Endlich: ..... Unendlich Eine Einführung in die Theorie transfiniter Kardinalzahlen 19.01.2002 Vortrag im Rahmen der Mathe Samstage an der Universität Würzburg von Albrecht Kliem Inhalt: 1. Ein bisschen Geschichte und ein bisschen Mengenlehre 1.1 Archimedes und die Sandzahl 1.2 Eine erste Analyse unendlicher Mengen durch Galileo Galilei 1.3 Ein bisschen Mengenlehre 2. Cantor und die Unendlichkeit 2.1 Definition "Unendliche Mächtigkeit" 2.2 Abzählbar unendliche Mengen 2.3 Aufgaben 2.4 Hilberts Hotel 3. Die Hierachie des Unendlichen 3.1 Die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen 3.2 Transzendente Zahlen 3.3 Die Mächtigkeit der Potenzmenge 3.4 Cantors Theorem 3.5 Eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten 4. Widersprüche, Antinomien, Paradoxien 4.1 Die Cantorsche Antinomie 4.2 Die Russelsche Antinomie 4.3 Auflösungen 5. Die Kontinuumhypothese 6. Literatur 1. Ein bisschen Geschichte und ein bisschen Mengenlehre 1.1 Archimedes und die Sandzahl Mit Archimedes (287 –212) betritt ein genialer Geist die Bühne des Geschehens um das Problem des Unendlichen. Er behandelt in einem Brief an König Geleon die Frage wie viele Sandkörner es gibt. Das Unendliche wurde bei den Griechen oft auch als "Sandzahl" bezeichnet. Das Zahlsystem der Griechen war kein Stellenwertsystem und es war aufgrund des beschränkten Zeichenvorrates an Buchstaben schwer, große Zahlen zu schreiben. Der genannte lesenswerte Brief Archimedes behandelt die Themen Unendlichkeit, Konstruktion eines effektiven Stellenwersystems und enthält die erste Beschreibung eines heliozentrischen Weltbildes. Es ist eine der herausragensten Schriften der Wissenschaftsgeschichte. Archimedes beginnt mit den Sätzen: "Es gibt Leute, König Geleon, die der Meinung sind, die Zahl des Sandes sei unendlich groß.... . Andere glauben zwar nicht, dass die Zahl unendlich sei, aber doch, dass noch keine Zahl genannt worden sei, die seine Menge übertreffen könnte." Archimedes konstruiert nun mit Hilfe eines neuartigen Zahlsystems Zahlen, mit denen er die Anzahl der Sandkörner abschätzen kann, die das gesamte Weltall füllen würden. Die dabei gebrauchten Abschätzungen für die geographischen und astronomischen Größenordnungen lassen Archimedes genialen Geist erkennen. Archimedes Ergebnis in moderner Schreibweise: 2 Das mit Sandkörnern vollgefüllte Weltall hat nur 1063 Sandkörner! Ein erstaunliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass unser Universum aus ca. 1080 Elementarteilchen besteht. 1.2 Eine erste Analyse unendlicher Mengen durch Galileo Galilei Eine erste Analyse unendlicher Mengen liefert Galilei in dem fiktiven Lehrgespräch zwischen Salviati, Simplicio und Sagredo. (Unterredungen und mathematische Demonstrationen 1638) Er behandelt die Frage: Wie viele Quadratzahlen gibt es im Vergleich zu den natürlichen Zahlen? Weil nicht jede natürliche Zahl eine Quadratzahl ist, gibt es weniger Quadratzahlen als Zahlen; da aber jede Zahl genau ein Quadrat besitzt, muss es doch gleich viele Quadratzahlen wie Zahlen überhaupt geben. Er vermittelt seinem Schüler das Ergebnis: "Die Attribute des Gleichen, des Größeren, des Kleineren gelten nicht bei unendlichen, sondern sie gelten nur bei endlichen Größen!" 