt [Hoffmanns Werke]“17.
Das Serapionistische Prinzip und Callots Manier
In dem einleitenden Aufsatz Jacques Callot der Fantasiestücke in Callots Manier erklärt
Hoffmann dem Leser, warum er in Callots Manier gearbeitet hat. Er meint damit offensichtlich mehr als das zeichnerische Oeuvre des Grafikers; wichtiger scheint ihm Callots Blick auf
die Welt zu sein:
Denn selbst in seinen aus dem Leben genommenen Darstellungen […] ist es eine lebensvolle Physiognomie ganz eigner Art, die seinen Figuren, seinen Gruppen […] etwas fremdartig Bekanntes gibt. – Selbst das Gemeinste aus dem Alltagsleben […] erscheint in dem Schimmer einer gewissen romantischen Originalität, sodass das dem
Fantastischen hingegebene Gemüt auf eine wunderbare Weise davon angesprochen
wird. (S. 65)18
Hoffmann: Die Serapionsbrüder Bd 4 – Der Zusammenhang der Dinge: Euchars Rückkehr
Partouche, Fußnot 24: „Die 1817 unter Pseudonym erschienene Kritik an seine eigenen Werke weist überraschende Ähnlichkeiten mit seiner Anklageschrift gegen Hoffmann auf. Dort lobt er die eigenen, dem Leben
entnommenen Charakterzeichnungen, wohingegen er die Konstruktion seiner Romane als schwach bezeichnet.“
17
Partouche: S. 13
18
Hoffmann: Jacques Callot, Bd. I, S. 65
15
16
68622424
Seite 10 von 64
Ton van der Steenhoven
Jacques Callot,
Unterschiedliche Zwergenfiguren 1622
Kupferstich, aus einer Folge von 21 Kupferstichen mit Zwergendarstellungen
Quelle: www.a-vela.de/bilder/a040912karikaturen.jpg
Diese Interpretation befriedigt Hoffmanns Leidenschaft, seine Aversion gegen das Normale
ins Grotesk-Komische steigern zu lassen.19 Der Dichter richtet sich also nicht an die Natur,
die Menschenwelt oder die eigenen Lebenserfahrungen, sondern lässt sich von Callots grotesken Figuren inspirieren:
Warum kann ich mich an deinen sonderbaren fantastischen Blättern nicht satt sehen,
du kecker Meister! – Warum kommen mir deine Gestalten, oft nur durch ein paar kühne Striche angedeutet, nicht aus dem Sinn? – Schaue ich deine überreichen, aus den
heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen lange an, so beleben sich die
tausend und tausend Figuren, und jede schreitet, oft aus dem tiefsten Hintergrund, wo
es erst schwer hielt, sie nur zu entdecken, kräftig und in den natürlichsten Farben
glänzend, hervor.20
19
20
Schiff: S. 6
Hoffmann: Jacques Callot, Bd. I, S. 65
68622424
Seite 11 von 64
Ton van der Steenhoven
Als Kunstenthusiast und Künstler variiert und interpretiert er und schafft so ein neues Kunstwerk. Das ist Callots Manier: Die Striche und Farben des Malers, die Kompositionen des Musikers werden mit den Figuren des Dichters verbunden. Alle Künste: Musik, Malerei und Literatur sind an diesem zweiten Leben beteiligt. Es geht ihm um die Vermischung der Künste.
Das ist sein Programm:
Kein Meister hat so wie Callot gewusst, in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die ohne den Blick zu verwirren, nebeneinander […]
heraustreten, sodass das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen
sich anreiht.21
Ein wahnsinniger Einsiedler, der im Wald lebt und sich für den Märtyrer Serapion 22 hält, wird
auf Wunsch seines Verlegers zum Namensgeber für ein literarisches Quartett der Fantasten:
Zunächst sind es vier, später sechs Freunde, die sich als Serapions-Brüder23 bei abendlichem
Treffen in einer Berliner Stadtwohnung ihre selbst verfassten Erzählungen und Märchen vorlesen. Hoffmann wählte diese Rahmenhandlung für eine Sammlung von Texten, die er zwischen 1814 und 1821 schrieb und unter dem Titel Die Serapions-Brüder veröffentlichte. Der
Erzählung des Einsiedlers Serapion entstammt auch das serapiontische Prinzip, in dem der
Dichter als Mittler, zwischen Wahn und Wirklichkeit, Geist und Seele, Menschlichem und
Unmenschlichem auftritt. Dieses Prinzip ist für Hoffmanns Auffassung vom Wesen und von
den Aufgaben der Dichtung von zentraler Bedeutung und verlangt von den Dichtern, dass sie
das, was sie als Dichtung ins äußere Leben tragen (auch) wirklich geschaut24 haben müssen.
Zusammenfassend stellt das serapiontische Prinzip den künstlerischen Schaffensprozess in
zwei Stufen dar. In der ersten Phase wird die äußere Wirklichkeit genau registriert, während
in der zweiten Phase der Künstler das Ergebnis des Sehens nachahmt, oder es mithilfe der
Einbildungskraft, mehr oder weniger in freier Fantasie, zum Kunstwerk erhebt.25 Hoffmann
verwendet dieses Prinzip oft, um darzulegen, dass ein scheinbar in der „normalen“ Wirklichkeit lebender Mensch zugleich in einer anderen, fantasiereichen Welt lebt, eine Situation, die
sein „normales“ Leben beeinflussen kann.
21
Hoffmann: Jacques Callot, Bd. I, S. 65
Namensgeber der Bruderschaft ist weniger Serapion, ein Heiliger des 4. Jahrhunderts, der in der Libyschen
Wüste in strenger Askese lebte. Vielmehr wird der Name von einem Wahnsinnigen abgeleitet, der sich viele
Jahrhunderte später selbst für den Heiligen Serapion hält, und zwischen Vision und Wirklichkeit nicht mehr
unterscheiden kann. Seine Geschichte bildet den Auftakt der Sammlung.
23
Der fiktive Bund der Serapionsbrüder ist nicht zu verwechseln mit dem real existierenden Freundeskreis
Hoffmanns, der sich ebenfalls „Serapionsbrüder“ nannte.
24
Hoffmann: Die Serapionsbrüder, Erster Band, Serapionsgespräch zwischen Rat Krespel und Die Fermate
25
Vgl. Japp: S. 67. „Das serapiontische Prinzip lautet: Der Dichter soll das wirklich schauen bzw. geschaut haben, wovon er spricht. Der problematische Terminus ist hierbei zweifellos das Schauen, das im Grunde einen
metaphysischen Vorgang bezeichnet.“
22
68622424
Seite 12 von 64
Ton van der Steenhoven
Die Serapiontik Hoffmanns ist eine Umschreibung seines Dichtertums: seiner Auffassung von Kunst und seiner dichterischen Darstellung dieser Auffassung.26
Es geht im Prinzip um eine „allem bloßen Sehen überlegene innig imaginative Schau“. 27 Dieses Prinzip ist eine Ergänzung zu Callots Manier: Die Fantasie behält das elementare Recht
beim Lebendigmachen der Bilder. Es ist die Theorie des „inneren Schauens“. In einem Brief
an Symanski, den Herausgeber der Zeitschrift Der Zuschauer hat Hoffmann 1820 dieses Prinzip bestätigt:
Sie fordern, verehrtester Herr! mich auf; an der Zeitschrift, die Sie unter dem Titel
,,der Zuschauer" herauszugeben gedenken, mitzuarbeiten. Mit Vergnügen werde ich
Ihren Wunsch erfüllen, um 50 mehr, als der wohlgewählte Titel [Ihrer Zeitschrift]
mich an meine Lieblingsneigung erinnert. Sie wissen es nämlich wohl schon wie gar
zu gern ich zuschaue und anschaue, und dann schwarz auf weiß von mir gebe, was ich
eben recht lebendig erschaut. - Von etwas anderm, meine ich, als von dem, dessen Anschauung in vollkommner Gestalt im Innern aufgegangen, könne man auch gar nicht
so sprechen, dass die Leute es ebenso lebendig erblicken, zu denen man spricht. [...]
ich denke [...]: dass da die innern Augen, deren Blick die dichterische Anschauung
bedingt, eben so gut im Kopfe sitzen wie der Verstand, der heilige Serapion [...] immer
den unwandelbar treuen ehelichen Bund vorausgesetzt hat, in dem beide, Verstand
und Phantasie bleiben müssen, wenn etwas Ordentliches herauskommen soll. - Ich
bleibe bei diesem Prinzip! 28
Durch Hoffmanns gesamtes Werk zieht sich die Frage nach dem Verhältnis von Fantasie und
Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wird einseitig dargestellt und Hoffmanns Verarbeitung der
Innenwelt führt zu Skurrilität, psychischer Krankheit und Wahnsinnserscheinungen. Gerne
bewegt sich Hoffmann in den Grenzgebieten, wo Fantasie und Wirklichkeit ineinander fließen. Kennzeichnend für seine Erzählweise ist auch der häufige Verzicht auf die Chronologie,
wie z.B. in Rat Krespel. Die Folgen sind Missdeutung und Komplikationen, sodass Krespels
Motive für sein Handeln dem Leser verborgen bleiben:
Nur der Dichter versteht den Dichter; nur ein romantisches Gemüt kann eingehen in
das Romantische; nur der poetisch exaltierte Geist, der mitten im Tempel die Weihe
empfing, das verstehen, was der Geweihte in der Begeisterung ausspricht.29
26
Müller-Seidel: S. 1006
Preisendanz: S. 49
28
Segebrecht: §2
29
Hoffmann: Don Juan, S. 121
27
68622424
Seite 13 von 64
Ton van der Steenhoven
Das neue Schauen
In Des Vetters Eckfenster wird dem Begriff „Schauen“ eine neue Dimension zugefügt. Die
Funktion des Schauens im Eckfenster steht in Hoffmanns Werk einzig da, ja es bedeutet in der
deutschen Literatur überhaupt etwas Neues. Sicher ist ebenfalls, dass sich im Ritter Gluck
eine Vorform dazu findet, die sich auch vor Eckfenster schon in (späten) theoretischen Äußerungen Hoffmanns niederschlägt.30 In Hoffmanns frühen Werken geraten Realität und Wirklichkeit in die Schwebe, im Schauen gehen Wahrnehmung und Fantasie ineinander über. Später schreibt Hoffmann sein Gespräch über Charaktergestaltung, in dem er vom Dichter verlangt, er müsse in der buntesten Welt der Stadt leben, um schauen und verstehen zu können,
aber auch müsse er die Gestalten des Lebens in ihrem tieferen Wesen erschauen. Der Brief an
Symanski enthält Hoffmanns unverminderte Hochschätzung einer Ausdruckskunst, in der es
vor allem darum geht, die „innere Welt“ möglichst unbeschädigt hervorzubringen, wobei die
sichtbare Außenwelt höchstens als „Hebel“31 wirken darf und soll, der innere Kräfte in Bewegung setzt. Ausdrücklich beharrt der Autor auf der Leistungsfähigkeit der „innern Augen“
und auf dem serapiontischen Prinzip, „nach dem man nur das lebendig und wahrhaft ans Licht
befördern kann, was man eben so im Innern geschaut […] hat“.32 Im Grunde handelt es sich
hier um Sprachkritik, insofern als der Dichter das wirklich „erschaut“ hat, wovon er spricht.
Uwe Japp weist in diesem Zusammenhang auf eine schwache Stelle hin, wenn er das „Schauen“ als problematischen Terminus erkennt, „das im Grunde einen metaphysischen Vorgang
bezeichnet“.33
Das „physische“ Schauen der Wirklichkeit rettet den Vetter im Eckfenster aus seiner Schaffenskrise und was in dem obengenannten Gespräch nur andeutungsweise erscheint, wird im
Eckfenster nicht allein ausgebaut, sondern auch praktisch vorgeführt.34 Als didaktisches Mittel verstanden, hieße es: Die Literatur soll lehren und unterhalten.35
Schauen bedeutet nicht nur „die Welt beobachten“, sondern sie mit einem „dichten, changierenden Gewebe der Fantasie“ überziehen.36 Beim Schauen wird die Wahrnehmung nicht nur
durch individuelle Sehmuster, sondern auch durch gesellschaftliche und kulturelle Vorstel-
30
Köhn: S. 210
Stadler: S.500, Fußnote 7. Die Funktion der Außenwelt als Hebel, der den Rädergang der Fantasie in Bewegung halten soll, wird immer wieder bei der Erörterung des serapiontischen Prinzips hervorgehoben.
32
Stadler: S. 500
33
Japp: S. 67
34
Köhn: S. 211
35
Horaz: De arte poetica 333, aut prodesse volunt aut delectare poetae
36
Von Matt 1971, 34, zitiert nach Kremer: S. 185
31
68622424
Seite 14 von 64
Ton van der Steenhoven
lungen und Werte kanalisiert. In Des Vetters Eckfenster gibt Hoffmann dem Prozess des
Schauens seine Grundlage in der Wirklichkeit. Dieses Schauen findet in drei Stufen statt.37
In der Wahrnehmungsphase zählt Hoffmann gleichsam einzelne Bilder auf, kleine Zeitmomente, fast ein impressionistisches Schauen:
Jetzt ist sie schon der Kirche nah – jetzt feilscht sie um etwas bei den Buden – jetzt ist
sie fort – o weh! ich habe sie verloren – nein, dort am Ende duckt sie wieder auf – dort
bei dem Geflügel – sie ergreift eine getupfte Gans – sie betastet sie mit kennerischen
Fingern. (S. 1068)
Dieses Prinzip der Reihung in staccato mit möglichst exakt erfassten äußeren Merkmalen
kennzeichnet den Stil des Ich-Erzählers als Anfänger im Schauen. Hier wird nicht, wie in anderen Erzählungen Hoffmanns, eine innere Erregung, sondern den wandernden Blick eines
Beobachters beschrieben. Allmählich fängt auch der Ich-Erzähler an, die Wirklichkeit „filmisch“ zu interpretieren:
[...] ein paar alte Weiber […] ihr ganzer Kram […] die eine hält bunte Tücher […]
sogenannte Vexierware […] die andere scheint […]. Sie haben sich gebeugt – sie zischeln sich in die Ohren usw. (S. 1069)
Ha, was für ein Geschöpf, die Anmut, die Liebenswürdigkeit selbst – aber sie schlägt
die Augen verschämt nieder – jeder ihrer Schritte ist furchtsam – wankend – schüchtern hält sie sich an ihre Begleiterin, die ihr mit forciertem Angriff den Weg ins Gedränge bahnt – ich verfolgte sie – da steht die Köchin still vor den Gemüsekörben –
sie feilscht – sie zieht die Kleine heran […]. (S. 1071)
Immer wieder wird deutlich, dass die beobachtende Instanz versucht, die Wirklichkeit bildlich
zu erfassen und zu objektivieren.
Erst in der zweiten Phase wird klar, dass die Wirklichkeit sich nicht eindeutig beschreiben
lässt. Der Ich-Erzähler kennt nur das Äußere der Wirklichkeit und damit wird der Unterschied
zu einer im wahren Sinne allwissenden Erzählweise deutlich. Die Beobachter suchen das Wesen der Erscheinungen wiederzugeben, und dabei zeigt sich, dass „Wirklichkeit“ ein relativer,
nicht-absoluter Begriff ist und dass die Welt in ihrer Sicht vieldeutig und rätselhaft bleiben
muss. Dem Vetter ist schon lange […] jener Mann aufgefallen und ein unauflösbares Rätsel
geblieben […] Vetter, hast du den Mann ins Auge gefasst? (S. 1076) Der Ich-Erzähler, der in
der Anfangsphase des Schauens steht, erwidert:
37
Köhn: S. 210
68622424
Seite 15 von 64
Ton van der Steenhoven
Allerdings! […] sechs Fuß hoher, winddürrer Mann […] kerzengerade mit eingebogenem Rücken […] kleinen dreieckigen, zusammengequetschten Hütchen […] schwarze Beinkleider, schwarze Strümpfe […]. Was mag er nur in dem viereckigen Kasten
haben, den er so sorglich unter dem linken Arme trägt […].
Auch der Vetter kennt die Antwort nicht; er weiß überhaupt nicht, wie er im geschauten Panoptikum diese Figur deuten soll:
Genug habe ich mir schon über diese exotische Figur den Kopf zerbrochen. – Was
denkst du, Vetter, zu meiner Hypothese? Dieser Mensch ist ein alter Zeichenmeister
[…] nur einem Gott opfert er – dem Bauche; – seine ganze Lust ist, gut zu essen, versteht sich allein auf seinem Zimmer; […] an Markttagen holt er […] seine Lebensbedürfnisse für die halbe Woche und bereitet in einer kleinen Küche […] selbst seine
Speisen, die er dann […] mit gierigem, ja vielleicht tierischem Appetit verzehrt […].
(S. 1077)
Der Ich-Erzähler reagiert: Weg von dem widrigen Menschen! – für den Schüler im Schauen ist
die Wirklichkeit noch absolut. Der Vetter stellt jedoch eine zweite Hypothese auf und lässt
den Mann in einem Freundschaftsbund von vier Franzosen lustig und sorgenfrei leben. So
habe ich den widrigen zynischen deutschen Zeichenmeister augenblicklich zum gemütlichen
französischen Pastetenbäcker umgeschaffen. Natürlich entsprechen diese Bezeichnungen
nicht der objektiven Wahrheit, sondern sind die subjektiven Deutungen einer möglichen
Wirklichkeit. Der Vetter hat nicht nur eine Geschichte ausgedacht, den früheren Erzählungen
Hoffmanns vergleichbar, sondern er hat gleichzeitig ein Erblicktes und Erdichtetes zusammengebracht. Diese neue Hypothese wird vom Lehrling begeistert empfangen:
Was du da herauskombinierst, lieber Vetter, mag kein Wörtchen wahr sein, aber indem ich die Weiber anschaue, ist mir, Dank sei es deiner lebendigen Darstellung, alles
so plausibel, dass ich daran glauben muss, ich mag wollen oder nicht. (S. 1070)
Die dritte Phase wird vom Vetter gegen Ende des Dialogs eingeführt. Da bevölkert er den
Markt mit einer Familie, die gar nicht anwesend ist, für den Leser jedoch, dem alles Erzählte
gleichermaßen lebendig wird, passen sie als quasi beobachtete Figuren zum Markttreiben: die
erzählte Wirklichkeit, die der Vetter skizziert und die auf der Ebene des Verfassers von
Hoffmann dargestellt wird. Der Vetter macht den Ich-Erzähler auf einige Mehlwagen und auf
die hell bepuderten Müllerburschen aufmerksam, die als weiße Flecken im bunten Farbspektrum des Marktes erscheinen. Diese wahrgenommenen weißen Flecke werden zu Leerstellen
auf dem im übrigen farbigen Markt und sie werden vom Vetter mit dem Schwarz einer Köhlerfamilie, die nicht wirklich auf dem Markt zu sehen ist, aber an die er sich erinnert, besetzt:
68622424
Seite 16 von 64
Ton van der Steenhoven
Von den weißen Mehlwagen und den mehlbestaubten Mühlknappen und Müllermädchen mit rosenroten Wangen […] kenne ich gerade auch etwas Entgegengesetztes […]
nämlich eine Köhlerfamilie […]. (S. 1082)
Zu sehen ist aber nur das Weiße, das der Ich-Erzähler durch das Fernglas sieht; der Vetter
spricht vom „entgegengesetzten“ Schwarz, das nicht zu sehen ist, sondern vom Vetter erzählt
wird. Diesem Kontrastspiel von Sehen und Erzählen, Wahrnehmen und Nichtwahrnehmen
wird im Akt des Erzählens in der zweiten Phase eine neue Dimension hinzugefügt. Es gleicht
der mathematischen Konstruktion einer sich dauernd ändernden „Ableitung“ der „Funktion“
des Wahrgenommenen, geboren aus der Differenz von Nichts und Etwas, Gesehenem und
Erzähltem, dem Schwarzen und dem Weißen: Schwarz auf weiß – das ist aber auch „die Spur
der Schrift auf dem Papier!38 Genau das hatte ja Hoffmann schon seinem Verleger Symanski
als Programm seiner Erzählung angekündigt:
[…] mich an meine Lieblingsneigung erinnert. Sie wissen es nämlich wohl schon, wie
gar zu gern ich zuschaue und anschaue, und dann schwarz auf weiß von mir gebe, was
ich eben recht lebendig erschaut.39
Der Vetter schmuggelt so eine Köhlerfamilie40 ein, die er auf dem Markt beobachtet haben
will, die aber an diesem Tag nicht zu sehen ist. Das Auffällige an diesen Figuren ist, dass sie
zugleich sichtbar und unsichtbar sind:
Du weißt, lieber Vetter, dass es Leute gibt von gar seltsamem Bau; auf den ersten
Blick muss man sie für bucklig erkennen und doch vermag man bei näherer Betrachtung durchaus nicht anzugeben, wo ihnen denn eigentlich der Buckel sitzt. (S. 1082)
Dieser schwarze Fleck des Köhlers als Gegenpol zu dem weiß bepuderten Mehlburschen wird
von Hoffmann charakterisiert als:
[…] rastlose Unruhe; mit einer unangenehmen Beweglichkeit hüpft und trippelt er hin
und her […] den primo amoroso des Marktes zu spielen. […] Zuweilen treibt er die
Galanterie so weit, dass er im Gespräch den Arm sanft um die Hüften des Mädchens
schlingt […] dass die Mädchen sich nicht allen das gefallen lassen, sondern überdies
dem kleinen Ungetüm freundlich zunicken. (S. 1083)
Schließlich zieht der Vetter das Fazit:
38
Neumann: S.234
Quelle: Segebrecht
40
Stadler: S.506. Mit der Köhlerfamilie sollte Hoffmann ein verschlüsseltes Denkmal für den Panoramenbauer
Johann Carl Enslen, der zur Zeit der Abfassung der Erzählung ganz in der Nähe der Wohnung Hoffmanns, am
Gendarmenmarkt, seine Kleinpanoramen ausgestellt hatte, gesetzt haben. Der Sohn, der zwergenhaft verwachsene, aber riesenstarke Kohlenbrenner Carl Georg Enslen war Modell für den Pagliasso.
