Frank Schulze

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„Zwittrige Ostwestkinder“ und „Jammerlappen“ – Identität in Jana Hensels
Zonenkinder und Thomas Rosenlöchers Ostgezeter
FRANK SCHULZE (Universidad del País Vasco, UPV-EHU)
Abstract:
Die gebürtige Leipzigerin Jana Hensel hat in ihrem literarischen Debüt Zonenkinder (2002) den Ausdruck
„zwittrige Ostwestkinder“ geprägt. Hensel versucht in ihrem Bestseller, das Lebensgefühl einer Generation
auszudrücken, die etwa die eine Hälfte des Lebens in der DDR und die andere im vereinten Deutschland
verbracht hat. Textanalytisch sollen Abgrenzungen zu anderen Generationen fokussiert werden. Kontrastiert
wird der Blick Hensels mit der Perspektive des Dresdeners Thomas Rosenlöcher auf den Vereinigungsprozess.
Anhand des Textes Ostgezeter sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Hensels Perspektive
herausgearbeitet werden. Anhand der Texte beider Autoren wird in diesem Beitrag versucht, Fragen ost- und
westdeutscher Identität zu erörtern, indem die Fremd- und Eigenbilder, insofern sie überhaupt als solche klar zu
trennen sind, sichtbar gemacht werden.
Schlüsselwörter: Identität, Wende, Generation, Ostdeutschland, Gegenwartsliteratur
Jana Hensel hat 2002 als 26jährige mit dem Buch Zonenkinder ein viel beachtetes Debüt
gefeiert. Aus der bis dato unbekannten Studentin wurde über Nacht eine populäre Autorin,
die es – die Gesetze der Mediengesellschaft fest im Blick – sogar bis zu einem Auftritt in die
Harald-Schmidt-Show schaffte. Selbst Angela Merkel fühlte sich berufen, das Buch des
neuen Shootingstars aus Leipzig, Wohnsitz Prenzlauer Berg, zu kommentieren.1 Insbesondere
die umstrittene „Wir“-Perspektive Hensels und die unübersehbare Parallelität zu Florian Illies
Generation Golf hatten nach dem Erscheinen zu einer breiten Debatte nicht nur im Feuilleton
geführt2. Unabhängig von der literarischen oder argumentativen Qualität des Buches kann
man daher, die Rezeption betreffend, durchaus von einem „Phänomen“3 sprechen.
Dieser Beitrag möchte sich dem Text jedoch weniger über die Rezeptionsseite4,
sondern vielmehr über die Textanalyse nähern, um Konzepte der Identität, speziell der
Generationenidentität zu beleuchten. Bezüglich dieser Aspekte soll der Text Hensels später
mit Thomas Rosenlöchers Ostgezeter verglichen werden.
1. JANA HENSELS ZONENKINDER
Hensel schreibt über ihre Generation der knapp dreißigjährigen Ostdeutschen, eine
Generation, die jeweils die Hälfte ihrer Lebenszeit in der DDR, die andere Hälfte in einem
neuen Staat, im vereinten Deutschland verbracht hat. 1989, im Wendejahr5, war sie gerade 13
Jahre alt, sodass sie die politischen Veränderungen noch nicht reflektieren konnte. Daher
kann sie den Lesern vor allem deskriptiv Kindheitserinnerungen vermitteln, z.B. an die Zeit
2
bei den Jungen Pionieren oder an das Altpapiersammeln für den Weltfrieden. Letztlich bleibt
es aber bei der reinen Beschreibung der Erinnerungen6. Reflexionen über das Leben in der
DDR selbst gibt es weniger, was daran liegt, dass die DDR schon nicht mehr existierte, als
sie die ersten wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben treffen musste. Geboren in Leipzig,
absolvierte sie dort ihr Studium und lebte ein Jahr als Austauschstudentin in Marseille. Im
Gegensatz zu älteren Generationen von Ostdeutschen sind für sie Reisen durch die ganze
Welt bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Und die Beziehungen zu Westdeutschen
sind für sie – anders als für die Älteren – unkompliziert, betont sie doch mehrfach und
stellenweise penetrant, dass das Verlieben in Westkommilitonen für sie längst „normal“ ist.
Deutlich spürbar ist Jana Hensels Wunsch, in Anlehnung an Florian Illies Kultbuch
über die Jugenderinnerungen der Parallelgeneration West ein Generationenbuch zu
schreiben.7
Über
weite
Strecken
verwendet
sie
die
„Wir“-Form.
Dieser
Kollektivierungswunsch, der nicht wenigen Ostdeutschen wie eine gewagte Vereinnahmung
erschienen
ist,
wird
stellenweise
überdeutlich.
Doch
so
problematisch
diese
Erzählperspektive denjenigen Ostdeutschen, denen es um eine vielschichtigere Erinnerung
geht, auch ist – als Erfolgskatalysator hat dieses „Wir“ bestens gedient8. Alexander Cammann
hat diesen Schachzug Hensels in seiner treffenden Analyse „genial“ genannt und hat sehr
genau beschrieben, warum dieses Buch zur „Integrationsliteratur“ wurde:
Der Erfolg misst sich hier nicht mehr an der Stimmigkeit oder Authentizität der
Erinnerung, sondern an der medialen Resonanz. […] Es geht um Integration in den
Westen: östlich angehauchte Geschichtchen werden in die Formen und Farben des
Westens übersetzt. Ihre Leistung besteht eben nicht in der Erinnerungsarbeit. (vgl.
