Das Hardy­Weinberg­Modell 1 Farbvarianten beim Leoparden Wie kann man von einer Population auf den Genpool schließen? Das Auszählen von Phä­ notypen führt nicht direkt zum Ziel, da sich homozygote und heterozygote Merkmals­ träger häufig nicht unterscheiden. Die Zusammensetzung von Populationen Der Mathematiker Godfrey H. Hardy (1877 — 1947) und der Genetiker Wilhelm Weinberg (1862 — 1937) lieferten Beiträge zur Lösung des Problems. Als Beispiel soll eine Population aus Leoparden und Pan­ thern betrachtet werden. Panther sind keine eigene Art, sondern eine natürlich vorkom­ mende Farbvariante des Leoparden (Abb. 1). Das Merkmal gelbe Grundfarbe ist domi­ nant, schwarz ist entsprechend rezessiv. Die dunkle Färbung entsteht durch die ver­ mehrte Produktion des Farbstoffs Melanin, die Erscheinung wird Melanismus genannt. Die heterozygoten Träger des dominanten Merkmals gelb geflecktes Fell sind nicht von den homozygoten zu unterscheiden. Die Anwendung des nach den Entwicklern benannten Hardy-Weinberg-Modells setzt voraus, dass in der betrachteten Population keine Evolution stattfindet. Der Genpool ver­ ändert sich also nicht. Nur in einer solchen idealen Population gelten die statistischen Annahmen des mathematischen Modells. 394 In der idealen Leopardenpopulation kommt das allele Gen A für gelb mit der Häufig­ keit p und das Gen a für schwarz mit der Häufigkeit q vor (Abb. 2). Da es kein weiteres alleles Gen gibt, gilt: p+q=1 Wenn die Gameten die beiden allelen Gene entsprechend ihrer statistischen Wahr­ scheinlichkeit enthalten, ergibt sich nach dem Kreuzungsschema für die nächste Generation: Häufigkeit von AA = p2 Häufigkeit von Aa = 2 pq Häufigkeit von aa = q2 Ap aq A p = 0,6 p2 = 0,36 pq = 0,24 pq = 0,24 q2 = 0,16 a q = 0,4 2 Häufigkeiten in der Population aa 1 q2 Aa 2pq AA zu erwartenden Werten ab, kann man dar­ aus schließen, dass nicht alle Bedingungen der idealen Population erfüllt sind. Dann kann gezielt nach Faktoren wie Selektion oder Allelfluss geforscht werden. p2 0,8 Genotypenfrequenz Genetisch konstante Populationen Unter einer idealen Population versteht man eine Population, in der sich über die Genera­ tionen die Allelhäufigkeiten nicht verändern. Sie hat folgende Eigenschaften: – Es findet keine Selektion statt. Alle Phäno­ typen haben die gleiche reproduktive Fitness. – Die Allelhäufigkeiten verändern sich nicht durch Zu­ oder Abwanderung (Migration). – Es finden keine Mutationen statt. – Es gibt keine Gendrift. Das gilt annähernd für Populationen, die so groß sind, dass sich zufällige Schwankungen nicht aus­ wirken. – Die Verpaarung erfolgt zufällig (Panmixie). Es findet also keine sexuelle Selektion durch Bevorzugung oder Benachteiligung eines Phänotyps statt. p q 0,6 0,4 0,2 0 0 1 0,5 0,5 Frequenz der allelen Gene 1 0 3 Häufigkeiten nach dem Hardy-Weinberg-Modell Bei vielen Tierarten kommen Albinos vor (Abb. 4). Ursache ist ein mutiertes Gen, das homozygot zum Ausfall der Farbstoffbildung führt. In manchen Fällen ist die Überlebens­ chance der Albinos extrem gering, da sie Beutegreifern vor der Geschlechtsreife zum Opfer fallen. Wenn dennoch mit konstanter Häufigkeit Albinos vorkommen, kann man auf die Mutationsrate schließen. Da keine weiteren Genotypen möglich sind, ergibt die Summe der Genotypen: p2 + 2 pq + q2 = 1 Mit diesen beiden Beziehungen kann man durch Auszählen der Träger des rezessiven Merkmals auf die Häufigkeit der allelen Gene und der Genotypen schließen. Allel­ und Genotypenhäufigkeit stehen nach dem Hardy­Weinberg­Modell in einem bestimm­ ten Verhältnis (Abb. 3). Anwendungen Eine ideale Population, in der keine Evoluti­ on stattfindet, gibt es real nicht. Dennoch er­ laubt die Betrachtung interessante Schlüsse auf