1.3 Ein bisschen Mengenlehre Das Problem des Schäfers, der nicht zählen kann und dennoch weiß, dass alle seine Schafe am Abend das Gatter wieder betreten haben, führt uns auf den für das Weitere wichtigen Begriff der Bijektion zwischen Mengen. Denn der Schäfer benutzt eine Bijektion zwischen der Menge der Schafe und der Menge der Steine, indem er für jedes Schaf genau einen Stein umlegt. Das Abstraktum Zahl ist hier durch den Begriff der gleichen Mächtigkeit der beiden betrachteten Mengen ersetzt. Definition: Bijektive Abbildung Eine Abbildung von Menge A auf Menge B heißt Bijektion, genau dann, wenn es zu jedem Element b aus B genau ein Urbild a aus A gibt. Definition: Zwei Mengen A und B heißen gleichmächtig, genau dann, wenn es eine bijektive Abbildung von A nach B gibt. Man schreibt A~B. Satz: Die Relation "~" ist eine Äquivalenzrelation. Letzteres bedeutet, dass sie hat auf einem System von Mengen folgende drei wichtige Eigenschaften, die man leicht überprüft, besitzt: Für alle Mengen A, B, C gilt (I) A~B B~A ( ~ ist symmetrisch) (II) A~A ( ~ ist reflexiv) (III) A~B und B~C A~C ( ~ ist transitiv) Man kann nun Klassen von gleichmächtigen Mengen betrachten und diesen Klassen einen Namen geben, die Mächtigkeit oder Kardinalzahl und schreibt: card({1, 2, 4}) = 3 oder card({Mo, Di, Mi, Do, Fr, Sa, So }) = 7 . Statt card (A) schreibt man häufig auch |A| . Genau dieser Abstraktionsvorgang liegt unserem Zahlbegriff (als Anzahl) zugrunde. Die Zahl 7 ist ein Abstraktum und beschreibt eine gemeinsame Eigenschaft einer ganzen Klasse von Mengen, etwa der Menge der Wochentage oder der Menge der bayrischen Regierungsbezirke. 3 2 Cantor und die Unendlichkeit 2.1 Definition "Unendliche Mächtigkeit" Mit dem Begriff der Mächtigkeit gelingt es nun, unendliche Mengen in den Griff zu bekommen, d.h. erst einmal zu definieren, was darunter überhaupt zu verstehen ist! Definition: Eine Menge M heißt von unendlicher Mächtigkeit (unendlich), wenn es eine echte Teilmenge U gibt, die gleichmächtig zu M ist. Andernfalls heißt eine Menge endlich. Beispiel und Satz: IN ist eine unendliche Menge. Beweis: IN und die echte Teilmenge U der Quadratzahlen sind gleichmächtig, wie die bijektive Abbildung f: IN U mit n n 2 zeigt. Diese Begriffsbildung und die Grundlagen dieses neuartigen mengentheoretischen Ansatzes stammen von Georg Cantor (1845 – 1918). Sie haben die Mathematik im letzten Jahrhundert revolutioniert. In der Definition der unendlichen Mächtigkeit begegnet uns ein typische mathematische Vorgehensweise: Eine Eigenschaft, die zunächst widersprüchlich erscheint (bei Galilei gibt es weniger und doch zugleich genauso viele Quadratzahlen wie natürliche Zahlen) wird in eine definierende Eigenschaft für einen neuen Begriff (Menge von unendlicher Mächtigkeit) umgewandelt. Nun ist Galileis Feststellung kein Paradoxon, sondern vielmehr der Beweis, dass die natürlichen Zahlen von unendlicher Mächtigkeit sind! Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass die Eigenschaft "endlich" nun als "nicht unendlich" definiert wird und die Definition des scheinbar einfachen – des Endlichen – des schwerer zu fassenden – des Unendlichen – bedarf. 2.2 Abzählbar unendliche Mengen Cantor führte nun für die Klasse der zu IN gleichmächtigen Mengen die transfinite Kardinalzahl 0 (Aleph-Null) ein. Aleph ist der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets. Definition: Ist A eine Menge mit A ~ IN, also card (A) = card (IN) =:0 , so nennt man A abzählbar unendlich. (oder kurz abzählbar) Dieser Benennung liegt die Vorstellung zugrunde, dass man jedes Elemente einer solchen Menge mit einer natürlichen Zahl versehen (d.h. nummerieren oder auch abzählen) kann. Es bleibt die Frage, ob es auch unendliche Mengen gibt, die nicht abzählbar sind? 2.3 Aufgaben 1. a) Zeige, dass die Menge IN x IN , (die Menge aller Paare (a,b) mit a, b IN ) abzählbar ist. (Veranschauliche IN x IN als Menge von Punkten in der Ebene.) b) Zeige, dass aus Aufgabe a) folgt, dass die Menge der rationalen Zahlen 1Q auch abzählbar ist, es also genauso viele Brüche wie natürliche Zahlen gibt! 2. Zeige, dass es im offenen Intervall I = ]0,1[ genauso viele Zahlen gibt wie in IR ! Beschreibe dazu eine bijektive Abbildung zwischen diesen Zahlenmengen. 