Cammann 2004: 67)
Das Konstruieren einer Generationenidentität oder die Inszenierung eines bestimmten
Lebensgefühls funktioniert einerseits über die Beschreibung gemeinsamer Erfahrungen und
Erinnerungen und andererseits über die Abgrenzung zum jeweils Anderen. So werde ich im
Folgenden von Eigen- und Fremdbildern schreiben, um die Identität der „Zonenkinder“
deutlicher skizzieren zu können. Zunächst sollen die Abgrenzungsstrategien zu den jeweils
anderen Generationen schärfer in den Blick gerückt werden. Hensel grenzt sich insgesamt
von drei verschiedenen Generationen ab: der Elterngeneration im Osten, der Generation der
3
gleichaltrigen Westdeutschen und der nur wenige Jahre älteren Ostdeutschen, ab jetzt kurz
„Brüdergeneration“ genannt.
1.1. ABGRENZUNG VON DER BRÜDERGENERATION
Die älteren Geschwister nennt sie „die letzte ‚echte’ DDR-Generation“ (Hensel 2004: 158)9,
sie selbst, die Zonenkinder sind „die ersten Wessis aus Ostdeutschland“ (166) oder „zwittrige
Ostwestkinder“ (74). Nur fünf bis zehn Jahre sind sie älter, aber die Brüdergeneration wird
von Hensel mehrmals als Fremdbild angesprochen, um ein eigenes Generationenprofil zu
entwerfen. Der wichtigste, bereits in der Einleitung angesprochene Unterschied, besteht
darin, dass die Brüdergeneration (die etwa zwischen 1966 und 1971 Geborenen) noch in der
DDR Schlüsselentscheidungen zu treffen hatte, sodass die Verbundenheit mit dem Staat – ob
nun kritisch oder affirmativ – wesentlich enger war. Im Gegensatz zur jüngeren Generation
sind die heutigen Erinnerungen an den Staat nicht nur „private“, sondern haben einen stärker
„politisch-öffentlichen“ Charakter. Aus ihren Worten spricht vor allem die Erleichterung,
dass sie nicht die Verantwortung ihrer Vorgänger tragen musste: „Manche traten in die Partei
ein. Andere stellten Ausreiseanträge oder flohen über die Botschaften von Prag und
Budapest. Um all das sind wir herumgekommen und haben an das Land unserer Kindheit nur,
oder fast nur, private Erinnerungen. Pubertät und Volljährigkeit erlebten wir in jenem
geografischen Raum, der danach kam.“ (159) Die Brüdergeneration wird als sesshafter
charakterisiert, insgesamt sei sie eher traditionellen Werten wie „Familie, Beruf und
Freundeskreis“ (157) verhaftet. Die Männer, so Hensel, trügen heute „helle Leinenanzüge
und geflochtene Slipper und die Kleider der Frauen sehen immer ein bisschen nach ‚Frieden’
aus, und so erscheinen uns die großen Brüder und Schwestern mitunter bieder“ (157). Die
Klamotten der jungen Generation fänden die älteren Geschwister originell und neidisch seien
sie auf die Auslandsstudien und die vielen Reisen der Jüngeren. Politisch sind sie engagierter
und interessierter als die Zonenkinder, Einstellungen, die Hensel verdächtig sind. Statt zum
Beispiel 1991 gegen den Irak-Krieg zu demonstrieren, „[…] verdienten wir lieber Geld“ (98),
konstatiert sie trocken. Politisches Engagement scheint für sie eher mit Verbissenheit als mit
Verantwortung konnotiert zu sein, wie sich anhand der kurzen Anekdote über ihre etwa 10
Jahre ältere Freundin Silvia belegen lässt. Silvia kommt aus Halle und streitet gern mit ihren
westdeutschen Freund Hartmut über Ideale des Kommunismus und Vorteile der sozialen
Marktwirtschaft. Hensel langweilen solche Diskussionen, sie hält sie für überflüssig und
4
gefährlich, denn oft genug habe sie erlebt, dass sich die Beteiligten bei solchen Diskussionen
„[…] um Kopf und Kragen“ redeten.“ (131)
Ein Schlüsselwort, das die Zonenkinder von der Brüdergeneration scheidet, ist das
Wort „Karriere“, das in wenigen Jahren gewissermaßen einen Bedeutungswandel durchlaufen
hat. Während die Brüdergeneration aufgrund ihrer Erfahrungen in der DDR eine Art
„Aufsteigermentalität“ bis heute eher mit Misstrauen betrachtet, scheinen die Zonenkinder in
der Regel sehr pragmatisch zu sein und messen dem sozialen Aufstieg große Bedeutung bei.
Die älteren Geschwister haben durch ihre Sozialisierung ein distanziertes Verhältnis zum
politischen System entwickelt, ein „Karrierist“ musste staatsnah sein und stand damit für
Unmoral. Die Jüngeren dagegen haben ein unbefangenes, sicher auch weniger kritisches
Verhältnis zum Staat und damit auch zum „Karrieremachen“. Einen großen Unterschied zu
den großen Brüdern und Schwestern stellt Hensel auch im Umgang mit Westdeutschen fest.
Die Älteren blieben häufig unter sich blieben, pflegten Vorurteile gegen Westdeutsche und
würden einen Wessi nur dann mögen, „[…] wenn er nicht so schlimm wie die anderen ist
und seine Individualität zaghaft […] artikuliert“ (158).
1.2. ABGRENZUNG VON DER ELTERNGENERATION
Die Distanz zur Generation der Eltern wird im Text am deutlichsten herausgearbeitet.