reale Populationen. Wenn in einer Population die Bedingun­ gen der genetisch konstanten Population weitgehend erfüllt sind und man die Träger des rezessiven Merkmals erkennt, kann man durch Auszählen der Phänotypen auf die Häufigkeit aller Genotypen und Allele auch in den Folgegenerationen schließen. Die Häufigkeit der Träger des rezessiven Merkmals beträgt q2. So lässt sich z. B. auch die Häufigkeit eines Allels für eine genetisch bedingte Erkrankung in einer Bevölkerung abschätzen. Weichen die Häufigkeiten von Phänotypen und Genotypen zwischen den Generationen von den nach dem Hardy­Weinberg­Modell 4 Eichhörnchen-Albino AUFGABEN >> 1 Erklären Sie, warum im Leopardenbeispiel in den folgenden Generationen keine Veränderung der Phänotypenhäufigkei­ ten zu erwarten ist. 2 Ermitteln Sie mithilfe von Abb. 3 die Häufigkeit aller Geno­ typen in einer Population mit dem maximalen Anteil hetero­ zygoter Individuen. 3 Errechnen Sie mithilfe des Hardy­Weinberg­Modells, in welchem Ausmaß Jäger die Häufigkeit des Auftretens von Melanismus bei Rehen senken, wenn sie dunkle Rehe vor der Geschlechtsreife erlegen. Gehen Sie dabei von einer idealen Population aus, in der eines von hundert Tieren ein dunkles Fell hat. Evolution 395 Material Genpool und Evolution In der idealen Population werden alle Evolutionsfaktoren, wie z. B. die Selektion, ausgeschlossen. In realen Populationen weisen die Phänotypen jedoch meist eine unterschiedliche reproduktive Fitness auf. Es findet also Selektion statt. Der Heterozygotenvorteil Die Analyse eines Genpools kann zu Ergebnissen führen, die auf den ersten Blick überraschend sind. Selektion in einer realen Population Balancierter Polymorphismus Durch Einführung eines Selektionsfaktors s kann man mithilfe des Modells der genetisch konstanten Populati­ on die Entwicklung einer Population in den Folgegene­ rationen berechnen bzw. mit einem Computerprogramm simulieren. Er gibt an, um wie viel weniger ein Genotyp sich reproduziert als statistisch zu erwarten ist. Der Wert kann zwischen 0 und 1 liegen. Betrachtet man ein System mit den Allelen A und a, dann gilt für die Häufigkeiten ( ): (A) = p; (a) = q und p + q = 1 (AA) = p2; (Aa) = 2 pq; (aa) = q2 und p2 + 2 pq + q2 = 1 Beim einheimischen Zweipunktmarienkäfer kommen Farbvarianten mit schwarzer und roter Grundfarbe vor (Abb. 2). Sichelzellanämie Bei manchen Menschen tritt bei körperlicher Anstrengung oder unter Sauerstoffmangel eine Veränderung von Roten Blutzellen (Erythrocyten) ein. Statt normal rund sind die Erythrocyten dann sichelartig geformt (Abb. 4). Daher wird die Erkrankung Sichelzellanämie genannt. Bei Personen mit Sichelzell­ anämie findet man statt des Hämoglobins A eine veränderte Form des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin, das Hämoglobin S. Ursache ist ein mutiertes Gen. Sichelzellanämie tritt bei homo­ zygoten Trägern des allelen Gens (aa) auf. Nach Einführung des Selektionsfaktors s gegen den Phänotyp mit dem Genotyp aa ergibt sich: p2 + 2 pq + q2 — sq2 = 1 — sq2 Ist die reproduktive Fitness von aa z. B. um 20 % geringer als die von AA und Aa, hat s den Wert 0,2 und sq2 gibt die Reduktion dieser Phänotypen an. In der Simulation wird die reduzierte Population dann proportional auf die Ausgangsgröße hochgerechnet. Allelhäufigkeiten 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 Anfangshäufigkeiten (A) (A) (a) 20 40 60 Generation 0.5 Winter 58 % (aa) 0 20 40 42 % Herbst s2 (gegen Aa) = 0,00 (Aa) Herbst 37% 63% Frühjahr Frühjah Sommer r 63 % Frühjahr s3 (gegen aa) = 0,20 60 Generationen 0.0 0.5 Sommergeneration 1.0 42% 3 Generationen beim Marienkäfer und Häufigkeit der Formen AUFGABEN >> AUFGABEN >> 2 3 396 Sichelzellanämie in Malariagebieten In