39
68622424
Seite 17 von 64
Ton van der Steenhoven
Er ist der Pagliasso, der Tausendsasa, der Allerweltskerl in der ganzen Gegend, die
den Wald umschließt, wo er haust; ohne ihn kann keine Kindtaufe, kein Hochzeitsschmaus, kein Tanz im Kruge bestehen; man freut sich auf seine Späße und belacht sie
das ganze Jahr hindurch. (S. 1083)
Mit einem Wort: Es ist der Köhler, der das Schwarz in das Weiß der Welt bringt, er ist der
Allesverwandler, der Improvisator und Parasit. Er ist der springende Punkt, die „Ableitung“
aus der Mathematik, Bindestrich zwischen erblickter Realität und imaginiertem Text, der zwischen Beobachter und Beobachtetem sein figurierendes Spiel treibt.41 So nimmt Hoffmanns
theoretisch-praktischer Dialog eine eigenartige Zwischenstellung in der Literatur ein. Einerseits enthält er durchaus noch Elemente romantischer Ironie, denn er stellt, wie Friedrich
Schlegel sagte, „das Produzierende mit dem Produkt“42 dar. „Andererseits begründet er die
realistische Wirklichkeitserfassung und rückt dabei ein für die weitere Entwicklung der epischen Dichtung ganz entscheidendes Strukturelement in den Vordergrund: die subjektive
Weltsicht, die hier vom produzierenden Dichter selbst vorgeführt wird“.43
Ein ganz anderer Aspekt des Schauens wird anhand des Erscheinens eines Blinden behandelt:
Es handelt sich um den Gegensatz Sehen – Nicht-Sehen. Der Vetter unterbricht den IchErzähler: Still, still, Vetter, genug von der Rosenroten! – Betrachte aufmerksam jenen Blinden, dem das leichtsinnige Kind der Verderbnis Almosen spendete. (S. 1079) Es ist eine Unterbrechung im Wahrnehmungsprozess des Ich-Erzählers: diese sprunghafte Überblendung
einer Figur, der Rosenroten, durch eine andere Gestalt, nämlich die des Blinden. Was sich im
Erzähltext ereignet, ist wie ein filmischer Schnitt. Er markiert – in der textuellen Darstellung
– die Zäsur zwischen Sehen und Blindheit. Während der Vetter den Blinden im Visier hat,
beginnt der Ich-Erzähler davon zu sprechen, dass man dessen Blindheit der Haltung der Gestalt ablesen kann:
Es ist doch merkwürdig, dass man die Blindheit, sollten auch die Augen nicht verschlossen sein, oder sollte auch kein anderer sichtbarer Fehler den Mangel des Gesichts verraten, dennoch an der emporgerichteten Stellung des Hauptes, die den Erblindeten eigentümlich, sogleich erkennt; es scheint darin ein fortwährendes Streben
zu liegen, etwas in der Nacht, die den Blinden umschließt, zu erschauen. (S. 1080)
41
Neumann: S. 235
Fr. Schlegel: Athenäums Fragment 238, Schriften, S. 51 (Zitat aus Köhn, S.215)
43
Köhn: S.215
42
68622424
Seite 18 von 64
Ton van der Steenhoven
Und der Vetter ergänzt: […] sein inneres Auge strebt schon das ewige Licht zu erblicken, das
ihm in dem jenseits voll Trost, Hoffnung und Seligkeit leuchtet.
Diese Szene bildet ohne Zweifel den Kulminationspunkt der Repräsentationsparadoxie, um die es Hoffmann in seinem Text zu tun ist: Der Blinde, der nicht sieht, aber
sein Schauen zeigt; das Sehen der Blindheit, als Wahrnehmung des Nicht-Sehens und
die Konfiguration beider repräsentierenden Akte, des Blickens durch das Fernglas
und des Erzählens, die gesehene Wirklichkeit konstruieren.44
Das Nicht-Sehen ist wie die vierte Dimension in der Mathematik: man weiß, dass sie da ist,
aber wer nicht in dieser Dimension lebt, kann sie nur in der Projektion wahrnehmen. Nur der
Blinde kennt sie, aber ihm sind die drei Dimensionen der Sehenden nur in der Projektion bekannt. „Man könnte, was hier im Text geschieht, als eine Figuration der Defiguration kennzeichnen. Denn indem man den Blinden sieht, der zu sehen gibt, dass er nichts sieht, bringt
man das Sehen selbst zur Darstellung.“45 Der Blinde, der noch radikaler als der kranke Vetter
auf die Produktionen seiner inneren „Augen“ zurückverwiesen ist, bildet mit seinem emporgerichteten Haupt eine Parallelerscheinung zum Vetter: auch die Fantasie fliegt empor. (S.
1066)
Die Vettern beobachten auf dem Markt die Alltagswirklichkeit der Berliner. Sehr interessant
ist Kortes Betrachtung über den „ökonomischen Diskurs“, im Hinblick auf eine sich verändernde Wirtschaft – alles betrachtet aus der Perspektive des Käufers und Verkäufers – die
Welt als „Geschäft“ – als Markt von Kauf und Verkauf, als „mechanisch zirkulierende Bewegung“ und Warenzirkulation. In dem Kontext wird gerade der Blinde – der einzige, der zunächst ohne eine ökonomische Bedeutung auf dem Markt angetroffen wird, überaus wichtig!46
Am Anfang der Erzählung sind die Figuren auf dem Markt für den Ich-Erzähler nur eine dicht
zusammengedrängte Volksmasse, aber durch seine fortschreitende Kenntnis des Sehens hebt
sich am Ende die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens (S. 1067) daraus hervor.
Das Volk besteht aus den einfachsten Menschen, die durchschnittlich dem dritten, öfters noch
dem vierten Stand angehören. Hoffmann stellt sie dar, weil dieses Volk ein Sinn für die zu
erhaltende Ordnung, der nicht anders als für alle sehr ersprießlich wirken kann (S. 1085)
demonstriert. Eine solche Gesinnung vereint die Individuen zu einer Gemeinschaft. Was der
44
Neumann: S. 233
Neumann: S. 232
46
Vgl. Korte: S. 130 ff
45
68622424
Seite 19 von 64
Ton van der Steenhoven
Vetter unter „Ordnung“ versteht, fasst er in seiner Beurteilung des Lebens auf dem Marktplatz
zusammen:
Sonst war der Markt der Tummelplatz des Zanks, der Prügeleien, des Betrugs, des
Diebstahls, und keine honette Frau durfte es wagen, ihren Einkauf selbst zu besorgen
[…] jetzt dagegen [bietet] der Markt das anmutige Bild der Wohlbehaglichkeit und
des sittlichen Friedens. (S. 1086)
Besonders das niedrigste Volk gibt sich Mühe, durch eine neue, kleinbürgerliche Verhaltensweise die Ruhe und Gemütlichkeit, welche die zentralen Werte des Volkslebens sind, nicht
mehr zu stören. Die soziale und historische Bedeutung dieser Werte ist in Hoffmanns Erzählung deutlich vorhanden.
Malerische Elemente
Ein anderes wesentliches Element der Wahrnehmungskonstruktion in der Erzählung ist die
nuancierte Farbdifferenzierung. „In keinen anderen Text hat Hoffmann die Farben in einer
vergleichbaren Dichte als Merkmal der Unterscheidung eingesetzt“.47 Jede einzelne Momentaufnahme des Marktgeschehens läuft über Farbigkeit. Jede Veränderung des Fokus wird von
einer farbigen Variation bedingt. Die Geschwindigkeit, mit der die Menschen ihre Positionen
auf dem Marktplatz wechseln, wird oft durch farbige Attribute wahrnehmbar. So kann eine
Frau nicht in der Menge verloren gehen, weil ihr roter Shawl ausreichend Wiedererkennung
ermöglicht: Ich kann sie nicht verlieren, Dank sei es dem roten Shawl. (S. 1072) Für den orientierenden Überblick reicht die einfache Farbgebung aus. Der Student, der sich in die kleine
Mamsell, die dem Ballett oder überhaupt dem Theater angehört, verliebt hat, wird vom IchErzähler farbreich dargestellt:
[…] einen großen, schlankgewachsenen Jüngling im gelben kurzgeschnittenen
Flausch mit schwarzem Kragen und Stahlknöpfen. Er trägt ein kleines rotes, silbergesticktes Mützchen, unter dem schöne schwarze Locken, beinahe zu üppig, hervorquillen. Den Ausdruck des blassen, männlich schön geformten Gesichts erhöht nicht wenig
das kleine schwarze Stutzbärtchen auf der Oberlippe. (S. 1073)
Hoffmann bietet ein fein nuanciertes Farbenspektrum an: Die rabiate Hausfrau mit einem seidenen Hut, der in kapriziöser Formlosigkeit stets jeder Mode Trotz geboten, hat ein gelbkattunes Kleid (S. 1068) und dazu blaugraue Strümpfe. Ein großes, schlankgewachsenes Frauen-
47
Kremer: S. 193
68622424
Seite 20 von 64
Ton van der Steenhoven
zimmer von gar nicht üblem Ansehen drückt ein Almosen in eine blutrote, noch dazu ziemlich
mannhaft gebaute Faust […] eines Blinden:
[…] der Überrock von rosarotem schweren Seidenzeug ist funkelnagelneu – der Hut
von der neuesten Fasson, der daran befestigte Schleier von schönen Spitzen – weiße
Glacéhandschuhe […]. (S. 1079)
Der starken Dominanz des Visuellen entspricht die malerische Beschreibung des Geschehens.
Die von Hoffmann genannten Maler und Zeichner gehören drei malerischen Stilrichtungen
an: dem italienischen, deutschen und englischen Stil. Der Engländer Hogarth48, Vorläufer der
modernen Karikatur, zählt in der deutschen Kunstkritik wegen seiner Direktheit zum niederländischen Stil, der Berliner Radierer Chodowiecki49, Vertreter der dämpfenden, harmonisierenden deutschen Variante, war als Illustrator mit seinen Kupferstichen in der ganzen Welt
berühmt und Callot repräsentiert die komisch-fantastische Seite der italienischen Schule.
Chodowiecki: Lotte
Quelle: www.goethezeitportal.de
48
Hogarth: Gin Lane
Quelle: www.historycooperative.org
William Hogarth (1697–1764 in London) wurde durch seine moralischen Bilderfolgen berühmt. Die Kupferstich-Versionen dieser Gemälde wurden in ganz Europa verbreitet. Georg Lichtenberg schrieb Ende des 18. Jhs.
seine berühmten, ganz im satirischen Geiste der Kupferstiche verfassten deutschen Kommentare zu diesen Werken (G.C. Lichtenbergs ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, 1794–99).
49
Daniel Chodowiecki (1726–1801 in Berlin). Kupferstiche mit Szenen des bürgerlichen Lebens, worin ihm
Ausdruck und Charakter der Figuren oft vortrefflich gelungen. In Goethes Dichtung und Wahrheit heißt es: „Die
höchst zarte Vignette von Chodowiecki machte mir viel Vergnügen, wie ich denn diesen Künstler über die Maßen verehrte.“ Vgl. auch Matthias Claudius in seinem Wandsbecker Boten.
68622424
Seite 21 von 64
Ton van der Steenhoven
Dass Hoffmann diese unterschiedlichen Stile zitiert, nebeneinander stehen lässt und untereinander mischt, bestätigt – im Kontrast zum Klassizismus – das kompositorische Interesse der
Romantik und Hoffmanns an einer Vermischung der Gattungen und Stillagen.50 Hoffmann
füllt das Fenster vor allem mit Vorgaben von Hogarth.51
Panorama
Am 26. April 1335 besteigt Petrarca den Mont Ventoux, eine in den Augen seiner Zeitgenossen ganz aberwitzige Tat, weil es auf dem Berge außer zerrissener Kleidung und geschundenen Gliedern nichts zu holen gäbe. Auf dem Gipfel ist er von der Erweiterung des Gesichtsfeldes in der Vogelperspektive überwältigt, die es ihm ermöglicht, das bisher durch großräumliche Distanz Getrennte zusammenzuschauen. Er hatte gelesen, dass in der Antike derartige
Bergbesteigungen zum Reiseprogramm der Kaiser und Könige gehörten. Philipp von Mazedonien bestieg zum Beispiel den Haimon, um vom Gipfel aus einen Blick auf die sein Reich
begrenzenden Meere zu genießen. Panoramen sind also in Hoffmanns Zeiten nicht neu. Mit
seiner Panoramabeschreibung knüpft Hoffmann an die Panoramenkunst an, die damals im
Brennpunkt des Interesses stand.
Panoramen wurden zuerst vom irischen Maler Robert Barker 1787 bewusst als Kunstprodukt
eingeführt. Der Architekt und Theatermaler Johann Breysig (1766-1831) aus Danzig wandte
das Panorama als Erster als Kunstform in der Malerei an. Der Begriff des Panoramas umfasste aber weitaus mehr als nur eine spezifische Form in der Malerei. Es sind perspektivische
Darstellungen von Gegenständen, nicht nur Gemälden, die von einem festen oder beweglichen Punkt aus zu übersehen sind. Es sind als Rundbilder oder als Rundgemälde bezeichnete
Flächen, wobei der Beschauer sich in der Mitte befindet; es können auch Bildstreifen oder
Längenbilder in der Art eines Rheinpanoramas wie z. B. von Basel bis an Köln sein. Der Kulturhistoriker Stephan Oettermann definiert das Panorama als Maschine, in der die Herrschaft
des bürgerlichen Blicks gelernt und zugleich verherrlicht wird, als Instrument zur Befreiung
und zur erneuten Einkerkerung des Blicks, als erstes optisches Massenmedium im strengen
Sinne.52
Im 19. Jahrhundert diente das Panorama der Entdeckung des subjektiven Sehens. Das Panorama zeigt dem Menschen ein Modell der Welt, mit einer möglichst detailgetreuen Wirklich-
50
Oesterle 1987, 106, zitiert nach Kremer: S. 192
Gunia und Kremer: S. 76/7
52
Stephan Oettermann: Das Panorama; Die Geschichte eines Massenmediums, Syndikat, Frankfurt (S. 9)
51
68622424
Seite 22 von 64
Ton van der Steenhoven
keitsabbildung, aber es kann auch ein Idealbild vorstellen. Panoramen sind ästhetische Gegenstände, Symbole, kulturell geprägte, geistige Bilder. Panoramaleinwände zeigen säuberlich geordnete Landschaften, die Welt als Handlungsraum, und sie zeigen getreulich rekonstruierte Einblicke in historische Ereignisse wie Schlachten und Kreuzigungen. Ihre Inszenierungen zielten auf die Herstellung vollkommen hermetischer, manipulierter Illusionsräume.
Kritiker haben die täuschende Wirkung der Panoramen und ihr Kunstcharakter von Beginn an
kontrovers beurteilt. Die illusionistischen Mittel, mit denen das Panorama seine Wirkung auf
Betrachter erzielt, kritisierte schon Goethe als barbarische Tendenzen, die dem Publikum
nichts mehr zur Imagination übrig ließen. Baudelaire bezeichnete sie als Kriegslisten, die deshalb funktionierten, weil das Publikum unfähig sei, sich für die natürliche Taktik echter Kunst
zu begeistern.53
Das Panorama war am Anfang des 19. Jahrhunderts als Modell äußerst beliebt geworden, um
sich der geordneten Natur zu vergewissern und sich von ihrer Machbarkeit imponieren zu
lassen. Berühmt war damals das Rheinpanorama von der Mündung der Nahe bis zur Mosel 54
von Elisabeth von Adlerflycht aus dem Jahre 1811, das kurz vor Beginn der Dampfschifffahrt
zum Druck kam und den Zeitgenossen den Rhein von Mainz bis Köln in Vogelperspektive
zeigt.
Fernglas
Das Panorama in Des Vetters Eckfenster bietet dem Zuschauer einen Wirrwarr von Menschen
und Eindrücken:
Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, sodass
man glauben musste, ein dazwischen geworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. […] auf mich machte dies den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin
und her wogenden Tulpenbeetes […]. (S. 1067)
Für den Ich-Erzähler ist der Vorteil des Panoramas zum Nachteil geworden: Er kann die Fülle
der Eindrücke nicht verarbeiten, und anstatt viel zu sehen, kann er nichts mehr wahrnehmen.
Er braucht ein Hilfsmittel, um das, was er in der Masse sehen will, zu isolieren: ein Fernglas.
Der Blick durchs Fernglas bringt eine einzelne, kontrollierbare Szene aus dem Gesamtraum
näher und blendet den verwirrenden Kontext aus. Das Fernglas ermöglicht es dem Besucher,
überhaupt Einzelnes zu erblicken. Der Blick durchs Fernglas lässt das Ferne nah und das
53
54
Quelle: Smid: Kapitel Souvenirs 1.1 Das Panorama
http://www.rlb.de/Digitalisate/Delkeskamp_Panorama/einfuehrung.html
68622424
Seite 23 von 64
Ton van der Steenhoven
Kleine groß erscheinen; es verzerrt die Proportionen. Durch Veränderung des Zusammenhangs wird die Neugierde des Betrachters erweckt, neue Zusammenhänge zu entdecken. Dass
der Vetter das Fernglas nicht mehr braucht, den Ich-Erzähler auf Einzelheiten hinzuweisen,
macht klar, wie intensiv er es in den vorangegangenen Wochen benutzt haben muss.
Der Vorteil des Fernglases ist aber zugleich der Nachteil: Das Fernglas isoliert und verzeichnet, indem es den Abstand verkleinert. Goethe hat schon vor dem Gebrauch des Fernglases
gewarnt, weil es das harmonische Verhältnis des Menschen zur Natur zerstöre.55 Der Vetter
hat inzwischen gelernt, richtig mit dem Fernglas umzugehen: Er hat sich mithilfe des Instruments mit den vielen Personen, deren Einzelheiten und Eigenheiten vertraut gemacht, sodass
er jetzt auch ohne Fernglas Personen beobachten und erkennen kann. Die Vettern vertrauen
dem Fernglas nicht unbedingt. Der Vetter gibt deutlich zu verstehen, dass er bei der Beurteilung des Wahrgenommenen seine Fantasie walten lässt. Der Ich-Erzähler muss verdutzt erkennen:
Dank sei es deiner lebendigen Darstellung [ist] alles so plausibel, dass ich daran
glauben muss, ich mag wollen oder nicht. (S. 1070)
Durch das Fernglas hat der Vetter seinen Blick auf den Markt so fokussiert, dass er nicht nur
das Kleine im Großen erkennt, sondern es sich ermöglicht, aus vielen „Kleinen“ ein Gesamtes
vorstellbar zu machen. Diese neustrukturierte Vorstellung dürfte aber nur momentan sein:
Neue Personen können nur durch erneute Arbeit mit dem Fernglas dem Marktbild gerecht
werden.
Das Fernglas hatte seit der Romantik eine besondere Funktion, die von Clemens Brentano in
Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter in Worte gefasst wird: 56
Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht,
uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgibt, ist romantisch […] das Romantische ist also ein Perspektiv oder vielmehr die
Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.
Dieses Romantische bedeutet offenbar ein Schauen, wobei das Fernglas als Filter dient, das
die Interpretation des Gesehenen beeinflusst.
55
Goethe, Maximen und Reflexionen II-65: Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.
56
Zitiert nach Hagestedt: S. 48
68622424
Seite 24 von 64
Ton van der Steenhoven
Physiognomie
Wie stumpfer der Winkel ist, den das Profil
des Auges mit dem Mund, im Profile betrachtet, formiert, desto schwächer und dümmer ist
der Mensch.
