Univ.-Prof. Dr. Verena Krieger: Einführung in die Ikonologie Handout zu 9. Ikonologie der Moderne Themen: - Warburgs Verhältnis zur modernen Kunst (Futurismus, zeitgenössische Populärkultur) - Panofskys Verhältnis zur modernen Kunst (Newman-Affaire, Filmanalyse, Rolls Royce-Kühler) - Moderne und gegenstandslose Kunst in Panofskys Interpretationsmodell - Panofsky zum Problem der Zeitgenossenschaft Bilder: - Franz Marc, Stute mit Fohlen, Öl auf Leinwand, 1912 - Heinrich Strohmeier, Entwurf einer Briefmarke „Idea vincit“ (die Idee siegt) im Auftrag von Aby Warburg, 1926 - Barnett Newman, Vir heroicus sublimis, 1950/51 - Filmstill: Eine Nacht in Casablanca (The Marx Brothers), 1946 - Zum Vergleich: Tempelfassade von Palladios Villa Rotonda - Beispiele der englischen Buchmalerei: Book of Kells (um 800) / Rutland Psalter mit Majestas Domini (um 1260) - Beispiele der englischen Gotik (Perpendicular Style): Chor der Kathedrale von Gloucester (um 1331) / Kapelle Heinrichs VII in Westminster Abbey, London (1503-19) - Tom Wolfe, Karikatur in The New York Herald Tribune vom 12. Nov. 1962: „An Expert Radiating: A Rolls Royce grill looks down impassively as learned lecture is delivered in philosophical Hall by Dr. Erwin Panofsky“ - Filmstill: Panzerkreuzer Potemkin (Sergej Eisenstein), 1925 - Filmstill: Le sang d’un poète (Jean Cocteau), 1930 - Filmstill: Das Kabinett des Doktor Caligari (Robert Wiene), 1919 - Filmstill: Rhythmus 21 (Hans Richter), 1921 - Filmstill: Sinfonie diagonale (Viking Eggeling), 1924 - Rolls Royce-Kühlerhaube mit Figur - Franz Marc, Der Mandrill, 1913 - Auguste Renoir, Stillleben mit Pfirsichen, 1899 - Paul Cézanne, Sieben Äpfel mit Farbtube, 1878/79 - Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel Grande Jatte, 1884-86 - Wassily Kandinsky, Improvisation 19, 1911 - Barnett Newman, Vir heroicus sublimis, 1950/51 - Andreas Gursky, Atlanta, 1996 Namen: - Robert Rosenblum - Tom Wolfe - Aristoteles - Scaliger, Corneille, Gottsched Begriffe und Zitate: Aby Warburg: Raimondi und Manet vollziehen eine „energetische Umverseelung“ des antiken Motivs der lagenden Nymphen und Flussgötter Daraus folgt: „Aus der kultlich zweckgebundenen Geste untergeordneter blitzfürchtiger Naturdämonen auf dem antiken Relief vollzieht sich […] die Prägung freien Menschentums, das sich im Lichte selbstsicher empfindet.“ Das Sublime (Erhabene) Perpendicular Style Panofsky, Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers: Buchmalerei, gotische Architektur, Landschaftsgärten und Literatur sind charakterisiert durch „englische Dualität“. Der Rolls-Royce-Kühler „fasst sozusagen zwölf Jahrhunderte angelsächsischer Themen und Neigungen zusammen: sie versteckt ein bewundernswerte Stück an Ingenieurskunst hinter einer majestätischen palladianischen Tempelfassade; doch diese … wird überragt von einer windumwehten ‚Silver Lady‘, deren Art Nouveau-Gestalt vom Geist unverfälschter ‚Romantik‘ durchdrungen scheint. So (spiegelt) das ‚Gesicht ‚ des Rolls-Royce … seit über einem halben Jahrhundert das Wesen des britischen Charakters wider. Möge es uns erhalten bleiben“ Panofsky, im Interview mit Tom Wolfe anlässlich seines Rolls-Royce-Vortrags: Er selbst fährt einen Cadillac, legt aber Wert auf die Feststellung „ohne Heckflossen“. Gefragt nach den ideologischen Vorläufern der Heckflosse: „Die Heckflosse ist ein Symbol für den Wunsch, etwas zu sein, was man nicht ist. Die Heckflosse wurde vom Flugzeug übernommen. Die Hersteller flüstern uns zu: In unserem Auto kannst Du 300 Meilen pro Stunde fahren‘ Eine Phantasievorstellung, Megalomanie. Es verkauft sich natürlich gut, die Straßen sind ja voll von Megalomanen.