Generell werden die Eltern als Generation der Verlierer charakterisiert, die mit der Wende
große Hoffnungen verbanden, die aber hochgradig enttäuscht wurden. Sie sind geprägt von
Frustration und Orientierungslosigkeit, angekommen im Nachwendealltag sind sie im
Gegensatz zur Generation der Zonenkinder nie (74). Hensel begründet die Unterschiede auch
mit Hilfe einer ökonomischen Argumentation: die Eltern kommen ihr wie „Hamster in
Laufrädern“ (79) vor, unfähig zum
Genuss, da sie – obwohl schon kurz vor der
Pensionierung – wie Dreißigjährige gerade so viel Geld verdienen, um „[…] das Geld für ihre
monatlichen Ausgaben zu verdienen. Sie sind um mehr als zwanzig Jahre zurückgeworfen.“
(79) Fremdheit, Mitleid, aber auch Scham sind die bestimmenden Gefühle, die das Verhältnis
zu den Eltern charakterisiert.
Signifikant ist der Unterschied zum engen Verhältnis der westdeutschen Freunde zu
ihren Eltern. Sie erzählen ihnen nachts am Telefon von ihrem Liebeskummer, und schleppen
die Eltern, wenn sie im Osten zu Besuch kommen, überall mithin (66).
5
So wie Hensel ihr Lebensgefühl beschreibt, könnte man es auf die einfache Formel
bringen: die einen sind Kinder der Gewinner, die anderen Kinder der Verlierer der
Geschichte, und dies färbt auf die Mentalität der Kinder ab. Während die einen stolz auf ihre
Eltern sind, verstecken die Zonenkinder sie vor ihrem wirklichen Leben, da ihre Welten zu
unterschiedlich sind, und „[…] nachts um vier riefen wir auch lieber andere Leute an“ (67).
Die Eltern sind von ihrer Generation schon so weit weg, dass ein Besuch bei ihnen so sei,
„[…] als holten wir sie aus einem Altersheim ab“ (79). Auch in puncto Stil distanziert sie
sich deutlich von den Eltern, deren geschmackliche Entwicklung nach 1989 sie erschreckt.
Anders als die westdeutschen Freunde diskutieren und streiten die Zonenkinder nicht
mit ihren Eltern, sie verzichten auf Rebellion. Hensel geht der Vergleich mit ´68 im Westen
durch den Kopf, und ihr fällt auf, dass sie oft die Generation die Eltern eher aus Mitleid in
Schutz nimmt:
[…] sie lagen ja schon am Boden, inmitten einer Depression einer ganzen Generation,
und wir [….] wollten die am Boden Liegenden nicht noch mit Füßen treten. Die
Geschichte der Wende hatte die Illusionen und Selbstbilder unserer Eltern zerstört und
weggefegt. Ihnen war nichts mehr zu entreißen, das sie noch in Besitz gehabt hätten.
(75f.)
So steht am Ende das triste Resümee, dass es „ […] gerade einmal für Verständnis,
Rührung und eine ziemliche Portion Mitleid“ (77) ausgereicht habe.
Und ähnlich wie bei der Abgrenzung zur Brüdergeneration spielt auch das andere,
bessere Verhältnis zu Westdeutschen eine wesentliche Rolle, um die Distanz zur eigenen
Generation zu markieren. Jana Hensel bringt dies – wie an einigen Textstellen zu beobachten
– gewollt betont und arg plakativ auf den Punkt: „Sie schimpften über ihre westdeutschen
Chefs, wir knutschten in den Hörsälen mit Friedrich aus Lübeck und Julia aus Ingolstadt. Da
gab es keine Gemeinsamkeiten.“ (77)
1.3. DIE WESTDEUTSCHE PARALLELGENERATION
Am deutlichsten werden die Unterschiede zur Parallelgeneration West immer dann, wenn die
Rede auf die durch 1968 geprägten Eltern westdeutscher Freunde kommt. Das sehr enge,
freundschaftliche Verhältnis zu den Eltern hatte Hensel immer etwas irritiert. Auch wundert
sie sich darüber, dass ihre westdeutschen Kommilitonen mit den Eltern „konstruktiv über den
6
Inhalt ihres Studiums“ (74) diskutieren und kommentiert die zur Schau gestellte Tendenz zur
Debatte äußerst ironisch:
Sicherlich lösten sie abends am Esstisch erst alle zusammen Tratschke fragt: Wer
war’s?, bevor es etwas zu essen gab, besprachen danach die Probleme der Dritten
Welt, die jüngsten Haushaltsbeschlüsse im Bundestag und klärten demokratisch, wer
am Wochenende zum Bauern aufs Land fuhr und den Nachschub an Rohmilchkäse
besorgte. (75)
Auch das Bewusstsein der Wessis, häufig Enkel von Nazis zu sein, unterscheidet sie
von den Zonenkindern. Im Geschichtsunterricht ihrer Kindheit hatten sie gelernt, dass alle
DDR-Bürger Antifaschisten seien: „Unsere Großeltern, unsere Eltern, die Nachbarn – alle
waren Antifaschisten. […] Der Krieg hatte in unserem Land nicht stattgefunden. Die Welt
um mich herum hatte im Jahre 1945 begonnen.“ Die Geschichtslosigkeit der eigenen Identität
findet ein jähes Ende, als sie von ihrem westdeutschen Freund Moritz erfährt, dass sein Opa
ein ranghoher Nazi war. Alle am Tisch Anwesenden erzählen darauf entsprechende Episoden
aus der Familiengeschichte, und in diesem Moment bemerkt sie, dass sie und ihre Leipziger
Freunde nie über die Vergangenheit der Familie sprachen und auch nicht wussten,
[…] was unsere Großeltern gemacht, ob sie kollaboriert oder Widerstand geleistet
hatten; wir wurden als Gegenwartsgeneration in einen Vergangenheitsstaat
hineingeboren, der uns Fragen und unschöne Geschichten abgenommen hatte. […]
Meine Freunde wussten bereits, dass sie Enkel des Dritten Reiches waren. Ich war eine
von ihnen. Doch erst jetzt wusste ich es auch. (112)
Der sicherlich signifikanteste Unterschied
ist
aber, dass
die
westdeutsche
Parallelgeneration keine vergleichbare Erfahrung von Brüchen in der eigenen Biografie
machen musste. „Postmodern langweilig und letztlich ereignislos“ nennt sie die Kindheit der
Kommilitonen, die nun anscheinend durch politischen Aktivismus an der Uni „[…] die Leere
ihrer Kindheit zwischen Einschulung, Konfirmation und Führerschein“ (128) füllen.