3. Die Menge aller Teilmengen einer Menge M nennt man Potenzmenge P(M). Es sei card(M) = n . Bestimme card(P(M)). 4 2.4 Hilberts Hotel Eine der berühmtesten Veranschaulichungen der transfiniten Kardinalität ist die Geschichte von Hilberts Hotel. Eine besonders schöne Darstellung befindet sich im Buch von Friedrich Wille "Humor in der Mathematik". In Kurzform geht es um ein Hotel mit abzählbar unendlich vielen Betten. Obwohl das Hotel voll belegt ist, können weitere Gäste problemlos (nach einfachen "Umbelegungen") aufgenommen werden. Dies geht auch dann, wenn es sich bei den weiteren Gästen nicht nur um endlich viele Gäste handelt. Sogar abzählbar unendliche viele Busreisegruppen mit jeweils abzählbar unendlich vielen Mitgliedern können im voll belegten Hotel untergebracht werden. Verkürzt lässt sich die Geschichte auch folgendermaßen darstellen. 3 Die Hierachie des Unendlichen 3.1 Die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen Auf die bereits in 2.2 gestellte Frage, ob es verschiedene Arten des Unendlichen gibt, soll jetzt Antwort gegeben werden. Satz: Die Menge der reellen Zahlen IR ist nicht abzählbar unendlich. Beweis: Wir wissen von Aufgabe 2, dass IR und ]0,1[ gleichmächtig sind. Es soll die Annahme, dass ]0,1[ abzählbar unendlich ist, zu einem Widerspruch geführt werden. Man stellt sich nun die reellen Zahlen als unendliche Dezimalbrüche der Form 0,abcdefg.....vor . Hierbei stehen die Buchstaben a, b, c, d, ... für Ziffern aus {0,1,2,3,4,5,6,7,8,9}. Abrechende Dezimalbrüche wie 0,25 werden mit Nullen als unendliche Dezimalbrüche dargestellt (0,250000000...). Nach Annahme gibt es eine Bijektion zwischen IN und ]0,1[ . Eine solche Abzählung kann man sich als unendliche Liste folgender Art vorstellen: 1 0, z11 z12 z13 z14 z15 ........ 2 0, z 21 z 22 z 23 z 24 z 25 ........ 3 0, z 31 z 32 z33 z34 z35 ........ 4 0, z 41 z 42 z 43 z 44 z 45 ........ mit zij {0,1,2,3,4,5,6,7,8,9} 5 0, z51 z52 z53 z54 z55 ....... usw. Nach Annahme taucht jede reelle Zahl aus ]0,1[ in dieser Liste an irgendeiner bestimmten Stelle auf. Mit Hilfe dieser vorgegebenen Liste bilde man nun die Zahl a 0, a1a2 a3 a4 a5 .... 5 1 falls zii 1 mit folgender Bildungsregel ai . Diese Zahl a ist aber nicht in der Liste, da 2 falls zii 1 sie sich nach Konstruktion von jeder Zahl der Liste unterscheidet. Von der n-ten Zahl der Liste unterscheidet sie sich an der n-ten Stelle. Widerspruch! Eine solche Liste und eine solche Bijektion zwischen IN und IR kann es nicht geben. Da IR offensichtlich von unendlicher Mächtigkeit ist, spricht man von Überabzählbarkeit und benennt die Mächtigkeit der Klasse mit der Menge der reellen Zahlen mit der transfiniten Kardinalzahl C und spricht von der Mächtigkeit des Kontinuums. Die Beweisidee erinnert an Euklids Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Es besteht nur der Unterschied, dass Euklid von einer endlichen Liste von Primzahlen ausgeht und dann eine Primzahl konstruiert, die nicht in der Liste steht. Cantor dagegen behauptet, dass sogar zu jeder unendlichen Folge von unendlichen Dezimalbrüchen eine weitere unendliche Dezimalzahl existiert, die in der Folge nicht enthalten ist. 3.2 Transzendente Zahlen Die Entdeckung der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen durch Cantor zog einige dramatische Konsequenzen nach sich. Bekanntlich baut man das Zahlgebäude der Mathematik ausgehend von den natürlichen Zahlen über die ganzen Zahlen und dann die rationalen Zahlen auf, um anschließend zu dem großen Zahlbereich