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„Die Abschaffung des Menschen“, von C. S. Lewis
gelesen und ausgelegt von A. Loepfe1
I Der Mensch ohne Brust
Lewis nimmt sich ein Oberstufenlehrbuch (für Aufsatzstil, Lebensphilosophie,
Weltanschauung) vor. Darin wird ein Beispiel für Kritik der Urteilskraft gebracht. A steht vor
einem Wasserfall und sagt: „Erhaben!“, B: „Hübsch.“. Die Autoren besagten Lehrbuches
klären die Schüler darüber auf, dass es sich bei „Erhaben“ und „Hübsch“ um zwei subjektive
Urteile handelt, dass es sich nicht um wesentliche Aussagen über den Wasserfall, sondern um
den Ausdruck von Gefühlen handelt.
Lewis macht darauf aufmerksam, dass die Gefühle von A nicht erhaben, sondern
ehrfürchtig sind. [Ich interpretiere: nicht die Gefühle von A sind erhaben; A fühlt sich nicht
erhaben, im Gegenteil „klein“].
Will man ’Das ist erhaben’ überhaupt auf eine Aussage über Gefühle des Sprechenden
reduzieren, so hiesse die richtige Übersetzung ‚Ich habe demütige Gefühle’. Konsequent
angewendet würde nämlich die geäusserte Ansicht zu offensichtlichem Unsinn führen. Die
beiden sähen sich gezwungen, auch an der Behauptung festzuhalten, ‚Du bist
verabscheuungswürdig’ bedeute ‚Ich habe verabscheungswürdige Gefühle’, also ‚Deine
Gefühle sind verabscheungswürdig heisse ‚Meine Gefühle sind verabscheungswürdig’.
[Sprachanalytik! Mir scheint aber, Lewis unterlaufe eine schleichende Unterstellung:
Man muss unterscheiden zwischen der Qualität des Gefühls und dem Gegenstand des
Gefühls. Umgangssprachlich wird das kaum gemacht. Insofern scheint mir ‚Meine Gefühle
vor dem Wasserfall sind erhaben’ nicht falscher als ‚Meine Gefühle vor dem Wasserfall sind
ehrfürchtig’. Gefühle sind adäquat oder nicht, aber nicht rot oder feige oder erhaben, auch
nicht ehrfürchtig. In der Tat fühlt man sich vor „dem gestirnten Himmel über mir“ (Kant)
erhaben gestimmt, da man, so klein man ist, von der Übermacht des Kosmos übermannt ist –
und damit an dieser etwas wie Teilhabe empfindet. Mit ‚Du bist verabscheuenswürdig’ sagt
man aber nicht, wie Lewis behauptet ‚Deine Gefühle sind verabscheuenswürdig’; ebenso
heisst es eigentlich ‚Ich empfinde vor Dir das Gefühl zu Verabscheuung’. Wie auch immer,
Lewis argumentiert da analytisch unsauber.]
Der Schüler wird (gemäss Lehrbuch) zwei Behauptungen für wahr halten: erstens
dass alle Sätze, die ein wertendes Prädikat enthalten, Aussagen über den Gefühlszustand des
Sprechenden sind, und zweitens, unwichtig.
[Frage: Geht es hier überhaupt um Aussagen à la ‚ Ich halte A für B’, nicht einfach um
Weltauslegungen von Menschen, welche ihr Seinkönnen erschliessen?]
Lewis geht auf ein weiteres Beispiel der Aufforderung zur Stilernüchterung ein,
welches die beiden Autoren des Aufsatzlehrbuches bringen. Es handelt von einem
Werbeprospekt, wo eine Kreuzfahrt mit den Worten angepriesen wird „ . . . über den
westlichen Ozean dorthin fahren, wohin William Drake von Devon auf der Suche nach
Indiens Schätzen sein Leben wagend gesegelt ist“. Besagte Autoren weisen auf die
Übertreibungen der zu erwartenden Abenteuer, kurz: sie entmythologisieren. Lewis macht
1
kursiv = Zitat aus dem Buch
[] = Reflexionen
1
einen Vorschlag (aus einem belletristischen Roman) für echten Enthusiasmus: „Wenig ist
jener Mann zu beneiden, dessen Liebe zum Vaterland auf der Ebene von Marathon [Schlacht
der Griechen gegen die Perser] nicht gestärkt wird, dessen Frömmigkeit sich nicht erwärmt
angesichts der Ruinen von Iona.“
[Begeisterung ja, aber dieser mythologisierende Enthusiasmus ist uns Heutigen zum
Glück zuwider. Patriotismus und geschwellte Märtyrerbrust? Lieber nicht, vor allem, wenn
sich die erzählten Heldengeschichten wohl als Halblügen erweisen. Ich hege Verständnis für
die übersachliche Nüchternheit, Poesiefeindlichkeit einer gewissen Aufklärung.]
Es gibt zweierlei Menschen, denen man einen verlogenen Leitartikel über Patriotismus
und Ehre umsonst vorsetzt: den Feiglingen und den ehrenhaften Patrioten. Gegen die besagte
Anzeige sind gefeit: Menschen mit wirklichen Empfindungen und, auf der andern Seiten, die
behosten Affen, die im Atlantischen Ozean nie etwas anderes sehen als Tausende von Tonnen
kalten Seewasser.