Andererseits sehnt sich die Erzählerin, die so viele Brüche und Neuerungen miterleben
musste, nach dem „Stillstand“ im anderen Teil des Landes
1.4. DAS SELBSTBILD DER ZONENKINDER
7
Hensels Bild von den Zonenkindern zeigt in erster Linie eine sehr pragmatische, Karriere
bewusste und geschichtslose Generation, die aufgrund der verlangten Anpassung an die
neuen Verhältnisse und die Beschleunigung des Lebensrhythmus „immer nur nach vorn
blicken konnte“. Das Verarbeiten der ständigen Umbrüche und neuen Situationen sei zwar
Kraft raubend gewesen, aber letztlich sei ihre Generation gestärkt aus dem höchst
anspruchsvollen Anpassungsprozess hervorgegangen. Wer die Brüchigkeit seiner Gegenwart
so erfahren hat, der reagiert souveräner und flexibler auf mögliche neue Krisen und Hensel
drückt dies am Ende des Buches in einem heroischen Ton aus, es finden sich sogar Anklänge
an das Auferstehungsmotiv der DDR-Nationalhymne:
Wir fühlten uns wie Könige. Auf den Trümmern begründeten wir unseren Staat. […] In
unserem Leben schien uns alles möglich, denn wir waren die einzigen, die im
Zusammenbruch die Nerven behielten, die verstanden und keine Angst vor dem Neuen
hatten. (165)
Hensels Wortschöpfung „zwittrige Ostwestkinder“ bringt ihre doppelte Identität auf
den Punkt. „Zwittrig“ zu sein bedeutet in diesem Kontext eine Bereicherung: zwei kulturelle
Zeichensysteme wie zwei Sprachen zu beherrschen. Nur, dass es keine bewusste
Entscheidung war, sich interkulturelle Kompetenz zu erwerben, sondern dass diese
Kompetenz aus Überlebensgründen erarbeitet werden musste. Viele Jahre haben die
Zonenkinder damit verbracht, mit aller Macht die Spielregeln im Kapitalismus zu
beherrschen. Sie bezeichnet ihre Generation als „Aufstiegskinder“, die ihren Ehrgeiz auch
damit begründet, dass sie nicht länger die „Söhne und Töchter der Verlierer“ (73) bleiben
wollten.
Wenn man sich das Bild vom Eigenen, das Hensels Text transportiert, wie ein Mosaik
vorstellt, dann steht in seinem Zentrum der Begriff der „Zone“. Dieser provokative Begriff
spielt ironisch auf den abschätzig gebrauchten Terminus „Zone“ an, wie er während des
Kalten Krieges vor allem in antikommunistischen Kreisen in Westdeutschland gebraucht
wurde. Hensel wertet den Begriff um, und setzt ihn in ein neues, selbstbewusstes Licht. Als
„Zone“ beschreibt sie den Raum, in dem sie erwachsen geworden ist: nicht DDR, nicht
Bundesrepublik, ein Raum, in dem die DDR offiziell aufgehört hatte zu existieren, in dessen
Innerem Ideen und Stimmungen der DDR aber weiterlebten:
8
Sie [die DDR] hatte sich nur verwandelt und war von einer Idee zu einem Raum
geworden, einem kontaminierten Raum, in den freiwillig nur der einen Fuß setzte,
der mit Verseuchungen Geld verdienen oder sie studieren wollte. Wir aber sind hier
erwachsen geworden. Wir nennen diesen Raum, fast liebevoll, die Zone. Wir wissen,
dass unsere Zone von einem Versuch übrig geblieben ist, den wir, ihre Kinder, fast
nur aus Erzählungen kennen und der gescheitert sein soll. Es gibt hier heute nur noch
sehr wenig, was so aussieht, wie es einst ausgesehen hat. Es gibt nichts, was so ist,
wie es sein soll. Doch langsam fühlen wir uns darin wie zu Hause. (155)
Ein weiterer Mosaikstein der Identität dieser Generation ist die Erfahrung des abrupten
Endes der Kindheit und der mit deutlicher Verzögerung geäußerte Wunsch nach der
Spurensuche dieser „verlorenen Kindheit“. Erst jetzt, im Moment des „Ankommens“ in der
neuen Republik, nehmen sich die Zonenkinder Zeit, zurückzublicken auf Kindheit und den
alten Staat, denn seit der Wende hat sie immer nur nach vorn geschaut und jetzt will sie
wieder wissen, wo ihre Generation herkommt (14).
Zeit zum langsamen Erwachsenwerden blieb den Zonenkindern kaum, als letzte „Tage
unserer Kindheit“ (13) bezeichnet sie den Beginn der Montagsdemonstrationen. Diese Tage
sind wie „Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat“ (13), das heißt, sie
sind Ausgangspunkt ihres Erinnerungsversuchs, der damit zu kämpfen hat, dass das Bild der
DDR vage bleibt. Das Erzählen der Kindheit ist der Rettungsversuch dieses Teils ihrer
Geschichte, denn sie ist sich bewusst, dass die Erinnerungen mit jedem Jahr immer
undeutlicher werden, denn von nun an wird „[…] die DDR für uns, als schauten wir in den
Rückspiegel eines Autos, noch ferner, kleiner und immer märchenhafter werden“ (167).
