Realistische Malerei und das Ereignis der belgischen Bilder

Werbung
Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kunstgeschichte
Schule des Sehens, Deutsche und französische Malerei von 1780 bis 1880 im Vergleich
1848-1860 Deutschland, Einführung
Realistische Malerei und das Ereignis der belgischen Bilder
Wie das Beispiel der Düsseldorfer Schule belegt, wurde die nazarenische Kunst seit den
1830er Jahren zunehmend von realistischen Tendenzen in der Kunst abgelöst. Dieser Prozeß
wurde von einem überragenden Kunstereignis beschleunigt, der in der deutschen Malerei
langanhaltende Wirkungen zeitigte: die Ausstellung der sog. „belgischen Bilder“. Es handelte
sich um zwei Gemälde, die in den Jahren 1842 bis 1844 in neun deutschen Städten gezeigt
wurden, darunter Berlin, Dresden, Wien und München. Das eine stammt von Louis Gallait
(1810–1887) und zeigt die „Abdankung Kaiser Karls V. zu Gunsten seines Sohnes Philipps II.
zu Brüssel am 14. Oktober 1555“, das andere von Edouard de Bièfve (1808–1882) stellt den
„Kompromiß der flandrischen Edeln am 16. Februar 1566“ dar. Beide Bilder waren 1841 in
Paris vollendet worden, und eben dies frappierte das deutsche Publikum: Mit dieser
triumphalen Wanderausstellung wurde es erstmals unmittelbar mit der zeitgenössischen
französischen Historienmalerei vertraut gemacht, die in jenen Jahren maßgeblich von Paul
Delaroche (siehe Frankreich, Lektion 5, Aufgabe A) geprägt wurde. Bièfve war sogar ein
direkter Delaroche-Schüler.
Die Gemälde setzten sich mit ihrer an der venezianischen und flämischen Malerei geschulten
Farbigkeit und ihrem Illusionismus, die den Betrachter zum unmittelbaren Augenzeugen des
Geschehens werden ließ, von der in Deutschland geübten Historienmalerei ab. Diese war
bislang vom Vorbild der Wandmalerei her gedacht und betonte folglich die Zeichnung vor der
Farbe. In der Behandlung der Themen versuchte die romantisch-nazarenische Malerei über
die äußere Erscheinung der Ereignisse zugleich die ideelle Bedeutung des Geschehens zu
visualisieren. Die belgischen Bilder wurden vom Publikum sogar als so modern empfunden,
daß sie den bis dato als fortschrittlichsten geltenden deutschen Maler, nämlich Lessing, ins
Hintertreffen geraten ließen. In Berlin liefen sie Lessings vielbeachtetes Bild „Hus in
Konstanz“ gezeigt (siehe Lektion 5) den Rang ab, welches dort zeitgleich zu sehen war.
Die Wirkung der Werke Gallaits und de Bièfves ist jedoch nicht ohne den Umstand zu
erklären, daß es belgische Werke waren. Sie demonstrierten dem vormärzlichen bürgerlichen
Publikum, welches bis 1848 vergeblich nach politischer Mitsprache verlangt hatte, wie sich
ein junger Staat (Belgien war aus der Revolution von 1830 als eigenständige Monarchie
hervorgegangen) im Rückgriff auf die Geschichte der Region eine nationale Vergangenheit
und damit eine von den Nachbarstaaten deutlich abgesetzte Identität zu schaffen vermochte.
Die Bilder waren im Auftrag des belgischen Staates für die Brüsseler Cour de Cassation
gemalt worden und sollten an zwei bedeutende Ereignisse der nationalen
Unabhängigkeitsbewegung erinnern.
Der Aufschwung der Historienmalerei nach 1848
Die Auseinandersetzung um den in den belgischen Bildern enthaltenen Realismus mündete in
eine breite Auseinandersetzung über die richtige Auffassung der Geschichtsmalerei ein, die in
der zweiten Jahrhunderthälfte, die eigentlich schon mit dem Revolutionsjahr 1848 begann,
neue Nahrung erhielt. Das Bürgertum konnte nun öffentlich, wenn auch noch bei weitem
nicht uneingeschränkt, ein eigenes, eben bürgerliches Geschichtsbild konstituieren, während
gerade die Wand- und Geschichtsmalerei der Nazarener dadurch kompromittiert war, daß sie
sich von der Monarchie zu sehr hat in Dienst nehmen lassen.
Die Historienmalerei wurde seit 1850 von dem unaufhaltsamen Aufstieg der Geschichte zur
entscheidenden Deutungsinstanz des öffentlichen Lebens getragen. Mit Niebuhr und Ranke
1
Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kunstgeschichte
Schule des Sehens, Deutsche und französische Malerei von 1780 bis 1880 im Vergleich
1848-1860 Deutschland, Einführung
war die Geschichte zur Leitwissenschaft unter den Geisteswissenschaften aufgestiegen, das
Geschichtsdenken prägte die Weltsicht. So forderte Wilhelm von Kaulbach seine Schüler mit
den Worten auf: „Geschichte müssen wir malen, Geschichte ist die Religion unserer Zeit,
Geschichte allein ist zeitgemäß.“ In den Jahren, die hier im Zentrum stehen, ist die Kunst mit
der Wissenschaft ein enges Verhältnis eingegangen. Noch sahen die Historiker in der Malerei
eine legitime Weise, wissenschaftlich fundiert und ehrlich Geschichte abbilden und einer
Öffentlichkeit vermitteln zu können. Dieses Verhältnis war jedoch zu keinem Zeitpunkt
spannungsfrei. Wurde im Fahrwasser des Historismus vom Historienbild zunächst
vollkommene Geschichtstreue im Sinne kostümlicher Richtigkeit und illusionistischer
Plausibilität gefordert, so versuchten manche Künstler, nicht doch noch ein Stück Idealität zu
bewahren – zumal im bürgerlichen Publikum traditionelle Erwartungen an die höchste
Gattung der Malerei fortbestanden.
Der gemeinsame Nenner aller Historienmaler war das Bestreben, nationale Geschichte im
Sinne der Identifikation mit patriotischen Inhalten zu präsentieren. Dies taten sie, auch dies
ein allgemeiner Zug, vornehmlich im großen Format. Sie folgten darin zum einen der
Dimensionalität der Wandmalerei, zum anderen beeindruckten bereits die vorbildhaften
belgischen Bilder als ästhetische Totalvisionen. Die Maße, etwa 4,80 x 6,80 m, wurden in der
Folgezeit noch des öfteren von den Malern dieser Lektion überboten.
Im folgenden soll die Historienmalerei anhand der Werke von Wilhelm von Kaulbach, Karl
von Piloty, Hans Makart und Adolph Menzel untersucht werden. Bei diesen Vertretern soll
deutlich werden, welche Positionen zwischen Idealismus und Realismus in den Jahren
zwischen 1848 und 1860 möglich waren. Der Begriff des Realismus muß dabei eine
weitgehende Differenzierung erfahren. Menzel, der zu den großen Künstlerpersönlichkeiten
des 19. Jahrhunderts gehört, wird dabei gesondert behandelt, da sein Verhältnis zur Realität
eine ganz besondere ist.
2
Herunterladen