Jedes Gesicht ist dumm, was vom Augenwinkel an, bis mitten an den Nasenflügel,
kürzer ist, als von dort zur Mundspitze.
In der Erzählung weist der Vetter oft auf äußerliche Kennzeichen der Menschen auf dem
Markt hin, wobei er allerlei Charaktereigenschaften mit diesen Kennzeichen verbindet. Solcher Hinweis auf äußere Details war für die damalige Zeit charakteristisch. Dies zeigt sich vor
allem in der damaligen Beliebtheit der Physiognomielehre, der Kunst, vom unveränderlichen
physiologischen Äußeren des Körpers, besonders des Gesichts, auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen schließen zu können. Sie zählt heute zu den Pseudowissenschaften. Das
Prinzip dieser Lehre ist, dass die Zeichen der Natur und der Welt lesbar seien als die „künstlichen Zeichen“ in Büchern und Bildern; das „Buch der Natur“ sei zeichenhaft organisiert und
seine Sprache universeller als die menschliche. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es mit
dem Erscheinen von Johann Kaspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine Flut von
Porträtzeichnungen und Silhouetten. Besonders das Profil des Gesichts galt als der Teil des
Physiognomischen, dem besonders viel über Seele, Charakter, Erfahrung und Lebensgeschichte abzulesen sei. Lavaters Buch Von der Physiognomik endet mit Hundert physiognomischen Regeln57, worunter folgende:
57
http://gutenberg.spiegel.de/lavater/physiogn/physio61.htm
68622424
Regel 63:
Regel 87:
Seite 25 von 64
Ton van der Steenhoven
Wie stumpfer der Winkel ist, den das Profil des Auges mit dem Mund,
im Profile betrachtet, formiert, desto schwächer und dümmer ist der
Mensch.
Ein lang hervorstehendes, nadelartiges, oder stark krauses, wildes, rohes, auf einem braunen Flecken gewurzeltes Haar am Kinn oder Halse,
spricht sehr entscheidend für großmächtige Voluptuosität, die selten
ohne großmächtigen Leichtsinn ist.
Wir wissen nicht, ob Hoffmann Lavater gelesen hat, jedenfalls auffallend ist, dass Lavater zu
Beginn seiner Physiognomischen Fragmente, im ersten Fragment, den Blick durch ein erhöhtes Fenster auf eine städtische Straßenszene als „Geburtsstunde meines physiognomischen
Studium“ bezeichnet.58
Es wurde Mode, Porträts von berühmten Persönlichkeiten und guten Freunden zu sammeln,
weil man glaubte, ihnen die vortrefflichen Charakterzüge der Personen ablesen zu können. An
geselligen Abenden zeichnete man die Silhouetten der Gäste, um diese physiognomisch zu
deuten. Auch der Vetter ist offensichtlich in der physiognomischen Beobachtung geschult. Er
entlarvt zwei anscheinend friedliche Marktfrauen als Konkurrentinnen, was er mit seiner geübten Physiognomik (S. 1069) begründet.
Gattung und Strömung
Seit dem 18. Jahrhundert entdeckt die Literatur das Motiv der Großstadt, zuerst in den wirklichen europäischen Großstädten Paris und London, später in mittelgroßen Städten, wie Berlin.59 In der Großstadtliteratur wird das Nebeneinander von Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten im engen städtischen Raum thematisiert, häufig anhand von Gegensatzpaaren, wie Freiheit <> Anonymität, Luxus <> Elend und soziale Dynamik <> Versachlichung. Waren Städte bis dahin nur Namen ohne Eigenleben und bestenfalls dankbare Kulissen in den literarischen Werken, nun werden die Stadt und ihre Eigendynamik zum Thema
und Gegenstand der Literatur. In Des Vetters Eckfenster wird der Gendarmenmarkt als Symbol der Großstadt zum Handlungsträger. Hoffmann zeigt uns damit den Anfang einer Linie,
die schnurstracks zur Großstadtliteratur des 20. Jahrhunderts, zu James Joyce, Robert Musil
und Alfred Döblin führt. Im Eckfenster ist dieser Markt […] auch jetzt ein treues Abbild des
ewig wechselnden Lebens. (S. 1087) In Hoffmanns Zitat treffen wir genau das Thema der spä-
58
59
Lavater 1775, S. 10, zitiert nach Kremer: S. 183
Um 1820 zählten Paris und London um 1.000.000 Einwohner, Berlin, Brüssel und Amsterdam um 200.000
68622424
Seite 26 von 64
Ton van der Steenhoven
teren Großstadtliteratur, wofür der Anfang von Robert Musils großem Roman Der Mann ohne
Eigenschaften beispielhaft ist:
Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem
einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder
einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne dass sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, dass er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen
wie Menschen. Die Augen öffnend, würde er das Gleiche an der Art bemerken, wie die
Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. […] Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen
und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und
Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden
Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen,
Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.60
Das in Des Vetters Eckfenster entwickelte „neue Schauen“ zeigt sich bei objektiver Betrachtung des großstädtischen Lebens als unentbehrlich. Der Autor muss sich am neuen Schauen
schulen, was, wie sich im Abschnitt „Das neue Schauen“ zeigt, nicht von selbst geht. Die Autoren der Moderne, wie Joyce, Proust, Musil und Döblin, haben diese Sehensart bis im höchsten Grade verfeinert. In Joyces Ulysses entsteht ein realistisches, enzyklopädisch vollständiges Bild der Stadt Dublin am 16. Juni 1904 und Robert Musil entfaltet den Übergang von der
bürgerlichen Gesellschaft zur modernen Massengesellschaft mit seiner Anonymität und persönlicher Isolation im Wien von 1913. Die Präzision der Beobachtung und des Schauens, die
sich in diesen Romanen aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wie in einer immer wieder neu eingestellten Zoom-Perspektive bloßstellt, ist auffällig.
Hinsichtlich der Literatur in der Periode von 1815 bis 1848 kann man verschiedene Strömungen unterscheiden. Am deutlichsten lassen sich die politisch engagierte Literatur des Vormärz
und das scheinbar idyllische Biedermeier herausstellen. Der Literaturhistoriker Friedrich
Sengle hat mit seinem dreibändigen Werk Biedermeierzeit die Gemeinsamkeiten dieser Literatur betont. Nach ihm reagierten alle Autoren auf die Herausforderung der Modernisierung,
entweder indem sie sich der neuen Zeit öffneten und sich sozial und politisch engagierten,
oder indem sie moderne Entwicklungen ängstlich abwehrten und traditionelle Werte betonten.
Gesellschaftliche Realitäten wurden kaum noch ignoriert. Hoffmann, als der Inbegriff eines
60
Musil: MoE, § 1
68622424
Seite 27 von 64
Ton van der Steenhoven
romantischen Künstlers, hat sich mit Des Vetters Eckfenster deutlich der Modernisierung zugewandt.
Romantiker sahen sich als Ästhetiker, immer auf der Suche, das Menschsein mit der Natur
wieder in Einklang zu bringen. Hoffmann dagegen beobachtet, wie gute Sitten zu unsinnigen
Normen zerfallen, und stellt den Niedergang ästhetischer Prinzipien fest. Er ist immer bereit,
solche unsinnigen Normen an den Pranger zu stellen: „Es müsste spaßhaft sein, Anekdoten zu
erfinden und ihnen den Anstrich höchster Authentizität durch Zitate usw. zu geben, die durch
Zusammenstellung von Personen, die Jahrhunderte auseinander lebten, oder ganz heterogener
Vorfälle gleich sich als erlogen erweisen“, schreibt er 1809 in seinem Tagebuch unter dem
Titel: Merkwürdige Arten des Wahnsinns. „Denn mehrere würden übertölpelt werden und
wenigstens einige Augenblicke an die Wahrheit glauben.“ Und garstig fügt er seinen zukünftigen Lesern gegenüber hinzu: „Gäbe man ihnen einen Stachel, um so besser [...]“.61
Des Vetters Eckfenster ist weniger eine Geschichte als vielmehr eine neue Wahrnehmungskonstellation und der Versuch, die Wahrnehmungen durch ein Fenster darstellbar zu machen.
Es ist mehr als eine bloße Umsetzung äußeren Geschehens: Geschichte wird an Geschichte
gereiht und der Vetter bringt mit sicherem, fixierendem Blick einen bunten Strauß von humoristischen Karikaturen hervor. Hoffmann als stark an der Malerei interessiertem Schriftsteller
muss die Technik der Panoramenmalerei sehr vertraut gewesen sein. So möchte er in dieser
Erzählung, die Welt mit einem Panoramablick und als Urszene der europäischen Kulturgeschichte erfassen.62 Es ist der Blick auf die Welt durch ein Fenster, die Schnittstelle zwischen
Innen- und Außenraum. Am schönsten hat diese Szene Augustinus in seiner um 397 entstandenen Autobiografie im neunten Buch, zehnten Kapitel der Konfessionen dargestellt. Augustinus erzählt da von dem Moment, an dem er selbst mit seiner Mutter Monica, kurz vor
ihrem Tod, an das Fenster des Hauses in Ostia gelehnt, eine Vision der Welt, des Kosmos und
des eigenen Lebens im Dialog entwirft, die kein Auge geschaut und kein Ohr gehört und in
keines Menschen Herz gedrungen ist.63
Das Fenster rahmt das durch das Fenster Gesehene ein, macht es zum Bild. Dieses
Bild, das einen Ausschnitt ‚Welt’ heraushebt, ist nicht nur in einem Rilkeschen Sinne
‚der Griff, durch den das große Zuviel des Draußen sich uns angleicht’, sondern vor
allem scheint das durch das Fenster Geschaute sich dem Zufall zu entziehen. Es bleibt
61
Zitiert nach Schiff: S.5/6
Neumann: S.224
63
http://www.clerus.org/bibliaclerusonline/DE/pd.htm
62
68622424
Seite 28 von 64
Ton van der Steenhoven
die Frage, was genau der in die Betrachtung der Landschaft Versunkene ‚erlebt’, ob
er mit der Unendlichkeit dieser Landschaft ,zusammengenommen und doch wieder
durch den Abstand des Schauens aus der Landschaft herausgenommen und so dem
unmittelbaren Druck der Wirklichkeit entzogen’ wird.64
In der Kunst gibt es viele Beispiele, in denen das Fenster als Schnittstelle zwischen Innenund Außenraum dient und das Geschaute sich harmonisch mit den Geschehnissen im Innenraum zusammenzufügen scheint: In Goethes Werther stehen Werther und Lotte am Fenster
und erfahren das Wunder der kosmischen Weltordnung, in Stifters Zwei Schwestern steht der
Ich-Erzähler abends am Fenster in Rikars Wohnung und nimmt die Geräusche der Außenwelt
wahr, bei Johannes Vermeer steht das brieflesende Mädchen am offenen Fenster, wobei Fenster und Brief als Schnittstelle dienen. Bei Caspar David Friedrichs „Frau am Fenster“ schaut
eine Frau aus einer dunklen, intimen mittelalterlichen Kemenate hinaus in die Landschaft.
Des Vetters Eckfenster ist als Rahmenerzählung in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erinnert sich der als „Ich“ auftretende Erzähler an seinen Dialog mit dem Vetter; hier wird die
Distanz zwischen der Wirklichkeit und dem Erzählen mit dem Satz: Es war gerade Markttag,
als ich […] (S. 1066) aufgehoben – erst die letzte Zeile: Armer Vetter! (S. 1087) kehrt zum
Anfang zurück.
Der zweite Teil, der Dialog zwischen den beiden Vettern, ist die Binnenerzählung, in welcher
der Vetter versucht, dem Ich-Erzähler die Primizien der Kunst zu Schauen beizubringen. Die
beiden Vettern überblicken vom Eckfenster aus den Marktplatz in Vogelperspektive und
kommentieren das Geschehen auf dem Markt wie in einem Augenzeugenbericht, wobei der
Vetter als Meister, und der Ich-Erzähler als Lehrling auftritt. Der Markt stellt quasi eine Theaterbühne dar mit den Besuchern als Schauspieler, denen von Anfang an vom Vetter, aber im
Laufe der Erzählung auch mehr und mehr vom Ich-Erzähler imaginäre, aber plausibel erscheinende Geschichten angedichtet werden. Anfang und Ende des zweiten Teils werden
durch das eigenständige Auftreten des Krankenwärters markiert: Er meinte […] der Herr sei
zu sprechen (S. 1066) und der grämliche Invalide trat ins Kabinett und meinte […] der Herr
möge […] das Fenster verlassen und essen […]. (S. 1087)65 Die Wärterfunktion wird noch
verstärkt durch die Erfahrung des Ich-Erzählers, dass der alte grämliche Invalide […] uns
murrend und keifend von der Türe weg (wies) wie ein bissiger Haushund. (S. 1066)
64
Enklaar: S. 607, mit einer Verweisung auf Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer 41980, S. 159 ff.
65
Vgl. Korte: S. 136
68622424
Seite 29 von 64
Ton van der Steenhoven
Der dritte Teil ist eine Erzählung in der Erzählung. Der Vetter berichtet über eine Begegnung
mit einem Blumenmädchen auf dem Markt, eine Szene, die sich ganz anders entwickelte, als
erwartet: zu seiner Enttäuschung ist der Begriff „Schriftsteller“ dem Mädchen völlig fremd!
Des Vetters Eckfenster enthält romantische und realistische Elemente und befindet sich denn
auch im Grenzgebiet von Romantik und Realismus. Damit nimmt diese Erzählung, wie
Gerhard Neumann behauptet, eine Schlüsselstelle in der europäischen Geschichte der Mimesis ein. Unter Mimesis verstehe man in dem Fall das Ereignis als Darstellung oder Herstellung
von Wirklichkeit durch die Kunst, im engeren Sinne durch die Literatur.66 Es sei jedoch zu
bedenken, dass das, was als das „Wirkliche“ hergestellt wird, eine Projektion der vom Schriftsteller interpretierten Wirklichkeit ist.
1. Romantische Elemente sind:

Der Künstlerbegriff;

Die romantische Ironie

Die Grenze zwischen Realität und Traum: der Schwindel des Ich-Erzählers, der
dem nicht unangenehmen Delirieren des Traums gleicht und die niedrige Wohnung des Schriftstellers inklusiv ein hohes, luftiges Gewölbe;

Die Ironisierung des Künstlerdaseins.
2. Realistische Elemente sind:

Die indirekte Erzähltechnik durch die Rahmentechnik;

Die Meister–Schüler–Konstruktion und das Heranbilden des Ich-Erzählers zum
Künstler;

Die Interpretation des Marktgeschehens durch die Vettern ist zwar Fiktion, aber
wirkt authentisch und realistisch; der Text ist objektiv, chronologisch und kausal;

Obgleich es sich um eine fiktive Erzählung handelt, hat sie doch einen Wirklichkeitsanspruch, da die von beiden Protagonisten erfundenen Geschichten plausibel
sind und durchaus so passiert sein könnten: Der Text selber markiert das Gesagte
als Fiktion;

66
Der Panoramabegriff und die Anwendung eines Fernglases.
Neumann: S. 223
68622424
Seite 30 von 64
Ton van der Steenhoven
Raum und Zeit
Des Vetters Wohnung
Der Ort der Handlung ist in Berlin der Gendarmenmarkt. Die Wohnung des Vetters ist ein
Eckhaus […] und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das
ganze Panorama des grandiosen Platzes. (S. 1066) Die Wohnung ist ziemlich hoch und hat
kleine niedrige Zimmer. Des Dichters enges Gemach ist gleich wie jener zwischen vier Mauern eingeschlossene zehn Fuß ins Gevierte große Garten, zwar nicht breit und lang, […] aber
stets eine schöne Höhe; in des Vetters Fantasie baut sich ein hohes, luftiges Gewölbe bis in
den blauen glänzenden Himmel hinein. Die beiden Vettern sitzen im kleinen Eckfensterraum,
der wie eine Theaterloge am Haus gebaut ist, einander gegenüber. Es ist eine biedermeierliche
Gemütlichkeit, aber auch eine Flucht ins Private, so typisch für das Biedermeier: Zwei gebildete Herren sehen sich aus der Höhe, durch ein Fenster vom Gewühl getrennt, das Marktvolk
an und kommentieren das Tun und Treiben. Da es hier ein Eckfenster betrifft, eröffnet es den
Blick um eine extra Himmelsrichtung im Rundblick mit einem dreiviertel Kreissegment.
Im Zimmer befinden sich ein Lehnstuhl mit Rädern und Kissen, in welchem der Vetter sitzt,
ein Bett, ein kleines Taburett für den Ich-Erzähler und ein Bettschirm, auf welchem ein Bogen
Papier befestigt ist, auf dem in großen Buchstaben die Worte: ET SI MALE NUNC, NON
OLIM SIC ERIT67 stehen. Andere Gegenstände werden nicht erwähnt, obwohl vermutlich
auch ein Tisch im Zimmer steht, auf welchen der Hausknecht am Ende der Geschichte die
Speisen hingestellt hat.
In der Wohnung atmet der Tod. Der Vetter hat durch eine hartnäckige Krankheit den Gebrauch seiner Füße gänzlich verloren, die Finger versagen ihm den Dienst und mit seinem
Gedächtnis ist es schlecht bestellt.
[…] du glaubst mich gewiss in voller Besserung oder gar von meinem Übel hergestellt. Dem ist beileibe nicht so. Meine Beine sind durchaus ungetreue Vasallen, die
dem Haupt des Herrschers abtrünnig geworden und mit meinem übrigen werten
Leichnam nichts mehr zu schaffen haben wolle. (S. 1067)
Das kleinste Stück Fleisch verursacht ihm die entsetzlichsten Schmerzen und raubt ihm allen
Lebensmut und das letzte Fünkchen guter Laune, das hin und wieder noch aufglimmen will.
Er wohnt zusammen mit einem grämlichen Invaliden, der ihm Hausknecht und Krankenschwester ist, der die Wohnung wie der Höllehund Cerberus bewacht und der jeden unge67
Und wenn’s jetzt übel geht, wird’s einmal nicht so sein.
68622424
Seite 31 von 64
Ton van der Steenhoven
wünschten Besucher murrend und keifend von der Türe wegwies, wie ein bissiger Haushund.
Der Ich-Erzähler ist von herzzerschneidender Wehmut erfüllt.
Das Panoramische als „All-Ansicht“ ermöglicht es dem Vetter, den Markt optimal wahrzunehmen und seinen Blick von nichts stören oder begrenzen zu lassen. Dies wird vom IchErzähler bestätigt, der die Straße hinabkam, wo man schon aus weiter Ferne meines Vetters
Eckfenster erblickt. Der Vetter sieht ihn kommen: […] ich winkte ihm zu […] er nickte
freundlich. (S. 1066)
In der Relation zum Markt liegt der Raum der beiden Beobachter hoch. Es besteht also ein
Oben-Unten-Verhältnis zwischen den beiden Räumen. Die Opposition oben<>unten wird
öfters als gut<>böse, Himmel<>Erde gedeutet. Auch könnte es metaphorisch als die hohe
Position des himmlischen, schöpferischen Künstlers den breiten Massen gegenüber ausgelegt
werden.
Der obere Raum ist der Privatraum des Vetters, der dem Marktpublikum unzugänglich ist und
unten gibt es den frei zugänglichen, öffentlichen Raum des Marktes. Die Wohnung hat bescheidene Maße, aber die Fantasie fliegt empor und baut sich ein hohes, luftiges Gewölbe bis
in den blauen glänzenden Himmel hinein. Der Markt, der im Vergleich zur Wohnung groß ist
(das ganze Panorama des grandiosen Platzes), ist mit dem Volksgewühl, wodurch der IchErzähler sich einen Weg bahnen muss, voll besetzt. Wo der Vetter durch seine künstlerische
Fantasie fähig ist, die Wohnung zu „vergrößern“, muss das Volk dieser Möglichkeit entbehren; nur der Künstler mit seiner Einbildungskraft kann die engen Grenzen des realen Daseins
überwinden. Der Panoramablick ist den beiden Vettern vorbehalten: Das Marktvolk kann nur
einen eng begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit wahrnehmen. Die Wohnung des Vetters ist
der Schaffensraum des Künstlers: Es ist nun Schriftsteller- und Dichtersitte, ziemlich hoch in
kleinen niedrigen Zimmern (S.1066) zu wohnen. Der Markt hingegen ist mit seiner beschränkten Aussicht Rezeptionsraum.