Nur noch verschwommen erinnert sie die Montagsdemonstrationen in Leipzig als
dreizehnjähriges Mädchen, zu denen ihre Mutter sie mitnahm.
Aus der Kindheit in der DDR erinnert sie vor allem die frühe Erziehung zu Ordnung,
Disziplin, Verantwortung und Solidarität. Sie erzählt von Spendenaktionen für die Kinder in
Vietnam, vom gemeinschaftlichen samstäglichen Streichen der Fensterbänke in der Schule.
Und sie erzählt von der Betonung des Militärischen und der Kriegsgefahr: „In meiner
Kindheit, so kommt es mir heute vor, herrschte Krieg. Überall auf der Erde. Alle kämpften.
[…] Nur die DDR blieb dank der sozialistischen Bruderstaaten, der sowjetischen Streitkräfte
und der Freunde der NVA vorerst verschont.“ (87) Sie erinnert sich an einen extrem voll
9
gepackten Terminkalender in der Schule und den inflationären Gebrauch des Wortes
„Verantwortung“:
Wir waren immer bereit ein Amt zu übernehmen. [...] Für alles trugen wir
Verantwortung. Wenn die Kinder in Afrika nichts zu essen hatten, nahm ich mein
Spielzeug mit in die Schule und gab es in der Turnhalle an alte Frauen von der
Volkssolidarität […] Mich aber interessierte eigentlich nur, wo die alten Frauen mein
Spielzeug wohl hinbringen würden und wo man es wieder zurückkaufen könnte. […]
Ich war auch verantwortlich für das Sternenkriegsprogramm von Ronald Reagan,
zumindest dann, wenn ich mich nicht glaubhaft und zu jeder Zeit zum Sozialismus
bekannte [...]. (84-87)
DDR-Produkte und das Spiel mit Markennamen nehmen in Hensels Erinnerungen,
ähnlich wie dies in der Popliteratur der Fall ist, eine zentrale Stellung ein. Schon früh
entwickelten die Kinder in der DDR ein Gespür für Marken:
Wir wurden in einem materialistischen Staat geboren, obwohl heute oft das Gegenteil
behauptet wird. […] Ein Germina-Skateboard blieb für uns immer eine schlechte Kopie des
berühmten
Adidasbruders.
[…]
und
leere
Pelikan-Tintenpatronen,
deren
kleine
Verschlusskügelchen im Inneren so schön klapperten, hätten wir nie im Leben gegen einen
LKW mit Heiko-Patronen eingetauscht. (51)
Hensel generiert Hensel durch eine Aneinanderreihung von generationsspezifischen
Schlüsselworten wie typischen Produkten, Medien-, und Trickfilmprotagonisten eine Art
Erinnerungskatalog. Moritz Baßler hat in seinem Standardwerk zur Popliteratur darauf
hingewiesen, dass die Rekonstruktion von kulturellen Paradigmen ein Grundprinzip der
Popliteratur ist (vgl. Baßler 2002: 102). Dazu werden Serien ähnlicher Ausdrücke oder
Schlüsselwörter, zusammengestellt. Durch dieses Archivierungsverfahren kann im Kopf des
Lesers ein Wiedererkennungseffekt entstehen, der eine Erinnerung bei Angehörigen ihrer
Altersgruppe auslösen kann.
Hensels starker Hang zu einer Warenästhetik ist nicht zu übersehen. So wie die Literatur der
westdeutschen Popliteraten versuchen Hensels Wort-Kataloge der Waren- und Medienwelt
den Zeitgeist einer Generation zu widerzuspiegeln. Ob West-Marken wie Coca-Cola, Hanuta,
10
H&M, Benetton, Pimkie, Young-Fashion, Karstadt, Rudis Restrampe und Schlecker oder alte
Ost-Produkte wie Germina-Skateboard, Lada, Heiko-Tintenpatronen und die Limonade
Leninschweiß – das Buch ist gespickt mit Produktnamen, mit deren Konnotationen der Text
spielt und ein Identifikationspotential nicht nur bei Gleichaltrigen abruft, die sich auch als
„zwittrige Ostwestkinder“ sehen würden.
Hensel beschreibt, wie sie sich das westliche Koordinatensystem des Stils und seiner
diversen Konnotationen aneignet. Sie will Peinlichkeiten, wie sie sie bei ihren Eltern
feststellt, vermeiden und ist heute, so scheint es, stolz auf ihren individuellen Stil, obwohl sie
noch immer die Stilsicherheit ihrer westdeutschen Kommilitoninnen bewundert.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass bei Hensel die versöhnlichen Töne deutlich
überwiegen. Sie sollen beweisen, wie gut den Zonenkindern der Anpassungsprozess an den
Westen geglückt ist. Anders als Eltern- und Brüdergeneration sind sie im Westen
angekommen. Hensel drückt dieses Ankommen am Ende pathetisch-sentimental aus. Sie hört
im Auto immer häufiger eine Kassette ihres westdeutschen Freundes Jonathan: „Go west,
Life is peaceful there“ von den Pet Shop Boys. Natürlich ist sie gerade auf dem Weg nach
Kreuzberg, zu einem Freund ins alte Westberlin – mit offenem Fenster und Zigarette
rauchend kostet sie für uns Leser überdeutlich und metaphorisch das neue Gefühl von
unbegrenzter Freiheit und Individualität aus.