[Die nüchternen Techniker, blutleeren Rechner und Hedonisten und Sozialfunktionäre
kriegens da ordentlich ab: Feiglinge und behoste Affen seid ihr! Ich mag diese ausfällige,
diffamierende Sprache nicht. Man mag die Technomanen, Instrumentalrationalisten zu Recht
verabscheuen: Reserviertheit gegen mythische Aufladungen und poetischen Enthusiasmus ist
m. E. aber ebenso angebracht. Wer hat all die Schlachtengesänge und Oden an Eroberer
geschrieben? Die Dichter. Sie haben nicht selten um die Gunst der Mächtigen in Politik,
Kirche und Wirtschaft gebuhlt, nicht zuletzt der Aufträge wegen.]
Ein weiterer Angriff auf die Ernüchterer und Totalanästhesierten: Da wird in einem
Text von den Pferden gesprochen, wie diese willigen Diener den ersten Siedler in Australien
bei der Kolonisierung halfen. Lewis: Vom Ruksch und Sleipnir und den weinenden Pferden
Achills, Streitross im Buch Ijob (. . .) von der prähistorischen Pietät des Menschen unserm
Bruder Ochs gegenüber (. . .) kein Sterbenswort [in der entmythologisierenden Lehrschrift].
Darin steht, Pferde seien an der kolonialen Ausbreitung nicht interessiert gewesen.
[ Nun, auch hier nehme ich eindeutig Stellung für die Entmythologisierer. Lewis ist
ein Patriot, Verteidiger des vaterländischen Heldentums und der englischen Kolonialpolitik,
wenn er die rührenden Tierszenen aus der Literatur tel quel patriotischen Verherrlichungen
beigesellt! Zudem: Wir Heutigen empfinden anders den Tieren gegenüber als unsere Ahnen.
Der Ochs (oftmals kastriert) ist kein Bruder des Menschen, sondern ein degeneriertes
genmanipuliertes Zuchtprodukt aus dem Auerochs.]
Lewis ist bekümmert um das Gemütsleben der Schüler, welche solche Beispiele aus
dem Stilistik-Lehrbuch lesen. Ihre Seele könnte Schaden nehmen. Etwas von der Freude an
ihren eigenen Ponys und Hunden ist den Schülern dabei verlorengegangen. Dafür haben sie
einen gewissen Anreiz zu Grausamkeit und Vernachlässigung mitbekommen; eine Art von
Vergnügen an ihrer eigenen Schlauheit hat in ihrem Geist Platz ergriffen.
[Entsakralisierung, Entmythologisierung bedeuten die Beschneidung des religiösmythischen Gefühlslebens, d’accord, das tut weh, wenn gefühls- und poesiebeladene
Verhaltungen und Verhältnisse plötzlich nüchtern geprüft werden. Doch: ist das nicht immer
wieder notwendig? Muss die Entweihung zur technisch-funktionellen Öde führen? Erfährt
nicht gerade heute die wilde Natur eine neue Heiligung, die nur bedingt mit dem
anthropomorphen und anthropozentrischen Götterhimmel der antiken und vorrationalen
Kulturen mit ihren heiligen Haustieren, Pflanzen, Quellen, Naturgewalten zu tun hat?]
Die richtige Abwehr gegen falsche Gefühle besteht in der Vermittlung echter. Wenn
wir das Empfindungsvermögen unserer Schüler verkümmern lassen, machen wir sie zu einer
leichteren Beute für Propagandisten.
[Nur eben, was sind echte Empfindungen?]
2
Lewis glaubt an objektive Werte. Er nennt sie – Beispiele aus den verschiedenen
Kulturen und Ethiken der Antike aufführend – das Tao. . . . der Glaube, dass gewisse
Haltungen, bezogen auf das Wesen des Alls und auf das was wir selber sind, wirklich wahr
sind und andere falsch.
[Weiter unten ist für Lewis Tao, der richtige Lauf des Kosmos, gleich der Vernunft. Er
erläutert nicht, wie das der Fall ist (in der hier vorliegenden Schrift vermeidet Lewis
christliche Ansichten. In andern Schriften gibt er jedoch die Antwort: das sittliche Gewissen
könnten wir nur von einem Übersubjekt haben, von Gott; das ist für ihn ein Gottesbeweis!).
Gefühle sollen der Vernunft untergeordnet sein. Das ist uns in Fleisch und Blut
übergegangene Logik: Es gibt eine grosse Ordnung (oder Idee des Guten, der kosmischen
Weisheit, Weltseele, „des Seins“ etc.); diesem sollen wir in Denken, Fühlen und Handeln
entsprechen, um „in der Wahrheit“ zu sein.
Sein ist also gleich dem, was allem zu Grunde liegt, ist vorfindlich, ist, was
„vorhanden“ ist, ist eh und je, gleich wie Alpha Centauri oder die Distanz zwischen Pult und
Bank oder das statistische Mittel der Selbstmordrate. Diesem Vorhandenseienden stände ein
Sein gegenüber, das sich nie als Vorhandenes versteht: der da-seiende Mensch, die Existenz,
die Ich sagt. Es ist also eine Kluft aufgeworfen: dort die objektive Welt von Tao, hier ich, du,
wir, sie: Subjekte. Wir halten dies fürs Erste einmal fest.]
Lewis erläutert, das Beispiel vom Wasserfall wieder aufnehmend, wie von den
Lehrbuchautoren die Gefühlswelt zu einer rein physiologischen Angelegenheit gemacht wird,
die nicht die geringste Beziehung zur Umwelt hat. So betrachtet stehen sich die Welt der
Tatsachen, ohne die mindeste Spur von Werten, und die Welt der Gefühle, ohne die geringste
Spur von Wahrheit oder Irrtum, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, gegenüber, und keinerlei
Annäherung ist möglich.