Der Markt
Der von den beiden Vettern beobachtete Raum ist der Markt, wo während des Besuchs des
Vetters gerade Wochenmarkt ist. Der Markt ist ein von der intimen Wohnung des Vetters
durch das Eckfenster getrennter Raum. Die Räume sind oppositionell: Des Vetters Wohnung
ist ein privater Tempel der Kunst, der dem Geistigen gewidmet ist und wo die Fantasie regiert
und der Markt ist ein öffentlicher Raum, wo Nährungsmittel und Güter für das tägliche Leben
68622424
Seite 32 von 64
Ton van der Steenhoven
verhandelt werden und die wirtschaftlichen Gesetze regieren.68 Mit „Markt“ wird hier offensichtlich nur der Platz und werden nicht die Gebäude ringsum gemeint. Das Haus mit dem
Eckfenster liegt in der südwestlichen Ecke des Gendarmenmarktes; von den Gebäuden, die
den Marktplatz umschließen, werden nur das Theater69 (sieben Mal), die Kirche (drei Mal)
und das Hotel (ein Mal) genannt. Auf dem Platz gibt es zwei Kirchen, die ausschließlich als
Referenzpunkte genannt werden, den Deutschen – und den Französischen Dom (der auf einen
Entwurf von Chodowiecki zurückgeht); nur in einem Fall wird explizit die deutsche Kirche
(S. 1086) genannt, in den anderen Fällen heißt es einfach die Kirche.
Markgrafenstraße
Theater
Eckfenster ►►
Taubenstraße
Charlottenstraße
Nord
Fr. Dom
D. Dom
Süd
Der Gendarmenmarkt ist einer der schönsten Plätze Berlins, der in der Stadt zu Hoffmanns
Zeiten bereits eine vielfältige repräsentative Funktion erfüllte: Als Ort für die religiösen Gemeinden mit den beiden Domen, als Zentrum kultureller Entfaltung mit dem Schauspielhaus,
Vgl. Korte: S. 133ff. „Auch dem versierten Juristen E.T.A. Hoffmann war, wie ein Blick in seine Korrespondenz zeigt, die Kameralistik mit ihrem Konglomerat aus ökonomischen, staats-, handlungs-, finanz- und polizeiwissenschaftlichen Theoremen nicht fremd.“ Kameralismus ist im Allgemeinen bekannt als die deutsche Variante des Merkantilismus, der herrschenden Wirtschaftspolitik im Zeitalter des Absolutismus (16.–18. Jahrhundert).
Der vom Kameralismus abgeleitete Begriff Kameralistik ist eine Bezeichnung der öffentlichen Verwaltung und
der ihr angeschlossenen Unternehmen. Der Begriff bezieht sich speziell auf die Rechnungsführung aber auch auf
Finanz-, Wirtschafts-, Verwaltungslehre, Rechts- und Polizeiwissenschaft.
69
1818-1821 von Karl Friedrich Schinkel im klassizistischen Stil errichtet (heute: Konzerthaus Berlin)
68
68622424
Seite 33 von 64
Ton van der Steenhoven
aber außer als Wohnstätte des gehobenen Bürgertums und zahlreicher Künstler erfüllte er
unter anderem die Funktion eines Marktplatzes: es dürfte sich kein anderer Platz oder eine
andere Straße in dem damaligen Berlin finden, der einen ausführlicheren und breiter gefassten
Querschnitt der Berliner bürgerlichen Gesellschaft bildete.
Der Vetter kann nicht den ganzen Markt wahrnehmen: Mit Schmerz vermisse ich nämlich eine
Köhlerfamilie, die sonst ihre Ware gradüber meinem Fenster am Theater feilbot und jetzt
hinübergewiesen sein soll auf die andre Seite. (S. 1082) Über das Theater, den Tempel der
Kunst, lernen wir etwas mehr:
[…] auf dem großen Markt, der von Prachtgebäuden umschlossen ist, und in dessen
Mitte das kolossal und genial gedachte Theatergebäude prang (S. 1066); Schau doch
nur hin, Vetter, in die dritte Türöffnung des Theaters! (S. 1069); […] an der Ecke der
Hauptfront des Theaters, wo die Blumenverkäuferinnen ihre Ware feilbieten […]. (S.
1073)
Der Markt ist als Welttheater auch die Allegorie des Lebens und der Vergänglichkeit:
Dieser Markt […] ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. Rege
Tätigkeit, das Bedürfnis des Augenblicks trieb die Menschenmasse zusammen; in wenigen Augenblicken ist alles verödet, die Stimmen, welche im wirren Getöse durcheinanderströmten, sind verklungen, und jede verlassene Stelle spricht das schauerliche:
›Es war!‹ nur zu lebhaft aus. (S. 1087)
Der Markplatz wird gleichsam als Bühne dargestellt, auf der die Figuren mit ganz unnachahmlichen Stellungen Gebärden und Grimassen agieren.70 Das Theater, die Kirchen und die
anderen Prachtgebäude bilden die Kulissen; die beiden Vettern sitzen in ihrer Loge, aus welcher sie die Szenerie gut überblicken können. Da sie die Figuren auf dem Markt nur sehen,
aber nicht hören können, entsteht hier der Eindruck eines Pantomimentheaters. Durch die
Vorstellung des Marktes als Theaterraum wird eine fiktive Wirklichkeit dargestellt. So wird
in gewissem Sinne Ludwig Tiecks romantischer Poesieanspruch, die Verwandlung des gemeinen Lebens in ein poetisches Schauspiel71 erfüllt, noch dadurch verstärkt, dass des Vetters
Figuren der Theaterliteratur entnommen zu sein scheinen:
Es muss auch solche Käuze geben! 72 (S. 1078)
Von den weißen Mehlwagen und den mehlbestaubten Mühlknappen und Müllermädchen mit rosenroten Wangen, jede eine bella molinara73 […]. (S. 1082)
70
Hagestedt: S. 52/3
Zitiert nach Hagestedt: S. 53
72
Aus Goethes Faust: Faust zu Margerethe über Mephistopheles in Marthens Garten, Fragment 230
71
68622424
Seite 34 von 64
Ton van der Steenhoven
Dieser kleine Kerl […] mit einer unangenehmen Beweglichkeit hüpft und trippelt er
hin und her, ist bald hier, bald dort und müht sich, den Liebenswürdigen, den Scharmanten, den primo amoroso74 des Markts zu spielen. (S. 1083)
Die Obstfrauen […] fanden sich aber verpflichtet, den Fleischerknecht so liebreich
und fest zu umarmen, dass er sich nicht aus der Stelle zu rühren vermochte; er stand
da […] wie es in jener pathetischen Rede vom rauhen Pyrrhus heißt: Wie ein gemalter
Wütrich, und wie parteilos zwischen Kraft und Willen, tat er nichts.75 (S. 1084)
Der Markt ist groß und der Vetter überreicht dem Ich-Erzähler ein Fernglas, um sich die Einzelheiten auf dem Markt genau anzusehen.
Raum und Zeit: ein Gesamtbild
Auf den gemalten Panoramen, wie z.B. „Panorama Mesdag“ in Scheveningen, ist jede Einzelheit so abgebildet, dass der Zuschauer in der Mitte die Illusion einer kompletten Abbildung
der Wirklichkeit hat; sein Blick trifft nie auf eine Lücke, die diese Illusion zerstört. Wenn wir
versuchen, dieses Prinzip auf den Marktplatz anzuwenden, so gibt es Schwierigkeiten. Es
handelt sich beim Marktplatz nicht, wie bei einem Panorama, um eine statische Momentaufnahme, sondern um ein tableau vivant, eine Aufnahme mit einer Zeitachse: Das Geschehen
auf dem Markt ändert sich mit der Zeit. Das ist eine ruhige besonnene Handelsfrau, die was
vor sich bringen wird. Vor vier Wochen bestand ihr ganzer Kram in ungefähr einem halben
Dutzend feiner bauwollener Strümpfe und ebensoviel Trinkgläsern. Ihr Handel steigt mit jedem Markt […]. (S. 1070) Durch den Zeitfaktor ist das Panorama jeden Moment anders, sodass der Ich-Erzähler, der das Bild zum ersten Mal sieht, einen Kenntnisrückstand auf den
Vetter hat und nichts über die ruhige besonnene Handelsfrau aussagen kann.
Die Grenzen des Marktes sind auch die Grenzen des Panoramas. Hier kommen und gehen die
Figuren und es ist unmöglich, das ganze Geschehen auf dem Markt genau zu bestimmen, weil
der Zustand sich dauernd ändert. Das gilt weniger für den Vetter: Käufer und Verkäufer besuchen den Markt regelmäßig, aber es gibt jeden Tag viele neue Einzelheiten und Vorfälle. Weder der Vetter noch der Ich-Erzähler kann wissen, was in der nächsten Sekunde passieren
könnte, aber der Vetter kennt die Vergangenheit, denn er beobachtet den Markt jeden Tag.
Das Selektieren im Unübersichtlichen gelingt nur dem, der die Vergangenheit kennt und
Raum und Zeit neu zu kombinieren weiß. Durch Raum- und Zeitkenntnis lassen sich die Bau73
Nach La bella Molinara aus dem Oper Molinara vom italienischen Komponisten Paesiello 1740-1816
Primo amoroso, der erste Liebhaber, bekannte Figur aus der Commedia dell’Arte und ein Selbstzitat aus Prinzessin Brambilla
75
Aus: Shakespeare, Hamlet: II. Akte 2. Szene
74
68622424
Seite 35 von 64
Ton van der Steenhoven
elemente der immer pulsierenden Alltagswelt entdecken. Da der Vetter Gegenstände und Gesichter von ihrer optischen Präsenz loslöst, um sie mit eigenen, persönlichen Vorstellungen
aufzubürden, vermeidet er die teilnahmslose Wahrnehmung des Alltags. Er befreit gleichsam
den Blick. Die Art und Weise, wie der Ich-Erzähler sich des Fernglases bedient, erinnert an
eine Kamerafahrt in einem modernen Filmbetrieb. Damit soll nicht behauptet werden, dass
der Film Erzählstrategien E.T.A. Hoffmanns übernimmt, sondern dass die Autoren des frühen
19. Jahrhunderts „filmische Wahrnehmungsweisen“ aus einem spezifischen, gesellschaftlichen Wandel heraus entwickelten. Einige Romantiker (neben Hoffmann besonders Jean Paul)
lieferten bereits strukturelle Bildverknüpfungen, die mit der Schnitt-Technik des Stummfilms
zu vergleichen sind.76
Weil das Marktpanorama sich von Moment zu Moment ändert, ist das Gesamtbild nicht
wahrnehmbar: Es ist für die Beobachter nicht möglich, das sich verändernde Gesamtbild zu
realisieren. Auch der Vetter kann das nicht. Der Vetter hat aber ein Idealbild des Marktes,
eine persönliche Projektion der Wirklichkeit im Kopf, wie es seinen Bemerkungen zu entnehmen ist. An vielen Stellen der Erzählung wird deutlich, dass der Vetter das Geschehen
lange und intensiv beobachtet hat: Er kennt jede Figur und hat sich zu ihr schon Geschichten
gemacht. So kann er ohne Fernglas und mit absoluter Souveränität den Blick des IchErzählers leiten. Er sieht alle eigentlich unsichtbaren Details, weil er sie in der Zeitfolge
wahrgenommen und als „Vertrautes“ verinnerlicht hat. Er hat das detaillierte Panorama
gleichsam im Kopf, was es ihm ermöglicht, die Waren genauestens aufzuzählen, die die dicke
gemütliche Frau vor sich hat, einen reichen Kram von hellpolierten Löffeln, Messern und Gabeln, Fayence, porzellanenen Tellern und Terrinen von verjährter Form (S. 1070), oder die
Physiognomien der Marktweiber zu deuten, die sich mit bis heute stets mit feindseligen Blicken angeschielt und sich, darf ich meiner geübten Physiognomik trauen, diverse höhnische
Redensarten zugeworfen ansehen. (S. 1069)
Obwohl der Vetter dem Ich-Erzähler einzelne Personen und interessante Szenen zeigt, geht es
ihm letztendlich nur um die Darstellung eines Gesamtbildes. Das geht auch aus seiner Antwort hervor, als der Ich-Erzähler bemerkt: und ich musste mir gestehen, dass der Anblick
zwar recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei, nachdem er sich das Geschehen auf dem
Markt angesehen hatte:
76
Schiff: S. 30
68622424
Seite 36 von 64
Ton van der Steenhoven
Hoho, mein Freund, mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki,
entwirft eine Skizze nach der andern, deren Umrisse oft keck genug sind. (S. 1067)
Auch die künstlerische Wahrnehmung des Vetters ist mannigfach, allumfassend. Namentlich
am Ende der Erzählung wird es deutlich, dass es dem Vetter um eine Gesamtschau statt nur
um Ausschnitte geht. Über das heilige Meum und Tuum entsteht an einem gewissen Moment
ein heftiger Streit, der ohne Hilfe der Polizei besänftigt wird:
Überhaupt […] haben mich meine Beobachtungen des Marktes in der Meinung bestärkt, dass mit dem Berliner Volk seit jener Unglücksperiode, als ein frecher, übermütiger Feind das Land überschwemmte und sich vergebens mühte, den Geist zu unterdrücken, der bald wie eine gewaltsam zusammengedrückte Spiralfeder mit erneuter
Kraft emporsprang, eine merkwürdige Veränderung vorgegangen ist. Mit einem Wort:
Das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen […]. (S. 1085)
Der Vetter erzählt vom Benehmen der Kaufleute in der Vergangenheit, als der Markt noch ein
Tummelplatz des Zanks, der Prügeleien, des Betrugs, des Diebstahls war, und keine honette
Frau sich auf dem Markt sehen ließ. Jetzt ist alles anders: Sieh, lieber Vetter, wie jetzt dagegen der Markt das anmutige Bild der Wohlbehaglichkeit und des sittlichen Friedens darbietet.
(S. 1086) Der Vetter ist der festen Überzeugung, dass:
[…] ein Volk, das sowohl den Einheimischen als den Fremden nicht mit Grobheit oder
höhnischer Verachtung, sondern mit höflicher Sitte behandelt, dadurch unmöglich
seinen Charakter einbüßen kann. (S. 1086)
Noch deutlicher tritt sein Totalitätsanspruch im folgenden Satz zutage: Dieser Markt [...] ist
auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. (S. 1087) Es ist also in diesem geradezu allumfassenden Bild, in dem alle Einzelheiten, alle Figuren ihren Platz finden müssen.
Es bedeutet, dass der Markt, anders als das gemalte Panorama, ein sich ereignendes, abgebildetes und realistisches Geschehen darstellt. Der Vetter hat das durch die Verbindung aller
Menschen in Kauf- und Verkaufaktivitäten kombiniert mit Skizzen aus dem alltäglichen Leben, wie dem lesenden Blumenmädchen, den alten Weibern, die zusammen Kaffee trinken,
und dem Publikum, das einen aufkommenden Streit ohne Polizeihilfe zu besänftigen weiß,
erreicht.
Die verschiedenen Hypothesen des Vetters bei bestimmten Situationen, wie beim lesenden
Blumenmädchen und beim ausgebeuteten Blinden, machen den Unterschied zwischen einem
Panorama und dem Marktverfahren besonders deutlich. Die Hypothesen des Vetters sind immer genau auf das visuelle Material auf dem Markt ausgerichtet und gründen teilweise auf
68622424
Seite 37 von 64
Ton van der Steenhoven
Geschehnissen aus der Vergangenheit, die teilweise seiner Fantasie entspringen. Das zeigt
sich bestens am Falle der exotischen Figur, zu dem der Vetter zwei gänzlich unterschiedliche
Hypothesen aufstellt: Doch schon lange ist mir jener Mann aufgefallen und ein unauflösbares
Rätsel geblieben, der eben jetzt dort an der zweiten entfernten Pumpe an dem Wagen steht. (S.
1076) Es scheint dem Panoramagedanken zu widersprechen, dass der Vetter für diese Person
zwei Hypothesen aufstellt, aber das ist nicht so. Die erste Hypothese stellt der Vetter anhand
des Gesehenen auf dem Markt auf, wobei er die Lücken aus seiner Fantasie auffüllt. Nachdem
er das Äußere des Mannes und seine Nahrungseinkäufe eingehend beschrieben hat, verfolgt
er:
Genug habe ich mir schon über diese exotische Figur den Kopf zerbrochen. – Was
denkst du, Vetter, zu meiner Hypothese? Dieser Mensch ist ein alter Zeichenmeister
[…]. Seine ganze Lust ist (es), gut zu essen, versteht sich allein auf seinem Zimmer; er
ist durchaus ohne alle Bedienung […]. An Markttagen holt er […] seine Lebensbedürfnisse für die halbe Woche und bereitet in einer kleinen Küche […] selbst seine
Speisen, die er dann […] mit gierigem […] Appetit verzehrt. Wie geschickt und
zweckmäßig er einen alten Malkasten zum Marktkorbe aptiert hat, auch das hast du
bemerkt, lieber Vetter. (S. 1077)
Die Hypothese des Zeichenmeisters beruht nur auf dem Malkasten, aber scheint dennoch sehr
plausibel. Für den Ich-Erzähler ist der Mann aber ein widriger Mensch. Der Vetter meint, dass
es auch solche Käuze geben muss, denn die Varietät kann nie bunt genug sein. Doch da der
Mann dem Ich-Erzähler so zuwider ist, kann er über den Mann noch eine andere Hypothese
aufstellen. Und er skizziert recht ausführlich eine alternative Geschichte, in welcher der Mann
ein französischer Pastetenbäcker sein könne, der mit ein paar alten Freunden als echte Franzosen in lebhafter Konversation bei frugalem Abendessen (S. 1078) jeden Abend verlebt.
Jeder hat ein besonderes Geschäft […]. Der Tanzmeister und der Fechtmeister besuchen ihre alten Scholaren, ausgediente Offiziere von höherem Range, Kammerherren,
Hofmarschälle usw. […]. Der Sprachmeister durchwühlt die Läden der Antiquare, um
immer mehr französische Werke auszumitteln […]. Der Pastetenbäcker sorgt für die
Küche; er kauft ebensogut selbst ein, als er die Speisen ebenfalls selbst bereitet, worin
ihm ein alter französischer Hausknecht beisteht. So habe ich den widrigen zynischen
deutschen Zeichenmeister augenblicklich zum gemütlichen französischen Pastetenbäcker umgeschaffen, und ich glaube, dass sein Äußeres, sein ganzes Wesen recht gut
dazu passt. (S. 1078/9)
Kurzum: zwei komplette Plots für interessante Hoffmannsche Erzählungen. „So wird, in einem de- und refigurierenden Spiel, eine Art ‚contrat fictional’ der Wirklichkeit geschlossen,
68622424
Seite 38 von 64
Ton van der Steenhoven
eine Varianz von Möglichkeiten als Konstruktionsformel des Wirklichen postuliert“77: So
habe ich den widrigen zynischen deutschen Zeichenmeister augenblicklich zum gemütlichen
französischen Pastetenbäcker umgeschaffen […]. (S. 1079) Der Ich-Erzähler gratuliert dem
Vetter zu seinem Schriftstellertalent. Dass die Figur einerseits ein deutscher Zeichenmeister,
andrerseits ein französischer Pastetenbäcker sein könne, veranschaulicht ja nur die Völkervermischung zur Zeit der Napoleonischen Kriege.
In einem Gesamtbild vergegenwärtigt der Vetter den ewigen Wechsel des Lebens. Durch sein
Schauen sucht er auf dem Markt kein statisches Bild, wie im Panorama, sondern ein Bild, das
sich mit der Zeit ändert. Paradoxerweise erstellt sich aber in seiner Schau das Goethesche
Wort: „die Dauer im Wechsel“.78 Das ständige Überblicken führt gleichsam zu einem „zeitfreien“ Panoptikum. Die Betriebsamkeit auf dem Markt, wie historisch neu sie auch scheinen
mag, ist ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. Der Vetter ist mit dem Bild zufrieden:
[…] dies Fenster ist mein Trost; hier ist mir das bunte Leben aufs neue aufgegangen,
und ich fühle mich befreundet mit seinem niemals rastenden Treiben. Komm, Vetter,
schau hinaus. (S. 1067)
Die Vettern
Der Ich-Erzähler
Der Ich-Erzähler hat eine Doppelfunktion: er ist der Erzähler des Gesamttextes und Teilnehmer im Dialog mit dem Vetter. Als Erzähler ist er nicht allwissend und objektiv, sondern ein
betroffener, subjektiver Erzähler mit Wissenslücken. Es bleibt unklar, woher er kommt, welchen Beruf er ausübt, welchem Stand er angehört, wie alt er ist, sogar sein Name ist uns nicht
bekannt. Er ist offensichtlich noch nicht alt […] mit Blitzesschnelle eilte ich die Treppe hinauf
(S. 1066) und er gehört wahrscheinlich dem gutbürgerlichen Stand an, ein Hinweis darauf ist
die Tatsache, dass die Charlottenburger Fuhrleute ihn mit „Herr“ und „Sie“ anreden, während
der Ich-Erzähler den Fuhrknecht mit „er“ angeredet hat.79 Der Ich-Erzähler ist gebildet, er
versteht und verwendet einige gängige Literaturzitate aus Fremdsprachen und er äußert sich
77
Neumann: S. 232
Aus Goethes Gedicht Dauer im Wechsel: Lass den Anfang mit dem Ende - Sich in Eins zusammenziehn! Schneller als die Gegenstände - Selber dich vorüberfliehn!