2. THOMAS ROSENLÖCHER UND DER AMBIVALENTE BLICK
Der Dresdener Autor Thomas Rosenlöcher, Jahrgang 1947, könnte der Vater des „zwittrigen
Ostwestkindes“ Jana Hensel sein. Er gehört zu jener Generation, die Hensel in ihrem Text als
Fremdbild der Zonenkinder beschrieben hat. In Rosenlöchers Essayband Ostgezeter von 1997
lassen sich drei wesentliche Reflexionen ausmachen, die seine Identität definieren. Zunächst
wäre seine Kritik am Jasagertum und Opportunismus zu nennen. Er nennt den Menschen „das
nickende Wesen schlechthin“ (vgl. Rosenlöcher 1997: 105)10. Immer wieder kommt er auf
das mechanistische „Nicken in Richtung Übermacht“ (130) zu sprechen. Klassifiziert werden
verschiedene
Formen
menschlichen
Nickens:
Feigheitsnicken,
Gewohnheitsnicken,
Gleichgültigkeitsnicken, Einnicken und Abnicken. Er selbst läuft noch heute mit dem
Komplex und Selbstvorwurf durch die Welt, zu DDR-Zeiten nicht klar genug „nein“ gesagt
11
zu haben. Dieser Schuldkomplex taucht immer wieder auf, auch im Zusammenhang mit
seinem Parteieintritt (später trat er aus der SED wieder aus). Gerade deshalb will er im neuen
Staat nicht den gleichen Fehler begehen, hält kritischen Abstand zum System und will sich
nicht vereinnahmen lassen. Er beklagt die Unterwerfungsgesten gegenüber den jeweils
Regierenden und fordert das „Neinsagen“ als Unterrichtsfach (111). Rosenlöcher präsentiert
sich
als
Prototyp
des
Unangepassten
in
beiden
Gesellschaften
und
reklamiert
Glaubwürdigkeit, indem er Systemferne als entscheidenden Teil seiner Identität definiert. Im
Gegensatz zu den Zonenkindern bedeutet das für ihn auch Skepsis gegenüber denjenigen, die
sich von der Masse abheben wollen oder denjenigen, die Karriere machen wollten:
Wenigstens meiner Generation fällt es immer noch schwer zu sagen: ‚Herr Lehrer, ich
weiß was.’ Sich zurückzuhalten und vorsichtshalber fast gar nichts zu wissen, ist tief
verinnerlicht. Selbstlob bis vor kurzem noch mental unmöglich gewesen. Denn wer früher
‚ich weiß was’ rief, hatte schnell eine geplättete FDJ-Bluse an und gehörte zu denen da
anstatt zu uns. […] ’Du sollst nicht Karriere machen’, hieß das elfte Gebot“ (104).11
Als zweite wesentliche Reflexion, die als identitätsstiftend gelten kann, sei das Beklagen
eines Utopieverlusts in der Gesellschaft angeführt. Utopisches Denken hält er für eine
wichtige Dimension des Menschen, im Moment dominiere jedoch der pragmatische, reine
„Gegenwartsmensch“, sodass Utopisten wie er allmählich „unter Naturschutz gestellt
werden“ müssten (120). Der Verlust der Utopie hat mit dem Grad der Sattheit zu tun, wie
Rosenlöcher in der Anekdote „Das Leuchtbild der Banane“ in dialektischer Argumentation
zeigt. Die Banane beschreibt er als Leuchtbild, lange Zeit Symbol für die Überlegenheit des
Westens, Symbol der Mangelwirtschaft der DDR, aber auch des Wunschsdenkens der
Ostdeutschen. Doch je mehr Bananen man im Osten aß, je mehr man also von der Realität
des Westens erfuhr, desto mehr verflog das Leuchtbild, die Utopie, für die die Banane stand:
„Die Banane hat die Banane beseitigt. Der Mangel an Mangelwaren den Traum vom
Überfluss.“ (32), konstatiert Rosenlöcher. Das Ankommen in der Realität, die Übersättigung
an Materiellem scheint bei vielen Ostdeutschen die Hoffnung auf die freiheitlichen und
emanzipatorischen Werte, die man mit der Wende verband, ausgelöscht zu haben.
An die Opposition Mangel- vs. Überflussgesellschaft ließe sich ein weitere
Komponente seiner Identität anschließen. Übersättigung steht utopischem Denken diametral
gegenüber, sodass Rosenlöcher in einigen Passagen deutliche Konsumkritik an den
Ostdeutschen übt. Diese Kritik findet sich aber deutlicher in dem Band Die verkauften
12
Pflastersteine aus dem Jahr 1990, in dem er das unreflektierte, oberflächliche
Konsumverhalten seiner Mitbürger an vielen Stellen karikiert. Er scheint sich für die wie
entfesselt konsumierenden Ostdeutschen zu schämen und beschreibt die „Fettflecke“
(Rosenlöcher 1990: 56) der platt gedrückten Nasen an den Scheiben der Autohäuser.
Doch in seinem Band Ostgezeter geht es in erster Linie um Identität und Erinnerung,
die dritte tragende Reflexion bei Rosenlöcher. Der ironische Untertitel „Beiträge zur
Schimpfkultur“ zeigt, dass es um die problematische Debattenkultur über das Thema der
Vereinigung geht. Im Titel gebenden Essay „Ostgezeter“ präzisiert er dieses Unwohlsein mit
dieser medialen Debatte im vereinten Deutschland schelmisch, aber auch selbstironisch. Da
er sich den Vorwurf macht, im Osten nicht wirklich „Nein“ gesagt zu haben, möchte er nun
nicht schon wieder nur „Ja, aber“ sagen. Zum intellektuellen „Larmoyanz-Vorwurf“ der
West- gegenüber den Ostdeutschen meint er: „Da hätte man mich also gleich einen
Jammerlappen nennen können. […] Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht?