[Und in der Tat stellt sich die Frage: wie die Kluft zwischen Ich (Subjekt) und Kosmos
(Objekt) überwinden? Besagtes Lehrbuch macht alles objektiv-tot. Und Lewis? Für ihn ist im
Kosmos ein Geistiges: das Gesetz. Dieses ist auch im Menschen: das moralische Gewissen,
die Vernunft.
Für die „Rationalisten-Objektivisten“ des Lehrbuches kann zwischen Subjekt und
Objekt nur trial an error, oder darwinistische Anpassung, der Weg sein. Erziehung wird
Zuckerbrot und Peitsche (Auswahl des fittesten Verhaltens am Zögling). Also
Konditionierung. Oder kälteste Logik, Errechnen des besten Weges, um zu Nahrung,
Streicheleinheiten, gesellschaftliche Reputation zu gelangen.
Das Verhalten der traditionellen „Tao-Schule“ will die moralische Vernunft (also
Vernunft nicht als die Schlauheit, wie zu etwas am besten gelangen, verstanden) im Zögling
wecken, [will etwas Vorhandenes hervorholen, bei Sokrates die Erinnerung an die ideale
Gerechtigkeit.]
Wie der König mit Hilfe der Beamten regiert, so muss die Vernunft mittels muthaftem
Element seine Triebe meistern. Der Kopf regiert den Bauch durch die Brust, das Gefühl, die
eingeübte Gesinnung. Und nun amputieren Leute wie die Autoren des Stilistik-Lehrbuches
ihren Zöglingen das Gemüt aus dem Leib! [Reduzieren den Menschen auf Rechner und
körperliches Bedürfnissystem.] Lewis beklagt die Folgen: mangelnde Begeisterungsfähigkeit,
hedonistisches Kalkulieren, Ego-Aktionärsverhalten. Dies wird etwa darin ersichtlich, dass
die Soldaten nicht mehr durch Vaterlandsliebe und Appell an Ehre motivierbar sind. Kritisiert
wird der herrschende Werte-Subjektivismus, den das kritisierte Lehrbuch vertritt.
[Einverstanden bezüglich des Kultes der Wellness, des „bringt mir das etwas?“, des
egoistischen Hedonismus. Nichteinverstanden bezüglich Verteidigung des imperialistischen
englischen Vaterlandes, einer verrotteten kapitalistischen „Kultur“ mit ihren frommen
Mythen.]
3
II Der Weg
Die folgenden Überlegungen handeln vom Ethischen im Menschen. Es auf Trieb,
Instinkt zurückzuführen ist unmöglich. Die Vorfindbarkeit des Tao – Sittengesetzes, also
eines objektiven Wertesystems jenseits persönlichen Wünschens und Wollens – , ist zu
evident, als dass sein Vorhandensein bestritten werden könnte.
[Das ist der Grundtenor der Ethik aller klassischen Philosophie und Religionen, dass
es einen ewigen common sense gibt, der unter Androhung von Selbstvernichtung jeder
Gemeinschaft - zeitlich und örtlich von den Menschengruppen variiert - eingehalten werden
musste und muss. Ohne Opferbereitschaft, Ehrgefühl, Verlangen nach Gerechtigkeit, Treue,
Ehrlichkeit etc. geht letztlich nichts.
Und doch stellen wir fest: es ist all die vergangenen Jahrtausende hindurch sehr
schlecht gegangen und heute stehen wir vor dem möglichen Aus.
Wenn die Frage nach dem ewigen Tao die falsche Frage wäre? Wenn die Klagen
wegen ethischen Zerfalls und Aufrufe zur Rettung im Tao ebenso fruchtlos wären wie die
Beschwörungen einer Erlösung im Paradies der Güte und Gerechtigkeit? (Und sind wir die
irdischen und überirdischen Paradiesverheissungen nicht über?)
Was ist nicht alles schon für ethisch akzeptabel erklärt worden! Imperialismen,
Ausrottung von Schädlingen, Atombombenversuche, dass ganze Nationen zu Sündenböcken
erklärt worden sind, die Forschung am CERN, Genmanipulation, Krebsforschung,
Kampagnen gegen den Welthunger, für Bildung, für Freizügigkeit für alle, Philanthropie etc.;
was alles ist nicht schon für unsittlich erklärt worden: Feigheit vor dem „Feind“ und vor der
Lohnarbeit, Familienplanung, Verweigerung von Schlachthäusern, Ablehnung des HolocaustMärchens, die Sprengung von Hochspannungsmasten, die Ekelerklärung vor gewissen
religiösen Praktiken, ehrliche Glaubensverweigerung, die Infragestellung der
Dispositionsmacht des Menschen über die Natur etc.
Es sperrt sich vieles in einem dagegen, alles auf eine Ethikfrage zu reduzieren (und
dazu tendieren die traditionellen Erbverwalterinnen der Ethik: die Religionen).
Die Frage ist die Frage nach dem Sinn von Sein (und nach der radikalen Endlichkeit
von Dasein). Einen überzeitlichen ewigen Tao fordern, fördert die Flucht aus der Zeit in ein
uneigentliches Jenseits vom In-der-Welt-Sein.]
Lewis zeigt, worauf die Argumentation der Entmythifizierer hinausläuft: darauf, dass
Tao keine Referenz mehr darstellt. War Tao – so deren Rede – eine historische
Notwendigkeit, die sich aus den ökologischen, ökonomischen und psychologischen Zwängen
ergab, so schwindet diese Notwendigkeit in dem Massstab, wie der Mensch Herr seiner
natürlichen Umwelt, seiner physischen Konstitution, seines Seelenlebens und der
„Sozialphysik“ (der gesellschaftlichen Bedingungen) wird. Damit wäre – mit Marx zu
sprechen – „das Reich der Freiheit“ angebrochen, der Mensch vollständig Herr seiner selbst
geworden.