der reellen Zahlen zu gelangen. Diese werden dann entweder formal über Klassen von Intervallschachtelungen oder einfach als Menge aller unendlichen Dezimalbrüche (abbrechende, periodische, nichtabbrechend und zugleich nichtperiodisch) eingeführt. Einen anderen naheliegenden Weg geht man, indem man zunächst um die Lösungen von Polynomgleichungen an x n an 1 x n 1 .... a2 x 2 a1 x a0 0 mit ai Z erweitert. solche Zahlen nennt man algebraische Zahlen. So ist etwa 2 algebraisch, denn es ist Lösung der Gleichung x 2 2 0 . Lange war unklar, ob es überhaupt reelle Zahlen gibt, die nicht Lösungen von solchen Polynomgleichungen sind. Man nannte sie transzendent. Mann vermutete diese Eigenschaft für , denn man kannte und kennt keine Polynomgleichung, welche die Zahl als Lösung besitzt. Erst Lindemann gelang es 1882 auch zu beweisen, dass transzendent ist. Cantor hatte nun den verblüfften Mathematikerkollegen bewiesen, ohne eine einzige transzendente Zahl zu nennen, dass es überabzählbar unendlich viele solcher merkwürdiger Zahlen geben muss. Denn die Menge der reellen Zahlen ist überabzählbar, die Menge der algebraischen Zahlen ist abzählbar. (Es gibt nur abzählbar unendlich viele Polynome endlichen Grades mit ganzen Koeffizienten und jedes hat höchstens endlich viele Nullstellen). Damit war die Frage, ob es überhaupt transzendenten Zahlen gibt, grandios erledigt: "So gut wie alle" reellen Zahlen – "mit abzählbar unendlich vielen Ausnahmen" – sind transzendent ! 3.3 Die Mächtigkeit der Potenzmenge In 2.3 wurde in Aufgabe 3 die Potenzmenge einer Menge definiert und Folgendes gezeigt: Die Potenzmenge P(A) einer Menge A mit n Elementen hat 2n Elemente. Eine Beweisidee dazu: Für ein bestimmtes der n Elemente aus A gibt es zwei Möglichkeiten: Es kann in einer Teilmenge enthalten sein oder nicht. Nach dem Zählprinzip gibt es also 2n verschiedene Teilmengen. Was lässt sich über die Potenzmenge einer unendlichen Menge aussagen? Wir betrachten dazu konkret die Potenzmenge P(IN ) der natürlichen Zahlen IN . Welche Mächtigkeit hat diese Menge aller Teilmengen der natürlichen Zahlen? Man ist in Analogie 6 zu endlichen Mengen verleitet zu fragen, welche Bedeutung hat 20 ? Dazu muss die Frage beantwortet werden, ob es eine Bijektion zwischen P(IN ) und IN gibt. Cantor konnte folgendes zeigen: Satz: Es gibt keine Bijektion zwischen P(IN ) und IN . (Kurz: card P(IN )> 0 ) Beweis: Wir nehmen an, es gäbe eine Bijektion der Form f: IN P(IN ) mit n Tn (Am einfachsten vorzustellen, als unendliche Liste mit allen denkbaren endlichen und unendlichen Teilmengen von IN .) Nun bildet man folgende Teilmenge X von IN : X : {n IN n Tn } . Diese Teilmenge muss an irgendeiner Stelle in der Liste stehen, sagen wir an Stelle x. Also ist X=Tx . Nun sollte man meinen, dass entweder x X oder x X gilt. Beide Aussagen sind aber falsch! Aus x X folgt nach Definition von X, dass x Tx gilt. Mit X=Tx ist also x X . Widerspruch! Aus x X folgt nach Definition von X, dass x Tx gilt. Mit X=Tx ist also x X . Widerspruch! Es kann also eine solche Bijektion nicht geben. Mit der Definition von card (P(IN ))= :1 ist somit eine nächste transfinite Kardinalzahl "entdeckt". Natürlich stellt sich nun sofort die Frage, wie mächtig ist P(P(IN )) oder P(P(P(IN))), usw. Es gilt: 3.4 Cantors Theorem Satz: A sei eine beliebige Menge. Es gibt keine Bijektion zwischen A und P(A) . Eine lesenswerte Einkleidung dieses Problems und des Beweises, der wie der Beweis des oben gezeigten Spezialfalles für A = IN geführt wird, befindet sich in dem Buch von Raymond Smullyan: "Satan, Cantor und die Unendlichkeit". Hier geht es um ein Universum mit unendlich vielen Einwohnern (Menge A). Jede Menge von Bewohnern bildet einen Verein (Menge der Vereine P(A)). Jeder Verein soll nun nach genau einem Bewohner benannt werden und jeder Bewohner soll Namensträger genau eines Vereins sein! Übungsaufgabe: Warum ist dies unmöglich? Knapp formuliert besagt das Cantorsche Theorem, dass die Potenzmenge einer Menge immer größer ist als die Menge selbst. Auf eine kleine Lücke im letzten Gedankengang sei hier noch hingewiesen: Wir haben zwar geklärt, wann die Kardinalzahlen von zwei Mengen gleich sind, doch wann ist eine Kardinalzahl M einer Menge M größer als die Kardinalzahl N einer Menge N ? M N soll genau dann gelten, wenn sich N bijektiv auf eine Teilmenge von M abbilden lässt. (Man sagt: N lässt sich injektiv auf M abbilden.) Für endliche Mengen stimmt das mit unserer intuitiven Vorstellung überein. Aber gelten die gewöhnlichen Regeln einer Ordnungsrelation auch für (transfinite) Kardinalzahlen? Stimmt es etwa, dass aus M N und N M folgt, dass M = N gilt. Genau dies besagt das Theorem von Schroeder-Bernstein: Eine sehr schöne Darstellung des Beweises befindet sich in dem Buch von Aigner und Ziegler "Proofs from the book". 7 3.5 Eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten Da sich die Potenzmengenbildung beliebig fortsetzten lässt, card(IN )=0 , card(P(IN ))=:1 , card(P(P((IN))) =:2 ; card(P(P(P((IN )))) =:3 . . ., gibt es also unendlich viele verschieden große Unendlichkeiten! Die Meinungen zu Cantors "Entdeckungen" wurden in der Fachwelt höchst unterschiedlich aufgenommen. Cantor selbst äußerte immer wieder Zweifel: "Ich sehe es, aber ich glaube es nicht! " Henri Poincare sagte, spätere Generationen würden diese Ideen "als eine Krankheit betrachten, von der man sich erholt hat!" Herrmann Weyl vertrat 1921 die Ansicht: "Die Unendlichkeiten von Unendlichkeiten sei nebulös: Den Himmel wollten wir stürmen und haben Nebel auf Nebel getürmt, die niemanden tragen, der ernsthaft auf ihnen zu stehen versucht." Bertrand Russel meinte Cantors Mengenlehre sei möglicherweise "die größte Errungenschaft deren sich dieses Zeitalter rühmen könne". David Hilbert, der führende Mathematiker seiner Epoche, schwärmte 1926: "Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können" und pries seine Entdeckungen als die bewundernswerteste Blüte menschlichen Geistes und überhaupt eine der höchsten Leistungen rein verstandesmäßiger Tätigkeit". Heute bilden Cantors Entdeckungen die Grundlage der gesamten Mathematik. 4. Widersprüche, Antinomien, Paradoxien 4.1 Die Cantorsche Antinomie Cantor entdeckte 1897 folgendes mit seinem Theorem verbundene Problem: Nehmen wir an, A sei die Menge aller Mengen. Nach dem Cantorschen Theorem folgt dann, dass es eine größere Menge als A gibt. Doch wie kann es eine Menge geben, die größer als die Menge aller Mengen ist? 4.2 Die Russelsche Antinomie Bertrand Russel (1872 – 1970) hat kurze Zeit später eine Antinomie konstruiert, die ohne Cantors Theorem auskommt, indem er fragt, ob die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, sich selbst enthält: Sei B : {X X X } . Gilt nun B B oder B B ? Beides führt schnell zum Widerspruch. 1919 brachte Russel sein Paradoxon in eine populäre Form mit der Geschichte vom Barbier eines Dorfes, der alle und nur solche Einwohner rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert der Barbier sich selbst oder nicht? Beide Annahmen führen auch hier zum Widerspruch. 4.3 Auflösungen Die "Lösung" des Paradoxons mit dem Barbier ist verblüffend einfach: Es gibt einen solchen Barbier nicht! Und wenn ein Barbier dieses behauptet, dann macht er eine falsche Aussage. Eine äußerst gelungene Darstellung dieser Paradoxa findet man in Smullayn "Satan, Cantor und die Unendlichkeit". 