Wollte ich mich erinnern, hieß es Nostalgie. Wollte ich kritisieren, heiß es Larmoyanz.“ (33)
Hinter dem Wort Larmoyanz versteckt sich natürlich eines der bösen Klischees der Ost-WestDebatte, nämlich das vom „undankbaren Ossi“. Der Westen verlangt Dankbarkeit vom Osten,
aber Rosenlöcher schwenkt den Blick wieder zurück in die DDR-Vergangenheit und erklärt
auch historisch, warum erwartete Dankbarkeit ein Paradoxon ist, und warum er dahinter
einen Maulkorb vermutet:
Immerzu positiv, der großen Sache wegen: ‚Keine Fehlerdiskussion’ – die
Funktionärsvariante des Larmoyanzvorwurfs. Und unentwegt dankbar, nicht wahr,
vom ersten Schultag an. Für die Pausenmilch und die Brüderlichkeit der großen
Sowjetunion. […] Ach, konnte man nicht endlich einmal ungestört undankbar sein?
(34)
In der für Rosenlöcher typischen ambivalenten Argumentationsweise dreht er den
Larmoyanz-Vorwurf ironisch gegen seine westdeutsche Tante, die darüber jammert, „was ihr
uns kostet“ (34). Rosenlöcher wundert sich: „Früher hatte sie niemals gejammert. Färbte der
Osten nun doch auf den Westen ab?“ (34f.)
Das Schimpfen und Jammern wird bei Rosenlöcher humoristisch zu einer der ersten
Pflichten eines mündigen Bürgers stilisiert. Jammern sei im Osten geradezu Sinn gebend
gewesen, habe eine kulturell-historische Bedeutung gehabt. Es half die Verhältnisse
auszuhalten und man vergewisserte sich auf diese Weise auch der eigenen Identität. Das war
13
subtiler Widerstand gegen die Obrigkeit, im Band Die verkauften Pflastersteine auch immer
wieder mit dem Wort „Renitenz“ tituliert. Aus Mangel an Zeit und Widerstandsgeist,
vermutet der Autor in Ostgezeter, gebe es nur noch einige letzte „Schimpfinseln“, vielleicht
„im Brandenburgischen“ (42). Enttäuscht konstatiert Rosenlöcher, dass die Schimpfkultur
Ost im Westen nur als banales Meckern empfunden wird.
Rosenlöcher schreibt wesentlich analytischer und reflexiver, er argumentiert kritischer
als Hensel und zwar in beide Richtungen. Er thematisiert viel deutlicher das Schockhafte der
Wende. Bezüglich des Erinnerungsdiskurses argumentiert er wie Hensel, wenn sie von der
Erinnerungslücke – der verlorenen Kindheit – spricht, er ist nur in der Formulierung
drastischer: „[…] der plötzliche Zeitenwechsel kam einer Gehirnwäsche gleich“ (19).
Durch den plötzlichen und gründlichen Wandel habe man Leben gewonnen, aber auch
„ein Stück Leben verloren“ (20). Die „Dominanz der Gegenwart löscht das Erinnern aus
[…]“. Deshalb fragt er sich, ob der „[…] DDR-Nostalgievorwurf nicht auch etwas
Pharisäerhaftes“ (25) habe und wünscht sich ein Erinnern, das „[…] heute weder das Damals
beschönigt noch mit dem Damals das Heute zu beschönigen sucht […].“ (26)
Große
Unterschiede
zwischen
beiden
Texten
finden
sich
hinsichtlich
des
Freiheitsbegriffes. Hensel betont am Ende die Vorzüge des neuen Systems, genießt das freie
Bewegen zwischen Ost und West und findet Gefallen am neuen Lebensgefühl, das viel mit
Spontaneität zu tun hat. Die Identifikation mit dem neuen Lebensraum scheint aber weniger
analytisch-rational, sondern vielmehr über eine emotionale Ebene zu funktionieren.
Rosenlöcher dagegen analysiert die neue Situation akribisch und ist skeptisch, ob er jetzt
wirklich freiheitlicher denkt als vorher. Denn der Trend zur Vereinheitlichung ist auch heute
wieder unverkennbar und betrifft auch das Denken: „Was aber ist mit der Freiheit, wenn
kaum wer noch anders denkt?“ (40)
Immer wieder wird im Text offensichtlich, dass Intellektuelle wie Rosenlöcher durch
das autoritäre Regime DDR bestimmte Habita ausgebildet haben, die sie auch nach der
Wende nicht einfach ablegen können. Der alte Komplex, nicht genügend Widerstand, nicht
kritisch genug gewesen zu sein, führt dazu, dass man im neuen System erst recht versucht,
nicht erneut in den Verdacht der Systemnähe zu geraten. Für Rosenlöcher ist es eine Frage
der Ethik und der Würde, sich dem neuen System nicht anzubiedern, d.h. seine dezidiert
politische Sicht auf die Dinge mündet in einem notwendigerweise distanzierten Verhältnis
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zum politischen und medialen System. Identität wird bei ihm über kritische, analytische und
systemferne Haltung gebildet, die ohne ein utopisches Denken eigentlich undenkbar ist. Im
Gegensatz zu Rosenlöcher interessieren Hensel Utopien und Politik wenig, sie zeichnet sich
durch den Willen zur Anpassung und Pragmatik aus.
Statt auf intellektuelle Reflexion setzt Jana Hensel dagegen viel stärker auf Emotionen.