4
III Die Abschaffung des Menschen
. . . dass ich nichts an dem herabsetzen will was an dem als ‚Sieg des Menschen über
die Natur’ bezeichneten Prozess wahrhaft wohltätig ist, erst recht nicht die echte Hingabe
und Aufopferung, die ihn ermöglicht haben. Aber nachdem das gesagt ist, muss ich diese
Ansicht einer genaueren Prüfung unterziehen. In welchem Sinn besitzt der Mensch
zunehmend Macht über die Natur?
Lewis nimmt drei Beispiele: das Flugzeug, den Rundfunk, die Verhütungsmittel. Man
kann entsprechende Produkte oder Dienste kaufen. Übe ich damit individuelle Macht über die
Natur aus? Nein. Wenn ich jemanden dafür zahle, dass er mich trägt, so bin ich deswegen
nicht selbst ein starker Mann. Es kann sein, dass mir der Träger seinen Christophorus-Dienst
versagt. Eigentlich ist dieser Träger der Mächtige, nicht ich mit dem Geld in der Tasche. Das
gilt auch für Flugzeug und Rundfunk: mächtig sind ihre Erbauer. Überdies können diese in
ihrer Macht die Dienste von Flugzeug und Rundfunk unbequem einsetzen: als Bomber und
Propagandamittel zum Beispiel. Und die Empfängnisverhütungsmittel? Da sind die
Leidtragenden die künftigen Generationen . . . . denen ihre Existenz vorenthalten wird von
den jetzt Lebenden!
[Soweit. Geht es nur mir so? Ich finde diese Darstellung ein chaotisches Gemisch von
wahr, halbwahr und absurd. Ich versuche möglichst gewaltlos diesen heillosen gordischen
Knoten zu entwirren:
1.
Wenn von der Macht über die Natur gesprochen wird, ist nicht
unmittelbar der einzelne Mensch, sondern dieser als Mitglied einer Gesellschaft
gemeint.
2.
Der einzelne Mensch ist immer in Gesellschaft (oder Gemeinschaft).
3.
Diese ist ein Verband der Kooperation, im Kapitalismus einer durch
Kapital (freien Markt, Industrialismus, Unternehmertum, Ausbeutung von Arbeitskraft
und Natur) vermittelten.
4.
Der Einzelne hat vermittelt durch die Gemeinschaft Anteil an der
gesellschaftlichen Macht der Naturbeherrschung. Die Arbeitsteilung ist historisch
jung. Schon Jäger und Sammlerinnen vermochten jedoch nichts als „Robinsone“: nur
schon das Wissen, die Sprache war Gemeinbesitz.
5.
Lewis’ robinsonhafte Kritik: um zu leben, bin ich ja von andern
abhängig! Ist folglich als Kritik an Kooperation lächerlich.
6.
Sie hat aber unter kapitalistischen Verhältnissen der technischen
Zivilisation ihre Berechtigung: Der Einzelne steht vor einem industriellen
Gesamtkomplex, als Arbeiter in der Welt der automatischen Giga-Produktion, als
Konsument vor dem Giga-Warenhaus, was seinen produktiven Anteil, seine
Konsummacht letztlich als null und nichtig erscheinen lässt.
7.
in der kapitalistischen Giga-Dynamik der machinalen Raserei liegt die
Macht in diesem Gesamtkomplex, es wird aber dem Einzelnen der Schein vermittelt,
er sei unersetzliches und verantworliches Subjekt. In Tat und Wahrheit sind alle als
Einzelne Nobodies, Nichtsen, allerdings insgesamt für den besagten Komplex
notwendige.
8.
Der Kondomhersteller ist ein Fachidiot, die Benutzer sind in ihrem Job
Fachidioten – und alle sind Konsumenten. Jeder für sich und der Giga-Apparat für
alle.
9.
Wegen des Gebrauchswertes der drei aufgeführten Güter: jedes Produkt
kann missbraucht werden. Der Flugzeughersteller will zudem im Kapitalismus nicht
Dinge zum Fliegen, auch nicht bombenabwerfende, herstellen, sondern sein Kapital
verwerten, im vorliegenden Fall durch Flugzeugherstellung und Verkauf von
5
Flugzeugen. Lenin hat gesagt, der Kapitalist würde mit Profit die Stricke herstellen
(lassen), womit er aufgehängt werden soll.
10.
Besagte drei Güter sind Waren, Partikelform von Kapital. Natürlich
kann ein Verkäufer einen Verkauf verweigern, das ist aber Privatsache. Im
Kapitalismus gelten nicht persönliche Ranküne und Sentimentalität, gilt nur business.
11.
Was wir die Macht des Menschen nennen, ist in Wirklichkeit Macht in
den Händen Einzelner. Lewis schaut die Dinge (Technokratie, Kapitalismus) viel zu
nahe an, als persönliches Ich-Du-Verhältnis. Wir leben jedoch nicht mehr im
Feudalismus, wo Gessler mich kleinen Tell zwingen konnte, den Hut vor ihm, dem
Herrn hoch zu Ross, abzunehmen. Die Macht Einzelner ist in den modernen
Gesellschaften gering. Alle sind letztlich Funktionäre von Technokratie und Kapital.
12.