79
Hagestedt: S. 58, Um 1780 wurde in Berlin die Handwerkerfrau von Frau und Jungfer zu Madame und Mamsell, um 1790 der Mittelstandsmann von Er zu Sie.
78
68622424
Seite 39 von 64
Ton van der Steenhoven
gepflegt. Er ist über die Lebensumstände des Vetters gut informiert. So weiß er, dass der Vetter mithilfe seiner Fantasie aus der kleinen Wohnung ein hohes lustiges Gewölbe bis in den
Himmel hinein bauen kann. Er ist schulungsbereit und verfügt über ein gut entwickeltes ästhetisches Bewusstsein; er weiß das genial gedachte Theatergebäude und den Panoramablick
(sei es nach einer Lektion im Schauen) auf ihren Wert zu schätzen. Als Erzähler bettet er seinen Dialog mit dem Vetter in den Gesamttext ein. Sein Anteil am Dialog ist relativ klein, er
nimmt nur 35 % des Textes auf sein Konto. Auch inhaltlich gibt es wichtige Unterschiede:
Wie der Berliner Straßenjunge (S. 1085) tritt er im Dialog als Lehrbursche bei einem Meister
auf und schult sich im Sehen. Die skizzierte Situation von Meister und Schüler sollte der Leser offensichtlich buchstäblich nehmen; der Vetter sieht vielleicht eine kleine Möglichkeit,
den Ich-Erzähler in die Geheimnisse des Schriftstellertums einzuweihen, sodass er die Tradition fortsetzen könnte.
Vetter, Vetter! Nun sehe ich wohl, dass auch nicht das kleinste Fünkchen von Schriftstellertalent in dir glüht. Das erste Erfordernis fehlt dir dazu, um jemals in die Fußstapfen deines würdigen lahmen Vetters zu treten; nämlich ein Auge, welches wirklich
schaut. Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines scheckigen, sinnverwirrenden Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks. Hoho, mein
Freund, mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist […], entwirft eine Skizze nach der andern, deren Umrisse oft
keck genug sind. Auf, Vetter! Ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien
der Kunst zu schauen beibringen kann. (S. 1067)
Für die latente Begabung des Ich-Erzählers für die Literatur plädiert auch seine Aussage bei
dem ersten Blick aus dem Eckfenster, kurz vor dem Anfang der Lektion im Schauen: […]
einen kleinen Schwindel […] der dem nicht unangenehmen Delirieren des nahen Traums gliche. Dieser Zustand zwischen Schlafen und Wachen galt in der Romantik als die Zeit des eigentlichen Empfangs genialer poetischer Gedanken.80
Anfangs ist der Anblick des Marktes dem Vetter unangenehm, aber im Laufe des Gesprächs
zeigt sich, dass der Ich-Erzähler rasche Fortschritte macht. Am Ende fühlt er sich ganz gemächlich und hat er manchen Vorfall auf dem Markt in aller Ruhe kommentieren können.
Der Ich-Erzähler ist sensibel und mitfühlend. Beim Eintritt in die Wohnung des Vetters stellt
er fest, dass alles deutete auf wiedergekehrte Hoffnung, auf neuerweckte Lebenskraft (S.
1066) und beim Abschied ist er von herzzerreißender Wehmut erfüllt, als der Vetter ihm sei-
Hagestedt: S57, sieh auch Hoffmann: Die Königsbraut – so ergibt sich eben daraus das göttliche Delirium,
ohne das keine Poesie bestehen mag
80
68622424
Seite 40 von 64
Ton van der Steenhoven
nen Hausspruch nachruft: et si male nunc, non olim sic erit! Zwischen den beiden Vettern
besteht eine gewisse natürliche Vertraulichkeit im Umgang:
Ei, kommst du endlich, Vetter; weißt du wohl, dass ich rechte Sehnsucht nach dir empfunden? […] Ich habe dich […] lieb, weil du ein munterer Geist bist und amüsabel,
wenn auch gerade nicht amüsant. (S. 1066)
Am Anfang der Geschichte teilt der Ich-Erzähler uns mit, dass die Leute gerne lesen, was der
Vetter schreibt; selbst ist er an des Vetters literarischen Produkten nicht so interessiert: es soll
gut sein und ergötzlich; ich verstehe mich nicht darauf.81 Mich erlabte sonst des Vetters Unterhaltung, und es schien mir gemütlicher, ihn zu hören, als ihn zu lesen. (S. 1065) Trotz dieses geringen Interesses an des Vetters Literatur und trotz der Tatsache, dass er den Henker
nach seinen unsterblichen Werken fragt, will der Vetter sehen, ob er ihm nicht wenigstens die
Primizien der Kunst zu Schauen beibringen kann. Der Ich-Erzähler ist aber keine „tabula rasa“, die vom Vetter problemlos indoktriniert werden kann. Er vergleicht die Werke des Vetters recht ausführlich mit dem französischen Schriftsteller Paul Scarron (der, wie der Vetter,
gelähmt war):
[…] jenem Franzosen, den eine besondere, aus dem gewöhnlichen Gleise des französischen Witzes ausweichende Art des Humors trotz der Sparsamkeit seiner Erzeugnisse in der französischen Literatur feststellte. So wie Scarron schriftstellert mein Vetter;
so wie Scarron ist er mit besonderer lebendiger Laune begabt und treibt wunderlichen
humoristischen Scherz auf seine eigne Weise. Doch zum Ruhme des deutschen Schriftstellers sei es bemerkt, dass er niemals für nötig achtete, seine kleinen pikanten Schüsseln mit Asa foedita zu würzen, um die Gaumen seiner deutschen Leser, die dergleichen nicht wohl vertragen, zu kitzeln. Es genügt ihm das edle Gewürz, welches, indem
es reizt, auch stärkt. (S. 1065)
Dieser recht ausführliche Hinweis auf Scarron ist ziemlich merkwürdig für jemand, der wenig
mit Literatur zu tun hätte: Der Ich-Erzähler muss zumindest den Standard der französischen
Literatur kennen, um Scarrons Besonderheit überhaupt registrieren zu können. Er weiß sie
aber recht gut einzuschätzen und ihre wichtigsten Merkmale, Humor und Lebendigkeit, im
Vergleich zum Vetter hervorzuheben.82 Aus den Betrachtungen des Ich-Erzählers geht hervor,
dass er eine Vorstellung von Qualität, von guter Literatur hat und außerdem weiß, was den
deutschen Leser fesselt und was nicht. Der Ich-Erzähler hebt den Vetter positiv gegen Scarron
ab und er nimmt Partei für eine Literatur, die edle Gewürz verwendet und begrüßt die ErfinMcFarland darüber auf S. 106: „Ich möchte behaupten, dass der Kommentar des Erzählers: ich verstehe mich
nicht darauf, nicht als ein Zugeständnis seiner fehlenden Kenntnis im literarischen Bereich ausgelegt werden
sollte, sondern als diskreter und ironischer Versuch, sich von den mittelmäßigen artistischen Anstrengungen
seines alten Vetters zu entfernen.“
82
Hagestedt: S. 60
81
68622424
Seite 41 von 64
Ton van der Steenhoven
dungen des Vetters, wenn sie seinem Schrifstellertalent Ehre machen. So ganz unbekannt mit
der Literatur ist der Ich-Erzähler also nicht. Die Gemeinsamkeiten zwischen Scarron und dem
Vetter werden so stark betont, dass die Unterschiede leicht übersehen werden. Der Vetter ist
arm, Scarron ein berühmter Autor, der erfolgreich gegen seine körperlichen Gebrechen anschreibt, während dem Vetter gerade dieser Zusammenhang zwischen körperlicher Isolation
und poetischer Produktion problematisch zu werden beginnt. Denn dass der Vetter schriftstellert, kompensiert nicht etwa seine körperliche Behinderung, indem sie ihm den freien Flug
der poetischen Fantasie ermöglicht, sondern verstärkt das Handikap.83
Die Erzählung beginnt und endet mit den Worten des Ich-Erzählers, der sich direkt an den
Leser wendet. Auch daran zeigt sich, wie wichtig diese oft übersehene zweite Figur ist, durch
die sich eine alternative ästhetische Perspektive öffnet, durch die die Autorität des Vetters
leicht untergraben wird. Der Vetter, der eigentliche Künstler, existiert in der Erzählung eines
scheinbaren Nichtkünstlers - daraus resultiert ein interessantes Spannungsfeld im Text.
Die offensichtliche autobiografische Verbindung zwischen Hoffmann und Vetter hat zu manchem Missverständnis im Hinblick auf die Bedeutung der Erzählerrolle als alternative Stimme
in der Geschichte geführt.84
Der Vetter
Der Vetter ist als erzählte Person Teilnehmer im Dialog der Erzählung und von Beruf Schriftsteller, eine Tätigkeit, die er aber in der erzählten Zeit nicht mehr ausüben kann, weil ihm
nicht nur die Finger den Dienst verweigern, sondern auch die Gedanken selbst verstoben und
verflogen (S. 1065) sind, ehe sie auf dem Papier erscheinen konnten. Er wohnt, nur mit einem
grämlichen Invaliden, der nach Belieben den Krankenwärter macht […], ziemlich hoch in
kleinen niedrigen Zimmern, so wie es Schrifsteller- und Dichtersitte (S. 1065) ist. Der Vetter
ist ein einsamer, isolierter und an sich selbst zweifelnder Schriftsteller, dessen Lebenskraft
versiegt und der dazu noch teilweise gelähmt ist. Durch körperliche Beschwerden ist auch
sein Inneres aus dem Konzept geraten, der Gedanke selbst war verstoben und verflogen, sodass er nicht mehr schöpferisch tätig sein kann. Durch den Vergleich mit jenem, alten, vom
Wahnsinn zerrütteten Maler (S. 1065) wird implizit darauf hingewiesen, dass der Vetter alt
ist, während das Wort Leichnam auf den nähernden Tod hinweist. Der Vetter ist an seinen
Rollstuhl gefesselt und steht nur noch durch das Eckfenster mit der Außenwelt in Verbin-
83
84
Selbmann: S. 72
McFarland: S. 104
68622424
Seite 42 von 64
Ton van der Steenhoven
dung: […] dies Fenster ist mein Trost; hier ist mir das bunte Leben aufs Neue aufgegangen
[…]. (S. 1067)
Im Dialog der Binnenerzählung wird der Vetter als überlegene Person geschildert: Er ist der
Meister in der Lehre der Schaukunst. Als der Ich-Erzähler den Vetter von unten von der Straße her sieht, ist das mehr als nur die Einführung der Figur des Vetters. Der Standort des IchErzählers, inmitten der Menschen auf dem Markt, trägt in ironischer Weise dazu bei, dass die
visuellen Praktiken des Vetters fragwürdig werden. Dieser Teil der Rahmenerzählung besteht
aus nur wenigen Zeilen, aber ist buchstäblich das „Rahmungs“–Mittel wie in all Hoffmanns
Werken. Obwohl der Vetter dem Ich-Erzähler später in der Schaukunst unterrichtet, und ihn
lehrt, die Menge auf dem Markt sorgfältig zu beobachten und Einzelpersonen auszuwählen,
muss der Ich-Erzähler ein Taschentuch schwenken, um die Aufmerksamkeit des Vetters auf
sich zu lenken.85
Die Kunstproduktion hat im Leben des Vetters die wichtigste Stelle; dem Erzähler sagt er,
weil er seine Gedanken nicht mehr zu Papier bringen kann: Vetter, mit mir ist es aus! (S.
1065) Der Vetter rechnet sich nicht dem niedrigen Volk zu:
Niemals würde ich um den Preis von etlichen Pfennigen meine Tochter der Gefahr
aussetzen, eingedrängt in den Kreis des niedrigsten Volks, eine Zote zu hören oder irgendeine lose Rede eines brutalen Weibes oder Kerls einschlucken zu müssen. (S.
1071)
Der Vetter ist ein gebildeter Herr, der gern Literaturzitate und Termini aus der bildenden
Kunst verwendet: […] und mein Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki,
entwirft eine Skizze nach der andern […]. (S. 1067) Er streut auch mit klassischen Zitaten:
Endlich, endlich zieht er eine mächtige grüne Geldbörse aus der Tasche, entknüpft sie
nicht ohne Mühe und wühlt so entsetzlich im Gelde, dass ich glaube es bis hieher
klappern zu hören. – Parturiunt montes!86 (S. 1081)
Nil admirari.87 (S. 1085)
Bezeichnend ist der Spruch an seinem Bettschirm: et si male nunc, non olim sic erit88. Der
Vetter orientiert sich also an klassischen Poesievorstellungen. Den darin verborgenen Postula-
85
McFarland: S. 110
Aus: Horatius, Ars Poetica 139. Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus (Es kreischen die Berge und geboren wird eine lächerliche Maus)
87
Aus: Horaz Epistulae I,6,1. Nil admirari: prope res est una, Numici, solaque, quae possit facere et servare
beatum. – Dich nicht wundern: dies ist das Einzige, mein Numicius, das allein kann glücklich machen und erhalten.
88
Aus Horaz: Carmina 2, 10, 17. Und wenn’s jetzt übel geht, wird’s einmal nicht so sein.
86
68622424
Seite 43 von 64
Ton van der Steenhoven
ten der Mäßigung und des Maßes entspricht auf der Ebene des Erzählvorgangs der diätische
Lebenswandel des Vetters.89 Die Gefahr des Ausfalls der dichterlichen Inspiration hängt mit
seinem körperlichen und geistigen Zustand eng zusammen.
Der Vetter wird in der Forschung gerne autobiografisch erklärt.90 Dies wird aber durch viele
Tatsachen widersprochen. So wird z. B. Hoffmanns Ehefrau Mischa Trzynska nicht genannt,
der Text leugnet im Gegenteil soziale Relationen solcher Art: Seit der Zeit ließ sich mein Vetter, weder vor mir, noch vor irgendeinem andern Menschen sehen. (S. 1066) Auch ist Hoffmann, im Gegensatz zum Vetter, bis zuletzt schöpferisch tätig gewesen; er hat seine letzten
Texte, darunter Des Vetters Eckfenster, diktiert. Er liebte das Leben. An seinem letzten Geburtstag, den er feiern konnte, sagte Hitzig auf das Ende hindeutend, das Leben sei der Güter
Höchstes nicht. Voller Leidenschaft protestierte Hoffmann gegen diese Worte: „Nein, nein,
leben, leben, nur leben – unter welcher Bedingung es auch seyn möge.“91
Eine künstlerische Krise
Die Erzählung Des Vetters Eckfenster erschien nur wenige Monate vor Hoffmanns Tod im
Jahre 1822. Sie wurde von Hoffmann, der in seinem letzten Lebensjahr eine fortschreitende
Lähmung erlitt und schon nicht mehr schreiben konnte, diktiert. Da wird in der Erzählung nun
der leidende Dichter, der spürt, wie seine Lebenskraft täglich abnimmt, in seinem Rollstuhl
bis an das Fenster seiner Wohnung in der Taubenstraße in Berlin gefahren, und blickt weit
hinaus in das Menschengewimmel auf dem Gendarmenmarkt.
Schon auf der ersten Seite sieht sich der Leser mit einer Reihe von Problemen konfrontiert,
die zu der Hauptfrage führen, wo und wie Kunst entsteht und wodurch ihr Entstehen gefährdet sein kann. Wichtig dabei sind die Stellung des Künstlers in Literatur und Gesellschaft,
Erfolg und Misserfolg beim Publikum, die Bewältigung der Realität durch Sprache, also die
zentralen Probleme der Literatur. Die alltägliche Welt biete genügend Inspiration für den literarischen Schaffensprozess, behauptet der Vetter. […] mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist […] entwirft eine Skizze nach der
andern […]. (S. 1067) Während im serapiontischen Prinzip das korrekte Sehen die Voraussetzung für den künstlerischen Schaffensprozess ist, der aber ins Fantastische hinaufsteigt, wird
89
Selbmann: S. 75
In der Literaturliste z.B.: Schiff S. 29, Hoffmann, Werke bei den Hinweisen S. 938, Köhn S. 209, Willimczik
S. 404 und Neumann S. 227
91
Hitzig: Aus Hoffmanns Lebern und Nachlaß. Zitiert nach Werner: S.181
90
68622424
Seite 44 von 64
Ton van der Steenhoven
in dieser Erzählung die äußere Wirklichkeit zum Ausgangspunkt gemacht.92 Diese realistische
Ebene steht im Gegensatz zum romantischen, serapiontischen Prinzip. Das glühende Leben
tritt also nicht mehr aus seinem Innern hervor.93 Wo in den Serapions-Brüdern Hoffmann
letztendlich dem Verstand eine kontrollierende Funktion zuweist, scheint in Des Vetters Eckfenster der Weg ein umgekehrter: die realistische Wirklichkeitserfassung im Sinne von „Erblicken“ muss zum dichterischen „Schauen“ führen. Es ist als führe ein aufklärerisches Prinzip, ja eine gewisse Erbaulichkeit, erst zur dichterischen Einbildungskraft, als handle es sich
um den „Übergang vom Anschauen zum Erschauen“.94
Der Vetter unterrichtet seinen Besucher (den Ich-Erzähler) und mit ihm den Leser in der Erfassung der Welt. Die Erzählung zeigt anhand der Porträtierung des Marktgeschehens, wie die
Gesellschaft um 1820 funktionierte. Napoleons Niederlage (1815), die darauffolgende Neuordnung Europas und die aufkommende Industrialisierung boten der Bevölkerung neue Zukunftsperspektiven; in dieser Hinsicht scheint der Tenor dieser Erzählung denn auch optimistisch zu sein, der Fensterblick sogar von biedermeierlicher Behaglichkeit zu zeugen.
Das Panoramaverfahren hat den Vetter in die Lage versetzt, eine Krise zu überwinden, die
nicht nur persönlicher, sondern auch gesellschaftlicher Natur ist. Der Vetter ist voller Hoffnung:
Überhaupt […] haben mich meine Beobachtungen des Marktes in der Meinung bestärkt, dass mit dem Berliner Volk seit jener Unglücksperiode, als ein frecher, übermütiger Feind das Land überschwemmte und sich vergebens mühte, den Geist zu unterdrücken, der bald wie eine gewaltsam zusammengedrückte Spiralfeder mit erneuter
Kraft emporsprang, eine merkwürdige Veränderung vorgegangen ist. Mit einem Wort:
das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen. (S. 1085)
Sieh, lieber Vetter, wie jetzt dagegen der Markt das anmutige Bild der Wohlbehaglichkeit und des sittlichen Friedens darbietet. (S. 1086)
Die künstlerische Krise des Vetters scheint rein persönlich zu sein. Er hat durch eine hartnäckige Krankheit den Gebrauch seiner Füße verloren (S. 1065) und kann sich nur mithilfe
standhafter Krücken und des nervigen Arms eines grämlichen Invaliden, der nach Belieben
den Krankenwärter macht (S. 1065) in seinem Zimmer fortbewegen. Seiner Krankheit wegen
lässt er sich vor keinem Menschen mehr sehen, zieht sich scheu in sein Zimmer zurück und
nimmt die Welt, durch Fenster und Fernglas wahr: Der alte grämliche Invalide wies uns murrend und keifend von der Türe weg wie ein bissiger Haushund. (S. 1066) Ein schlechtes Zeichen: ein Dichter, der sich nicht mehr unter die Menschen begeben kann, keine Besucher
92
Woodgate: S. 196
Köhn: S. 209
94
Vgl.: Winter: S. 86
93
68622424
Seite 45 von 64
Ton van der Steenhoven
mehr empfängt, isoliert sich und entzieht sich so den wichtigen Inspirationsquellen. Die Lähmung nimmt zu: auch die Finger sind schon angegriffen:
Aber den Weg, den der Gedanke verfolgen musste, um auf dem Papier gestaltet zu erscheinen, hatte der böse Dämon der Krankheit versperrt. Sowie mein Vetter etwas aufschreiben wollte, versagten ihm […] die Finger den Dienst […]. (S. 1065)
Dazu kommt noch das Schlimmste, das einem Menschen und besonders einem Schriftsteller
passieren kann: Seine geistigen Fähigkeiten nehmen ab und wenn er einen Gedanken aufschreiben will, ist der Gedanke selbst […] verstoben und verflogen. Der Vetter steckt dadurch
in einer Krise: Vetter, mit mir ist es aus! […], sagt er dem Ich-Erzähler, ich geb's auf […].