“ Dramenlehre des Aristoteles: Ein Drama ist charakterisiert durch „eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende“ (Poetik) Daraus wird seit dem 16. Jahrhundert (Scaliger, Corneille, Gottsched u.a.) die Lehre von den drei Einheiten: Forderung nach Einheit von Zeit, Raum und Handlung, entwickelt zunächst v.a. für das Barocktheater, dann auch auf die Malerei angewendet. Panofsky an Kracauer über dessen Buch „Von Caligari zu Hitler“ (1947): „Natürlich mischt sich für einen, der … alle, oder doch die meisten dieser deutschen Filme von 1919 – 1932 gesehen hat – oft im speziellen und unwillkürlich mit dem Film assoziierten Situationen, ein merkwürdiges Gefühl von persönlicher Erinnerung mit ein, das es einem schwerer macht, die Dinge ganz rein analytisch zu nehmen (als ob man sozusagen ein Zeitgenosse des Jan van Eyck wäre, dem plötzlich Jan van Eyck’s Bilder ‚erklärt‘ werden).“ Antwort Kracauers als Panofsky: „Wie sehr ich es verstehe, dass Sie das Rencontre (Begegnung) von objektiven Analysen und persönlichen Erinnerungen merkwürdig berührt. Ich selber war hin und her gezerrt zwischen Fremdheit und Nähe, wunderte mich manchmal, dass ich etwas von außen beobachtetes so gut von innen kannte – wie wenn man heute deutsch sprechen hört und zugleich hinter und vor der Sprachwand ist – und war glücklich wenn sich bei Gelegenheit mein damalige Urteil und meine heutige Erkenntnis als eins erwiesen. Im Schreiben kam ich mir wie ein Arzt vor, der eine Autopsie vornimmt und dabei auch ein Stück eigener jetzt endgültig toter Vergangenheit seziert. Aber natürlich, einiges lebt, wie immer verwandelt, fort. Es ist ein tightrope walking (Drahtseilakt) zwischen und über dem Gestern und Heute…“ Literatur: 1. Quellen: Erwin Panofsky, Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, hg. von Helga und Ulrich Raulff, Frankfurt am Main/New York 1993 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt am Main 1984 Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky, Briefwechsel 1941–1966, hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Volker Breidecker, Berlin 1996 Sixten Ringbom, The Sounding Cosmos: A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting, Åbo 1970 Robert Rosenblum, Modern Painting and the Northern Romantic Tradition: Friedrich to Rothko, London 1975 Hans Dickel, Der erste und der zweite Blick. Albert Renger-Patzsch und Andreas Gursky in der Sicht der Zeitgenossen und der Fotografiegeschichte, in: Verena Krieger (Hg.), Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 163-180 2. Kommentare: Volker Breidecker, Kracauer und Panofsky: ein Rencontre im Exil, in: Konstruktionen der Moderne. Im Blickfeld Bd. 1, 1994, Hamburg 1994, S. 125-147 Regine Prange, Die erzwungene Unmittelbarkeit : Panofsky und der Expressionismus, in: Idea, Bd. 10, 1991, S. 221-251 Regine Prange, Das ikonoklastische Bild. Piet Mondrian und die Selbstkritik der Kunst, München 2006, Kap. Das Problem des Sinnentzugs und die Restituierung des Bildes im Zeichen (S. 271-278) Charlotte Schoell-Glass, Tom Wolfe über Erwin Panofskys Ideological antecendents of the Rolls-Royce radiator, in: Bilder, Räume, Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag, hg. von Steffen Bogen/Wolfgang Brassat/David Ganz, Berlin 2006, S. 478-485 Felix Thürlemann, Ikonographie, Ikonologie, Ikonik : Max Imdahl liest Erwin Panofsky, in: Klaus SachsHombach (Hg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt am Main 2008, S. 214-234 Beat Wyss, Ein Druckfehler. Panofsky versus Newman – verpasste Chancen eines Dialogs, in: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992, hg. von Bruno Reudenbach, Berlin 1994,S. 191199, erneut in: Beat Wyss, Die Wiederkehr des Neuen, Hamburg 2007, S. 342-359 Beat Wyss, Ikonologie des Unsichtbaren, in: Jürgen Stöhr (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996,S. 360-380 Lektüreempfehlung zu dieser Vorlesung: Erwin Panofsky, Stil und Medium im Film, in: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, hg. von Helga und Ulrich Raulff, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 17-51