Interessant: die Herrschaft der Heutigen über die nachfolgenden
Generationen. In der Tat stellt sich die ökologische Frage: Welche Folgen haben
Produktion und Konsum von Gütern räumlich und zeitlich auf die Natur und die
Gattung Mensch? Lewis bringt dazu das Beispiel des Kondoms.
13.
Eigenartig ist aber die diesbezügliche Schadensfeststellung: Menschen
wird die Existenz vorenthalten. Nun, das ist auch ohne Kondom möglich, zum
Beispiel durch sexuelle Enthaltsamkeit. Wie aber ein Recht auf künftige Existenz
fordern? Meines Erachtens spielt hier eine unausgesprochene Überlegung Lewins
hinein: es soll in den Vorsehungsplan Gottes (des Schöpfers und Verwalters des Alls)
nicht hineingeflickt werden. Jedes Menschenwesen ist von Gott gerufen, gewollt,
sagen die Christen. Auch als künftiges Kanonfutter? als Zombi mit I-Phone? als NanoTech-Ingenieur? als erbgeschädigte Rollstuhlfahrerin? Gottes Ratschluss ist
unerforschlich, jedoch menschenfreundlich, heisst es. Wie steht es aber mit dem
Schicksal? Hat das Gott „im Griff“? (Achtung: Theodizee! Alarm, die Fragen werden
verzweifelt!)]
Die Klage, die Menschen hätten bisher die ihnen von der Wissenschaft verliehene
Macht schlecht und gegen ihre Mitmenschen eingesetzt, ist gewiss ein Gemeinplatz. (. . .) Ich
bedenke nur, was eine Macht des Menschen über die Natur jederzeit und wesenhaft sein muss.
Ohne Zweifel würde das Bild sich ändern, wenn Rohstoffe und Fabriken öffentlicher Besitz
wären und wissenschaftliche Forschung einer offiziellen Kontrolle unterstellt würden. Aber
solange es keinen Weltstaat gibt, würde dies abermals die Macht einer Nation über andere
bedeuten. Und selbst innerhalb eines Weltstaates (. . .) würde es grundsätzlich die Macht von
Mehrheiten über Minderheiten und konkret die einer Regierung über das Volk besagen.
[Regierungen widerspiegeln i. A. Mehrheitsverhältnisse; insofern regiert die Mehrheit
des Volkes über die Minderheit: soweit meine Korrektur am letzten Satz von Lewis. Lewis ist
nicht gerade ein scharfer Analytiker, eher ein Mann der mitunter durchaus treffenden
Intuitionen . .
Lewis spricht sich also im Prinzip für das sozialistische Projekt aus. Nur hindert ihn
sein Pessimismus daran, an dieses zu glauben. Er nimmt einen menschliche Natur an, die
prinzipiell auf die gegenseitige Vergewaltigung und Unterjochung unter individuellpartikuläre Botmässigkeit ausgerichtet ist.]
Und alle Machtausübung auf lange Sicht, besonders im Hinblick auf den Nachwuchs,
ist notgedrungen Macht der früheren Generationen über die spätere.
[Übermächtigung, Unterdrückung scheinen naturgegeben zu sein, hier am Beispiel des
Generationenverhältnisses dargestellt. Schüchtern wagt man den Einwand, ob die natürliche
Vormundschaft der Eltern über den unmündigen Nachwuchs denn Unterdrückung, böse
Macht sein muss, ob es nicht auch gute Macht gebe? Nach Augustinus ist der Mensch von
Natur aus korrupt, ein Mängelwesen (in Sünde gezeugt)).
6
Doch, generell ist Lewis nach dem heutigen Stand der Dinge Recht zu geben: es ist ein
totales Debakel „mit den Menschen“. Mir scheint das Problem allerdings weniger in den
Menschen, seien es Habende oder Nichthabende, Wissende oder Unwissende etc., als in der
Verfallenheit der Menschen an Technik, Kapital und Aktiengesellschaft (genannt
„Demokratie“), also in der Verlorenheit an eine vernichtende Dynamik zu liegen, die vor
allem jedes Leben und jede Vitalität auf Terra abtötet (übrigens: Lewis spricht, vollständig
anthropozentrisch wie alle Christen, nur vom Menschen).]
Jede Generation übt Macht über ihre Nachfolger aus; und jede widersetzt sich der
Macht ihrer Vorgänger und begrenzt sie in dem Masse, wie sie die ererbte Umwelt verändert
und sich gegen die Tradition auflehnt.
Wir haben also Befreiung von der Tradition, Umweltveränderung, angeblich
zunehmende Macht.
Falls ein bestimmtes Zeitalter dank der Eugenik und einer wissenschaftlichen
Erziehung die Macht erlangte, seine Nachkommen nach Belieben herzustellen, so sind eben in
Wirklichkeit alle nachfolgenden Menschen dieser Macht unterworfen. Sie sind schwächer,
nicht stärker. (. . .) . . . je näher eine Generation dem Zeitpunkt des Erlöschens der Gattung
lebt (. . .) weil die Zahl ihrer Untertanen abnimmt. (. . .) Die Letzten Menschen werden ( . . .)
vielmehr der toten Hand der grossen Planer und Konditionierer am gründlichsten
ausgeliefert sein.
[Lewis postuliert hier eine Theorie der notwendigen Ablösung von der Tradition und
des technischen Fortschritts – anscheinend eine unausweichliche Gesetzmässigkeit. Nun:
während 2 Millionen Jahren Menschheitsgeschichte gab es keinen eigentlichen technischen
Fortschritt, obwohl Eltern immer die Macht über ihre Kinder ausgeübt haben . . . Ablehnung
des Alten ist frühestens seit 2500 Jahren als Idee aufgetaucht, behauptete hier ich einmal.