8 Die Russelsche und die Cantorsche Antinomie beunruhigen, weil sie zeigen, dass die gebildeten Mengen nicht existieren können. Damit wird gezeigt, dass unsere herkömmlichen Denk- und Abstraktionsweisen, die eine solch widersprüchliche Mengenbildung zulassen, nicht stimmen können. Der Kern des Problems ist das in der "naiven" Mengenlehre gebrauchte unbegrenzte Abstraktionsprinzip, das auch Fregesches Komprehensionsaxiom genannt wird. Es besagt, dass jede Eigenschaft die Menge aller Dinge bestimmt, die diese Eigenschaft besitzen. Dies Prinzip scheint selbstverständlich zu sein, doch es führt zum Widerspruch. Denn die Eigenschaft, eine Menge zu sein, müsste dann auch die Menge aller Mengen bestimmen. Die Entdeckung dieser Widersprüchlichkeiten im Axiomensystem der Fregeschen Mengenlehre machten eine Erneuerung der Grundlagen der Mathematik erforderlich. Heute ist die Grundlage für die meisten mathematischen Gedankengebäude die ZermeloFraenkelsche Mengenlehre, die mit einem begrenzten Abstraktionsprinzip auskommt und infolge dessen solch widersprüchliche Mengenbildungen wie in der Cantorschen und Russelschen Antinomie erst gar nicht ermöglicht. 5 Die Kontinuumhypothese In 3.1. haben wir gezeigt, dass die reellen Zahlen (das Kontinuum) überabzählbar sind. Die Kardinalzahl der reellen Zahlen card(IR) = C ist also echt größer als 0. Ist sie gleich 1? Oder ist sie größer? (Man kann zeigen, dass 1 die zu 0 nächst größere transfinite Kardinalzahl ist.) Es sind also zwei Fälle denkbar: (1) C = 1 oder (2) C > 1 (1) bezeichnet man als Kontinuumhypothese, welche die Mathematik sehr lange beschäftigt hat und die Mathematiker, die an den Grundlagen ihres Faches interessiert sind, immer noch beschäftigt. Vereinfacht kann man Sie als Frage darstellen, wie Sie auf der Gedenkplatte für Cantor verewigt ist: C = 2 0. Revolutionär für die Mathematik waren in diesem Zusammenhang die Ergebnisse von Gödel und später Cohen. Gödel bewies zunächst 1940, dass (1) mit den übrigen Axiomen der Mengenlehre nicht im Widerspruch steht. Später bewies Cohen (1963) dass dieses auch für (2) gilt! Dieses Ergebnis ist verblüffend, denn es zeigt, dass es mehrere Mengenlehren geben kann. Wenn die Axiome der Mengentheorie widerspruchsfrei sind, dann kann man durch Hinzunahme von (1) oder auch von (2) zwei verschiedene Mengenlehren aufbauen, ohne einen Widerspruch zu erhalten. Die gewöhnliche Mengenlehre erweist sich damit als nicht ausreichend, um die Strukturierung des Unendlichen eindeutig festzulegen. E. Zeidler schreibt dazu im Taschenbuch der Mathematik: "Es ist eine wesentliche Erkenntnis der Physik und der Mathematik des 20. Jahrhunderts, dass der sogenannte gesunde Menschenverstand versagt, sobald wir in Erkenntnisbereiche vorstoßen, die weit von unserer täglichen Erfahrungswelt entfernt sind. Das betrifft die Quantentheorie (atomare Dimensionen), die Relativitätstheorie ( hohe Geschwindigkeiten und kosmische Maßstäbe) sowie die Mengentheorie (der Begriff des Unendlichen). " 9 6 Literatur Aigner, M. , Ziegler, G. Proofs from the Book Springer 2001 Basieux, Pierre, Abenteuer Mathematik, Brücken zwischen Wirklichkeit und Fiktion, rororo 1999 Beutelspacher, Albrecht Pasta all‘ infinito - Meine italienische Reise in die Mathematik DTV 2001 Smullyan, Raymond, Satan, Cantor und die Unendlichkeit, Birkhäuser 1993 Taschner, Rudolf, Das Unendliche Springer 1995 Wille, Friedrich Humor in der Mathematik Vandenhoeck 1992 Zeidler, E. et al. Taschenbuch der Mathematik (Bronstein) Kap. 4.4 und 4.5 der Ausgabe Teubner 1996 Anmerkungen, Ergänzungen und Kritik bitte an [email protected]