Sie versucht dies durch die Beschreibung eines Lebensgefühls auszudrücken. Dieses Gefühl
ist anschlussfähig an das westliche Koordinatensystem, in erster Linie ist es geprägt von
einem freiheitlichen Gefühl der Grenzenlosigkeit des Handelns. Durch das Meistern
schwieriger Umbruchsituationen entsteht ein neues Selbstbewusstsein, das ein Gefühl von
Stärke und Zukunftsoptimismus vermittelt. Auch wird dadurch eine Aufbruchsstimmung
erzeugt, was der realen Situation in den neuen Bundesländern nicht entspricht. Doch es ist
eine Aufbruchstimmung und ein Selbstbewusstsein, das im Ost-West-Diskurs gerade im
Westen von vielen seit langem ersehnt wurde, auch wenn es nach wie vor mehr
Wunschdenken ist. Genau das ist auch der Grund dafür, warum der Text für Ostdeutsche, die
im Osten geblieben sind, wenig authentisch und eher konstruiert wirkt. Interessant wäre in
diesem Kontext, genauer zu beleuchten, warum die begeisterten Leserstimmen gerade
diejenigen Ostdeutschen sind, die schon seit längerer Zeit in den alten Bundesländern leben,
ja teilweise solche sind, die schon kurz nach der Wende in den Westen gingen.12 Es kann
daher auch nicht wirklich überraschen, dass die schärfste Kritik an Hensel aus
Ostdeutschland kam, während westdeutsche Medien das Buch überwiegend wohlwollend und
interessiert aufnahmen. (vgl. Kraushaar 2004b: 95)
BENUTZTE BIBLIOGRAFIE
PRIMÄRLITERATUR
Hensel, Jana, 2004 [Erstausgabe 2002]. Zonenkinder. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Rosenlöcher, Thomas, 1997. Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Rosenlöcher, Thomas, 1990. Die verkauften Pflastersteine. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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SEKUNDÄRLITERATUR
Arend, Ingo, 2004. „Der Setzkasten der Erinnerung“. In: Kraushaar 2004a. 36-41.
Baßler, Moritz, 2002. Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck.
Baßler, Moritz, 2004. „Die ‚Zonenkinder’ und das ‚Wir’. Ein Nachwort“. In: Kraushaar 2004a. 111119.
Cammann, Alexander, 2004: „Auf der Suche nach dem DDR-Gefühl“. In: Kraushaar 2004a. 61-73.
[Kraushaar 2004a=] Kraushaar, Tom, Hg., 2004. Die Zonenkinder und wir. Die Geschichte eines
Phänomens. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Klein, Olaf Georg, 2001. Ihr könnt uns einfach nicht verstehen! Warum Ost- und Westdeutsche
aneinander vorbeireden. Frankfurt/M.: Eichborn.
Kraushaar, Tom, 2004b. „Die Normalität des Ausnahmezustands. Ein Gespräch mit Jana Hensel“. In:
Kraushaar 2004. 94-110.
Merkel, Angela, 2004. „Unser Selbstbewusstsein“. In: Kraushaar 2004a. 75-76.
1. Merkel kritisiert ihr Selbstbewusstsein zwar als „etwas überhöht“, zeigt sich ansonsten aber sehr angetan
von Hensels Beobachtungen und Beschreibungen. Vgl. Merkel 2004: 76.
2. Für Anregungen zum Thema dieses Beitrags möchte ich Carl Wege (Universität Bremen) herzlich
danken.
3. So der Untertitel von Tom Kraushaar, der verschiedene Rezensionen und Stimmen in einem Band
versammelt hat. Vgl. Kraushaar 2004.
4. Vgl. auch den Beitrag von Sonja Hilzinger: Zonenkinder von Jana Hensel. Erinnerung an eine Kindheit
in diesen Kongressakten. Ihr Beitrag ergänzt den vorliegenden, da sie sich stärker der Rezeptionsseite und
der Schreibmotivation widmet.
5. Streng genommen ist der Terminus „Wende“ verharmlosend, der Begriff „Umbruch“ wäre präziser und
eher angebracht. In diesem Beitrag wird jedoch aus Gründen der Geläufigkeit der Begriff „Wende“
verwendet. Vgl. zu dieser Problematik den aufschlussreichen Beitrag von Bernd Westermann in diesem
Band.
6. Vgl. auch Arend 2004: 38. Ingo Arend kritisiert, dass Hensel sich „einen erstaunlichen Verzicht auf
Analyse“ erlaube.
7. Auf die Ähnlichkeit mit Florian Illies Generation Golf haben nicht nur viele Rezensenten hingewiesen.
Hensel selbst hat in einem Interview erklärt, dass sie sich an Illies orientiert und ihr Buch „in diese Lücke“
hineingeschrieben habe, da die Ostdeutschen bei Illies keine Rolle spielten. Vgl. Kraushaar 2004b: 94.
8. Baßler hält das „Wir“ für ein Erbe der Popliteratur. Vgl. Baßler 2004: 116.
9. Im Folgenden wird bei Zitaten aus dem Primärtext die Seitenangabe in Klammern gesetzt.
10. Im Folgenden wird bei Zitaten aus dem Primärtext die Seitenangabe in Klammern gesetzt.
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10. Zur Thematik der Karriereorientierung und der Außerdarstellung Ost- und Westdeutscher vgl. Klein
2001.
12. Auch Hensel räumt im Interview ein, dass sie „am ehesten für die geschrieben habe, die den Osten
irgendwann, sei es vor 89 oder danach, verlassen haben.“ Vgl. Kraushaar 2004b: 102.
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