Was wissenschaftliche Menschenzucht anbelangt, kann man Lewis, vom heutigen
Stand der Dinge aus betrachtet, nicht widersprechen. Eugenik, gerade von konservativen
Kreisen, besorgt über die Degeneration des Proletariates und der Grossstadtbevölkerung, als
Gesundheitsmassnahme gefordert (z. B. vom Katholiken Max Scheler!), hätte eigentlich
ebenso eine Förderung der Gattungsnatur zum Ziel gehabt, wie eine andere Erziehung, welche
die schwarze Pädagogik ablöste, eine Förderung der charakterlichen Stärke der Menschen.
Heute haben wir in Aussicht oder schon praktisch ausgeübt: Gentherapie, künstliche
Sexualität, Abrichtung der Kinder auf Techno-Zombitum. Lewis nimmt offenbar an, mit den
Empfängnisverhütungsmitteln werde die Bevölkerung abnehmen. Auch darin hat er teilweise
Recht, was die Industrienationen und oberen Schwellenländer betrifft. Nun, die
Weltbevölkerung lag 1950 bei 3 Milliarden: schon damals viel zu viele Menschen für ein
gutes, richtiges, gesundes Leben der Menschen, viel zu viele für die wilden Lebewesen,
welche Terra ebenfalls bewohnen. Empfängnisverhütung war also schon aus ökologischen
Gründen seit langem angesagt. „Wachset und vermehret euch¨“, war aber Ausdruck des
menschlichen Willens zur Macht, keinesfalls ein ethisch akzeptierbares Gebot!]
Die Eroberung der Natur durch den Menschen bedeutet (. . .) die Herrschaft von ein
paar hundert Menschen über Abermillionen von Menschen.
[Die Menschen können sich das Übel offenbar nie anders als moralisch vorstellen: als
übles Tun von A gegenüber B. Das Übel wird immer personalisiert: die bösen Tyrannen, die
bösen Demagogen, Kapitalisten, Ausbeuter, Herren, Wissenschafter. Immer wird, gerade
heutezutage, das Bild von (oftmals hinter der Bühne) die Fäden ziehenden Mächtigen
ausgemalt, welche ihre Machenschaften inszenieren. Auf der Bühne: die Opfer, Gegängelten,
7
Ausgesaugten, die nur das Beste beabsichtigen und unwillentlich zu ihrem Untergang
Vorarbeit leisten oder zum Bösen manipuliert werden. Gut und Bös heisst dann: die Guten
und die Bösen.
Dieses simplistische Bild hat sein Pendant im Bild vom Satan, dem Widersacher
Gottes, des (allmächtigen?), allwissenden absolut guten Wesens.
Lägen die Verhältnisse doch so einfach! Könnte man doch hinter allem Bösen böse
Absicht, schlechten Willen, also eine niederträchtige Person entdecken!
Ich glaube nicht an eine Verschwörergruppe, die je den Gang der Geschichte (z. B.
den kapitalistisch-technologischen Prozess) bewusst geplant und organisiert hätte. Natürlich
gab es immer politisch-ökonomische Strategen am Rande des Gesamtprozesses. Dieser
schaukelt mal diese, mal jene gesellschaftliche Gruppe an die Spitze, oder bildet sie neu.
Bewusst geschieht da jedoch nichts. Und diese Herrschaft von ein paar hundert Menschen . . .
das ist typische Verschwörungsphantasie von geistig überforderten Hilfs-Denkern, die nur
Dinge, nicht Verhältnisse und existenziell angelegte Tendenzen kennen.
Es ist wahr: die industriell-technologische Revolution hat die Menschen nur in
gewisser Hinsicht befreit und mächtig gemacht, insgesamt jedoch in grauenhafte Sachzwänge
geführt. Wir stecken in der Sackgasse. Wir sind gezähmt, der Vitalität beraubt, entbehren der
Lebensintensität. Ob daraus eine Minderheit für sich ihr zynisch-nihilistisches Vergnügen
gewinnt, ist Nebensache. Doch glaube ich, Lewis würde mir da wohl zustimmen.]
. . . denn es wird, mit der Herrschaft des Menschen über die Natur und die eigene
Natur des Menschen, das Zeitalter der totalen Konditionierung anbrechen. Und die
Konditionierer werden zwangsläufig ebenfalls konditioniert!
Konditionierung heisst aber: die Macht des Tao wird ausgehebelt, alle Bedingungen
des Menschseins sind in der Macht des Menschen selbst. Schwierig, sich die Konditionierer
vollständig selbst konditioniert vorzustellen, ein innerer Widerspruch taucht da auf. Lewis
glaubt, dass ein Rest der Idee von Pflicht und „gut“ in ihnen übrig bleiben muss. Nur, was hält
dieser Rest von Tao in der herrschenden Klasse der Konditionierer am Leben? Sie müssten ja
an Tao glauben, wo sie doch Tao abschaffen! In der Tat: letztlich bleibt nur noch der leere
Wille zur Macht. Was Inhalt des Machtwillens sein wird? Der Zufall der willkürlichen
Regung.
[Heisst es nicht in der Bibel: „Macht euch die Erde untertan!“? Und ist nicht das ganze
Ethikprogramm des Tao die Übereinstimmung mit dem Grossen kosmischen Gesetz, wobei
der Platonismus (und mit ihm das Christentum) die Beherrschung der menschlichen Natur
(Triebe, Impulse, Instinkte, unwillkürlichen Regungen, der spontanen Vorstellungen etc.)
durch den Geist, die Vernunft in den Vordergrund stellen? Ist hierbei nicht der Ansatz zur
Macht über die Natur, auch die menschliche gegeben? Und ist Herrschaft, Kontrolle nicht am
besten durch Konditionierung gewährleistet?