Mein Geist zieht sich in seine Klause zurück! (S. 1065) Die Beschreibung der Krankheit erinnert den Leser an Hoffmanns Krankheit und es ist verführerisch, die Erzählung als Darstellung und Verarbeitung einer rein persönlichen Krise zu lesen.
Es ist bemerkenswert, dass die Fantasie und das Imaginationsvermögen des Vetters überhaupt
nicht von der geistigen Krankheit beeinflusst werden. Der Vetter ersinnt immer noch neue
Geschichten, ein offensichtlich gesunder Teil seines Geistes schafft weiter, denn:
Die schwerste Krankheit vermochte nicht den raschen Rädergang der Fantasie zu
hemmen, der in seinem Innern fortarbeitete, stets Neues und Neues erzeugend. So kam
es, dass er mir allerlei anmutige Geschichten erzählte, die er, des mannigfachen Wehs,
das er duldete, unerachten, ersonnen. (S. 1065)
Ein Schriftsteller muss seine Gedanken in Sprache fassen können. Die Sprache ist für die Literaturproduktion das Werkzeug, das für die Erfassung eines Kunstwerks unentbehrlich ist.
Dass der Schaffensprozess ein komplizierter ist hat Chamisso in seinem Dramenfragment
Faust hervorragend zum Ausdruck gebracht:
So wie die Sprache, wie des Wortes Schall
Dir Mittler des Gedankens ist und Zeichen,
So ist des Sinns empfinden, der Gedanke selbst
Dir Sprache, bloß und eitles leeres Zeichen
Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit.95
Auf diese Weise wird Faust die Einsicht beigebracht, dass absolute Erkenntnis gerade wegen
der Sprache unmöglich ist, weil die Sprache aus Zeichen besteht, die immer zugleich auf etwas anderes als sich selbst verweisen. Es führt dazu, dass Faust den grundlegenden Vermitt-
95
Zitiert nach Orosz: Hieroglyphe – Sprachkrise – Sprachspiel, S. 2
68622424
Seite 46 von 64
Ton van der Steenhoven
lungscharakter aufheben will.96 Dass des Vetters Sprachkrise schon lange bekannt war, zeigt
der Spruch auf seinem Bettschirm: et si male nunc, non olim sic erit. Horaz thematisiert mit
seiner Vertröstung auf „später“ die Gefahr des Ausfalls, bzw. die Unbeständigkeit der dichterischen Inspiration, dass nämlich trotz Apolls Bemühungen die Muse gelegentlich schweigen
könne. In einem kurzen Gedicht erfasst Hugo von Hofmannsthal fast 2000 Jahre später das
Problem so:
Fürchterlich ist diese Kunst! Ich spinn aus dem Leib mir den Faden,
Und dieser Faden zugleich ist auch mein Weg durch die Luft.97
Der Dichter ist eine Art Seiltänzer, doch das Seil, hier nur einen dünnen Faden, webt er aus
dem eignen Körper, aus dem Leib, dort, wo das Leben sitzt und die Räusche der Empfindung
entstehen. Nachdem Hofmannsthal in eine Schreibkrise geraten war, schrieb er den berühmten
„Chandosbrief“, in welchem er für eine „neue Sprache“, die nicht durch Zeichen vermittelt
wird, plädierte.
Die Kunst als die im Dichter schaffende Fantasie ist offenbar nicht von der Geisteskrankheit
des Vetters angetastet, nur die die Vorstellung realisierenden Kräfte, das Erinnern und das
Schreiben, sind von der Krankheit geschädigt worden. Er fühlt sich:
[…] wie jener alte, vom Wahnsinn zerrüttelte Maler, der tagelang vor einer in den
Rahmen gespannten grundierten Leinwand saß, und allen, die zu ihm kamen, die mannigfachen Schönheiten des reichen, herrlichen Gemäldes anpries, das er soeben vollendet: - ich geb’s auf, das wirkende schaffende Leben, welches zur äußern Form gestaltet aus mir selbst hinaustritt, sich mit der Welt befreundend! - Mein Geist zieht sich
in seine Klause zurück! (S. 1065)
Hoffmann hat das Bild eines Malers, der einer künstlerischen Krise verfallen ist und tagelang
vor einer in den Rahmen gespannten grundierten Leinwand sitzt, schon früher verwendet. In
der Erzählung Der Artushof bringt eine Krise den Maler Berklinger dazu, einem Besucher ein
imaginäres Bild zu beschreiben, das auf der Leinwand zu sehen sei. Bei der Schilderung dieses imaginären Werkes gerät er immer mehr in Verzückung und bricht schließlich zusammen.
Auch hier ist die Rede von der Krise des Künstlers, die mit der Krise des Vetters zu vergleichen ist. In beiden Fällen entsteht in der Fantasie des Künstlers ein Bild, das nicht zum Ausdruck gelangt. Nicht der Schaffungsdrang fehlt, sondern die Ausdrucksfähigkeit. Wie Goethes
96
97
Orosz, S. 2
Hugo von Hofmannsthal: Dichtkunst (1898). Aus: Sämtliche Werke I, ( E. Weber) Frankfurt/M, (1984): S. 86
68622424
Seite 47 von 64
Ton van der Steenhoven
Werther es im Brief des 10. Mai zum Ausdruck bringt: […] ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papier einhauchen, was so voll […] in dir lebt. Es ist das Problem
des verhinderten Künstlers. Es ist beim Vetter also nicht die physische Lähmung, die das
Schreiben verhindert, sondern eine Blockade im Entstehungsprozess eines Kunstwerks.
Nach den ersten Lektionen im Schauen äußert der Ich-Erzähler allerdings seinen Zweifel an
der Übereinstimmung vom geschilderten - und wirklichen Leben, indem er auf die besondere
Veranlagung des Schriftstellers hinweist, mit der Fantasie eine beseelte und zugleich glaubwürdige Wirklichkeit abbilden zu können: Von allem, was du da herauskombinierst, lieber
Vetter, mag kein Wörtchen wahr sein, aber indem ich die Weiber anschaue, ist mir, Dank sei
es deiner lebendigen Darstellung, alles plausibel, dass ich daran glauben muss, ich mag wollen oder nicht. (S. 1070) Mit dieser und ähnlichen Äußerungen bildet der Ich-Erzähler einen
konstanten Widerpart, der dem Dichter wiederholt einen Spiegel vorhält, und damit die ausschweifenden und von Details überfüllten Ausführungen zu dem vom Fenster aus Wahrnehmbaren in Verbindung bringt.
In der Erzählung gibt es einen Hinweis auf die eventuelle Ursache der künstlerischen Krise.
Der Ich-Erzähler sieht auf dem Markt eine Blumenverkäuferin, ein Engelskind, die allerliebste Geheimratstochter. (S. 1063) Der Vetter hat jedoch, als seine Krankheit ihn noch nicht ans
Haus fesselte, mit diesem Blumenmädchen eine äußerst unangenehme Erfahrung gemacht, die
ihn in der Bewertung seines Künstlertums getroffen hat: Nach den Blumen dort schau ich
nicht gerne hin, lieber Vetter (S. 1073), sagt er im Dialog dem Ich-Erzähler. Der Vetter hat
das Blumenmädchen mal lesend bei ihren Blumen auf dem Markt getroffen: Sie saß wie in
einer dichten Laube von blühenden Geranien und hatte das Buch aufgeschlagen auf dem
Schoße, den Kopf in die Hand gestützt. (S. 1074) Der Vetter stand wie festgebannt am Boden
und er hoffte sehnlich, dass es eins seiner Werke sei, das sie las und durch das sie in die fantastische Welt seiner Träumereien versetzt worden sei. Und wirklich, es war ein Werk von
ihm! Er fragt sie, wie denn das Buch gefalle und zu seinem nicht geringen Erstaunen erzählt
das Mädchen ihm den Inhalt des Märchens klar und deutlich:
Anfangs wird einem ein wenig wirrig im Kopfe, aber dann ist es so, als wenn man mitten darin säße. (S. 1074)
Diese Charakteristik – des Lesens im Gelesenen – trifft zugleich das Konstruktionsmuster der
Weltwahrnehmung des ganzen Textes, als eines Vorgangs der fortgesetzten Defiguration und
68622424
Seite 48 von 64
Ton van der Steenhoven
Refiguration des Wahrgenommenen; eines Alternierens von Verwirrung und Implikation.98
Der Vetter macht sich dann als Autor des Märchens bekannt: Hier, mein süßer Engel, hier
steht der Autor des Buchs, welches Sie mit solchem Vergnügen erfüllt hat, vor Ihnen in leibhaftiger Person. (S. 1074) Das Mädchen starrt ihm sprachlos an. Der Vetter nimmt an, dass
die Tatsache dass das Genie, dessen schaffende Kraft solch ein Werk erzeugte, so plötzlich
vor ihr steht, in ihr die höchste Verwunderung, ja einen freudigen Schreck verursacht habe.
Dann folgt die tiefe Enttäuschung: Es fand sich, dass das Mädchen niemals daran gedacht,
dass die Bücher, welche sie lese, vorher gedichtet werden müssten. Dichtung als die Erschaffung von Kunst war dem Blumenmädchen völlig fremd und es hätte den Vetter nicht gewundert, wenn bei näherer Nachfrage der fromme kindliche Glaube ans Licht gekommen wäre,
dass der liebe Gott die Bücher wachsen ließe wie die Pilze. (S. 1075) Das Mädchen fragt ihn
ganz naiv und unbefangen, ob der Vetter alle Bücher für Herrn Kralowskis Leihbibliothek
mache, worauf der Vetter, völlig desillusioniert, pfeilschnell von dannen […] schoss. Eine
bittere Erfahrung, mit der jeder rechnen muss, der den Kontakt mit der Außenwelt verloren
hat und nur ab und zu seinen Elfenbeinturm verlässt. Der Ich-Erzähler lacht und nennt es zurechtgestrafte Autoreitelkeit.
Diese tragische Geschichte des Blumenmädchens unterscheidet sich von allen anderen schon
allein dadurch, dass sie nicht den Spekulationen am Fenster entspringt, „sondern eine Erfahrung des Vetters auf dem Markt darstellt, ihn also selber in der Position des Verkäufers
zeigt.“99
Nach den Napoleonischen Kriegen entfaltete sich ab 1815 in wachsendem Umfang eine kapitalistische Warenproduktion und –austausch. Die Entwicklung wurde noch beschleunigt durch
die Erfindung der Papiermaschine und Schnellpresse, wodurch die Buchproduktion sprunghaft anwuchs.100 Dass ein einfaches Blumenmädchen nicht in der Lage ist, das neue Funktionieren des Büchermarktes mit den Buchhändlern, Druckern, Autoren und Leihbibliotheken zu
durchschauen, kann mit dem Phänomen der historisch neuen Form der Waren- und Geldzirkulation zu tun haben, die die entscheidenden Funktionen von Buchproduktion und Buchhandel für das Publikum unsichtbar gemacht hat. Bücher sind, wie andere Produkte Ware geworden, mit einer für Laien undurchsichtigen Logistikkette. Das gilt übrigens nicht nur für die
98
Neumann: S. 231
Vgl. hierzu Hermann Korte: S. 135. Nach Korte heißt es, dass das Buch zur Handelsware gemacht worden ist,
und als Marktprodukt einem Prinzip unterworfen ist: „dem teuflischen ökonomischen Automaten, der alle Bewegung und Zirkulation lenkt […] (S. 136)“ und zu dem kein Dichter mehr passt.
100
Peter Stein in: Beutin, S. 243/4
99
68622424
Seite 49 von 64
Ton van der Steenhoven
Herkunft der Handelswaren, auch die Herkunft der vielen Leute auf dem Markt ist fortan unerforschlich. Dass der Vetter als Schriftsteller selber Teil einer solchen Logistikkette, und als
Mann von Welt, der sich auch noch als Genie versteht, die Ansicht des Mädchens so falsch
einschätzt, deutet auf eine gewisse Weltfremdheit: Von der Veränderung der ökonomischen
Strukturen und somit des gesamten Großstadtlebens scheint der Vetter nicht viel mitbekommen zu haben. Sein Selbstbild als sublimes Genie, dessen schaffende Kraft solch ein Werk
erzeugt (S. 1075) erweist sich als veraltet. Das lesende Volk, das im Blumenmädchen symbolisiert wird, hat von Literatur eine ganz andere Auffassung: Dichtung entsteht quasi von selbst
(wie Märchen und andere Volksgeschichten) und kennt keinen individuellen Schöpfer. Die
Geschichte mit dem Mädchen ist die einzige Marktgeschichte, in welche der Vetter persönlich
mit einbezogen ist. Der Künstler hat also den Kontakt mit dem Volk, mit seinem Markt, verloren: ein Grund für seine künstlerische Krise. Auch hier zeigt sich deutlich ein Bruch zwischen Bürger und Künstler.
Die Krise des Vetters hat also nicht nur private Gründe, sondern hat auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, die ihm völlig entgangen sind. Die Krise ist entstanden, weil seine künstlerischen Aktivitäten nur nach innen gerichtet waren; er hat die korrigierenden Einflüsse der Außenwelt vernachlässigt. Wie der Maler Berklinger hat der Vetter sich anscheinend nur mit dem Rädergang der Fantasie beschäftigt und die sich verändernde Umwelt nicht
rechtzeitig wahrgenommen. Das zunehmende Auseinandergeraten von Innenwelt und Außenwelt wird durch die körperliche Lähmung noch verschlimmert und im Unvermögen zu
Schreiben symbolisiert.
Dieser Künstlertyp scheint eine interessante Parallele zu finden in Hoffmanns persönlichem
Interesse an der Außenwelt und seinen Mitmenschen. In Hitzigs Hoffmann-Biografie wird
Hoffmanns Benehmen als Augenzeuge bei den Kriegshandlungen um Dresden beschrieben.
Die Literaturwissenschaftlerin Rebecca Partouche macht deutlich, dass Hitzigs Anekdoten
nicht nur hoffmannesk sind, sie sind Hoffmanns Erzählungen direkt entnommen. So erinnert
folgende groteske, nahezu theaterreife Szenerie, von der Sir Walter Scott berichtet, nicht von
ungefähr an Hoffmanns Geschichten, sie erinnert direkt an Der Dichter und der Komponist, in
welcher zwei Freunde sich ebenfalls während der Kriegsereignisse in Dresden über die Vorzüge der Künste unterhalten:
Von der Bombardierung und Belagerung Dresdens, einem bedeutenden geschichtlichen Ereignis, nahm Hoffmann, der dem Geschehen als Augenzeuge beiwohnte, allein jenes beiläufi-
68622424
Seite 50 von 64
Ton van der Steenhoven
ge Wort Napoleons wahr: „Mal sehen!“ Hoffmann nahm offensichtlich keine Notiz von der
Schlacht, die sich wie ein Theaterstück seinen Augen darbot. Da Hoffmann außerdem das
unerwartete Glück zuteil wurde, das Kriegsgeschehen von der erhöhten Warte eines Wirtshauses überblicken zu können, wäre ja doch ein farbiges Tableau zu entwerfen gewesen!
Hoffmann sei jedoch blind für die historische Wirklichkeit wie für Landschaften gewesen.
Auch Hitzig bedauert Hoffmanns Gleichgültigkeit betreffs der Natur. Nur dem Menschen
habe seine Beobachtungsgabe gegolten. Keine einzige Landschaftsbeschreibung habe er uns
beschert. Auch habe er nie eine Zeitung gelesen! Ein Umstand, aus dem sich nur allzu deutlich seine krankhafte Teilnahmelosigkeit der Welt gegenüber herauslesen lasse. Auch für
Scott ist der Umstand, dass Hoffmann mitten im Bombardement mit seinem Freund Keller
munter Sekt getrunken und nur zuweilen aus dem Fenster nach dem Kriegsgeschehen Ausschau gehalten habe, ein Beweis für Hoffmanns Weltfremdheit,101 die sich auch in Des Vetters Eckfenster zeigt: Das Mädchen starrte mich sprachlos an, mit großen Augen und offenem
Munde. (S. 1074) Dass es bei dem vor ihr Stehenden um den Schöpfer ihrer Märchengeschichte handelt, übersteigt ihre Vorstellungskraft. Der Vetter bezeichnet das als freudigen
Schreck, was zugleich der Ausdruck von Wunschdenken und Ironie sein kann. Durch diese
Ironie mildert sich die Ernüchterung und Missachtung, die er seitens des Blumenmädchens
erfährt. Hier relativiert die ironische Rede des Vetters seinen Anspruch auf eine geniale
Künstlerexistenz und lässt vermuten, dass er die Idolatrie des Genies seiner Zeit als Auswuchs
einer zweifelhaften Ideologie erkannt hat und dass er seine eigenen Schwächen einsieht. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass der Vetter an der Idee des genial-schöpferischen Menschen
Gefallen gefunden hat und sich insgeheim gern ins Heer der gefeiertsten Dichter eingereiht
hätte. Diese Episode mit dem Blumenmädchen steht nicht ohne Grund in der Mitte der Erzählung: Es ist ein Wendepunkt, in welchem die Demaskierung der Eitelkeit und die Gefangenschaft des Schriftstellers in der Kunst, die zur Isolierung geführt hat, an den Pranger gestellt
wird. Der Vetter stellt verbittert fest, dass das Mädchen an dem Zustandekommen des Buches
nicht interessiert ist. Ihr Verhalten ist symbolisch für die Einstellung der gesamten Gesellschaft der Kunst gegenüber, in dem Philistertum, Spießbürgerlichkeit und Kunstfeindlichkeit
zum Ausdruck gebracht werden.
Nach der Meinung des Vetters ist der Ich-Erzähler in Eckfenster nicht an Kunst interessiert.
Bei der Begrüßung sagt der Vetter ihm: Denn unerachtet du den Henker was nach meinen
unsterblichen Werken fragst, so habe ich dich doch lieb, weil du ein munterer Geist bist und
101
Partouche: S. 9
68622424
Seite 51 von 64
Ton van der Steenhoven
amüsable, wenn auch gerade nicht amüsant. (S. 1066) Auch hat der Ich-Erzähler am Anfang
Schwierigkeiten mit dem genauen Wahrnehmen: Als er, von seinem Vetter dazu aufgefordert,
zum ersten Mal aus dem Eckfenster schaut, ist er unfähig, dass Marktgeschehen in Einzelheiten wahrzunehmen: er wird von der Masse überwältigt:
Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, sodass
man glauben musste, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sonnenschein, und zwar in ganz kleinen
Flecken, auf mich machte dies den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin
und her wogenden Tulpenbeets, und ich musste mir gestehen, dass der Anblick zwar
recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei, ja wohl gar aufgereizten Personen einen
kleinen Schwindel verursachen könne, der dem nicht unangenehmen Delirieren des
nahenden Traums gliche […]. (S. 1067)
Der Ich-Erzähler setzt zunächst die Metapher das hin und her wogende Tulpenbeet ein um die
verwirrende Flut von Eindrücken wiederzugeben und am Ende verursacht die Volksmasse auf
dem Markt einen Schwindel, der er mit dem Delirieren des nahenden Traums vergleicht. Er
kann das Geschehen auf dem Markt nicht erfassen. Er versteht diese Signale, die in der Romantik als Herauslöser von genialen poetischen Gedanken galten, nicht und er zieht sich als
Reaktion in sich selbst zurück. Anstelle der alles mit einem Blick erfassenden Vogelschau
empfiehlt der Vetter ihm das Fixieren des Blicks aufs Detail; allein dadurch werde das deutliche Schauen ermöglicht. Man könnte sogar meinen, dass das Eckfenster, und in dessen Verlängerung das Fernrohr, die Darstellungsmittel sind, die einerseits die Möglichkeit der realistischen Darstellung in Frage stellen, anderseits nach der reinen Darstellung der Realität streben. Woodgate suggeriert, dass das Motto „et si male nunc…“ darauf hinweist, dass „die
ideale Darstellungsform nicht hier und jetzt möglich [ist], aber in einer zukünftigen Zeit.“102
Die Wahrnehmungsschwierigkeiten von Vetter und Ich-Erzähler sind entgegengesetzt: Der
Vetter weiß seine Vorstellung nicht aufs Papier zu bringen, während der Ich-Erzähler die
Wahrnehmungen der Menschenmenge auf dem Markt nur als „Tableau“, d. h. als „Palette“
mit farbigen Flecken in seiner Vorstellung zu realisieren vermag.