einigen Gebieten Afrikas kommt das Sichelzellallel überdurchschnittlich häufig vor (Abb. 5). Die Verbreitung des Sichelzellallels stimmt auffällig mit dem Auftreten von Malaria überein. Diese Krankheit wird durch den Erreger Plasmodium hervorgerufen, der sich in Erythrocyten ver­ mehrt. Er wird durch Mücken von Mensch zu Mensch übertragen. Malaria gehört zu den häufigsten Erkrankungen in tropischen und subtropischen Regionen und führt unbe­ handelt häufig zum Tod. 37 % 1 Ergebnisse einer Simulation 1 Da Sichelzellen weniger flexibel sind, können sie bei ver­ mehrtem Auftreten kleine Blutgefäße verstopfen und so zu Durchblutungsstörungen führen. Die Folge sind Organschä­ den. Da der Körper als Gegenmaßnahme vermehrt Erythro­ cyten abbaut, sinkt die körperliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Ohne medizinische Hilfe erreichen sie nicht das Erwachsenenalter. Herbst Wintergeneration 1.0 s1 (gegen AA) = 0,00 (AA) 4 Rote Blutzellen — Normal- und Sichelform 1.0 Selektionsfaktoren Häufigkeiten der Genotypen 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 0.0 0.5 Die Färbung ist genetisch bedingt. Bei der Partnerwahl ist keine Bevorzugung bekannt. Im Jahr treten meist zwei Generationen mit unterschiedlicher Häufigkeit der Phäno­ 58% 42% typen auf (Abb. 3). Dieses Phänomen wird als balancierter Polymorphismus bezeichnet. Allelhäufigkeiten: (A) = 0,50 (a) = 0,50 Genotypenhäufigkeiten: (AA) = 0,25 (AA) = 0,25 (Aa) = 0,50 (a) 0 0.0 2 Zweipunktmarienkäfer Beschreiben Sie die Ergebnisse der Simulation (Abb. 1). Erklären Sie die Tatsache, dass nach 100 Genera­ tionen das Allel a immer noch in der Population vorhanden ist. Stellen Sie eine Hypothese zur weiteren Entwick­ lung der Population für den Fall auf, dass sich die Lebensbedingungen so verändern, dass der Phänotyp mit dem Genotyp aa einen Selektions­ vorteil hat. 4 5 Erklären Sie die Ergebnisse der Auszählungen in Frühjahr und Herbst (Abb. 3) mit populationsgene­ tischen Ursachen. Messungen der Körpertemperatur von Tieren der beiden Formen ergaben bei gleicher Umgebungs­ temperatur einen höheren Wert für die schwarzen Tiere. Leiten Sie daraus eine mögliche Erklärung für die Häufigkeit der Phänotypen in den Jahreszeiten ab. 58% t erbs H 63% 37% r hjah Frü Untersuchungen ergaben, dass Träger des Sichelzellallels wesentlich seltener infiziert werden. Personen mit hetero­ zygotem Genotyp leiden nicht unter Sichelzellanämie und sind weniger durch Malaria gefährdet. Sie genießen einen Heterozygotenvorteil. In einem bestimmten Malariagebiet hat man den Selektionsfaktor abgeschätzt: 0,2 gegen Perso­ nen ohne Sichelzellallel und 0,8 gegen homozygote Träger des Sichelzellallels. Zwei Simulationen zur Selektion führten zu den in Abb. 6 dargestellten Ergebnissen. Malariagebiete Häufigkeit des Sichelzellallels 1– 5% 5 – 10 % 10 – 15 % 10 – 20 % 5 Verbreitung von Malaria und des Sichelzellallels Allelhäufigkeiten Allelhäufigkeiten 1,0 1,0 0,8 h (A) 0,6 0,4 h (a) 0,2 0,0 0 10 20 30 Generation Häufigkeiten der Genotypen 0,8 0,4 0,0 1,0 0,8 h (AA) 0,2 0,0 0 10 0,4 h (aa) 0,2 30 Generation 10 20 30 Generation h (AA) 0,6 h (Aa) 20 0 Häufigkeiten der Genotypen 0,8 0,4 h (a) 0,2 1,0 0,6 h (A) 0,6 0,0 h (Aa) h (aa) 0 10 20 30 Generation 6 Simulationsergebnisse AUFGABEN >> 6 7 8 Erläutern Sie, welche Häufigkeit für das Sichelzell­ allel in einer Bevölkerung ohne medizinische Be­ treuung außerhalb von Malariagebieten vorgelegen hat. Vergleichen Sie die Ergebnisse der beiden Simula­ tionen (Abb. 6) und ziehen Sie Schlussfolgerungen daraus. Unter medizinischer Betreuung erreichen etwa 85 % der homozygoten Träger des Sichelzellallels das Erwachsenenalter. Erläutern Sie die Auswirkungen auf den Genpool. Evolution 397