Man sieht also, mit der Zweiteilung des Menschen in Körper und Geist (mit der
vermittelnden Seele) ist ein Macht-, ein Herrschaftsverhältnis vorgegeben. Was staunt da
Lewis noch, dass die Konditionierung Konditionierer (Kopf, Geist im Gesellschaftskörper)
fordert?
Das Problem liegt also in einem Menschen-, ja Weltbild, das zweigeteilt ist: hie
Materie, Natur, dumpfer Trieb, da ordnender, regulierender, steuernder, kontrollierender
Geist.]
Bäume sind für uns keine Dryaden oder auch nur schöne Gegenstände mehr im
Moment, da wir sie zu Balken zersägen. Der erste Mensch, der dies tat, mag den Preis noch
heftig empfunden haben und die blutenden Bäume bei Vergil und Spenser sind wohl ein fernes
8
Echo auf dieses ursprüngliche Verspüren der Pietätslosigkeit. Die Sterne haben mit der
Entwicklung der Astronomie ihre Göttlichkeit eingebüsst . . .
[Das sind wunderbare Zeilen. Lewis sieht, wozu die Entheiligung der Natur geführt
hat. Nun malt er uns vor Augen, was die Reduktion des Menschen zu einem manipulierbaren
psycho-physiologischen Gegenstand für Folgen hat. Wie nicht mit ihm übereinstimmen: die
Aufklärung und in ihrem Gefolge, die Entmythologisierung und Rationalisierung haben „die
Welt entzaubert“ (M. Weber).
Aber, aber: Waren nicht die Einsetzung des ganz übernatürlichen Jahwe, die
Ausrottung der Naturgottheiten, die Verdammung von Magie, Mantik und Devination im
Judentum der erste grosse Schritt zu dieser Entheiligung der nichtmenschlichen Natur? War
nicht die Eindämmung seelischer Ergriffenheit, von Emotionalität und spontaner Regung, der
scheele Blick auf das Triebleben, kurz: die Disziplinierung des Leibes, das Pendant der
Unterjochung der menschlichen Natur?
Und bedeutete das Christentum diesbezüglich einen Bruch? Vielleicht. Der Sohn
Gottes ist immerhin Fleisch geworden, hat irdisch gelebt und gelitten, ja. Gott ist also irdisch
geworden, Himmel und Erde haben sich im Christentum vermählt. Dann aber: die
Himmelfahrt, das Jenseits, das engelhafte überirdische Dasein (eigenartig asexuell und doch
mit auferstandenem Leib; wie das?) Für mich stellt das Christentum der Versuch dar, die
Kluft zwischen Immanenz und Transzendenz zu überwinden, ein gescheiterter Versuch, denn
der alte Dualismus hat letztlich doch den Sieg davongetragen.
Lewis Fluch gegen die humanistisch-technologische Anmassung, die Geworfenheit
der menschlichen Existenz entwerfend aufzurollen, diese unglaubliche Vermessenheit des
Projekts der heutigen Zeit (zu Lewis’ Zeiten wie heutzutage getragen von sozialistischen
Technokraten, liberalen Aufklärern, libertären Progressiven) ist tausendfach zu
unterschreiben. Er hinterlässt aber den schalen Geschmack der Inkonsequenz. Das
Christentum hat Scholastik, Reformation und Aufklärung hervorgebracht, Francis Bacon, die
wissenschaftsfreundlichen Renaissancepäpste, Mendel, Teilhard de Chardin, Ratzinger, der
das CERN besucht hat . . . ]
Entweder sind wir vernunftbegabter Geist und für immer dazu verpflichtet, den
absoluten Werten des Tao zu gehorchen, oder wir sind blosse Natur, dazu da, in neue Form
geknetet und gehauen zu werden, je nach der Willkür der triebgesteuerten Herren. (. . .) Ein
dogmatischer Glaube an den objektiven Wert ist Voraussetzung für die Idee einer Herrschaft,
die nicht Tyrannei, und eines Gehorsams, der nicht Sklaverei ist.
[Hier wieder: der alte Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Natur.
Dieser Dualismus ist die Voraussetzung eben dieses Prozesses der Eroberung und
Unterjochung der Natur, den Lewis so vehement ablehnt! Das Vernunftgesetz namens Tao
repräsentiert das zur Herrschaft gelangende Subjekt. Es fordert die Herrschaft über die Natur,
bricht den Widerstand der Natur – und erkennt mit Schrecken, dass die vollerlangte
Herrschaft sein eigenes Ende darstellt.]
Solange wir innerhalb des Tao reden, können wir vom Menschen sagen, er habe
Macht über sich selbst in einem wahrhaft analogen Sinn zur Selbstbeherrschung des
Einzelnen. Sobald wir aber hinaustreten und das Tao als eine bloss subjektive Erfindung
betrachten, geht diese Möglichkeit verloren.
[Es stellt sich die Frage nach der Objektivität von Werten, nach einer vorhandenen
Welt der Idee von Gerechtigkeit, wie das Sokrates postuliert hat- Diese überirdisch-zeitlose
Welt zu leugnen scheint zwangsläufig auf einen Relativismus (Relativismus heisst: jeder hat
9
seine eigene Moral, bzw. zum Zusammenleben müssen wir unsere Moralen gegenseitig
abstimmen, sie zeitlich-örtlich in Übereinstimmung definieren) hinauszulaufen (also auf
Demokratie). Damit wäre jedem Wahnsinn Tür und Tor geöffnet, wie wir das heute erleben.