Die Beseitigung der Krise
Zwei Krisen wären also festzustellen. Der Vetter hat den Kontakt mit der Realität des Alltags
verloren, was ihn als Dichter untauglich macht und wodurch er in die schwärzeste Melancholie verfällt, während der Ich-Erzähler vom Panorama-Bild der Masse überwältigt wird. Im
102
Woodgate: S. 201
68622424
Seite 52 von 64
Ton van der Steenhoven
Falle des Vetters ist es die Frage, wie er den Kontakt, von dem er abgeschnitten zu sein
scheint, wiederherstellen kann, um damit die Blockade im künstlerischen Entstehungsprozess
zu beheben. Der Ich-Erzähler muss die Frage, wie er das komplexe, verwirrende Marktbild in
den Griff bekommen kann, lösen, sodass er sich in die Lage versetzt, Einzelheiten und räumliche Strukturen im Ganzen zu erkennen.
Der Vetter erkennt die Ursache des Problems des Ich-Erzählers: Nun sehe ich wohl, dass auch
nicht das kleinste Fünkchen von Schriftstellertalent in dir glüht. Das erste Erfordernis fehlt
dir dazu […] nämlich ein Auge, welches wirklich schaut. (S. 1067) Er ist auch bereit dem IchErzähler zu helfen, dieses Problem zu lösen. Auf, Vetter! Ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen beibringen kann. (S. 1067) Er reicht dem IchErzähler ein Fernglas und die erste Lektion fängt an: Bemerkst du wohl die etwas fremdartig
gekleidete Person mit dem großen Marktkorbe am Arm, die, mit einem Bürstenbinder in tiefem Gespräch begriffen. (S. 1067) Der Vetter zeigt sich ein Musterschüler: Mit dem Fernglas
findet er im hin und her wogenden Tulpenbeet diese Gestalt sofort und kann sogar zusätzliche
Einzelheiten erwähnen:
Ich habe sie gefasst. Sie hat ein grell zitronenfarbiges Tuch nach französischer Art
turbanähnlich um den Kopf gewunden, und ihr Gesicht sowie ihr ganzes Wesen zeigt
deutlich die Französin. Wahrscheinlich eine Restantin aus dem letzten Kriege, die ihr
Schäfchen hier ins Trockene gebracht. (S. 1068)
Er ist jetzt in der Lage, in dem Wirrwarr Einzelheiten wahrzunehmen. Diese Einzelheiten bieten ihm Einsicht in bestimmte Phänomene der damaligen Gesellschaft Berlins. In der Berliner
Gesellschaft sind Soldaten der Napoleonischen Armeen und offensichtlich auch Frauen aufgegangen. Dass die vom Ich-Erzähler beobachtete Französin ihre Schäfchen hier ins Trockene
gebracht hat, dürfte darauf hinweisen, dass sie völlig in dieser Gesellschaft integriert ist.103
Der Vetter hat diese Französin schon öfters beobachtet und kann sich schon ein Bild von ihr
machen: Nicht übel geraten. Ich wette, der Mann verdankt irgendeinem Zweig französischer
Industrie ein hübsches Auskommen, so das seine Frau ihren Marktkorb mit ganz guten Dingen reichlich füllen kann. (S. 1068) Er bittet den Ich-Erzähler, die Frau während ihres Gehens
durch die Krümmungen, nicht aus dem Auge zu verlieren.
103
Es könnte aber auch ein Mitglied der französisch-reformierten Gemeinde in Berlin sein, Nachkommen der
1685 eingewanderten Hugenotten, die um 1820 etwa 150 Mitglieder zählten und in der Französischen Dom zur
Kirche gingen. (Quelle: http://www.bb-evangelisch.de/extern/frz_reform_potsdam/
68622424
Seite 53 von 64
Ton van der Steenhoven
Dass ist schwierig: Ei, wie der brennende gelbe Punkt die Masse durchschneidet. Jetzt
ist sie schon der Kirche nah – jetzt feilscht sie um etwas bei den Buden – jetzt ist sie
fort – o weh! ich habe sie verloren – nein, dort am Ende duckt sie wieder auf – dort
bei dem Geflügel – sie ergreift eine getupfte Gans – sie betastet sie mit kennerischen
Fingern. (S. 1068)
Der Vetter ist mit den Fortschritten seines Schülers zufrieden: Gut, Vetter, das Fixieren des
Blicks erzeugt das deutliche Schauen. (S. 1068) Wie das gemalte Panorama entwickelt wurde,
um größere Landschaftsbereiche zu erzeugen, neue Seherfahrungen zu machen und den Horizont zu erweitern, so muss das Geschehen auf dem Markt dem Ich-Erzähler den Blick öffnen,
um aus dem Wahrgenommenen auf die Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben zu schließen, sodass er seinen Schwindel überwinden kann: Der Anblick eines scheckigen, sinnverwirrenden Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volkes soll in die mannigfachste
Szenerie des bürgerlichen Lebens (S. 1067) umgewandelt werden, die amorphe Masse der
unterschiedlichsten Menschen soll geordnet werden und aus der Masse soll der einzelne
Mensch hervortreten.
Aus dem Titel der Erzählung wird deutlich, dass das Sehen, besonders eine bestimmte Art des
Schauens, in der Erzählung im Mittelpunkt steht. Das Fenster bildet den Schnittpunkt zwischen dem Beobachtungsraum, in welchem der Vetter und der Ich-Erzähler sitzen und dem
Markt, der die Gesellschaft symbolisiert. Die beiden Schauenden haben eine ideale Beobachtunsposition: Und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick
das ganze Panorama des grandiosen Platzes. (S. 1066) Wie die Panoramabesucher sind der
Vetter und der Ich-Erzähler nicht Teil des Panoramas, sie sind „außenstehende“ Beobachter.
Sie befinden sich in einer ähnlichen Wahrnehmungslage wie die Besucher eines Panoramas,
mit dem einzigen Unterschied, dass jene Besucher den ganzen Kreis überblicken. Mit dem
Gewinn an Blickfreiheit aufgrund ihrer Position haben Vetter und Ich-Erzähler die Wahrnehmbarkeit des Geschehens durch ihre anderen Sinne verloren. Sie können das Treiben auf
dem Markte mit den Augen freilich ausgezeichnet wahrnehmen, aber nur begrenzt hören und
riechen. Vom Markt hören sie nur ein amorphes Stimmengeräusch, in welches keine Einzelheiten, geschweige ein Gespräch, zu hören sind. Ihre Wahrnehmung beschränkt sich, genau
wie in einem Panorama, ausschließlich auf visuelle Details.
Schon beim Anfang der Unterrichtsstunde über die Grundprinzipien der Schaukunst, die Primizien der Kunst zu schauen, lernt der Ich-Erzähler den ersten, wichtigen Grundsatz: Das
Fixieren des Blicks erzeugt das deutliche Schauen. (S. 1068) Im Laufe des Unterrichts wird
immer deutlicher, dass mit dem Fixieren des Blicks das Wahrnehmen von Einzelheiten ge-
68622424
Seite 54 von 64
Ton van der Steenhoven
meint ist. Deswegen hat der Vetter dem Ich-Erzähler ein Fernglas überreicht, das die Möglichkeiten einer solchen Fixierung stark vereinfacht. Das Fernglas ermöglicht es dem IchErzähler, konkrete Einzelheiten gleichsam zu registrieren. So zählt der Ich-Erzähler geflissentlich die Waren einer Händlerin auf: blaue(n) und graue(n) Strümpfe(n), Strickwolle usw.
(S. 1069), ein paar Ausrangierte Ballchaussure (S. 1072) und eine blutrote, noch dazu ziemlich mannhaft gebaute Faust (S. 1079) geben näheren Aufschluss über exotisch aussehende
Gestalten. Der Vetter kennt jeden Marktbesucher und anders als der Ich-Erzähler beschränkt
er sich nicht auf rein Optisches; er lässt seine Fantasie den freien Lauf und ersinnt eine Geschichte, in der die Gestalten zu leben anfangen. Der Ich-Erzähler dahingegen listet auf, was
er wahrnimmt:
Was für eine tolle Figur – ein seidener Hut, der in kapriziöser Formlosigkeit stets jeder Mode Trotz geboten, mit bunten, in den Lüften wehenden Federn – ein kurzer
seidner Überwurf, dessen Farbe in das ursprüngliche Nichts zurückgekehrt – darüber
ein ziemlich honetter Schal – der Florbesatz des gelbkattunenen Kleides reicht bis an
die Knöchel – blaugraue Strümpfe – Schnürstiefel, hinter ihr eine stattliche Magd mit
zwei Marktkörben, einem Fischnetz, einem Mehlsatz, - Gott sei bei uns, was die seidene Person für wütende blicke um sich wirft, mit welcher Wut sie eindringt in die dicksten Haufen – wie sie alles angreift, Gemüse, Obst, Fleisch usw.; wie sie alles beäugelt,
betastet, um alles feilscht und nichts erhandelt. (S. 1068)
Der Ich-Erzähler hat gute Fortschritte gemacht; er kann die die Figur kennzeichnenden
Merkmale beschreiben und das Benehmen der Frau sogar interpretieren. Der Vetter hat um
diese Frau eine Geschichte erdichtet, die sich als die Knospe einer neuen fantastischen Hoffmannschen Erzählung lesen lässt:
Ich nenne diese Person, die keinen Markttag fehlt, die rabiate Hausfrau. Es kommt mir
vor, als müsse sie die Tochter eines reichen Bürgers, vielleicht eines wohlhabenden
Seifensieders sein, deren Hand nebst annexis ein kleiner Geheimsekretär nicht ohne
Anstrengung erworben. Mit Schönheit und Grazie hat sie der Himmel nicht ausgestattet, dagegen galt sie bei allen Nachbarn für das häuslichste, wirtschaftlichste Mädchen, und in der Tat, sie ist auch so wirtschaftlich und wirtschaftet jeden Tag vom
Morgen bis in den Abend auf solche entsetzliche Weise, dass dem armen Geheimsekretär darüber Hören und Sehen vergeht, und er sie dorthin wünscht, wo der Pfeffer
wächst. Stets sind alle Pauken- und Trompetenregister der Einkäufe, der Bestellungen,
des Kleinhandels und der mannigfachen Bedürfnisse des Hauswesens gezogen, und so
gleicht des Geheimsekretärs Wirtschaft einem Gehäuse, in dem ein aufgezogenes
Uhrwerk ewig eine tolle Sinfonie, die der Teufel selbst komponiert hat, fortspielt […].
(S. 1068/9)
Der Ich-Erzähler beurteilt jenes Frauenzimmer nach dem Kriterium seines Schönheitsbegriffs.
Das Urteil fällt zu ihren Ungunsten aus: Diese Frau ist für ihn nicht salonfähig. Sein negatives
68622424
Seite 55 von 64
Ton van der Steenhoven
Urteil über ihre Schönheit führt zu einer Verurteilung ihrer Umgangsformen: Wie sie alles
beäugelt, betastet, um alles feilscht und nichts erhandelt. Für den Vetter dagegen ist das Äußere anderen Eigenschaften untergeordnet, wird dem „Wahren“ gegenübergestellt: Mit
Schönheit und Grazie hat sie der Himmel nicht ausgestattet, dagegen galt sie bei allen Nachbarn für das häuslichste, wirtschaftlichste Mädchen […]. Das Bild, das der Vetter sich von
der Frau macht, wird von der wahrgenommenen Physiognomie bestimmt. Er betrachtet die
Frau zuerst mit objektiv-wissenschaftlichem Interesse, um dann das Schöne und moralisch
Gute offensichtlich zu machen, d. h. aus dem Sichtbaren das Nicht-Sichtbare zu erschließen.
Die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen setzen seine Fantasie in Gang und so entsteht
der Plot für eine Erzählung.
Die Ablösung des „Äußeren“ durch das Wahre in der Kunst wird auch dadurch betont, dass
das schweifende Fernglas des Ich-Erählers prinzipiell jede Person und jede Handlung treffen
kann. Jedes Mal, wenn der Vetter den Ich-Erzähler auf eine bestimmte Person aufmerksam
macht, geschieht das nicht aufgrund einer rein äußerlichen Kennzeichnung, sondern meistens
aufgrund gewisser Einzelheiten, die bei genauem Hinschauen zu moralischen Werten und
imaginativen Wendungen führen.
Auch das Panorama, das der Markt den Beiden bietet, ist ein möglichst detailgetreues Wirklichkeitsbild, indem Wirkung vor Schönheit geht. Wie bei einem gemalten Panorama gibt es
auf dem Markt keine Hauptfiguren und keine Hierarchie. Jede Person auf dem Markt macht
seine eigenen Geschäfte ohne Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. Wie der Blick des
Panoramenbesuchers über die Leinwand hüpft, ermuntert der Vetter auch den Ich-Erzähler
dazu, mit dem Auge von Punkt zu Punkt zu springen.
Genauso wie ein Auge, welches wirklich schaut, ist das durch das Fernglas reduzierte Blickfeld auf kleine Teile des Marktes für den im genauen Erblicken nicht geübten Ich-Erzähler
eine wesentliche Hilfe. Gleichzeitig führen jedoch die ausschnittartigen Szenen zu Verkennungen, die im Ich-Erzähler die Imagination entzünden. Dem Vetter fällt eine Gruppe auf, die
würdig wäre, von dem Crayon eines Hogarth verewigt zu werden. Der Ich-Erzähler beschreibt:
Ein paar alte Weiber auf niedrigen Stühlen sitzend – ihr ganzer Kram in einem mäßigen Korbe vor sich ausgebreitet – die eine hält bunte Tücher feil, sogenannte Vexierware, auf den Effekt für blöde Augen berechnet – die andere hält eine Niederlage von
blauen und grauen Strümpfen, Strickwolle usw. Sie haben sich zueinander gebeugt –
68622424
Seite 56 von 64
Ton van der Steenhoven
sie zischeln sich in die Ohren – die eine genießt ein Schälchen Kaffee; die andere
scheint, ganz hingerissen von dem Stoff der Unterhaltung, das Schnäpschen zu vergessen, das sie eben hinabgleiten lassen wollte; in der Tat ein paar auffallende Physiognomien! Welches dämonische Lächeln – welche Gestikulation mit den dürren Knochenärmen! (S. 1069)
Ein Beispiel grenzt ans Dämonisch-Fantastische: in der Tat ein paar auffallende Physiognomien! Welches dämonische Lächeln. Solche Aussagen zeigen den Wunsch, das Skurrile hervorzuheben. Der Vetter hat hier einen Vorsprung, weil er durch sein ständiges Schauen den
zeitlichen Kontext mit integriert hat, das Bild also „historisch“ im Sinne von „vorher“ und
„nachher“ versteht. Diese zeitliche Dimension muss dem Ich-Erzähler entgehen: Die Weiber
sitzen beständig beisammen (und) […] haben sie sich doch bis heute stets mit feindseligen
Blicken angeschielt und sich, darf ich meiner geübten Physiognomik trauen, diverse höhnische Redensarten zugeworfen. (S. 1069) Die Wahrnehmungen des Vetters und des IchErzählers bieten dem Leser die Möglichkeit, die beschriebenen Situationen aus zwei Perspektiven zu betrachten.
Isolation und Produktivität
Die Ursache der Melancholie des Vetters liegt in der Schreibhemmung, die nicht durch das
Schauen allein beseitigt werden kann. Der Besuch des Ich-Erzählers hat diese Melancholie
nur kurzfristig vertrieben; wenn der Ich-Erzähler beim Abschied feststellt, dass der Vetter
doch noch Appetit hat, erwidert der Vetter mit ironischem, schmerzlichem Lächeln: O ja […]
du wirst es gleich sehen […]. Ein einziger Bissen mehr […]. Beim Handdrücken sagt der Vetter leise und wehmütig: Das kleinste Stückchen des verdaulichsten Fleisches verursacht mir
die entsetzlichsten Schmerzen und raubt mir allen Lebensmut und das letzte Fünkchen von
guter Laune, das noch hin und wieder aufglimmen will. (S. 1087) Der Ich-Erzähler hatte
schon festgestellt, dass die Melancholie des Vetters nicht durch rein-körperliche -, sondern
durch psychische Probleme verursacht wurde:
Aber den Weg, den der Gedanke verfolgen musste, um auf dem Papiere gestaltet zu erscheinen, hatte der böse Dämon der Krankheit versperrt. Sowie mein Vetter etwas aufschreiben wollte, versagten ihm nicht allein die Finger den Dienst, sondern der Gedanke selbst war verstoben und verflogen. Darüber verfiel mein Vetter in die schwärzeste Melancholie. (S. 1065)
Der Zustand des Vetters weist Parallelen mit dem modernen Begriff Schreibblockade auf,
wobei der kreative Prozess, der zum Schreiben führt, wegen Verlust der Inspiration für längere Zeit unterbrochen wird. Die Schreibblockade kann unterschiedliche psychische Ursachen
68622424
Seite 57 von 64
Ton van der Steenhoven
haben, wie Angst vor Misserfolg oder Ablehnung, Angst vor unerledigten bzw. verdrängten
persönlichen Problemen, Depression oder Mangel an Anerkennung usw. Zu der schriftlichen
Fixierung von Zeichen hat Hoffmann sich in Kreisleriana II ausführlich geäußert; auch in der
Musik ist das Phänomen bekannt:
[…] jene Anregungen […] festzubannen in Zeichen und Schrift, ist die Kunst des
Komponierens. Diese Macht ist das Erzeugnis der musikalischen künstlichen Ausbildung, die auf das ungezwungene geläufige Vorstellen der Zeichen (Noten) hinarbeitet.
Bei der individualisierten Sprache waltet solch innige Verbindung zwischen Ton und
Wort, dass kein Gedanke in uns sich ohne seine Hieroglyphe – (den Buchstaben der
Schrift) erzeugt, die Musik bleibt allgemeine Sprache der Natur, in wunderbaren, geheimnisvollen Anklängen spricht sie zu uns, vergeblich ringen wir danach, diese in
Zeichen festzubannen, und jenes künstliche Anreihen der Hieroglyphe erhält uns nur
die Andeutung dessen, was wir erlauscht. (S. 356)
Für den Vetter gilt das Gleiche im Hinblick auf die sprachliche Produktion: wo das Erzeugen
fehlt, bleibt nur das Schweigen: ich geb’s auf, das wirkende, schaffende Leben, welches, zur
äußern Form gestaltet, aus mir selbst hinaustritt […]. (S. 1065)
Der Vetter, dem sein Schriftstellerleben alles bedeutet, kann es nicht verkraften, dass ihm die
Anerkennung mehrfach verweigert wird. Repräsentanten dieser Verweigerung sind erstens
der Ich-Erzähler, der den Henker was nach seinen unsterblichen Werken fragt und zweitens
das Blumenmädchen, dem der Begriff eines Dichters […] gänzlich fremd ist. In der Ablehnung solcher Anerkennung ergänzen sich der Ich-Erzähler und das Blumenmädchen: Der IchErzähler schätzt den Vetter als Person, seine Werke schätzt er nicht (denn, unerachtet du den
Henker was nach meinen unsterblichen Werken fragst) und das Blumenmädchen schätzt die
Werke (das Märchen), aber nicht die Person des Dichters als Erzeuger:
[…] was mag das Mädchen lesen? Dieser Gedanke beschäftigte meine ganze Seele.
[…] Doch was soll ich dir die tiefe Schmach, welche mich in diesem Augenblick traf,
erst weitläufig beschreiben. Es fand sich, dass das Mädchen niemals daran gedacht,
dass die Bücher […] vorher gedichtet werden müssten. Der Begriff eines Schriftstellers, eines Dichters war ihr gänzlich fremd. (S. 1074/5)
In einer Welt, die nur dem Künstler oder seinem Werk Anerkennung zollt, kann der Geist der
Schriftstellereitelkeit (S.1074) nicht befriedigt werden, besonders wenn vom Schriftsteller
keine Dichtungen mehr zu erwarten sind; der Vetter hatte das Gefühl, für nichts und wieder
nichts gelebt zu haben. Dennoch bildete der Vetter sich ein, schreibt Hoffmann ironisch, dass
ihm den Ausdruck der höchsten Verwunderung, ja eines freudigen Schrecks, dass das sublime
Genie, dessen schaffende Kraft solch ein Werk erzeugt, galt!
68622424
Seite 58 von 64
Ton van der Steenhoven
Ich-Erzähler und Blumenmädchen zeigen dem Vetter, dass es die gesellschaftliche Anerkennung als Autor und die für seine Werke nicht beide geben kann, was in einer Epoche zunehmender Autorenbewusstheit überaus unbefriedigend ist. Der Vetter sieht sich als Genie und
erwartet aufgrund dieses Status gesellschaftliche Anerkennung. Wenn die erlangte Anerkennung zurückbleibt, führt es zu Frustration. Da das Blumenmädchen und der Ich-Erzähler die
vom Vetter gewünschte Relation von Autor und Werk nicht zeigen, unternimmt der Vetter
einen Versuch beim Blumenmädchen, seine Identität auf alle mögliche Weise […] mit jenem
Verfasser darzutun und beim Ich-Erzähler, ihn durch sein Erzählen auch für die literarischen,
publizierten, bereits verfügbaren also, unsterblichen Werke zu interessieren. Beide Versuche
scheitern: Für das Blumenmädchen existiert nur das Produkt und dem Ich-Erzähler scheint es
gemütlicher, ihn zu hören, als ihn zu lesen. Durch ihr Verhalten rügen sie gleichsam die Eitelkeit des Autors. Schließlich ergibt der Vetter sich seinem Schicksal und zieht sich in seine
Klause zurück, indem er sich seiner rein geistigen Denkübungen selbstzufrieden erfreut und
die Welt nicht mehr daran teilhaben lässt, das heißt auf Wirkung verzichtet, weil den Weg,
den der Gedanke verfolgen musste, um auf dem Papier gestaltet zu erscheinen, hatte der böse
Dämon der Krankheit versperrt.