Tao soll ewiges, objektives Gesetz sein. Was anders als ein Produkt von Theorie ist es,
von Weisen formuliert, von göttlich Inspirierten aufgeschrieben? Wertend-einschätzend und
ordnend-verstehend ist aber jedes gemeinsame Dasein, das sein In-der-Welt-sein besorgt.
Kein Künstler studiert Ästhetik, um zu malen, komponieren, zu bildhauern. Keine
menschliche Gemeinschaft entwickelt oder empfängt von Gott einen Tao und lebt danach in
Frieden und Eintracht zusammen. Liegt Tao immer „in der Luft“ und wird spontan gefunden,
da eh vorhanden? Und wenn Tao im menschlichen endlichen gemeinsamen Dasein implizit
wäre? (Wenn die Substanz in der Existenz läge?)
Gott hat kein Tao, ewige Götter brauchten kein Tao, denn sie haben keine Freiheit,
ihre Existenz zu verfehlen oder sie richtig zu leben. Gott oder Göttern ist kein Dasein
aufgetragen, worin sie ihre echten oder falschen Möglichkeiten entwerfen. Sie kennen keine
Schuld: die Unschuld des In-die–Welt-Geworfenseins und der schuldbeladene Auswahl unter
den unendlich vielen Möglichkeiten, deren Grund sie sind.]
Für die Weisen der Vergangenheit hatte das Hauptproblem darin bestanden, die Seele
mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, und die Lösung hatte gelautet: Einsicht,
Selbstbeherrschung und Tugend. Für die Magie so gut wie für die Naturwissenschaft heisst
das Problem, die Wirklichkeit den Wünschen der Menschen gefügig zu machen: die Lösung
liegt in der Technik. Und beide sind bereit, Dinge zu tun, die man bis anhin für widerlich und
ruchlos betrachtete, wie etwa das ausgraben und Verstümmeln von Leichen.
[Zweifellos fand mit der Renaissance ein Subjektivierungsschub statt: die Magie des
Gebetes z. B. (noch von den Reformatoren als garantierte Wunscherfüllungsmaschine
beschrieben), genügte nicht mehr. Man begann in der Natur nicht das Beispiel, sondern die
versteckten Möglichkeiten der Selbststeigerung zu sehen. Das Himmelreich wurde vom
Himmel auf die Erde herabgeholt, die Transzendenz vom Jenseits in die Utopie der
Geschichte. Das Prinzip Hoffnung auf die Zukunft blieb indessen en vogue, durchherrscht
noch heute die gottlose Welt der high-tech. Nichts hat sich geändert.]
Eine erneuerte Naturwissenschaft, wie sie mir im Sinn liegt, würde nicht einmal mit
Mineralien und Pflanzen verfahren, wie die moderne Naturwissenschaft mit dem Menschen zu
verfahren droht. Wenn sie erklärt, würde sie nicht weg-erklären. Wenn sie von Teilen
spräche, behielte sie das Ganze im Auge. Während sie sich mit dem Es beschäftigte, würde sie
nie vergessen, was Martin Buber die Du-Situation nennt. Die Analogie zwischen dem Tao des
Menschen und dem Instinkt der Tiere wäre für sie neues Licht auf das unbekannte Ding, den
Instinkt. Und dies dank der innerlich erfahrenen Realität des Gewissens und nicht aufgrund
einer Reduktion des Gewissens auf den Instinkt.
[Schöne Worte wider die versachlichende, reduktive Wissenschaft des Lebens, z. B.
Evolutionstheorie mit ihrem rein funktionellen Kriterium des Überlebens des am besten an die
sich wandelnde Umwelt Angepassten. Doch was wissen wir über Leben, das Umwelt, nicht
Welt wie wir hat? (Homo kann nicht vom animal (rationale) aus gedacht werden.)
Es liegt auf der Hand: Lewis suggeriert hier seinen Hörern (es handelt sich in der hier
vorliegenden Schrift um eine aufgezeichnete Vorlesung) ein sinngebendes Über-Wesen, das
hinter Tao und Instinkt, ja hinter aller Ordnung und Gesetzmässigkeit in der Natur zu
vermuten ist und überzeitlich, überirdisch ist. (Lewis ist nicht weniger stiller Mentor als die
Autoren des eingangs kritisierten Stilistik-Lehrbuches!)
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Das ist Spekulation, etwas wie Zurückschrecken vor der Zeitlichkeit unseres Daseins,
ein Projizieren von eigentlichem Dasein, das man in der Welt verpasst, auf ein Jenseits.]
Ohne eine Lehre von der Unsterblichkeit ist kein Raum für die Wertschätzung eines
ehrenvollen Todes [wie man sie in Sittencodices aller Völker und Zeiten findet].
[Und wenn das Gegenteil gälte? Ohne den Tod (des Individuums im Schosse seiner
Mit-Welt) gäbe es keine Ehre. Wäre unsere Existenz unendlich, gäbe es keine Geschichte,
kein Schicksal, keinen Sinn von Sein, keine Existenz, kein Miteinander, keine Gefühle, keine
Gedanken, keine Sprache, keine Befindlichkeit, keine Lehre, keine Bedürfnisse . . . nichts.
Kein Zufall, dass Nietzsche die Lehre von der Unsterblichkeit Nihilismus genannt
hat!]
Mai 15
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