So flüchtet er sich in eine metaphorische Innenwelt, seine Klause, und entzieht sich jedem
Kontakt mit der Außenwelt. Er ist passiv und asozial, insofern er jede soziale Verbindung
zurückweist und nur noch für sich seine Denkarbeit macht. Die Melancholie des Vetters
könnte nur durch eine zukunftsorientierte Haltung behoben werden, wobei ein fruchtbares
Zusammenspiel mit der Gesellschaft eine notwendige Bedingung wäre.
Die Isolation führt den Vetter zu einer doppelten Reduktion der Optik. Zum einen geschieht
dies durch die (auch dem Ich-Erzähler aufgedrängte) Benutzung eines Fernglases, wodurch
zwar Tiefenschärfe und Detailgenauigkeit gesteigert werden, jedoch der Ausschnitt extrem
verkleinert wird, so dass der Bildzusammenhang verloren geht. Zum anderen versinnbildlicht
das titelgebende Eckfenster eine modifizierte Sicht auf den Markt: Es verengt nicht nur den
Blickwinkel, es konkretisiert auch das Wahrgenommene und rahmt es zu einem Bild. Die
Doppelfunktion des Einfassens als Ordnungsfaktor des Sichtbaren und als Beschränkung des
Rundumblicks dürfte als Zeichen des Erzählvorgangs selbst wie der Vorstellung vom Dichterberuf gelten. Denn der Sinn für die zu erhaltende Ordnung (S. 1085) weist auf den zentralen Begriff der Erzählfunktion hin, während der reduzierte Blick des Vetters die Allwissenheit
68622424
Seite 59 von 64
Ton van der Steenhoven
des traditionellen Erzählers in Frage stellt, somit am Anfang einer Entwicklung steht, die unmittelbar zur Moderne hinführt.104
Schlussfolgerung
Dem Vetter fließt die Lebenskraft weg; es gelingt ihm nicht mehr, seinesgleichen, den IchErzähler für seine Werke zu interessieren. Der Vetter gebraucht für seine Kunst große Worte,
wie meine unsterbliche Werke und sein Leben für die Kunst wird als eine heftige, einseitige
Neigung beschrieben. Seine Eitelkeit und Selbstüberschätzung werden in der ironischen Geschichte mit dem Blumenmädchen peinlich deutlich.
Der Ich-Erzähler ist sein Antipode. Er macht kein Aufheben von sich und stellt von Anfang
an den Vetter in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Das Bild, das er von sich gibt und das
zum Teil mit dem überheblichen Urteil des Vetters, amüsable, wenn auch gerade nicht amüsant (S. 1066) übereinstimmt, charakterisiert ihn nur halbwegs.
Der Vetter, der zu viel auf sich selbst konzentriert ist, sieht nicht ein, dass der Ich-Erzähler
sich ständig weiterentwickelt und dass er ihn unterschätzt hat. In der Erzählung (die aus der
Perspektive des Ich-Erzählers geschrieben worden ist!) wird deutlich, dass dem Ich-Erzähler
schließlich die Synthese von Schauen und Schreiben zu gelingen scheint. Und genauso wie
die Figuren auf dem Markt von ihm, ist der Vetter vom Ich-Erzähler und seinen Darstellungsmöglichkeiten abhängig geworden. Durch sein Unvermögen seine Befunde auf dem Papier gestaltet erscheinen zu lassen, ist er einer unkünstlerischen Selbstgenügsamkeit verfallen,
die vom drohenden Verlust des Künstlertums zeugt.105 Dadurch hat ihn die schwärzeste Melancholie ergriffen. Der Rückzug in die Isolation und die fast pathologischen Denkübungen
im Kopf erweisen sich bald als die falsche Richtung: In der Isolation ist keine Kunstproduktion möglich. Die Weltentsagung bringt nicht die erhoffte Genesung, sondern führt nur tiefer in
die Depression hinein.
Die Wirklichkeit ist aus bekannten und unbekannten Einzelheiten zusammengestellt und kein
Beobachter kennt die absolute Wahrheit; jede Wirklichkeit ist nicht mehr als eine Projektion,
oder, wie Robert Musil es sagt: Das Kunstwerk ist eine Abstraktion vom Leben und seinen
Bindungen, […]. Erst auf dieser Abstraktion baut sich das in Wahrheit Dargestellte auf.106 Im
Prinzip handelt es sich um die Versöhnung von Leben und Kunst, d. h. auch um das Verhältnis von „Genie“ und „Nicht-Genie“, nicht an letzter Stelle verbunden mit der Frage nach
104
Selbmann: S. 74
Hagestedt: S. 142
106
Musil, MoE Zitiert nach Polheim, S. 39
105
68622424
Seite 60 von 64
Ton van der Steenhoven
„Wahrnehmung“ und „Erfindung“ – d. h. auch mit dem Zweifel, ob das konkret Optische
überhaupt zu verwirklichen sei. In der Schaustunde bleibt der Vetter dicht in der Nähe einer
realistisch wahrgenommen Wirklichkeit. In dem Sinne weist die Erzählung an vielen Stellen
Züge des Realismus auf:107 das Interesse an dem Marktvolk, die Anwendung moderner Begriffe wie Panorama, Fernrohr, die physiognomische Wissenschaft und des Vetters Streben
nach der Darstellung eines geordneten Weltbilds. Durch die genaue Beobachtung des Marktes
ist der Vetter zu „zutreffenden Einsichten in die politisch-gesellschaftliche Situation der Berliner Bevölkerung in den Jahren nach 1815“108 gelangt. Es geht Hoffmann um die „unverminderte Hochschätzung einer Ausdruckskunst, der es vor allem darum geht, die innere Welt
möglichst unbeschädigt nach außen zu setzen, wobei die sichtbare Außenwelt höchstens als
Hebel wirken darf und soll, der innere Kräfte in Bewegung setzt.“109 Dabei wird der rasche
Rädergang der Fantasie (S.1065) in Bewegung gesetzt. Hier erweist sich tatsächlich, dass
Hoffmann seine alte poetische Verfahrensweise beibehalten hat. Die Erfindung entspricht
nicht nur der sichtbaren Welt, sie muss auch im Endeffekt plausibel wirken: Das wirkende
schaffende Leben, welches zur äußeren Form gestalten aus mir selbst hinaustritt. (S. 1064)
„Was ein inneres Auge (S. 1080) produziert, soll mit dem verträglich erscheinen, was die gewöhnlichen Augen wahrnehmen.“110
Der Vetter hat einen Vorsprung auf den Ich-Erzähler, der sich jedoch als ein schneller Schüler
entpuppt. Der Schwindel, dieser von den Romantikern idealisierte Zustand zur Offenbarung
genialer poetischer Gedanken, verhindert den Ich-Erzähler anfangs den Markt realistisch
wahrzunehmen. Durch den Gebrauch des Fernrohrs kann er diesen Zustand überwinden. Mit
Distanz, ohne in den Vordergrund zu treten, tritt er als Erzähler auf, um den Lesern die ganze
Geschichte zu erzählen und wie beiläufig entsteht Literatur. Die komplementären Rollen der
beiden Vettern hinsichtlich vieler relevanter Merkmale, ihre Verwandtschaft als Vettern und
die faktische Ablösung des einen in der Rolle des literarischen Produzenten durch den anderen, deuten darauf hin, dass die beiden Vettern einer Archenfigur zugehören.111 Es ist der Archetyp des Künstlers als Schaffenden in einer sich ständig ändernden Welt.
Die wahre Botschaft der Erzählung wäre dann, dass der Geniekult krank macht, während natürliches Genie zu Produktivität und Wirkung führt. Der Künstler muss ständig mit der Au107
Vgl. Stadtler: S. 506
Stadtler: S. 506
109
Stadtler: S. 500, dazu Fußnot 7: Die Funktion der Außenwelt als „Hebel“, der den Rädergang der Fantasie in
Bewegung halten soll, wird immer wieder bei der Erörterung des Serapionitischen Prinzips hervorgehoben.
110
Stadtler: S. 508
111
Hagestedt: S. 144
108
68622424
Seite 61 von 64
Ton van der Steenhoven
ßenwelt in Verbindung stehen, muss die Wirklichkeit genau wahrnehmen und sie dann mithilfe seiner künstlerischen Gaben darstellen. Das Produkt ist nicht notwendigerweise die Darstellung der realen Wirklichkeit: Der Vetter wird nie herausfinden, ob er es mit einem Zeichenmeister oder einem Pastetenbäcker zu tun hat, und das will er auch nicht.112
In Des Vetters Eckfenster hat Hoffmann sein poetologisches Konzept, das Serapionistische
Prinzip, das er bis dann in seinen Werken entwickelt hat, weiterentwickelt und verändert. Es
gibt in dieser Erzählung keine hochfantastischen Geschichten wie im Goldnen Topf, Rat
Krespel und Kater Murr, aber eine annähernd realistische Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Dieser Prozess hat dazu geführt, dass Des Vetters Eckfenster von mehreren Literaturwissenschaftlern wie Fritz Martini, Walter Benjamin, Lothar Köhn und Kurt Willimczik als Höhepunkt zwischen Romantik, Biedermeier und (poetischem) Realismus betrachtet wird. Andere
Literaturwissenschaftler betonen dagegen die Kontinuität angesichts früherer romantischer
Werke Hoffmanns und unterstreichen eher den „testamentarischen“ Charakter der Erzählung,
in der Hoffmann, mittels seiner Hauptfigur, dem kranken Vetter, versucht, den jungen Verwandten und Ich-Erzähler und durch ihn den Leser in die Primizien der Kunst zu schauen
einzuführen und somit sein poetologisches Konzept exemplarisch vorzuführen.
Im Umgang des Vetters mit dem Ich-Erzähler manifestiert sich ein impliziter psychologischer
Kunstgriff: je weiter der Ich-Erzähler dem Vetter folgt, desto mehr glaubt er ihm. Der Umstand, dass es dem Vetter gelingt, den Erzähler von der Wahrscheinlichkeit seiner Erfindungen zu überzeugen, und die Tatsache, dass auch die meisten literaturwissenschaftlich geschulten Rezipienten diese Erzählung größtenteils „realistisch“ nennen, belegen die Relevanz solcher Annahmen. Hoffmann fand offenbar Vergnügen daran, seine Leser manchmal zum besten zu haben und bestimmte Automatismen empirisch zu testen, wie er 1809 in seinem Tagebuch unter dem Titel Merkwürdige Arten des Wahnsinns schreibt:113 Es müsste spaßhaft sein
Anekdoten zu erfinden und ihnen den Anstrich höchster Authentizität durch Zitate usw. zu
geben, […] gleich sich als gelogen auswiesen. – Denn mehrere würden übertölpelt werden
und wenigstens einige Augenblicke an die Wahrheit glauben.
Die Geschichte des Ich-Erzählers am Anfang und Ende der Erzählung zeigt sich sehr realistisch. Auch der Vergleich mit einem anderen Schriftsteller, der tatsächlich existiert hat, ist
112
Korte (S. 129 f.) weist darauf hin, dass der Vetter diese Figur (ob Zeichenmeister oder Pastetenbäcker) zur
„plastischen Karikatur des Käufers“ macht.
113
Zitiert nach: Schiff, S. 6
68622424
Seite 62 von 64
Ton van der Steenhoven
reell. Dagegen sind die Krankengeschichte des Vetters und seine Wohnverhältnisse weniger
realistisch, nicht zuletzt durch die metaphernreiche Sprache des Ich-Erzählers.
Der Vetter führt dem Ich-Erzähler zunächst einfache Fälle vor und geht mit seinen Deutungen
nur leicht über die sichtbare Realität hinaus, wie zum Beispiel die französische Restantin auf
dem Markt. Seine Deutungen bleiben also im Bereich des Wahrscheinlichen. Etwas später
übersteigt er aber die Realität und beschreibt das Nicht-Ersichtliche. Dem Ich-Erzähler erscheinen diese Fälle mittlerweile plausibel, weil die komplizierten Fantasiegebilde des Vetters
nach dem gleichen Prinzip wie am Anfang die einfachen Fälle funktionieren. In dem Sinne
war der Schau-Unterricht methodisch, der Schüler aufnahmefähig.
Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zeichnen sich durch eine Flut neuartiger Entwicklungen in der Gesellschaft aus, die von den damaligen Bürgern nicht immer sofort verarbeitet
werden konnten. Zu den sinnverwirrenden neuen Sachen gehören auch die Eroberung neuer
Sehräume durch die Entdeckung des Horizonts, die Umwälzungen, die die Napoleonischen
Kriege mit sich brachten, die zunehmende Verbürgerlichung mit ihren neuen ökonomischen
Formen und die Herausbildung der modernen Großstadt.
Alles zusammengenommen kann festgestellt werden, dass Des Vetters Eckfenster in Hoffmanns Entwicklung als eine in der letzten Arbeitsphase des Dichters geäußerte Botschaft zu
verstehen ist, die sich an die Nachwelt richtet und trotz vermeintlicher biedermeierlicher Entzugsneigungen auf faszinierende Weise die Moderne und die aus ihr sich ergebende Zerrissenheit vorankündigt.114 Dass Hoffmann mit seinem feinen Fingerspitzengefühl für die gesellschaftlichen Umwälzungen eine Schlüsselfigur ist, der den Weg zur Moderne gewiesen hat,
erhöht noch den Glanz seiner Künstlerschaft.
Vgl. Stadtler, S. 515: „Eher schon ließe sich diese späte Erzählung Hoffmanns mit Kunstkonzeptionen des
zwanzigsten Jahrhunderts in Verbindung bringen, die der Montage als einschneidendem Prinzip der Rekonstruktion und Konstruktion von Wirklichkeit verpflichtet sind.“
114
68622424
Seite 63 von 64
Ton van der Steenhoven
Literatur
Beutin, W. u.a.
Deutsche Literaturgeschichte, von den Anfangen bis zum Gegenwart, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart-Weimar (2001)
Deterding, K.
Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E.T.A. Hoffmann, Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte Bd 15, Peter Lang, Frankfurt am Main (1991)
Enklaar, J.
Fenster und Ferne. Einige Bemerkungen zu Eichendorffs Lyrik.
Neophilologus Nr. 87, S. 607, 2003, Kluwer Academic Publishers
Gunia, J und Kremer, D. Fenster-Theater Teichoskopie, Theatralität und Ekphrasis im Drama um 1800 und in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfensters, aus:
E.T.A. Hoffmann Jahrbuch Band 9-2001, Erich Schmidt Verlag,
Berlin
Hagestedt, L.
Das Genieproblem bei E.T.A. Hoffmann, Belleville Verlag Michael
Farin, München (verbesserte Neuausgabe 1999)
Hilgers, M.von
Spiegel, Schatten und Dämonen, Darstellungsformen urbaner Lebenswelt im Künstlerroman zwischen 1780 und 1860, Dissertation
TU Berlin (2002)
http://edocs.tu-berlin.de/diss/2002/hilgers_max.pdf
Hoffmann, E.T.A.
Die Serapionsbrüder, mit einem Nachwort von Walter MüllerSeidel und Anmerkungen von Wulf Segebrecht, München (1963)
Hoffmann, E.T.A.
Werke, Bergland-Buch, Hg. Hermann Leber, Salzburg/Stuttgart
Japp, U.
„Das serapiontische Prinzip“, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband, München (1992) S. 63-76
Koning, H.J.
E.T.A. Hoffmann in Holland. Neue Funde
Orbis Linguarum, Vol. 24 Wroclaw-Legnica (2003)
http://www.orbis-linguarum.net/2004/24_04/henkgot.pdf
Köhn, L.
Vieldeutige Welt. Studien zur Struktur der Erzählungen E.T.A.
Hoffmanns und zur Entwicklung seines Werkes, Max Niemeyer
Verlag, Tübingen (1966)
Korte, H.
„Der ökonomische Automat, E.T.A. Hoffmanns späte Erzählung
Des Vetters Eckfenster“, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur.
Sonderband, München (1992) S. 125-137
Kremer, D.
E.T.A. Hoffmann: Erzählungen und Romane, Erich Schmidt Verlag,
Berlin (1999)
Leyendecker, U.
„E.T.A. Hoffmann als Komponist“, in: Sonderband Text+Kritik,
Zeitschrift für Literatur. Sonderband, München (1992) S. 138-148
Matt, P. von
Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als
Prinzip seiner Erzählkunst, Niemeyer, Tübingen (1971)
Mayer, H.
E.T.A. Hoffmann in Dresden und der Begin der Moderne, Rede vor
der Sächsischen Akademie der Künste am 4. Mai 1998
http://www.sak.smwk.sachsen.de/reden/mayer.pdf
McFarland, R.
Ein Auge, welches (Un)werklich(es) schaut, aus: E.T.A. Hoffmann
Jahrbuch Band 13-2005, Erich Schmidt Verlag, Berlin
Neumann, G.
Ausblicke. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster Verlag Köningshausen & Neumann, Würzburg (2005)
Oesterle, G.
Ein dialogischer Wechsel von Beobachten, erraten und Erzählen
Aus: Interpretationen E.T.A. Hoffmann, Romane und Erzählungen,
Hg. Günter Saße, Philipp Reclam jun., Stuttgart (2004)
68622424
Oettermann, S.
Orosz, M.
Partouche, R.
Pikulik, L.
Polheim,
Preisendanz, W.
Riha, K.
Schiff, A.
Schmid, G.
Schnapp, F.
Segebrecht, W.
Selbmann, R..
Stadler, U.
Werner, H.G.
Willimczik, K.
Winter, I
Woodgate, K.B.
Seite 64 von 64
Ton van der Steenhoven
Das Panorama: Die Geschichte eines Massenmediums Syndikat,
Frankfurt (1980)
Hieroglyphe – Sprachkrise – Sprachspiel
http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/MOrosz1.pdf
Die Karikatur zwischen Realismus und dem Beginn der Moderne.
Technische Universität Berlin (2001)
http://edocs.tu-berlin.de/diss/2001/partouche_rebecca.pdf
E.T.A. Hoffmann als Erzähler, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (1987)
Das Bild Wiens im Werk Robert Musils, Literatur und Kritik
191/192, Österreichische Monatsschrift, Februar/März 1985. Otto
Müller Verlag, Salzburg
Humor als dichterische Einbildungskraft, Studien zur Erzählkunst
des poetischen Realismus, München (1976)
„E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster“ in: Steven Paul Scher:
Zu E.T.A. Hoffmann, Stuttgart (1981) S. 172-181
Kreisleriana oder: Zur Ironie des eingebildeten Wahnsinns Leiden
an der Gesellschaft - Fassetten der anderen Romantik. E.T.A.
Hoffmanns Fantasiestücke und die nicht mehr schönen Künste
(2000)
http://www.carmen-stahlschmidt.de/frankfurterhof/kreisleriana.pdf
Illusionsräume (1999)
http://www.eugwiss.hdk-berlin.de/schmid/diss/Inhalt.html
E.T.A.Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten,
Winkler Verlag München (1974)
Was man in E.T.A. Hoffmanns Schule lernen kann - Uni Bamberg
http://www.bnv-bamberg.de/home/ba1804/hoffmann/segbrcht.htm
Diät mit Horaz, Zur Poetik von E.T.A. Hoffmann, Erzählung Des
Vetters Eckfenster, aus: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch Band 2-1994,
Erich Schmidt Verlag, Berlin
Die Aussicht als Einblick, Zu E.T.A. Hoffmanns später Erzählung
Des Vetters Eckfenster, Zeitschrift für deutsche Philologie, Band
105, Heft 4, 1986, Erich Schmidt Verlag Berlin
E.T.A. Hoffmann, Darstellung und Deutung der Wirklichkeit im
Dichterischen Werk, Arion Verlag, Weimar (1962)
E.T.A. Hoffmann, Die drei Reiche seiner Gestaltenwelt, Junker und
Dünnhaupt, Berlin (1939)
Untersuchungen zum serapiontischen Prinzip E.T.A. Hoffmanns,
The Hague (1976)
Das Phantastische bei E.T.A. Hoffmann, Peter lang – Europäischer
Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/M (1999)
Herunterladen